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*Wem sollen wir in einer Welt voller Intrigen und Machtspielchen noch vertrauen? Lassen wir unsere Gefühle zu, stürzen wir alle um uns herum ins Verderben.* Nach einer durchzechten Nacht reist Lauren gemeinsam mit ihrer feierwütigen Freundin Jane für ein Jahrespraktikum ins Schloss des Königs von Wittles Cay Island. Und das, obwohl ihr der Abschied von ihrer Familie alles andere als leichtfällt, denn diese ist ihr größter Halt, nachdem ihr Vater vor fast vier Jahren spurlos verschwunden ist. Am Hof sieht Lauren sich jedoch mit zahlreichen Problemen konfrontiert, allen voran mit Prinz Alexander, dessen Charme sie wider Willen in den Bann zieht. Dabei ist der Königssohn bereits der englischen Prinzessin versprochen worden, die vor nichts zurückschreckt, um ihren Anspruch auf Alexander und den Thron zu sichern. Dennoch kommen sich Lauren und der Prinz immer näher, ohne zu ahnen, in welche Gefahr sie einander dadurch bringen. Bis plötzlich Laurens verschollener Vater auftaucht und sie feststellen muss, dass die Folgen seines Verschwindens weiter reichen, als sie je für möglich gehalten hätte.
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Maddie Sage
IMPERIAL – Wildest Dreams
Band 1
Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.
IMPERIAL – Wildest Dreams
Copyright
© 2021 VAJONA Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Lektorat und Korrektorat: Anne Schünemann
Umschlaggestaltung: Julia Gröchel unter Verwendung von Motiven von Rawpixel
Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz
ISBN: 978-3-948985-21-9
VAJONA Verlag Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
www.vajona.de
Für meine Familie.
Und für alle, die nie aufgehört haben,
an Märchen zu glauben.
Playlist
Delicate – Taylor Swift
Shallow – Lady Gaga, Bradley Cooper
We Found Love - Rihanna, Calvin Harris
When You Love Someone – James TW
Wildest Dreams – Taylor Swift
Royals – Lorde
I’m Ready – Sam Smith, Demi Lovato
Let You Love Me – Rita Ora
Forever – CHVRCHES
Polaroid Acoustic – Jonas Blue, Liam Payne, Lennon Stella
High Hopes – The Mayries
Wildest Dreams – Marc Scibilia
Fire Meet Gasoline – Sia
Gorgeous – Taylor Swift
Save Tonight – Tom Speight, Lydia Clowes
Adore – Amy Shark
Flashlight – Jessie J
For You – Liam Payne, Rita Ora
Der Nebel in seinem Kopf machte es ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die letzten Stunden schienen einfach aus seinem Gedächtnis gelöscht worden zu sein.
Seine Glieder fühlten sich steif an. Er traute sich nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen. Die Ereignisse der letzten Zeit saßen ihm tief in den Knochen. Seitdem mussten einige Tage vergangen sein.
Wie in Gottes Namen war er hierhergekommen?
Als er das letzte Mal aus dem Fenster geschaut hatte, war es draußen noch dunkel gewesen. Jetzt stach ihm das Sonnenlicht in die brennenden Augen. Seine Wimpern klebten zusammen. Die Lider fühlten sich verkrustet an.
Vorsichtig versuchte er, die Finger zu bewegen. Wenigstens das funktionierte einwandfrei.
Auch die Zehen spürte er.
Sein Körper schien äußerlich unversehrt zu sein.
Es pochte stechend unter seiner Schädeldecke. Er meinte, sich daran zu erinnern, einen harten Schlag auf den Hinterkopf bekommen zu haben. Doch er traute seinen Erinnerungen nicht. Zumal er derzeit mutterseelenallein in einem leeren Raum verweilte.
Löcher für Fenster und eine Tür waren in die Wände eingelassen, aber die Rahmen fehlten. Die Mauern waren unverputzt. Ein grauer, kalter Rohbau. Dieses Zimmer war der letzte Ort, an dem er sein wollte.
Obwohl die Sonne durch die Aussparungen für die Fenster schien und seinen Körper mit ihrer Wärme einzulullen versuchte, zitterte er am ganzen Leib. Die kurze Sporthose und das Shirt gehörten ihm nicht. Der dünne Stoff hielt ihn nicht warm und ein frostiger Schauer überlief ihn, der sich, angefangen im Nacken, über sein ganzes Rückgrat zog. Warum war sein Hirn so vernebelt?
Das Letzte, woran er sich zu erinnern meinte, waren surrende Geräusche und laut durcheinanderrufende Menschen. Jemand hatte einen Namen gebrüllt, den er in dem Chaos seiner Gedanken nicht heraufbeschwören konnte.
Nicht einmal an seinen eigenen Namen besann er sich.
Er raufte sich die Haare.
Das durfte doch nicht wahr sein.
Waren vielleicht Drogen im Spiel? Man hörte in den Nachrichten ohnehin zu oft, dass jemandem Tropfen verabreicht wurden. Womöglich war er Opfer dieses perfiden Verbrechens geworden.
Draußen hörte er ein paar Kinder Ball spielen. Während er dem Dribbeln des Basketballs auf dem Boden und den Rufen der Kleinen lauschte, kam ihm die Erkenntnis, dass er selbst Kinder hatte. Wie viele, vermochte er nicht zu sagen.
Allein der Gedanke, Vater zu sein, erfüllte ihn mit Wärme. Da störte ihn nicht einmal mehr die viel zu leichte Kleidung. Der Stoff roch fremd, wenngleich nicht unangenehm.
Mit schmerzenden Muskeln und steifen Knochen erhob er sich quälend langsam von seinem ungemütlichen Platz. Der Boden unter ihm war verschmutzt und staubig. Er klopfte eine kleine Wolke Dreck von der Hose und unterdrückte ein Husten.
Bevor er einen Schritt gehen konnte, vernahm er ein Geräusch. Es zuzuordnen war unmöglich. Seine Orientierung war dort verloren gegangen, wo er auch die Erinnerung an die letzten Stunden und zwanzig Jahre gelassen hatte. Außerdem wusste er nicht einmal, wie dieses Gebäude aufgebaut war. Wie sollte er dann die Richtung der sich nähernden Schritte bestimmen?
Doch das war auch nicht länger nötig, denn sobald er die Tür erreicht hatte, baute sich eine junge Frau vor ihm auf. Sie musste draußen im Flur nur auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet haben.
Ihre rotbraunen Haare trug sie in einem hohen Pferdeschwanz, etliche kleine Sommersprossen zierten ihre Wangen. Ihre Augen leuchteten, als sie ihn unverhohlen von oben bis unten musterte, während ein zaghaftes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte.
»Keine Sorge, Michael. Morgen sieht die Welt wieder besser aus. Ich bin froh, dass du es hierher geschafft hast. Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten und unsere Chancen stehen gut, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Komm, ich bring dich zu den anderen.«
»Möchtet Ihr noch Bratkartoffeln, Hoheit?«
Der Diener hielt mir eine dampfende Schüssel hin. Bei dem Duft der frisch zubereiteten Mahlzeit lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mit einer Handbewegung bedeutete ich Collin, mir einige davon auf den Teller zu legen.
»Genug.«
Nach drei Löffeln nickte ich dankbar. Am liebsten hätte ich noch mehr genommen, aber meine Mutter schaute mich argwöhnisch von der Seite an, da es bereits meine dritte Portion war. Es scherte sie nicht, dass mein Tag heute äußerst anstrengend gewesen war. Ich hatte bereits den mehrstündigen Philosophieunterricht bei Professor Passadakis hinter mich gebracht. Nicht zu vergessen, den Ausritt mit meinem Vater und dessen engsten Bedienstetenkreis.
Mich plagte der Hunger und ich war erleichtert, sobald Collin erneut mit dem köstlichen Schweinebraten bei mir hielt. Zwei dicke Scheiben wurden elegant auf meinem Teller angerichtet, bevor ich Soße darüber goss. Gierig machte ich mich über den Braten her. Unsere Köche übertrafen sich jeden Tag aufs Neue. Irgendwann würde ich sie nach ihren Geheimzutaten fragen.
Alice saß mir gegenüber und lachte sich ins Fäustchen, als sie sah, wie ich das Essen in mich hineinstopfte. Wäre dies ein förmliches Abendmahl, hätte ich mir ein solches Verhalten niemals erlauben dürfen.
»Alexander, zügele dich doch ein wenig!«, maßregelte mich meine Mutter.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Meine Schwester trat mir gegen das Schienbein, damit ich nicht laut lachte. Auf Verlangen meiner Mutter schaltete ich einen Gang runter. Ich schnitt das Fleisch in mundgerechte Stücke und gab mir Mühe, nicht zu sehr zu schlingen.
Nach einem Schluck Rotwein traute ich mich wieder, meine Eltern anzuschauen. Beide hatten mit dem Hauptgang abgeschlossen und schienen darauf zu warten, dass ich mein Mahl beendete. Sie flüsterten miteinander, woraufhin sich die Augen meiner Mutter zu Schlitzen verengten. Nachdenklich kratzte sie sich am Kinn.
Alice hatte das Gespräch unserer Eltern ebenfalls bemerkt. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu, dem sie auswich. Unbehagen breitete sich in mir aus. Normalerweise redeten wir über alles und wussten sofort, wenn unsere Eltern etwas zu verkünden hatten. Oder wann es besser war, zu schweigen.
Am schlimmsten waren die Treffen mit anderen Regenten, bei denen Alice und ich bloß neben unserer Mutter standen und brav zuhören mussten, wie Vater mit ihnen über die Politik in unserem Land diskutierte.
»Ich habe heute mit Professor Passadakis an der Rede für die Eröffnung der Sommersaison gearbeitet. Er war von meinen Rhetorikkünsten begeistert.« Ich schaute in die Runde und wunderte mich über die Schweigsamkeit meiner Familie. Mein Vater legte normalerweise großen Wert darauf zu erfahren, was ich den ganzen Tag lang getrieben hatte. »Nimmst du wieder die vorgefertigte Ansprache deines Schreibers, Vater? Dann würde ich meine Zettel direkt in den Müll werfen.«
Ich erhielt keine Antwort. Lediglich meine Mutter sah mich tadelnd an.
Gedankenverloren erinnerte ich mich an die wenigen Jahre, in denen ich eine Privatschule besucht hatte. Statt der verlangten Disziplin hatten für mich damals der Mathematikunterricht und die Raufereien auf dem Schulhof Priorität. Nach meinem vierzehnten Geburtstag änderte sich mein Stundenplan schlagartig. Neben Mathematik standen vor allem Jagen, Philosophie und Staatsdienst an der Tagesordnung.
Die Freunde, mit denen ich noch vor Kurzem gerauft hatte, verschwanden nach und nach aus meinem Leben. Kaum jemand hatte Lust, etwas mit mir zu unternehmen, weil ich ständig Akten oder Abgabenbescheide durcharbeitete, seit ich fünfzehn war. Sieben Jahre voller Arbeit und mit zweiundzwanzig noch kein Stück glücklicher mit dieser Aufgabe.
Was für eine Scheiße.
»Wie läuft’s in der Schule, Alice?« Eine leichte Konversation würde diesem Gruselkabinett hier sicher guttun. Die getragene Stimmung strömte förmlich aus den uralten Teppichen an den Wänden.
»Die Mädels haben mal wieder gefragt, ob du mich dort nicht besuchen kommen möchtest. Sie würden dich äußerst gerne persönlich kennenlernen«, erwiderte meine Schwester mit einem süffisanten Lächeln.
Ihre Freundinnen waren nicht darum verlegen, sie regelmäßig nach einem Treffen mit mir zu fragen. Zwischen mir und ihnen lagen jedoch Welten. Während Alice mit ihren siebzehn Jahren schon wirklich erwachsen war und ihre Entscheidungen oft viel weiser traf als ich, lachten ihre Freundinnen im Biologieunterricht noch über das Wort Penis. Nicht unbedingt etwas, das man von einer zukünftigen Königin erwartete.
»Alexander?«
Die Stimme meines Vaters ließ mich aufhorchen. Mutter schwenkte ihr Weinglas und betrachtete die rote Flüssigkeit, als läge darin die Antwort auf all ihre Fragen. Alice stocherte in den restlichen Möhren auf ihrem Teller herum. Der Blick des Königs ruhte eindringlich auf mir.
Einen Moment lang war es totenstill im Speisezimmer. Gänsehaut lief mir über den Rücken. Das Stück Braten in meinem Mund fühlte sich an wie ein pampiger Klumpen, vor dem ich mich augenblicklich ekelte. Ich nahm die Serviette vom Schoß und hielt sie mir vors Gesicht, um das Fleisch auszuspucken. Ich bereute, dass ich mir eine solche Menge hatte aufladen lassen.
»Ja, Vater?«
Alice und meine Mutter würdigten mich weiterhin keines Blickes. Die Stimmung wurde noch angespannter, als mein Vater sich geräuschvoll räusperte. Das gedämpfte Orange der abendlichen Dämmerung fiel nun durch die bodentiefen Palastfenster und hüllte meine Familie ein. Sogleich wirkten die Gemälde unserer Ahnen an der Wand mir gegenüber weniger einschüchternd als sonst. In den antiken, grässlich floral gemusterten Vasen, die überall im Raum verteilt standen, steckten frische Blumen, Sträuße aus Mohnblumen, die im Abendlicht besonders prachtvoll leuchteten. Ihre zarte Wildheit zeichnete einen hübschen Kontrast zu den furchtbar kitschigen rosafarbenen und grünen Schnörkeln der Blumengefäße. Als Kind hatte ich möglicherweise die ein oder andere Vase »versehentlich« zu Bruch gehen lassen.
»Ich habe dir etwas mitzuteilen.« Vaters blaue Augen starrten mich durchdringend an und der Kloß in meiner Kehle schwoll auf die doppelte Größe an.
Vorsichtig nickte ich, während ich mich innerlich gegen alles wappnete, was nun folgen könnte. »Ist Großmutter etwas zugestoßen?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Sie beklagte sich seit Wochen über Krämpfe in den Beinen. Schon seit ich denken konnte, war sie eine agile Frau. An ihrer sportlichen Aktivität könnte ich mir noch eine Scheibe abschneiden.
Früher, als Alice ein Baby war, hatte sie immer einen Bediensteten ausfindig gemacht, der meine Schwester im Kinderwagen neben ihr herschob, während sie ihre Laufrunden absolvierte. Ein weiterer Angestellter hatte dafür gesorgt, dass ich mich beim Radfahren nicht verletzte, wenn ich versuchte, meiner Großmutter zu folgen. Der Gedanke daran, dass sie wegen ihrer Gelenkschmerzen nun all das, was sie so liebte, nicht mehr unternehmen konnte, erzeugte ein flaues Gefühl in meinem Magen.
»Ab diesem Sommer wird es einige Neuerungen geben. Ich wollte es dir erzählen, damit du dich nächste Woche nicht erschreckst.« Er legte eine kurze Pause ein, in der er mich eindringlich musterte. Ich hielt seinem Blick stand. Auch die Augen meiner Schwester und meiner Mutter ruhten auf mir. Einen Moment lang überlegte ich, einen Spruch zu bringen. Wovor sollte ich mich denn erschrecken? War das Schlossgespenst etwa wieder aufgetaucht?
Vater hüstelte. »Maisie wird den Sommer hier mit uns verbringen.«
Als ich ihren Namen hörte, zuckte ich kaum merklich zusammen. Ihr Gesicht erschien in meiner Erinnerung. Ihre Porzellanhaut, die eisblauen Augen und das zynische, berechnende Lächeln. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
»Sie wird schon übermorgen Mittag hier eintreffen«, fügte mein Vater mit ein wenig Nachdruck hinzu. Er verlangte eine passende Reaktion, zu der ich momentan nicht imstande war. Eine gleichgültige Miene stahl sich auf mein Gesicht und ich zuckte mit den Schultern.
»Genügt es nicht, dass sie sich bereits zum Jahreswechsel mit ihrer Familie bei uns einquartiert hat?«, fragte ich herausfordernd. »Ich denke nicht, dass es Großmutter gefallen hat, sie während der Festtage in ihrer Nähe zu wissen. Zumal der Tod von Großvater noch nicht lange her ist.«
Seit zwei Jahren lud Vater nun schon die Thorntons ein, um gemeinsam mit ihnen die Silvesternacht zu feiern. Maisies Sippe hatte sich bei uns eingenistet wie ein lästiger Floh, den man nicht schnell genug entfernte und der einen immer wieder biss. Mein Vater beschäftigte sich rund um die Uhr mit seinen Gästen und die Bediensteten lasen ihnen jeden Wunsch von den Lippen ab. Abends hatte Vater sich für gewöhnlich mit König Cordelius über die Kunst der Zigarrenfertigung unterhalten und eine nach der anderen genossen. Als er auch mir eine Zigarre angeboten hatte, hatte ich dankend abgelehnt. Für mich rochen sie nach altem Baumharz gepaart mit ranzigen Äpfeln.
Mein Grandpa war genau wie ich nie wirklich mit den Zigarren warm geworden, sodass er mir stets in die Seite stieß, wenn mein Vater wieder von seinem Genussmittel philosophierte. Auch Cordelius war ihm stets ein Dorn im Auge. Zwar war mein Großvater seit über zehn Jahren nicht mehr Regent unseres Landes gewesen, doch dass Vater Allianzen mit dem König von Belvarien aushandeln wollte, hatte ihm bis kurz vor seinem Tode vor zweieinhalb Jahren nicht gefallen.
Alice durchbrach die Stille, indem sie ihr Glas schwungvoll auf dem Tisch abstellte. Ein lauter Knall ertönte, als das Glas auf die Tischplatte traf. Beschämt schaute sie auf ihren Schoß. »Verzeihung.«
Misstrauisch suchte ich nach ihrem Blick, doch sie zupfte verlegen an der Tischdecke. Etwas an ihr war anders als sonst. Aber ich konnte nicht sagen, was es war. Mich beschlich das Gefühl, dass meine gesamte Familie mir auswich.
»Bitte, Vater. Spann uns nicht so auf die Folter. Das Dessert wartet auf uns«, versuchte ich es mit einem lockeren Spruch. Denn ich wusste, wie sehr er den Nachtisch abends liebte und ungemütliche Nachrichten bis dahin meist vom Tisch haben wollte. »Ich habe noch riesigen Hunger.«
In der Zwischenzeit war mein halbvoller Teller abgeräumt und durch eine kleine Glasschüssel ersetzt worden. Mein Vater straffte die Schultern und räusperte sich abermals.
»Wir haben eine Allianz mit Belvarien geschlossen. Nächstes Jahr wirst du dich mit Maisie verloben. Wenig später wird die Hochzeit stattfinden.«
Seine Worte ließen mich den Halt auf meinem Stuhl verlieren und ich rutschte ein Stück nach vorne.
Ich rang nach Luft.
Die Konsequenz seiner Worte drang nicht zu mir durch.
Mein Vater hatte eine Ehe für mich arrangiert.
Mit Maisie Thornton.
Der Prinzessin von Belvarien.
Wenn Großvater noch leben würde, würde er meinem Vater die Hölle heißmachen.
Verzweifelt suchte ich Alice‘ Blick. Der entschuldigende Ausdruck in ihrem Gesicht verriet mir, dass sie gewusst hatte, was mir gerade erst offenbart worden war.
Und sie hatte mich nicht wie sonst vorgewarnt.
Mutter schaute betreten zu meinem Vater, knetete ihre Hände und drehte gedankenverloren den Ehering an ihrem Finger. Ich kam mir vor, wie in einem anderen Leben.
Eines, das ich nicht gewollt hatte.
In einem unbekannten Universum. Diese Familie hier am Tisch kannte ich nicht. Im Geiste verließ ich meinen Körper und beobachtete mich selbst von oben, wie ich regungslos auf dem Stuhl verharrte und die Worte auf mich wirken ließ.
Mein Innerstes erkaltete. Die Wärme der Abendsonne war ohne Vorwarnung verschwunden. Als ich die Tragweite der Entscheidung meines Vaters langsam realisierte, setzte mein Herz für einen Moment aus.
Das Dessert wurde an den Tisch gebracht.
Es war Mousse au Chocolat.
»Alexander, wir haben deinen Lieblingsnachtisch zubereiten lassen«, verkündete meine Mutter unangemessen fröhlich in die Stille hinein. Auf ihren Lippen lag ein stummes Lächeln.
»Falls ihr mich damit milde stimmen wollt, kann ich euch versichern, dass euch das nicht gelungen ist.« Ich kam mir vor wie bei meiner eigenen Henkersmahlzeit. Von der rechten Seite eilte Collin herbei und füllte mir drei große Kellen der Creme auf. Ich verfolgte, wie er auch meinen Eltern und Alice die Nachspeise auftischte und sich dann leisen Schrittes zurückzog.
Vater hatte mich einem Mädchen versprochen, das ich aus meiner Kindheit kannte. Mit dem ich auf großen Festen Verstecken und Fangen gespielt hatte. Von dem ich aber sonst nichts wusste.
»Ihr habt noch genügend Zeit, um euch kennenzulernen. Eine Verlobung ist eine gute Idee. Das Volk wird begeistert sein«, sagte meine Mutter. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben und versuchte offenbar, ein paar warme Worte für mich zu finden.
Statt meine aufbrausenden Gefühle zu beschwichtigen, lösten sie nur mehr Wut in mir aus. Ich hatte schon früh gelernt, wie wichtig das Glück und die Zufriedenheit des Volkes im Leben eines Monarchen waren. Allerdings war bisher nie die Rede davon gewesen, dass man dafür Entscheidungen treffen sollte, mit denen man selbst nicht würde leben können.
»Das Volk ist mir vollkommen gleich«, rutschte es mir heraus. Der finstere Blick meines Vaters ließ mich den Satz sofort bereuen.
»Alexander, du hast leider keine Anstalten gemacht, dich selbst um eine Verlobung zu bemühen. Du bist in einem Alter, in dem es notwendig ist, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Vergiss nicht, mit zweiundzwanzig Jahren waren deine Mutter und ich bereits verheiratet. Wir wollen nur das Beste für dich und die Zukunft von Wittles Cay. Und Maisie ist das Beste.« Seine Stimme klang unnachgiebig, der harte Ausdruck auf seinem Gesicht unterstrich seine Entschlossenheit.
Die Zukunft von Wittles Cay.
Dass ich nicht lachte.
Alles drehte sich immer nur um dieses Land. Wir waren eine kleine Nation, verloren im Atlantischen Ozean. Westlich von Frankreich und Spanien. Auf direktem Seeweg nach Portugal. Im Sommer war es hier unerträglich heiß und im Winter eher mild. Ich liebte unser Land, auch wenn es ein winziges Fleckchen Erde war, verglichen mit den großen Ländern Europas. Für mich war es das Paradies.
Unsere Familie kämpfte wie etliche Generationen vor uns um die Daseinsberechtigung von Wittles Cay. Frieden und Toleranz waren die obersten Ziele unserer Politik. Als ehemalige Kolonie von Belvarien lagen wir auch nach unserer Unabhängigkeitserklärung im ständigen Vergleich mit dem Land. Vor etwa zweihundert Jahren hatte die wittlesische Königin sich in einen englischen Prinzen verliebt und nicht nur den Nachnamen Featherstone angenommen, sondern sich auch dafür eingesetzt, dass Englisch zur Amtssprache wurde. Nur wenige Jahre später zog die damalige belvarische Herrscherin nach und führte an den Schulen neben Portugiesisch und Spanisch die englische Sprache ein.
Ich beobachtete meinen Vater, der seelenruhig das Dessert löffelte, als wäre es das Normalste der Welt, seinen Sohn beim Abendessen von dessen arrangierter Hochzeit in Kenntnis zu setzen.
Es brodelte in mir. Etwas drohte zu explodieren, würde ich es nicht zügeln.
Endlich löste sich meine Starre.
Ich sprang ruckartig vom Stuhl auf.
Der Bedienstete hinter mir ließ erschrocken die neu befüllte Schüssel mit der Mousse fallen, die sich im nächsten Augenblick explosionsartig auf dem glänzend gewienerten, grauen Marmorboden ausbreitete. Ein anderer gab dem schreckhaften Diener einen Klaps auf den Hinterkopf.
Mein Blick wanderte über die entgeisterten Gesichter meiner Familie. Wäre die Situation nicht so aufgeladen gewesen, hätte ich über ihren Anblick gelacht und einen Scherz gemacht.
Stattdessen kochte Zorn in mir hoch.
»Das könnt ihr unmöglich ernst meinen!«, krächzte ich und ärgerte mich über den Hauch Verletzlichkeit in meiner Stimme. Meist gelang es mir, ihn zu verstecken. Nur diesmal nicht.
»Es ist unser voller Ernst, mein Junge.« Vater hielt in der Bewegung inne. Der Löffel lag drohend in seiner Hand und zeigte auf mich.
Etwas in mir brannte durch.
Ich nahm meine prall gefüllte Glasschüssel und pfefferte sie hinter meinen Eltern an die Wand. Direkt zwischen die Gemälde unserer längst verstorbenen Urahnen.
Mit einem Klirren zerschellte sie, während die Mousse die Tapete hinunterlief.
Ohne ein weiteres Wort preschte ich aus dem Speisesaal.
»Immer musst du alles auf den letzten Drücker machen!«, schimpfte meine Mutter und warf mir ein Paar Socken zu.
Ich fing es auf, bevor es mir gegen die Stirn prallen konnte. Seufzend verstaute ich es an der linken Seite des Koffers. Direkt neben meinen Hosen und Pullovern.
Hektisch lief ich im Zimmer umher.
Ich stieß mir den kleinen Zeh an einem der Schreibtischbeine und unterdrückte einen nicht jugendfreien Fluch. Unterdessen saß Mum mit verschränkten Armen auf meinem Bett, auf ihrem Schoß hatte sie zwei weitere meiner Hosen gestapelt.
Hätte ich den Koffer bloß schon früher gepackt. Diese Erkenntnis würde ich ihr aber sicher nicht unter die Nase reiben und sie so womöglich noch in der Annahme bestätigen, ich vertrödele mein halbes Leben.
Seit ich die Zusage für das Praktikum erhalten hatte, lag sie mir damit in den Ohren, ich solle endlich planen, was ich brauchte. Jedes Mal hatte ich ihr entgegengehalten, die Servicestelle würde mir eine Liste zuschicken.
Das ließ sie allerdings nicht gelten. Ihre Planung begann meist schon Wochen vorher und war akribisch durchgetaktet. Die Wäsche musste pünktlich fertig und die Brote geschmiert sein.
Es hatte all meiner Überzeugungskraft bedurft, ihr weiszumachen, dass ich noch genügend Zeit hätte, wenn endlich diese verflixte Packempfehlung gekommen war.
»Warum musstest du gestern noch mit Jane feiern gehen?« Mums Blick war vorwurfsvoll.
Ich zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Das Pochen hinter meinen Schläfen erinnerte mich an die letzte Nacht. Jane hatte ihren zwanzigsten Geburtstag nachgefeiert und es war das letzte Treffen unserer Clique in diesem Sommer gewesen, bevor wir zum Praktikum aufbrechen mussten.
Jane und ich würden gemeinsam nach Wittles Cay Island reisen, um ein Jahr am königlichen Hof zu arbeiten. Dort nahmen sie oft Angestellte aus Whitcaster auf, um ihr Personal zu erweitern. Ich machte mich gern darüber lustig, dass die feinen Herrschaften sich mit ihrem Regierungssitz nicht hier in der Hauptstadt niederließen. Stattdessen zogen sie es vor, sich auf einer kleinen Insel abzuschotten, um von dort auf Volksnähe zu heucheln. Als würden sie sich alle für etwas Besseres halten.
Viele meiner Freunde und Klassenkameraden hatten mich nach unserem Abschluss gefragt, welchen Weg ich einschlagen wolle. Und wenn ich antwortete, dass ich erst einmal wie zuvor in dem Restaurant arbeiten würde, das den Eltern meines besten Freundes gehörte, schauten sie mich schief von der Seite an. Viele waren sicherlich der Meinung, ich würde die wertvollen Jahre direkt nach dem Abschluss vergeuden.
Als ich eine Kopfschmerztablette mit einem Schluck Limo meine Kehle hinunterspülte, sah Mum mich argwöhnisch an.
»Lauren, ich bin froh, dass du Zeit hast, ein wenig zur Vernunft zu kommen. Deine Schwester und ich wissen nicht mehr, was wir machen sollen. Du weißt, ich mache mir Sorgen wegen all der Partys und weil du immer noch kein Studium oder eine Ausbildung begonnen hast. Ich bin ja schon froh, dass du überhaupt deinen Abschluss geschafft hast.«
»Wow, danke, Mum.«
Meine A-Levels hatte ich vor zwei Jahren mit einem Sehr gut bestanden. Ich wusste, dass ich später gerne studieren wollte und ein Stipendium nur mit guten Noten erhalten würde. Dieses Praktikum würde mir guttun und meinen endgültigen Entschluss wenigstens noch ein wenig hinauszögern, bis ich mich für eine Fachrichtung entschieden hatte. Letztlich hatte mich auch die gute Bezahlung gelockt.
Am liebsten hätte ich die nächsten paar Monate gemeinsam mit Jane weiter im Restaurant gejobbt. Mir gefiel die Arbeit als Kellnerin. Auch wenn man zwischendurch an nervtötende Kunden geriet, war es doch immer erfrischend, wenn sich eine der älteren Damen etwas länger mit mir über ihre schwangere Schwiegertochter unterhielt. Oder einer der fleißig trainierenden Läufer mir von seinem letzten Marathon berichtete.
Doch meine Mutter war der Ansicht, dass ich etwas mehr Verantwortung übernehmen und endlich eine - in ihren Augen vernünftige - Zukunftsperspektive im Leben haben müsse.
Ich atmete tief durch.
»Mum, ich weiß, dass du dir nur das Beste für Maybelle und mich wünschst. Und …« Mir fehlten die Worte, doch trotzdem wollte ich das Gespräch mit ihr nicht mit einer blöden Bemerkung zu meinem Schulabschluss enden lassen. Stumm packte ich weitere Kleidung in den Koffer, die sie mir in Rekordzeit reichte.
»Lauren, mir ist klar, dass es nicht immer einfach für euch ist. Seit euer Vater … nicht mehr da ist, ist es noch schwieriger geworden. Aber wir müssen zusammenhalten.« Sie senkte den Blick auf ihre abgelaufenen Schuhspitzen. Dann räusperte sie sich. »Gut, was brauchst du noch? Soll ich dir ein paar Brote schmieren?«
Ich musste sie nicht ansehen, um den Umschwung ihrer Stimmung zu spüren. Zu gern hätte ich sie in den Arm genommen. Dabei versuchte ich, meine eigenen aufkommenden Gefühle zu verdrängen. In meinem Hals bildete sich ein Kloß.
Ich stand wie so oft schweigend da und schaute auf die ausgedruckte Liste auf meinem Schreibtisch, ohne ein Wort zu lesen.
»Mum, ich wollte dieses Praktikum nicht. Ich wollte bei dir und May bleiben«, flüsterte ich und fühlte mich mit einem Mal wie ein kleines Mädchen.
Sie überwand die kurze Distanz zwischen uns und griff nach meiner Hand. Ihre war genauso eisig wie meine.
Ich schluckte schwer gegen das Brennen in meiner Kehle an, aber es verschwand nicht.
»Das weiß ich doch, meine Kleine. Aber ich glaube, dass es dir helfen könnte, ein wenig Abstand zu allem hier zu gewinnen. Bitte, sieh es als Chance.« Sie schloss mich fest in die Arme und strich mir über den Rücken.
Übelkeit stieg in mir hoch, als ich mein geliebtes Zimmer ein letztes Mal vor der Abreise betrachtete. Ich wusste nicht, ob es an dem Restalkohol in meinem Blut oder dem Gedanken an den nahenden Abschied lag.
Ungeschickt löste ich mich aus der Umarmung, stopfte mein kleines Kopfkissen in den Koffer und schaute wehmütig auf mein Bett. Ich schlief nicht gerne woanders und hoffte, dass mein neuer Schlafplatz genauso gemütlich sein würde wie dieser hier.
Mum warf einen abschließenden Blick auf die Liste. Sie runzelte die Stirn und starrte den prallgefüllten Koffer an. »Meinst du, wir haben alles eingepackt?«
»Ich denke schon. Und wenn nicht, gibt es notfalls die Post oder Läden. Ich bin ja auch nicht aus der Welt.« Mit einem ratschenden Ruck zog ich den Reißverschluss zu.
Überrascht fuhr ich zusammen, als unten eine Tür knallte.
»Kommt ihr runter?«, rief Maybelle zu uns herauf, die soeben aus der Schule heimgekommen sein musste.
Mum und ich schauten uns an und lächelten beide. Maybelle hatte die Angewohnheit, immer im richtigen Moment aufzutauchen und eine unangenehme Situation geschickt aufzulösen.
»Ja, sofort!«, erwiderte ich ebenso laut wie sie.
Ich hievte den Koffer hoch und stöhnte kurz auf. Wenn ich daran dachte, dass ich ihn die ganze Zeit mit mir herumschleppen würde, spürte ich bereits den Muskelkater in meinen Armen.
Mum lief vor mir die Treppe hinunter, während ich alle Mühe hatte, nicht mit dem Ungetüm hinter mir zu stolpern. Ächzend stellte ich meinen Reisebegleiter neben der Haustür ab. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet mir, dass ich in wenigen Stunden aufbrechen musste.
In der Küche wartete nicht nur Maybelle auf uns. Neben ihr standen Jane und Chris.
So würde es mir nicht leichter fallen, das Praktikum anzutreten. Auch wenn Jane mich in den königlichen Palast von Wittles Cay begleitete, würde unser bester Freund fehlen.
Die Ungewissheit unserer Reise und dessen, was uns auf dem Schloss erwarten würde, ließ mich daran zweifeln, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, dieses bezahlte Praktikum anzunehmen. Immerhin stimmte der Lohn, was mich schließlich dazu bewogen hatte, in Mums Vorschlag einzuwilligen.
Ich fiel meinen Freunden um den Hals und sie zogen mich fest an sich. »Was macht ihr denn hier?«, fragte ich verblüfft.
»Ich wollte mich ordentlich von euch beiden verabschieden.« Chris lachte kehlig. »Und das, obwohl wir so einen heftigen Kater haben.«
»Meine Eltern sind schon wieder unterwegs übers Wochenende, also habe ich direkt meinen Koffer mitgenommen und dachte mir, ich warte hier auf dich«, fügte Jane grinsend hinzu. Obwohl sie sich Mühe gab, es zu verbergen, entging mir das rasche Blinzeln ihrer Augen nicht. Anscheinend musste auch sie gegen die Tränen ankämpfen.
Maybelle schnaubte entrüstet. »Kann sich auch mal jemand so sehr über meine Anwesenheit freuen?«
Ihre himmelblauen Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, doch das Zucken um ihre Mundwinkel verriet mir, dass sie ein Grinsen kaum unterdrücken konnte. Für einen kurzen Moment verlor ich mich in den Tiefen ihres fröhlichen Blickes. Dieses strahlende Blau hatte Mum ihr vererbt.
Ich knuffte meiner kleinen Schwester in die Seite und sie quietschte. Im Gegenzug gab sie mir einen Klaps auf den Arm. Mum wollte schon eingreifen, doch dann drückte ich Maybelle ebenso überschwänglich wie zuvor Jane und Chris.
»Wer möchte Kaffee?«, trällerte meine Mutter euphorisch, wenngleich in ihren Augen ein wehmütiger Glanz lag.
Mit heißem Koffein im Körper unterhielten wir uns angeregt über das bevorstehende Praktikum. Ich wünschte, ich könnte die Zeit anhalten und diesen Moment für immer erleben. Mit meiner Familie und meinen Freunden an unserem Küchentisch zu sitzen, war beinahe schon zu einem wöchentlichen Ritual geworden. Für längere Zeit würde heute der letzte Nachmittag sein, an dem wir in dieser Konstellation zusammensaßen und gemeinsam Kaffee tranken.
Jane berichtete Maybelle ausführlich von ihrem gestrigen heißen Flirt mit Paul Thayer, dem Tanzlehrer meiner Schwester. Er war zwei Jahre älter als wir und sah unverschämt gut aus. Seine schwarzen langen Haare trug er zu einem kleinen Zopf gebunden am Hinterkopf und seinen Bart ließ er immer einige Tage stehen.
May hatte die beiden auf unserer Abschlussfeier vor zwei Jahren miteinander bekannt gemacht. Sie und ihre Tanzgruppe hatten dort einen Auftritt gehabt. Und Paul war im Rahmen der Veranstaltung von der Direktorin Mrs. Lindberg als glänzendes Vorbild für die Schüler in den höchsten Tönen gelobt worden. Ich wusste, dass Jane sich darüber freute, endlich mit ihm gesprochen zu haben. Sie wollte ihn seit einem Jahr flachlegen. In der Zwischenzeit hatte sie anderen Männern hinterhergejagt und meine Schwester so lange angebettelt, bis diese sich endlich hatte breitschlagen lassen.
Während der gesamten gestrigen Feier war Jane angespannt gewesen und hatte nur darauf gewartet, dass Amor Maybelle ihre Kräfte walten ließ.
Chris quittierte unsere Unterhaltung mit einem Augenrollen, während Mum aufmerksam zuhörte. Ich bemerkte, dass sie sich versteifte, als wir von unserer Party erzählten. Doch ich war dankbar dafür, dass sie nichts kommentierte, denn sie schien zu ahnen, wie viel mir dieser Augenblick bedeutete.
Wenn heute ein normaler Tag gewesen wäre und kein Abschied angestanden hätte, würde sie es sich nicht nehmen lassen, uns eine Standpauke über den Missbrauch von Alkohol zu halten.
Statt sich groß in das Gespräch mit einzubinden, suchte sie in einem der Hängeschränke nach etwas Essbarem. Sichtlich zufrieden stellte sie uns kurz darauf eine Schale mit selbstgebackenen Keksen vor die Nase.
Mein Magen grummelte, sodass ich flink nach einem mit Schokolade überzogenen Plätzchen griff und es mir in den Mund stopfte. Ich liebte Mums Gebäck und mochte gar nicht daran denken, wie ich es die nächsten Monate ohne ihre köstlichen Naschereien aushalten sollte.
Wehmütig ließ ich den Blick durch die Küche wandern und blieb an den etlichen Zetteln am Kühlschrank hängen, die dort von bunten Magneten festgehalten wurden. Ich entdeckte meine ausgedruckte Liste, die Mum um notwendigen Proviant ergänzt hatte. Auf der Arbeitsfläche neben der Spüle stand eine riesige Keksdose, für die ich sicher einen zweiten Rucksack brauchen würde. Das abendliche Frühsommerlicht strahlte durch das Fenster und wärmte meine Gedanken. Obwohl sich der Nachmittag langsam dem Ende zuneigte, sah ich dem Jahr auf Wittles Cay Island inzwischen positiv entgegen.
»Übrigens, Laurie. Ich hab‘ dir was mitgebracht.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jane mir zuzwinkerte. Aus ihrer riesigen Handtasche zauberte sie ein Boulevardblatt hervor, schlug eine Seite mit einem grellgelb leuchtenden Klebezettel auf und klatschte sie mir vor die Nase. Unwillkürlich unterdrückte ich ein entnervtes Grummeln. Bei unserem Abschiedskaffee interessierten mich ihre Klatschgeschichten herzlich wenig.
Auf dem Titelfoto der Seite erkannte ich Alexander Featherstone. Zusammen mit – ich las kurz nach - Eliza van Bergjen auf der Hochzeit von irgendeinem Prinzen aus Spanien. Neben ihnen standen König Herold und Königin Adelaide. Alle vier strahlten in die Kameras der Paparazzi. Sie trugen maßgeschneiderte Kleidung und Schmuck von einem Wert, den meine Mutter nicht einmal in ihrem ganzen Leben erwirtschaften würde.
Ich verdrehte die Augen. Jane wusste genau, dass ich diese Leute nicht ausstehen konnte. Mir waren die spektakulären Nachrichten über Prominente völlig gleich. Ich hatte mich noch nie dafür interessiert. Leben und leben lassen, lautete meine Devise.
Während Jane nur zu gern den neuesten Tratsch und Klatsch von allen möglichen Sängern und Schauspielern brühwarm berichtete, war ich froh, wenn sie mich damit in Ruhe ließ.
Sicher hatte ich ebenfalls hin und wieder einige der Schlagzeilen gelesen, doch sie beschäftigten mich nicht tagelang. Jane sprach meist noch mehrere Wochen von den Veränderungen im Leben ihres Lieblingssängers. Mit wem er ausging, wo er zuletzt essen war und warum seine Songs mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Wenn sie mit so etwas anfing, hörte ich nur mit einem Ohr zu und widmete mich stattdessen meist meinen Zeichnungen.
Bevor ich mich diesmal wieder beschweren konnte, kam Jane mir zuvor. »Schau doch nur mal, wie heiß Prinz Alexander ist. Oh mein Gott, das ist unglaublich. Nur diese langen Haare würden mich beim Rumknutschen stören. Und mir würden die Bartstoppeln fehlen.«
Ich verkniff mir einen gereizten Seufzer. Diese schulterlangen, dunkelbraunen Haare turnten mich ebenso ab wie sie. »Nichts an ihm ist heiß.«
Sie überhörte mich gekonnt und kam gar nicht mehr aus dem Schwärmen heraus. Und auch Maybelle war sofort Feuer und Flamme.
Schon seit Wochen lag meine Schwester mir damit in den Ohren, ich solle ihr ein Autogramm von ihm besorgen. Meine ständige Antwort war, dass ich garantiert nicht mit dem Thronfolger von Wittles Cay Smalltalk halten und ihn um ein Autogramm bitten würde. Abgesehen davon, dass heutzutage niemand – wirklich niemand – mehr Autogramme haben wollte. Wenn sie mit Fotos anfing, schaltete ich direkt auf Durchzug. Ich würde einen Teufel tun und ein Bild mit Prinz Alexander schießen.
»Wenn du schon kein Foto mit ihm machen willst, dann zeichne ihn mir wenigstens«, hatte sie verlangt. »So ein lebensgroßes Poster würde sich in meinem Zimmer sicher gut machen.«
Meine Schwester war schon immer ein großer Fan royaler Geschichten gewesen. Gemeinsam mit Mum schaute sie sich freiwillig jede Folge von Downton Abbey an, während ich mit meinem Zeichenblock daneben saß und die hochgestochene Sprache über mich ergehen ließ.
»Ich kann dir gern Bilder von der Landschaft oder vom Schloss zeichnen. Aber du wirst mich nicht dazu kriegen, auch nur eine grobe Skizze vom Prinzen anzufertigen. Vor allem nichts in Lebensgröße.«
Ich war froh, wenn mir diese scheinheiligen Leute vom Leib blieben. Da würde ich ihnen garantiert nicht wegen eines Bilds hinterherlaufen. May ließ diese Einwände nicht gelten und bestand weiterhin zumindest auf ihre Zeichnung.
»Er ist so schön«, fiel Jane nun mit ein.
Und selbst Mum stimmte ihnen verwegen grinsend zu. »Also wenn ich noch mal zwanzig wäre, würde ich auch nicht Nein zu ihm sagen.«
»Mum!«, rief ich empört.
Jane und sie lachten lauthals, während May Würgegeräusche von sich gab. Während die drei weiter in den höchsten Tönen von diesem verwöhnten Königssöhnchen schwärmten, bemerkte ich, dass Chris‘ Blick auf mir ruhte. Er war bisher erstaunlich still gewesen. Ich lächelte ihm entschuldigend zu, was er kaum wahrzunehmen schien.
»Hast du einen Moment für mich, Laurie?«
Ich runzelte die Stirn. Er klang regelrecht besorgt. »Ja, sicher. Was gibt’s denn?«
»Alleine?«, fügte er hinzu.
Mit zitternden Fingern strich ich mir eine nicht vorhandene Strähne hinter mein rechtes Ohr. Da mir die Worte fehlten, nickte ich bloß. Sein Tonfall klang alarmierend.
Wie in Zeitlupe erhob ich mich von meinem Stuhl.
Im Flur gab ich Chris mit der Hand ein Signal, er solle stehen bleiben. Der Garderobenspiegel zwischen unseren unzähligen Jacken zeigte ein groteskes Bild von mir. Dunkle Schatten lagen unter meinen grünen Augen und der lange geflochtene Zopf hing schlapp über meine Schulter. Vereinzelte braune Haare fielen mir ins Gesicht. Die Spuren der letzten Nacht und der schlaflosen Wochen davor waren nicht zu leugnen.
Ich quetschte mich an den weit in den Gang hineinreichenden Daunenjacken vorbei und verschränkte automatisch die Arme vor der Brust.
Chris lehnte sich lässig gegen das Treppengeländer und fuhr sich durchs zerzauste blonde Haar. Eine Weile blieb er stumm und musterte mich mit seinen dunkelgrauen Augen.
»Laurie, ich bin mir nicht sicher, wo ich anfangen soll …«, murmelte er dann beinahe unverständlich. Er kratzte sich am Ellenbogen und traute sich nicht, mir in die Augen zu sehen. »Wir sind schon so lange befreundet.«
Wieder entstand eine Pause, in der ich mich immer unbehaglicher fühlte.
»Und irgendwie ist da bei mir mehr entstanden in den letzten Monaten. Ich … Ich denke, ich habe Gefühle für dich entwickelt.«
Der Kloß in meinem Hals war zurückgekehrt. Nahm mir für eine Sekunde die Luft zum Atmen. Ich ließ seine Worte auf mich wirken. Gestern bei Janes Feier hatte er mir während eines Tanzes zugerufen, er würde mich lieben. Hin und wieder rutschte ihm in alkoholisiertem Zustand eine Liebeserklärung heraus. Aber das war auch bei Jane und mir untereinander nichts Besonderes und am nächsten Tag nicht mehr der Rede wert. So war es eben unter besten Freunden. Natürlich hatte ich erwidert, dass ich ihn genauso gern hätte. Und es stimmte: Ich liebte ihn ebenfalls. Aber für mich war er nie mehr als mein bester Freund gewesen. Seit dem Kindergarten.
Früher hatte meine Mutter mich öfter gefragt, ob ich mir eine Beziehung mit Chris vorstellen könnte. Jedes Mal verneinte ich. Eine Zeit lang versuchte sie sogar erfolglos, uns zu verkuppeln.
Als Wren und ich uns trennten, bot Chris mir seine Schulter zum Ausheulen an. Jedes Mal, wenn er Wren in den Clubs sah, wie er den jungen Mädchen bereitwillig irgendwelche Pillen und Pulvertüten zusteckte, war Chris derjenige, der mich nach draußen manövrierte, um sich meine Schimpftiraden anzuhören. Gemeinsam verpfiffen wir Wren dann bei der Security. Spätestens seit dem Verschwinden meines Vaters war er wie ein Bruder für May und mich.
Mir war nicht aufgefallen, dass seine Gefühle sich mir gegenüber verändert hatten.
Denn meine hatten es nicht getan.
»Das sagst du mir jetzt?« Ich schaute ihn ungläubig an. »Du weißt schon, dass ich für die nächsten Monate nicht da sein werde, oder?«
Er zuckte mit den Schultern, mied weiterhin den Blickkontakt. »Ich dachte, dann wissen wir wenigstens beide, woran wir sind. Du kannst vielleicht über das mit uns nachdenken. Und ich auch.«
Es war ihm sichtlich unangenehm, die Worte auszusprechen. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er einige Zeit für diesen Schritt gebraucht hatte.
»Chris, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Ich wünschte, er würde mich ansehen, damit ich seine Emotionen lesen konnte.
Tief in mir hatte ich häufig gehofft, ich könne ihn auch auf diese Art lieben. Eine tiefergehende, liebevolle Verbindung mit ihm aufbauen. Er war so ein wunderbarer Mensch und hatte sich aufopferungsvoll um mich und meine Familie gekümmert.
Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich diese Gefühle jemals für ihn aufbringen würde. Vor allem wegen der Sache mit Jane.
»Lauren, du musst nichts sagen. Ich wollte nur, dass du es weißt. Damit wir beide Zeit haben, uns über alles klar zu werden.« Er legte erneut eine kurze Pause ein, in der er all seinen Mut zusammenzunehmen schien. »Wenn du jetzt nach Wittles Cay Island fährst, sollst du nur wissen, dass ich in dich verliebt bin. Ich werde hier sein und auf dich warten.«
Kalter Regen prasselte auf mich herab.
Sehnsüchtig starrte ich auf den immer kleiner werdenden Horizont und kniff die Augen zusammen, um einen letzten, winzigen Blick auf meine Familie zu erhaschen.
Nur wenige Meter weiter draußen auf dem Meer konnte ich durch den aufziehenden Nebel kaum die Hand vor Augen ausmachen. In meine Nase drang ein Hauch von Fisch und modriger, aufgeschäumter Gischt. Wellen schlugen unter mir an die Seiten des Schiffes und es schaukelte ausschweifend hin und her. Trotz des dadurch einsetzenden Schwindels wandte ich meinen Blick nicht von dem kleinen Streifen ab, an dem sich Himmel und Erde trafen.
»Ich vermisse sie jetzt schon«, seufzte ich.
Jane zog mich in eine innige Umarmung. »Das glaube ich dir. Ich vermisse deine Familie auch, aber du hast May doch versprochen, ihr zu schreiben und an ihrem Geburtstag und Halloween für ein paar Tage zurückzukommen.«
Gemeinsam schauten wir eine Weile über die Reling der Fähre. Jane bemerkte meine Unruhe und legte ihre Hand auf meine.
»Was ist los, Laurie?«
Trotzig kämpfte ich gegen die aufsteigenden Tränen an. »Ich bin verunsichert. Wegen Mum. Sie arbeitet zu viel und steckt all ihr Geld in Mays Tanzkarriere. Versteh mich nicht falsch, ich unterstütze sie auch, so gut es mir möglich ist. Aber was, wenn ich nach dem Praktikum studieren will und wir es uns nicht leisten können? Das Einzige, was mich retten würde, wäre ein Stipendium.«
»Es ist schwer, seit dein Vater nicht mehr bei euch ist, ich weiß. Aber deine Mum, Chris und ich, wir werden dich unterstützen«, beteuerte Jane und raufte sich dabei das blonde schulterlange Haar.
Bei der Erwähnung seines Namens zuckte ich innerlich zusammen, ließ mir aber nichts anmerken. Ich wollte nicht über ihn reden. Sein Geständnis hallte in meinem Kopf wider. Es fühlte sich so bedrückend an wie die Stille nach einem Sommergewitter.
Der Wind wehte Jane den Pony aus dem Gesicht und ich fragte mich, ob der feuchte Glanz in ihren braunen Augen den Böen geschuldet war oder ob auch sie realisierte, dass wir unsere Heimat für eine ganze Weile hinter uns ließen.
Ich schluckte schwer. Schon oft hatten wir über dieses Thema gesprochen und meine Freundin meinte jedes Mal, es sei in Ordnung, wenn sie mich finanziell unterstütze. Sie verstand dabei nicht, dass ich weder von ihr noch von irgendjemand anderem abhängig sein wollte.
Jane hatte sich nie Gedanken um Geld machen müssen. Ihrer Mutter gehörte ein großes IT-Unternehmen, in dessen Vorstand auch ihr Vater saß. Früher, als mein Dad noch bei uns gewesen war, hatte Geld auch zu unseren geringsten Sorgen gezählt.
»Ich weiß zu schätzen, dass du und Chris mir helfen wollt, aber ich möchte das nicht annehmen. Wir haben doch darüber gesprochen. Der Lohn aus diesem Jahr ist die erste Investition in meine Zukunft, die ich selbst mache.« Ich dachte daran, wie meine Schwester mir zuvor die Hand gehalten und Mum mir einen Kuss aufs Haar gedrückt hatte. Diese zwölf Monate würden das Leben meiner Familie endgültig verändern.
May würde danach ein renommiertes Tanzinternat besuchen, das wir uns nur leisten konnten, weil Mum jeden Cent zusammenhielt und die Gebühren in Raten abzahlte. Da ich wollte, dass meine Schwester ihren Traum lebte, würde ich wohl oder übel selbst für mein Studium aufkommen müssen. Meine Mutter würde bald alleine in unserer Wohnung leben, beide ihre Kinder wären außer Haus, wenn ich an die Uni ginge.
»Was hat deine Mum gemeint, als du ihr erzählt hast, dass wir gemeinsam im Schloss arbeiten werden?« Jane band sich beim Sprechen die flatternden Haare zu einem hohen Zopf zusammen. Ihr Pony stand mittlerweile wild in alle Richtungen ab.
»Begeistert war sie jedenfalls nicht. Sie hat gehofft, ich könnte dort ein wenig Abstand zu unseren Partys bekommen. Ich denke, sie und deine Eltern machen sich Sorgen.«
Sie winkte bloß ab und gab einen Zischlaut von sich. »Ich versteh gar nicht, warum die so einen Stress schieben.«
Ich zuckte mit den Schultern, wusste jedoch genau, weshalb meine Mutter sich um mich sorgte. Seit Wochen feierten Jane und ich jedes Wochenende bis in die frühen Morgenstunden. Dabei war Alkohol nicht das Einzige, was Jane die letzten Male in sich hineingekippt hatte. Neben den Joints, die sie sich regelmäßig genehmigte, war seit vorherigem Samstag Koks dazugekommen. Danach verhielt sie sich noch unberechenbarer, als wenn sie sturzbetrunken auf der Toilette des Clubs zusammenbrach.
So wie gestern.
Ich wunderte mich darüber, wie problemlos sie ihren Aussetzer wegsteckte. Sie sah aus, als wäre nichts passiert.
Meine Mutter warnte mich ständig davor, dass wir dabei waren, eine Grenze zu überschreiten, die wir ohne Hilfe von außen nicht wieder überqueren konnten. Obwohl ich mich gegen den Gedanken sträubte, stimmte ich Mums Worten zu. Nie im Leben würde ich das vor ihr oder Jane zugeben.
Schon unzählige Male hatte Mum mich gebeten, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Sie wusste, wie viel mir die Freundschaft bedeutete, und doch stellte sie mich hin und wieder vor die Wahl. Entweder Jane oder meine Zukunft. Und ich wählte jedes Mal Jane, denn ich musste ihr helfen, aus diesem Drogensumpf rauszukommen. Was ich Mum nicht erzählen konnte, war die Tatsache, dass ich an allem schuld war.
»Erde an Laurie?«
Meine Freundin fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum und grinste breit.
»Sorry, ich war wohl am Tagträumen.«
»Aber nicht von dem heißen Prinzen, oder? Ich hoffe, wir können ihn kennenlernen. Dann wickle ich ihn um den Finger.« Sie ließ ihre Hüften kreisen und gab mit ihren gespitzten Lippen Kussgeräusche von sich.
»Jane, du bist unmöglich. Wenn dich jemand sieht …«, gab ich beschämt zu bedenken. Dabei wusste ich, wie wenig sie sich darum scherte, wer sie sah oder hörte.
»Ist schon in Ordnung. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir runtergehen wollen. Hier draußen bei dem frostigen Wetter erkälten wir uns noch. Und ich möchte die ersten Arbeitstage nicht verschnupft beginnen.«
Die durchnässte Kleidung war mir gar nicht aufgefallen. Ebenso wenig wie der immer stärker werdende Regen. Mein Mantel und meine Haare hingen schlaff und tropfend an meinem Körper hinab. Jane hielt mir ihre Hand hin.
Ich ergriff sie und mit leichtem Nachdruck zog sie mich unter Deck.
Uns empfing ein durchdringender Geruch, eine Mischung aus kaltem Schweiß und jeder Menge Alkohol. Mehr als drei Dutzend Fahrgäste saßen hier unten im Restaurant. Offenbar hatten einige der Männer schon den ein oder anderen Schnaps über den Durst getrunken, denn sie grölten sich an ihren Tischen übermütig an. Sie lachten wie eine Horde wild gewordener Affen, wenn jemand einen sexistischen Witz über eine der anwesenden Damen riss.
Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Jane klatschte aufgeregt in die Hände. »Das klingt nach Spaß, findest du nicht?«
Sie schien nicht bemerkt zu haben, wie unwohl ich mich fühlte. Am liebsten hätte ich sofort wieder das Weite gesucht.
»Ich bin mir nicht sicher«, gab ich zu und verlagerte mein Gewicht. »Meinst du nicht, wir sollten zuerst die Koffer in unsere Kabine bringen?«
Meine Freundin zuckte ungerührt mit den Schultern. »Ach was. Lass sie uns einfach dort vorne hinstellen und uns an einen der Tische setzen. Ich glaube, du kannst einen Drink vertragen.«
Ich bewunderte Jane für ihre Unbeschwertheit. Oder Naivität. Das war wohl eine Interpretationssache.
Sie blinzelte mich an und schien zu spüren, wie unentschlossen ich war. Mit sicherem Griff räumte sie unsere Habseligkeiten zur Seite und riss mich mit sich.
Ehe ich mich umentscheiden konnte, fand ich mich an einem der winzigen Tische in Reichweite der Bar wieder. Drei attraktive Männer saßen uns gegenüber. Sie schienen in unserem Alter zu sein. Anfang zwanzig. Höchstens zwei, drei Jahre älter als wir.
»Hallo, wer seid ihr denn?«, wollte der Dunkelhaarige mit dem vollen Dreitagebart wissen. Er reichte uns sofort ein Pint Bier.
»Ich bin Jane und das ist Lauren. Hi, schön euch kennenzulernen«, stellte meine Freundin uns vor.
Wir reichten einander die Hände und ich lächelte wie auf Knopfdruck. Mir fiel der junge Mann ganz rechts auf. Er trug eine Sonnenbrille, in deren Gläsern ich mein Spiegelbild erkennen konnte. Sein grauer Rollkragenpullover saß perfekt und an seinem Handgelenk blitzte eine große, teuer wirkende Uhr. In dieser eher schlichten Umgebung wirkte er ebenso fehl am Platz wie seine beiden Begleiter.
»Das sind Alex und Benjamin. Ich bin Jonathan.« Der Dunkelhaarige orderte eine neue Runde Bier.
»Was verschlägt euch von der Hauptstadt nach Wittles Cay Island?«, brach Jane das Eis und spielte charmant mit ihren langen Haarsträhnen, die sie wieder aus dem Zopf gelöst hatte, um die Jungs um den Finger wickeln zu können. Ich kannte ihre Masche zur Genüge.
Benjamin und Jonathan waren sofort Feuer und Flamme.
Sie wusste genau, wie sie sich von ihrer besten Seite präsentierte, wenn sie einen Mann ins Bett bekommen wollte.
»Die Arbeit«, meinte Jonathan schmunzelnd.
Der Funkenflug zwischen Jane und ihm war beinahe nicht zu ertragen. Mir war sofort klar, dass die beiden aufeinander standen.
In Gedanken stellte ich mich bereits darauf ein, mir ein neues Zimmer zu suchen. Sie würde sich die Chance nicht nehmen lassen, den hübschen Typen für sich zu gewinnen. Vielleicht würde sich ja auch sein Freund auf ein Abenteuer einlassen und Jane würde mir morgen früh von dem unglaublichsten Sex ihres Lebens berichten. So wie jedes Mal, wenn sie einen Neuen aufgerissen hatte, der definitiv besser war als der davor. Ihre Affären waren für mich kein Problem. Nur ihr ständiger Mitteilungsdrang darüber zauberte Bilder vor mein inneres Auge, die ich lieber wieder loswerden würde.
Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas, um das Kopfkino auszuschalten. Das Bier strömte kühl meine Kehle hinab. Durstig stürzte ich auch den Rest hinterher.
»Wow, trinkst du immer dein Pint auf ex?«, staunte Benjamin mit verschmitzt funkelnden Augen, als ich mein Glas geräuschvoll auf den Holztisch zurückstellte.
»Ex-Runde«, grölte Jonathan und hob dabei sein Glas so schwungvoll hoch, dass er einige Tropfen auf Alex‘ Hose verschüttete.
»Pass doch auf! Wenn du nicht so viel verträgst, solltest du vielleicht einen Gang runterschalten«, pampte dieser ihn an.
»Hey, mach dich locker. Das war keine Absicht«, schaltete sich Benjamin ein. »Trink einfach mit.«
Zu gerne hätte ich Alex‘ Reaktion gesehen, doch er machte keine Anstalten, die Sonnenbrille abzusetzen.
Mich hätte die Verzerrung der Farben viel zu sehr gestört, zumal es im Raum total schummrig war.
Er bemerkte meinen Blick und ich hätte schwören können, seine vor Argwohn zusammengekniffenen Augen durch die spiegelnden Gläser zu sehen.
Ich betrachtete die goldene Flüssigkeit in dem Glas, das Benjamin mir herübergereicht hatte, nachdem ich meines geleert hatte. Hitze kroch meinen Hals empor, als Jonathan mit Jane anstieß und ihr dabei ungeniert in den Ausschnitt starrte.
»Cheers!«
Wir anderen erwiderten den Trinkgruß.
Nach allen Regeln der Kunst flirtete Jane sich durch den Abend. Da ich kein Interesse an den Jungs hatte, scrollte ich meinen Instagram-Feed rauf und runter, bis ich irgendwann auf dem neuesten Stand war.
Ich verdrehte die Augen, als meine Freundin und ihre neu gewonnenen Trinkpartner die sechste oder siebte Runde Shots hinunterstürzten. Nur Alex hielt sich aus allem geschickt heraus, indem er wie ich an seinem Handy spielte.
Das Smartphone kam mir als Schutzschild gegen eine mögliche Konversation äußerst gelegen. Nach einiger Zeit vergaßen die anderen, dass ich dabei war. Und ich vergaß sie.
Ich freute mich, einen Abend Pause von Janes ständiger Feierei und Flirterei machen zu können. Sie hatte mich mit ihrem Tempo längst überholt. In den meisten Nächten hielt ich nicht mehr mit oder nahm mich zurück, um auf sie Acht zu geben.
»Lasst uns tanzen!«, lallte sie den beiden Jungs zu. Die stürzten ihr Bier hinunter und sprangen gemeinsam mit ihr auf.
An einem anderen Tisch wurde lauthals ein Kneipenlied angestimmt, das die Menge mit brüllte. Die Leute schunkelten hin und her. An der Bar orderte eine Gruppe geräuschvoll ein Tablett mit Shots und der Barkeeper holte einige Flaschen von dem beleuchteten Wandregal hinter sich.
Ich hätte gerne einen Blick nach draußen erhascht, aber mittlerweile war es dunkel. Nur hin und wieder konnte ich durch eines der Bullaugen, vor dem kein betrunkener Fahrgast stand, das Leuchten des Mondes auf den Wellen entdecken.
Die alkoholisierte Stimmung im Raum und der Geruch nach Schweiß benebelten mich, raubten mir die Luft zum Atmen.
Ich legte mein Handy beiseite und schaute mich auf der Tanzfläche um. Jane war verschwunden. Und mit ihr die beiden gut aussehenden Typen.
Einen Moment lang hielt ich inne. Dann stand ich auf und schreckte damit Alex aus seinen Gedanken. Er wandte mir den Kopf zu.
»Brechen Sie auf?«
Ich runzelte die Stirn und wunderte mich über seine antiquierte Sprache und die Anrede. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, ihn zu siezen. Oder überhaupt anzusprechen. Zumal er die letzten zwei Stunden keine Anstalten gemacht hatte, mich in ein Gespräch zu verwickeln.
Seine Stimme klang zwar tief, aber nicht alt. Auch seine straffe Haut deutete nicht darauf hin, dass er mich siezen sollte. In unserem Alter siezte man sich doch nicht, oder?
Mit zwanzig Jahren fühlte ich mich nicht so, als müssten die Leute mich in höflicher Form ansprechen. Vor allem niemand, der kaum älter wirkte als ich. Oder täuschte ich mich und es war Botox, das seine Haut so weich wirken ließ?
»Ich muss nach meiner Freundin suchen.«
»Sie ist bei Jonathan in den besten Händen, glauben Sie mir«, sagte er selbstgefällig.
Seine unbeteiligte Art nervte mich. Er hätte es nicht deutlicher machen können, dass er keine Lust auf eine Unterhaltung mit mir hatte. Anscheinend legte er großen Wert darauf, mich ebenfalls loszuwerden.
»Da bin ich mir sicher. Schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.« Ich drehte mich schnaubend um und würdigte ihn keines Blickes mehr.
»Herrgott, ich habe hier keinen Empfang, versteht ihr das nicht? Davon abgesehen will ich auch nicht mit euch sprechen!«, brüllte ich in mein Handy. Dabei klang ich wie ein trotziges Kind, dem man die Süßigkeiten weggenommen hatte.
Ich wusste nicht, wie meine Mutter die Dreistigkeit besitzen konnte, mich erneut zu kontaktieren. Wahrscheinlich hatte ich nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass ich ihr Verhalten gestern Abend als Verrat ansah. Sie hatten mich für unser Land und die Gunst des Volkes verkauft.
»Alexander, ich bitte dich. Wir müssen darüber reden. Du kannst nicht einfach so verschwinden und dich nicht mehr melden! Wo treibst du dich schon wieder herum?«, keifte meine Mutter ungeduldig in den Hörer.
»Ich gehe meinen Pflichten nach und bin auf dem Weg zu euch«, knurrte ich und verstärkte den Griff um das Handy.
»Das will ich auch für dich hoffen. Dein Vater ist außer sich und würde es sicherlich nicht gutheißen, in der Presse von einem neuen Skandal zu lesen. Reiß dich zusammen. Beim nächsten Anruf nimmst du bitte ab. Ich mache mir Sorgen.«
Den letzten Satz sagte sie ein wenig versöhnlicher. Ich schnaufte entnervt und legte auf. Einen Moment lang starrte ich auf das schwarze Display, bis plötzlich das Bild meiner Schwester aufleuchtete und das Telefon erneut vibrierte.
Bevor ich abheben konnte, polterte es hinter mir und ich hielt Ausschau nach dem Ursprung des Lärms.
Das braunhaarige Mädchen, das vorhin mit uns am Tisch gesessen hatte, stolperte die Treppen hoch an Deck. Sie trug einen dunkelgrünen Mantel und fluchte über ihren Koffer, der offenbar auf ihrem Fuß gelandet war.
Das Oberdeck war nur spärlich ausgeleuchtet und der Mond spendete den Großteil des Lichts. In der Halbdunkelheit erkannte ich ihren schleppenden Schritt.
»Was für ein Scheißtag«, murmelte sie.
Ich unterdrückte ein Grinsen.
Scheinbar war ich nicht der Einzige, der einen beschissenen Tag hinter sich hatte.
Sie hievte den Koffer zur Seite und trat einmal dagegen. Wutentbrannt pfefferte sie ihren sperrigen Rucksack daneben und ließ sich auf einer schäbigen Bank nieder. Dann stieß sie ein tiefes Seufzen aus und verschränkte die Hände im Nacken.
Vorsichtig schlich ich zu ihr hinüber und verfluchte die eine morsche Holzplanke, die unter meinen Füßen knarzte. Lässig lehnte ich mich in einigem Abstand neben ihr an die Reling.
»Schlechten Tag gehabt?«, fragte ich neckend.
Erschreckt fuhr sie herum.
Ihre grünen Augen weiteten sich, als sie mich wiedererkannte. Aber sie wusste noch immer nicht, wer ich wirklich war. Dessen war ich mir sicher. Ich biss mir auf die Lippe und freute mich insgeheim über meine amateurhafte Verkleidung. Die Sonnenbrille und mein neuer Kurzhaarschnitt waren eine hervorragende Idee gewesen.
So konnte ich mich relativ frei bewegen, ohne mich darüber zu ärgern, dass mich sofort jeder erkannte. Selbst auf diesem Schiff, auf dem ich gehofft hatte, mit meinen Freunden untertauchen zu können, würde jeder wissen, wer ich war, und über unsere Anwesenheit tuscheln.
»Kann man so sagen, ja«, meinte sie und hielt meinem prüfenden Blick stand, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. »Und bei Ihnen?«
Die Arme hatte sie inzwischen vor der Brust verschränkt und sie betonte das letzte Wort. Mir gefiel, wie sie beiläufig einen Kaugummi kaute und mich von der Seite musterte.
»Mein Tag war auch beschissen«, gab ich zu und beobachtete, wie der Wind ihre Haare zerzauste.
Ein leichtes Zucken durchfuhr ihre sanften Gesichtszüge. »Was ist passiert?«
»Das Übliche. Stress mit den Eltern.«
Sie versuchte zu lachen, doch es klang gekünstelt. »Wow, Sie haben auch alltägliche Probleme? So wie Sie aussehen, scheinen Sie sich lediglich für Ihre Kleidung zu interessieren«, entgegnete sie mit hämischem Unterton.
Ich reckte das Kinn und setzte einen undurchdringlichen Blick auf. Ihre wachsamen Augen funkelten herausfordernd.
»Und wie sehe ich aus?«, fragte ich.
»Ziemlich gestriegelt.«
»Na, vielen Dank auch.«
Als ich sie amüsiert anschaute, senkte sie den Blick. Fieberhaft überlegte ich, wie ihre Freundin die zwei vorhin vorgestellt hatte. Ich meinte, mich an den Namen Lauren zu erinnern.
»Was soll eigentlich diese alberne Sonnenbrille? Es ist nachts und so hell kann der Mond gar nicht blenden.«
Ich fixierte sie, obwohl ich wusste, dass sie es nicht erkennen konnte. Sie legte den Kopf schief und fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar. Mir fiel auf, dass ihre Kleidung ein wenig abgetragen und an ihrem Mantelsaum ein winziger Fleck war. Aber vielleicht irrte ich mich und es handelte sich um einen Schatten, den der Mond auf sie warf.
»Ich bin lichtempfindlich.«
»Alles klar.« Sie grinste mich an. »Und was verschlägt Sie in der Dunkelheit hier oben an Deck?«
»Jonathan hat seine Socke über unseren Türknauf gehängt und treibt es wohl gerade mit Ihrer Freundin. Ich bin für den Rest der Nacht obdachlos.«
»Jane hat unseren Schlüssel in der Hosentasche. Ich komme auch nicht in unser Zimmer.« Sie runzelte die Stirn. »Das soll hier aber keine billige Anmache werden, oder? Dann würde ich nämlich leider dankend ablehnen.«
Als ich ihren entgeisterten Gesichtsausdruck sah, musste ich unwillkürlich grinsen. »Keine Sorge, ich werde ein anderes Zimmer finden. Sie sind eh nicht so mein Typ.«
»Autsch.«
Ihr Schmunzeln und ihre stolze Haltung verrieten mir, dass sie genau wusste, wie gut sie aussah und dass ich nur scherzte.
Trotz des Regenmantels erkannte ich ihren wohlgeformten weiblichen Körper. Sie war keine gebrechliche Bohnenstange, wie einige der adeligen Schnepfen, die bloß keine Kalorie zu viel zu sich nahmen. Ein Gramm mehr auf der Waage und der nationale Notstand wurde ausgerufen.
Unsere Blicke trafen sich. Das schimmernde Grün ihrer Augen erinnerte mich an den Urwald in Australien, über dem ein Nebelhauch lag.
Sie reckte ihre zarte Nase in die Luft, als ein kräftiger Windstoß über uns hinwegfegte. Mit der Zungenspitze strich sie sich über die volle Unterlippe und ein Kribbeln fuhr von meinem Rückgrat direkt in meinen Schritt.
Das konnte ich gerade gar nicht gebrauchen.