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Der Palast steht unter Schock. Die Angriffe haben etliche Opfer gefordert und große Teile der Schlossanlagen zerstört. Während die Königsfamilie nach Whitcaster umzieht, wird Lauren von der Widerstandsgruppe in eine Lagerhalle gebracht, wo sie endlich die Wahrheit über das Verschwinden ihres Vaters erfährt. Eines ist danach sicher: Cordelius muss vom Thron gestürzt werden. Mit der Unterstützung König Herolds und dem Geschick von Laurens Vater schmieden sie einen Plan. Doch nicht jeder steht auf der Seite derjenigen, die den belvarischen König zu Fall bringen wollen. Alexander und Lauren müssen sich fragen, ob ihre Liebe und ihr Vertrauen zueinander ausreichen oder ob sie geradewegs in eine Falle laufen ...
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Maddie Sage
IMPERIAL – Until Daylight
Band 3
Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.
IMPERIAL – Until Daylight
Copyright
© 2022 VAJONA Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Lektorat und Korrektorat: Larissa Wolf
Umschlaggestaltung: Julia Gröchel unter Verwendung von Motiven von Rawpixel
Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz
ISBN: 978-3-948985-23-3
VAJONA Verlag Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
www.vajona.de
Für Lukas.
Playlist
Lover – Taylor Swift
Wings – Birdy
Chasing Cars – Snow Patrol
Unstoppable – Sia
Daylight – Taylor Swift
Here I Go Again – Drew Amaranth
Circles – Post Malone
Save Your Tears – The Weeknd
lessons – mxmtoon
Watershed – Giant Rooks
Don’t You – Simple Minds
New Romantics – Taylor Swift
Say Something – A Great Big World, Christina Aguilera
Whatever It Takes – Imagine Dragons
Descent – Lawless, Dawn Golden
See You Again – Wiz Khalifa, Charlie Puth
Prolog
Vielleicht hätte er sich freuen sollen, seine Kinder wiederzusehen und zumindest eines davon in seiner Nähe zu wissen. Doch der Zahn der Zeit hatte auch bei ihnen Spuren hinterlassen. Sie waren längst nicht mehr die kleinen Babys, die er auf dem Arm gehalten und denen er geschworen hatte, sie niemals in Gefahr zu bringen.
Das Gegenteil war eingetreten.
Er hatte dafür gesorgt, dass beide Mädchen sich auf dünnem Eis bewegten. Auch seine Frau war nicht mehr sicher.
Zu wissen, dass Maybelle entführt worden war, brach ihm das Herz. Lauren zu sehen, wie sie mit verletztem Arm und völlig erschöpft gegen ihre Freundin Jane gesunken war, ließ ihn an seinem Vorhaben zweifeln.
Zu viele seiner Kämpfer waren heute gestorben. König Herold hatte ihm versichert, ihn nicht anzugreifen, da sie nur gekommen waren, um Cordelius zu stellen, doch stattdessen hatten belvarische Soldaten auf teils unbewaffnete Widerständler geschossen, die keine Chance gehabt hatten.
Er konnte von Glück sagen, dass Vivienne die beiden Mädchen rechtzeitig gefunden hatte, um ihnen Deckung zu geben. Nachdem die königlichen Familien ins Versteck gebracht worden waren, war er von allen Seiten angegriffen worden. Christopher und ein paar weitere seiner Männer hatten ihm dabei geholfen, in dem von Herold bereitgestellten Helikopter zu verschwinden. Kurz bevor er abgehoben war, waren zwei Mädchen mit einer bewusstlosen Person auf sie zugeeilt. Er hatte sofort gewusst, dass es sich um seine älteste Tochter handelte, die in den Armen der Mädchen gehangen hatte.
Schon einige Male hatte er sie von Weitem beobachtet und sich nicht getraut, sie anzusprechen. Als sie ihm auf die Schliche gekommen war, hatte er seine Identität geleugnet. Sich als Michael Blake ausgegeben. Doch sie war clever und hatte ihn erneut im Krankenhaus aufgesucht.
In einem Moment der Schwäche hatte er sich dann auch noch seiner jüngsten Tochter offenbart, mit der er sich in einem Café getroffen hatte, um ihr näher zu kommen. Dabei hatte er seiner Frau deutlich gemacht, um jeden Preis auf May aufzupassen.
Die vier verpassten Jahre waren beiden Mädchen anzusehen. Sie waren erwachsen geworden. Nicht mehr seine kleinen Töchter, wie er sie in Erinnerung hatte, sondern hübsche Frauen, die bereit waren, sich den Tücken und Problemen des Lebens zu stellen. Und trotzdem verspürte er den Drang, sie mit allem, was er hatte, zu beschützen. Die Welt war schlecht und er hatte am eigenen Leib erlebt, wie furchtbar selbst unschuldige Menschen behandelt wurden.
Auch wenn die beiden groß geworden und ohne ihn überlebt hatten, wollte er sie immer noch vor Schmerzen und Leid beschützen. Sie würden in seinen Augen auf ewig zwei unschuldige, liebenswürdige Wesen bleiben, bei denen er gehofft hatte, alles richtig machen zu können.
Doch er hatte versagt.
Es gab keinen weiteren Plan.
Er würde sich etwas aus dem Kreuz leiern müssen, um seine Familie zu beschützen. Die Familie, die er wiedersehen durfte, weil Kate sich für ihn geopfert hatte. Ihr war dieses Glück nicht vergönnt gewesen.
Umso stärker musste er für die Gerechtigkeit kämpfen, die die Gesetze ihres Landes nicht zu regeln vermochten. Er hielt nichts von Selbstjustiz, würde diesen Schritt nicht gehen, wenn er wüsste, dass es ein irdisches Gericht gäbe, das für einen Ausgleich sorgte.
Ihm war schmerzlich bewusst, dass dem nicht so war.
Solange König Cordelius an der Macht war, würde er alles tun, um seinen Willen durchzusetzen. Menschen inhaftieren. Foltern. Töten.
Er durfte nicht aufgeben. Ihretwillen.
Sein Kampf war so viel wichtiger, als bloß seine eigenen Schuldgefühle zu ersticken. Er wollte nicht nur Kate rächen, die er selbst hatte töten müssen. Es war ebenso seine Aufgabe, die Welt von einem Tyrannen befreien.
Niemand wusste, zu was dieser Mann imstande war.
Niemand ahnte, was er alles plante.
Einer Sache war George sich sicher: Er musste diesem Monster einen Schritt voraus sein. Dass seine Pläne bisher einer nach dem anderen kläglich gescheitert waren, verbannte er aus seinen Gedanken.
Er würde sich auf die Hilfe seiner Tochter verlassen können. Die ihrer Freunde und seiner Widerstandsgruppe. König Herold und der Prinz. Sie alle müssten an einem Strang ziehen, wenn sie sich gegen den belvarischen König auflehnen wollten.
Es war kein Unterfangen, das man von heute auf morgen plante, doch sie hatten nicht genügend Zeit, um alle Eventualitäten zu bedenken. Sechs Wochen war alles, was ihnen bliebe, um eine Katastrophe epischen Ausmaßes zu verhindern. Wenn bis Weihnachten nicht alles in Sack und Tüten war, hätten sie verloren.
Und Verlieren stand nicht auf seiner Agenda.
Noch im Helikopter hatte er sich an die Arbeit gemacht, um eine neue, bessere Strategie zu entwickeln. Zettel und Stift hatte er sofort parat gehabt.
Er kritzelte wirr auf dem Blatt herum.
Ihm würde nicht noch einmal etwas entgehen. Dass Cordelius eigene Soldaten mitgebracht hatte, war sicherlich kein Zufall gewesen.
»Christopher, hast du in der Nähe des belvarischen Königs jemanden gesehen, der dir auffällig vorkam?«, fragte er den blonden Jungen, der in der Ecke saß und die Mädchen betrachtete, die sich aneinanderklammerten.
Vor ein paar Monaten hatte er Kontakt zu ihm aufgenommen, damit er sich um seine Familie kümmerte, wenn er es nicht konnte. Kurz nachdem er aus dem Gefängnis geflohen war, hatte er ihn aufgesucht und ihm von seinem Plan berichtet. Christopher war sofort begeistert gewesen und hatte zugestimmt.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Sorry, George, aber ich habe nichts bemerkt.«
Er seufzte und widmete sich erneut seinem Blatt. Während er Namen, Orte und wahllose Wörter aufschrieb, regte sich seine Tochter. Sofort fragte sie nach ihrer Schwester und dem Verbleib des Prinzen, doch niemand wusste eine Antwort. Ihre Miene versteinert sich und sie fiel wieder in einen Schlaf.
Viviennes Rotschopf erschien in seinem Blickfeld. Ihr Ausdruck war besorgt und sie betrachtete die Kritzelei auf seinem Papier. »Du solltest eine Pause machen, George.«
Er schüttelte vehement den Kopf. »Ich habe keine Zeit für Pausen. Deine Mutter würde es verstehen.«
Sie verzog das Gesicht. »Mum würde sicher auch verstehen, dass du hin und wieder Schlaf brauchst. Es ist niemandem geholfen, wenn du draufgehst, weil du übermüdet bist. Wenn wir angekommen sind, legst du dich ein paar Stunden aufs Ohr. Kein Kaffee, keine Stifte, keine Kreuzzüge. In Ordnung?«
Normalerweise würde er sich nichts von einem Teenager sagen lassen, doch er wusste, dass sie recht hatte. Seit ein paar Tagen bestand er zu neunzig Prozent aus Koffein und hatte die ganze Zeit kaum ein Auge zugemacht. Wenn er sich für einen Moment hinlegen und die Sorgen um sich herum vergessen würde, könnte er seine Gedanken wieder ordnen. Morgen sähe die Welt schon anders aus.
Er würde eine Bestandsaufnahme machen und jede Sekunde dieses misslungenen Angriffes durchgehen, um zu dem Punkt vorzudringen, an dem alles aus dem Ruder gelaufen war.
Bis morgen hatte er Zeit.
Nach einer Mütze voll Schlaf würde er sich einen Schlachtplan ausdenken, der es in sich hätte. Den Cordelius nicht kommen sähe und mit dem sie gewinnen würden.
Denn er verlor nicht.
Er war es Kate schuldig. Er war es seiner Familie schuldig.
Allen voran, war er es sich selbst schuldig.
»Wie weg?«
»Weg im Sinne von fort. Verschwunden. Abgehauen. Soll ich die Definition nachschlagen?« Jonathan verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Augenbrauen hoch. Doch mir entging das Zittern in seiner Stimme nicht.
»Verdammt, wir können nur hoffen, dass sie in Sicherheit sind.« Ich stieg über die zerrissenen Vorhänge und die ruinierten Gemälde meiner Urahnen. Trümmer von Marmorstatuen und jede Menge Blut. Übelkeit stieg in mir auf. Was, wenn Cordelius uns zuvorgekommen war?
Benjamin war kreidebleich um die Nase. »Jane und Lauren geht es sicherlich gut.«
Gabriel drückte sanft meine Schulter, doch seine Geste sorgte kein bisschen dafür, dass ich mich beruhigte.
Ich war vorhin für einen winzigen Augenblick erleichtert gewesen, als ich meine Kumpels unversehrt aus einem der anderen Verstecke hatte kommen sehen. Und doch kreisten meine Gedanken mit jedem Herzschlag nur um Lauren.
»Wir haben dreiundzwanzig Menschen verloren. Neunzehn unserer Gäste und vier Wachen. Drei Mädchen sind unauffindbar. Die restlichen Toten wurden auf Angreiferseite eingebüßt«, informierte Angus gerade meinen Vater, der das Ausmaß des Angriffs überblicken wollte.
»Was für ein Bild.« Der König seufzte und sank in die Knie. »Ich habe versagt. Mein Volk im Stich gelassen. Wie konnte das bloß geschehen? Was habe ich falsch gemacht?«
Ob ich wollte oder nicht, er tat mir leid. Ich hatte ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt. Auch wenn er sicher nicht den Preis für den besten Vater der Welt gewinnen würde und mich mit der Sache mit Lauren hatte auflaufen lassen, wollte ich nicht, dass er enttäuscht von sich selbst war. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um den Interessen des Volkes gerecht zu werden - wie es einem Monarchen von Geburt an aufgetragen wurde. Und auch heute hatte er sein Möglichstes getan, um Lauren vor Cordelius' Fängen zu bewahren.
Trotzdem rang ich mich nicht dazu durch, zu ihm zu gehen. Stattdessen betrachtete ich meine besten Freunde. Jonathans Haare waren verwuschelt und unter seinen grauen Augen lagen tiefe Schatten. So in etwa sah ich also auch aus. Vermutlich noch schlimmer.
Meine Glieder fühlten sich schwer an. Als würden unsichtbare Gewichte an ihnen hängen und mich in die Tiefen des Ozeans meiner Gefühle entführen. Ich würde an ihnen ertrinken, wenn Lauren nicht zu mir zurückkehrte. Panik lähmte meine Gedanken, meine Glieder, meine Atmung. Ich wollte weg von hier, nur noch weg.
»Was machen wir jetzt?« Jonathans Lippen verzogen sich zu einem wütenden Strich. Das Feuer der letzten Wochen war aus seinen Augen verschwunden.
Der gestrige Abend, vor allem aber die letzte Nacht, hatte jedem von uns zugesetzt und mit einem fiesen Ziehen im Bauch zurückgelassen. Alice und meine Mutter hatten sich in die Bibliothek verzogen. Einer der wenigen Räume, der im Westflügel nicht zerstört worden war. Der Eingangsbereich, der Korridor, der zum Speiseraum führte, und der Ballsaal waren ein Schlachtfeld. Ich wagte es kaum, die Augen offenzuhalten, denn die leblosen Körper erinnerten mich schmerzlich daran, was hier geschehen war. Wie furchtbar Cordelius sich verhielt und wie schamlos er unschuldige Menschen hatte töten lassen. Eisige Kälte griff nach mir, wenn ich daran dachte, was er Maybelle oder Lauren antun könnte.
Alice und meine Mutter wollten meinen Vater nicht sehen, hatten die Nase gestrichen voll von ihm und seinem angeblichen Vorhaben, Lauren dem belvarischen König auszuliefern, um ihren Vater zur Rechenschaft ziehen zu können. Als würde es nicht reichen, dass er den Mann jahrelang von seiner Familie ferngehalten und in einem Gefängnis verrotten gelassen hatte.
Ich sträubte mich innerlich dagegen, diese Scharade weiter aufrecht zu erhalten, aber ich hatte keine andere Wahl. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auf die Expertise von Laurens Dad und meinem Vater zu verlassen. Auch wenn ich so gern noch mehr getan hätte.
Nachdem Alice und ich den Notknopf gedrückt hatten, war ich aus dem Versteck gerast. Hatte den Palast nach einer Spur von Lauren abgesucht. Aber ich hatte sie nicht gefunden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Und mit ihr Jane und Vivienne.
Ich verspürte einen Hauch von Erleichterung, als Angus uns mitgeteilt hatte, dass sie nicht unter den Toten waren. Andererseits hieß das nicht, dass sie noch lebten. Der Rebellenangriff von Georges Widerstandsgruppe war mehr als schiefgegangen. Sie hatten Nebelbomben zünden wollen, um für Verwirrung zu sorgen und Lauren in Sicherheit zu bringen. Nach den Schlagzeilen rund um unseren Kuss in London hatte Cordelius nur auf eine Gelegenheit gewartet, George aus der Reserve zu locken. Er hatte neben seinen Bodyguards noch andere Kämpfer ins Schloss geschleust, die nicht gezögert hatten, jeden zu töten, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte.
Diese wahnwitzigen Angreifer hatten Lauren möglicherweise gefangen genommen und entführt. Oder noch schlimmer: mitgenommen und getötet. Vielleicht hatten sie sogar Maybelle schon etwas angetan.
Leere und Kraftlosigkeit nahmen Besitz von mir. »Majestät, wir müssen nach Whitcaster umziehen. Der Wiederaufbau von Wittles Cay wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Westflügel wird mindestens bis zum Frühjahr unbewohnbar sein.«
Die Worte von Vaters Generalsekretär hallten dumpf in meinem Kopf wider. Meine Sinne waren alle wie in Watte gehüllt. Als wäre ich unter Wasser und meine Augen das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte. Doch selbst bei ihnen war ich mir nicht sicher, ob sie mir Streiche spielten. Als würden sie mir im nächsten Augenblick Lauren vors Gesicht zaubern. Ihre braunen Haare und die glitzernden, grünen Augen, die sie beim Lachen zusammenkniff.
Meine Augäpfel brannten. Ein Feuer, das sich über meinen gesamten Körper ausbreitete. Entflammt stand ich da. Zwischen all den Menschen, die sinnlos ihr Leben gelassen hatten. Zwischen all den vertrauten Dingen, die von Fremden mutwillig zertrümmert worden waren. Als wäre all jenes, was mich und meine Familie ausmachte, in nur einer Nacht ruiniert worden. Ein Vermächtnis, das nicht länger greifbar war. Stattdessen lagen Fetzen alter Schriften und Bilder um mich herum. Antike Reliquien, die meine Vorfahren vor etlichen Jahrhunderten hinterlassen hatten. Eine Ausstellung unserer größten Erfolge und bittersten Niederlagen.
All das war innerhalb weniger Stunden von den Angreifern geschändet worden. Ein Teil der Vergangenheit von Wittles Cay war hemmungslos vernichtet worden.
Meine Beine verließ die Kraft und ich sackte zusammen. Unsanft landete mein Hintern auf dem kühlen Steinboden.
Einige der Angestellten wuselten geschäftig hin und her. Sie trugen große Eimer und Müllsäcke mit sich. Mühsam schrubbten sie mit handgroßen Bürsten getrocknetes Blut von dem staubigen Untergrund der Empfangshalle.
Es war trostlos.
Wie die Zeit nach einem Krieg.
Ich musste zwar glücklicherweise nie einen Krieg miterleben, doch die Bilder in den Geschichtsbüchern und die Erzählungen meiner Großeltern genügten, um mir eine vage Vorstellung von den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu geben.
Trümmer, Blut, schmerzverzerrte Gesichter. Überall Staub, Rückstände von Patronen und Ruß. Am schlimmsten aber war der Geruch. Ein Gemisch aus Eisen, Asche und Schweiß. Ich hielt an mich, um mich nicht im hohen Strahl neben einen der Angestellten zu übergeben.
»Ich habe versagt, Angus«, wiederholte mein Vater mit belegter Stimme.
Jonathans Hand senkte sich auf meinen Rücken. Ich hatte nicht bemerkt, dass er sich neben mich gehockt hatte und mich mitleidig anschaute. »Lass uns von hier abhauen. Wir müssen uns die Scheiße nicht länger mit ansehen.« Ich wollte seinen Worten Glauben schenken, dennoch hatte ich das Gefühl, als müsste ich genau das tun, damit wir so etwas zukünftig zu verhindern wussten. Ich würde nicht vergessen, was geschehen war. So sehr ich das Ganze auch verdrängen wollte. Die Schreie, die Schüsse und der angsterfüllte Blick aus Laurens Augen hatten sich für immer in meine Seele eingebrannt. Ich konnte nichts dagegen unternehmen.
Ich rappelte mich schwerfällig auf. Mir war nach Heulen zumute. »Ich muss Lauren finden! Es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, wo sie ist.«
»Mich auch … Ich … Scheiße, ich dreh fast durch.« Er rieb sich über die Arme und sah hinunter in die Eingangshalle. »Lass uns so schnell wie möglich abhauen und nach ihnen suchen.«
Wie mechanisch nickte ich meinem Freund zu.
Als wir uns in Bewegung setzten, hielt Angus mich am Arm zurück. »Hoheit, es ist besser, Ihr packt Eure wichtigsten Habseligkeiten schon einmal zusammen. Wir werden vor dem angekündigten Schneesturm nach Whitcaster aufbrechen. Die Angestellten und die Polizei werden sich hier um alles kümmern.«
Statt direkt in mein Zimmer oder die Bibliothek zu eilen, schlug ich einen anderen Weg ein. Die Zerstörung in diesem Teil des Schlosses war überschaubar. Lediglich einige Gemälde und Wandleuchter waren ruiniert. Die mir entgegenkommenden Angestellten bemerkten mich kaum und wenn, dann machten sie eine halbherzige Verbeugung, aus der ich sie rasch wieder entließ. Sie sollten nicht an den Traditionen festhalten, wenn wir alle noch unter Schock standen. Ich hatte mehr Privilegien als sie und mein Geburtsrecht eröffnete mir etliche Türen, aber auch ich war kein Gott. Ich hätte gestern Nacht sterben können. So wie die dreiundzwanzig Menschen, die gestern ihr Leben gelassen hatten.
Ich schluckte den Kummer und meine missmutigen Gedanken hinunter. Meine letzte Hoffnung lag hinter der Tür vor mir. Eine Tür, die mir im Sommer noch offen gestanden hatte und die wegen meiner eigenen Dummheit den gesamten Herbst lang verschlossen gewesen war. Jetzt würde sie ein halbes Jahr verriegelt bleiben. Niemand würde sich darum kümmern, was hinter der Nummer 1410 verborgen lag.
Routinemäßig klopfte ich an. Ich lauschte, ob sich hinter dem Holz etwas tat.
Nichts.
Langsam drückte ich die Klinke hinunter. Mein Körper konnte nicht anders, als erwartungsvoll zu zittern, und mein Herz begann zu rasen. Diese verdammte Hoffnung.
Es war dumm, zu glauben, sie würde friedlich in ihrem Bett liegen. Aber ein kleiner, irrationaler Teil meines Hirns hoffte, sie würde in ihrem Zimmer sein. Hätte diesen Ort nie verlassen. Wäre nicht entführt worden oder vielleicht sogar getötet.
Meine Hände kribbelten, als ich die Tür endlich aufschwang.
Dahinter war nichts. Wie zu erwarten.
Die Betten waren unberührt, die Vorhänge zugezogen. Es duftete nach frisch gewaschener Kleidung und Laurens ganz persönlichem Parfum. Ich trat in den Raum, obwohl mich eine unsichtbare Kraft darin hindern wollte, die Schwelle zu überqueren. Es war nicht richtig, hier reinzuschneien. Ich fühlte mich beinahe wie ein Einbrecher. Unerwünscht in dieser Umgebung. Ein Eindringling in Laurens Privatsphäre.
Ich schüttelte den Kopf und schloss die Tür hinter mir. Diese wirren Gedanken bekamen mir nicht.
Mein Vater hatte mir vor dem Ball noch erzählt, was mit ihrem Dad geschehen war. Warum sie seinetwegen in Gefahr war. Was Cordelius meinte, gegen ihn in der Hand zu haben.
Falls das, was Vater mir aufgetischt hatte, überhaupt der Wahrheit entsprach. Oder ob selbst das ein billiger Trick gewesen war, um mich von Lauren fernzuhalten. Womöglich war ihm die Allianz mit Belvarien doch wichtiger als mein persönliches Wohl. Vielleicht war all das nur eine große inszenierte Show, aus der wir alle außer Cordelius als Verlierer hervorgingen. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte und wem ich vertrauen konnte.
All diese Gedanken konnte ich nicht mit Lauren teilen, weil sie nicht hier war. Weil ich nicht bei ihr war. Weil um uns herum alles in Trümmern lag.
Mein Herz verlangte nach ihr. Ich hatte von Anfang an alles vermasselt. Seit unserer ersten Begegnung war ich ein riesiger Vollidiot gewesen. Ein Wunder, dass sie mir überhaupt eine zweite Chance gegeben hatte. Und ich hatte mit ihren Gefühlen gespielt wie ein feiger Mistkerl, anstatt ihr von Anfang an die Wahrheit zu sagen. Als ob mein verfluchtes Amt so viel wichtiger war als Laurens Herz.
Meine Granny hatte Recht. Es gab immer eine Wahl.
Meine würde definitiv auf die Liebe fallen. Ich musste nur noch herausfinden, wie ich Lauren finden konnte. Dieser Angriff hatte mir gezeigt, was wirklich zählte. Und das war sicher nicht diese Allianz zwischen Wittles Cay und Belvarien.
Daran, dass Lauren möglicherweise nicht einmal mehr lebte, wollte ich nicht denken. Ich würde so lange keinen anderen Gedanken zulassen, bis ich Gewissheit hätte. Ich hielt mich daran fest, dass ihr Herz nicht aufgehört hatte zu schlagen. Man würde doch spüren, wenn die Person, die man am meisten liebte, nicht mehr lebendig war, oder?
Ich streckte mich auf Laurens Bett aus und erinnerte mich daran, wie sie sich in meinen Armen angefühlt hatte. Wie sie mir ihre Vergangenheit anvertraut hatte. Wie sie auch meinen Sorgen gelauscht hatte. Wie sie sich an mich geschmiegt und mir allein mit ihrer Anwesenheit das Gefühl gegeben hatte, ein normaler Mensch zu sein.
Die Vorstellung von ihr wärmte mich von innen. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, als ich ihren Skizzenblock auf dem Nachttisch entdeckte.
Ich nahm ihn an mich und schlug das Deckblatt nach hinten. Zum Vorschein kam eine Zeichnung von mir. Es waren schwungvolle Striche, mit denen sie mein Gesicht zu Papier gebracht hatte. Mein Ebenbild lächelte sanft, hatte einige Bartstoppeln und mein Grübchen kam zum Vorschein. Es war, als würde ich in einen Spiegel schauen.
Tränen der Verzweiflung brannten hinter meinen Augen. Ein Gefühl, das ich zuletzt gehabt hatte, als Lauren aus meinem Zimmer gerauscht war, weil ich ihr ein weiteres Mal das Herz aus der Brust gerissen hatte. Und davor, als Arthur vor einigen Jahren verschwunden war. Vor zwei Jahren, als mein Großvater gestorben war und wir hinter seinem Sarg zur Kapelle herlaufen mussten. Als Granny auf der Trauerfeier in Tränen ausgebrochen und aus dem Saal gestürmt war.
Trauer kam nur in mir auf, wenn es um Personen ging, die mir wirklich am Herzen lagen. Menschen, für die ich alles tun würde und die einen hohen Stellenwert in meinem Leben einnahmen. Es gab davon nicht besonders viele, deshalb tat es bei jedem Einzelnen umso mehr weh.
Mir wurde klar, dass Lauren mittlerweile einer dieser Menschen war. Und auch wenn ich sie fände und sie dann beschließen würde, mir keine Chance mehr zu geben, würde ich so lange an der Hoffnung auf eine Beziehung mit ihr festhalten, bis das Leben mir etwas anderes offenbarte.
Das Leben oder Cordelius.
Ich wusste nicht, ob Vaters und Georges Plan, ihn zu stürzen, aufgehen oder ob wir uns durch alles, was wir taten, nur weiter im Sumpf verlieren würden. Zwar wirkte Vater zuversichtlich, hielt an der Vorstellung einer besseren Zukunft fest und daran, ich könnte eines Tages selbst entscheiden, wen ich heiraten wollte – doch mir kam es so vor, als wäre das hier alles nur ein Hinauszögern des Unausweichlichen … Wir verrannten uns womöglich in etwas, das keiner von uns einschätzen konnte.
Es erschien mir beinahe sinnlos, eine so unerreichbare Hoffnung zu verfolgen, die auf ein glückliches Zusammenleben mit Lauren gerichtet war, aber das Verlangen nach ihr trieb mich an. Nahm mir die Entscheidung ab.
Ich blätterte durch ihre Skizzen.
Eine von der Vorderseite des Schlosses. Eine vom Wald gegenüber des Palastes, wo wir einmal gepicknickt und sie ein atemberaubendes Bild von dem Lavendelfeld gezeichnet hatte.
Schließlich war da noch eine Skizze von May, wie sie in einem hübschen Kleid auf der Bühne stand und eine Tanzfigur vollführte. Es musste aus Laurens Erinnerung stammen, denn das Datum darunter war von letzter Woche. Ich klappte den Block zu.
Mein Entschluss war gefasst. Mit ihren Skizzen in der Hand eilte ich aus dem Zimmer.
Das Erste, was ich hörte, war ein Poltern. Das Zweite war ein Wimmern.
In meine Nase stieg der Duft von frisch gebackenen Plätzchen, die es normalerweise nur an Weihnachten gab. Ich rieb mit den Fäusten über meine verschlafenen Augen, was einen fiesen Schmerz in meinen linken Oberarm jagte. Zischend biss ich die Zähne aufeinander.
Fast hätte ich vergessen, dass ich einen Splitter abbekommen hatte, als das Schloss angegriffen worden war. Kurz nachdem Wren meinen Vater mit einer waschechten Pistole bedroht hatte.
Ich hatte zuvor noch nie eine echte Waffe gesehen, geschweige denn gehört, wie jemand einen Schuss abfeuerte. Meine Glieder waren schwer. Bleierne Müdigkeit lag auf meinen Augen, die ich nur mit Mühe offen hielt.
Ich fühlte mich, als wäre ich aus einem tagelangen Albtraum erwacht. Die Angst saß mir noch immer tief in den Knochen. Sorge um meine Schwester vernebelte meine Gedanken.
Ich war in einem Zimmer, das ich nicht kannte und lag mit der rechten Seite auf einem Sofa. Mein Blick war auf den Fernseher gerichtet, der gerade stumm die Nachrichten übertrug. Der Nachrichtensprecher schaute erschrocken in die Kamera, während er irgendwelche Neuigkeiten verkündete.
Ich entdeckte das Schloss auf Wittles Cay Island. Der König wurde interviewt. Er stand vor dem Eingangstor und wirkte völlig durch den Wind. Von Alexander und Alice fehlte jede Spur, doch in der unteren Einblendung von Eilmeldungen stand, dass den königlichen Familien nichts zugestoßen war.
Erleichterung durchfuhr mich.
Als ich mich aufrichten wollte, zuckte ich jedoch vor Schmerz zusammen. Mein Oberarm zitterte und fühlte sich an, als wäre er ein Fremdkörper.
Ich musterte den provisorischen Verband, den mir irgendjemand gemacht haben musste, während ich geschlafen hatte.
Wo waren Jane und Vivienne? War May vielleicht auch hier?
Ich erinnerte mich nur noch bruchstückhaft an die Flucht aus dem Schloss. Von dem vielen Blut, das aus meinem Arm gesickert war, war ich in Ohnmacht gefallen. Die rote Flüssigkeit konnte ich noch nie gut sehen. Erst als wir am Flugplatz angekommen waren, hatte ich mein Bewusstsein zurückerlangt. Meine Freundinnen hatten mich in den Helikopter getragen, als sich meine Augen kurz geöffnet hatten. Ein vertrautes Gesicht war vor mir erschienen, doch eine Zuordnung war mir nicht vergönnt gewesen.
Wir waren von einem kleinen Jet mitgenommen worden. Keinen Schimmer, wie dieses Teil dort hingekommen war. Vermutlich war er ein Notfallplan gewesen. Ich würde Vivienne danach fragen müssen. So vieles war mir noch unklar. Ich schwebte wie im Traum über einer Realität, die ich nicht kannte. Etwas, das sich falsch anfühlte.
Ich wollte hier nicht sein. Ich wollte einfach meiner Arbeit nachgehen. Oder studieren. Nach Hause. Schlafen. Zu Mum und May. Zu Alexander.
Alles Personen, von denen ich nicht wusste, wo sie sich befanden und ob es ihnen gut ging.
Wo zur Hölle war ich denn überhaupt?
Maybelle.
Als ihr Name erneut durch meinen Kopf schwirrte, beschleunigte sich mein Puls und heiße Tränen bahnten sich ihren Weg hinaus. Ich ließ es zu und sie flossen in Strömen über meine Wangen. Trauer und Hoffnungslosigkeit übermannten mich.
Schluchzer schüttelten meinen Körper. Japsend schnappte ich nach Luft.
»Lauren, du bist wach?«
Der Schleier vor meinen Augen lichtete sich und ich entdeckte Vivienne, die plötzlich vor mir hockte. Ihre roten Haare waren zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt und ihre winzigen Sommersprossen leuchteten auf ihrer hellen Haut. Sie trug einen meiner alten Pullis, die ich immer in der Schule getragen hatte.
»Wo ist Jane?«
»Sie schläft nebenan im Zimmer. Ihre Panikattacke hat sie nicht gut weggesteckt.« Vivienne half mir dabei, mich aufzurichten.
Von allein hätte ich es nicht geschafft, dafür pochte der Schmerz noch immer in meinem Oberarm. Ich verfluchte diesen verdammten Splitter, der in meinen Muskel gedrungen war.
»Was ist passiert, als ich ohne Bewusstsein war? Und wo sind wir hier? Was hat Dad mit alldem zu tun?« Meine Stimme klang rau und die Worte fühlten sich wie Schmirgelpapier auf meiner Zunge an.
Meine Freundin wich meinem Blick aus. Sie glitt auf den Platz neben mir und starrte auf den Fernseher. Vivienne machte keine Anstalten, auf meine Fragen zu antworten.
Ich verlagerte mein Gewicht zur Seite, um sie besser betrachten zu können. »Vivi, bitte.«
Ich sah, wie sie schwerfällig schluckte. Mir wurde schwindelig bei ihrem Anblick. Was möglicherweise auch daher rührte, dass ich immer noch nicht sicher war, ob ich die Bilder der letzten Nacht jemals verarbeiten könnte.
Es hämmerte an der Tür.
Ich fuhr zusammen, obwohl ich wusste, dass es nur Jane sein konnte und der Angriff beendet war.
Vivienne stand auf und spähte durch den Türspalt.
Ungeduldig stand ich auf, hielt jedoch inne, da ich nicht wusste, wen ich mir in diesem Augenblick am meisten herbeiwünschte.
May, um zu wissen, dass alles mit ihr in Ordnung war? Mum mit Plätzchen und einer dicken Umarmung? Alexander mit einem sanften Kuss oder Dad mit der Wahrheit?
Eine kleine Ewigkeit rührte sich meine Freundin vor der Tür nicht. Ich wagte es nicht zu atmen. Wie in Zeitlupe trat sie in den Raum, während sie die Tür aufzog.
Als ich erkannte, wer dort stand, versuchte ich, erschrocken nach irgendetwas zu greifen, was mir Halt bieten würde. Stattdessen griff ich nur ins Leere.
Ich prallte mit der Seite gegen die Wand und stöhnte, als ich die volle Härte des Betons spürte. Der Schmerz glitt hinüber in meine andere Schulter und ich musste ein gequältes Aufheulen unterdrücken.
Dann blieb mir die Luft weg.
Auch im Halbdunkeln konnte ich seine Silhouette erkennen. Sein Körper war in die Uniform der königlichen Garde gehüllt. Innerhalb einer Sekunde überwand er die schier unendlich erscheinende Distanz.
Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Wunde pochte unerbittlich, als er weiter auf mich zu kam. Nur noch wenige Meter und ich warf mich ihm mit all meiner Sehnsucht entgegen.
Er hielt mich so fest an sich gedrückt, dass ich Angst hatte, er könnte mir die Rippen brechen. Er vergrub die Nase in meinem Haar und ich spürte seinen rasenden Herzschlag, als ich ihn noch fester an mich zog. Tränen der Erleichterung strömten hervor, als ich ihn von mir hielt und ihn betrachtete.
»Du lebst«, flüsterte ich.
Seine Mundwinkel hoben sich leicht an, während unsere Blicke sich miteinander verflochten.
»Du lebst«, wiederholte er und musterte mich von oben bis unten. »Was ist passiert?« Er atmete scharf aus, als seine Augen auf meinen Arm und den provisorischen Verband hinabblickten.
»Sie hatte Glück. Es war nur ein Splitter. Das verheilt hoffentlich schnell. Die Kugel hat sie knapp verfehlt«, mischte sich Vivienne mit in das Gespräch ein, als ich ihn nur angestarrt hatte.
Ächzend ließ ich mich auf das Bett sinken. »Dad, was machst du hier? Warum bin ich hier? Wo sind wir überhaupt? Was hat das alles zu bedeuten?« Tief ein- und ausatmend versuchte ich, nicht überzuschnappen, und zwickte mir einmal rasch in den Unterarm. Nur um zu testen, ob ich nicht vielleicht doch träumte. Es gab so viele Fragen, die wir klären mussten. So viele Antworten, die er mir schuldig war.
Er setzte sich neben mich und nahm zaghaft meine Hand. Das Lächeln auf seinen Lippen verlor ein wenig an Glanz, sodass mein Herz einen Satz machte.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen.
Mein Vater. Er lebte. Er war hier. Bei mir.
Der Mann, der beteuert hatte, er würde uns beschützen und nicht weiter in Gefahr bringen.
»Ist May hier?«
Er schüttelte den Kopf.
Ich seufzte resigniert und kämpfte erneut mit den Tränen. »Kann ich vielleicht mit Mum telefonieren? Sie bangt sicher um mein Leben, seit sie von den Angriffen auf den Palast gehört hat!«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Das geht gerade nicht, Kleine. Aber ich habe bereits mit ihr gesprochen und erzählt, dass es dir gut geht.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu glauben.
Nichtsdestotrotz durchfuhr mich eine ungezähmte Wut darüber, dass er mich so lange warten gelassen und mich als seine Tochter geleugnet hatte. Dass er mir verboten hatte, mit Mum und meiner Schwester zu sprechen. Nur deswegen war May entführt worden. Dessen war ich mir sicher. Weil sie ahnungslos in Whitcaster gewesen war. Schutzlos.
Ich starrte Vivienne einen Augenblick an und konnte nicht fassen, dass sie all die Zeit gewusst hatte, dass mein Vater lebte. Nie hatte sie etwas erzählt. Selbst als ich ihr die Ohren vollgejammert hatte, hatte sie mich angeschwiegen. Nur einmal hatte sie mich zum Krankenhaus geführt, um mit ihm zu sprechen.
Ich boxte gegen Dads Brust, ließ meiner Wut freien Lauf. In meinem Bauch brodelte es und mein Herz raste. Zorn entlud sich in meinen geballten Fäusten. Doch bevor ich mich in Aggression verlieren konnte, hielt mein Vater mich fest.
Er roch noch genauso wie damals. Wie in meiner Erinnerung. Dieser Duft, bei dem ich Angst gehabt hatte, ich könnte ihn eines Tages für immer vergessen.
»Ich werde versuchen, dir alles in Ruhe zu erklären. Und dann schmieden wir einen Plan.«
»Einen Plan wofür?«
»Laurie, nicht jetzt. Ich muss ein paar Dinge regeln. Wir haben bald mehr Zeit zum Reden.«
»Warum nicht, Dad? Du hast nie Zeit dafür, mir irgendetwas zu erklären. Kann bitte mal jemand Klartext sprechen?« Meine Stimme wurde mit jedem Wort lauter und schriller. Ich fühlte den Ärger durch meinen Körper rauschen.
»Bitte sei vernünftig. Niemandem ist geholfen, wenn du dich derart ungeduldig aufführst«, mahnte Dad, was mich noch ungehaltener werden ließ.
»Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Rede mit mir, so tun es Erwachsene doch. Worum in Gottes Namen geht es hier wirklich? Willst du so lange warten, bis ich auch entführt werde?«
Mein Vater sah mich schmerzverzerrt an und drehte sich zu Vivienne. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen und sie kaute sich auf der Unterlippe herum, schwieg jedoch.
Dad seufzte. »König Cordelius ist ein furchtbarer Mensch. Wir kämpfen gegen ihn. Er hat mich jahrelang in seinem Gefängnis festgehalten, vor einigen Monaten konnte ich aber fliehen. Du steckst in viel größerer Gefahr, als du nur erahnen kannst. Wir alle tun das.«
Ich stand vor dem hohen Spiegel im Flugzeug und betrachtete meine Reflexion. Meine Augen waren eingefallen, meine Haut aschfahl. Ich beugte mich hinunter und übergab mich in die Schüssel. In meiner Kehle brannte es. Galle stieg mir erneut die Speiseröhre empor. Und mein kaum noch vorhandener Mageninhalt gelangte ein weiteres Mal in die Flugzeugtoilette.
Konnte es noch erniedrigender werden? Ich kotzte mir die Seele aus dem Leib, während wir von dem zerstörten Palast auf Wittles Cay Island nach Whitcaster flogen, um dort Unterschlupf zu finden. Dieser verfluchte Virus hielt mich seit der Ballnacht in seinen Klauen. Ich ließ mich auf den Boden sinken und wischte den Schweiß von meiner Stirn. Mein Atem ging rasselnd. Die Haut wurde plötzlich zu eng für meinen Körper.
Ich lehnte den Kopf gegen die Wand und mein Blick wanderte über die weiße Decke des winzigen Raumes. Selten in meinem Leben hatte ich mich so fehl am Platz gefühlt. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. So wie wahrscheinlich jeder andere in diesem Flugzeug, in dem es so totenstill war, dass sicher alle meine Würgegeräusche hörten.
Seit dem Angriff auf das Schloss lag eine dunkle Wolke über uns allen. Jeder trug die Erinnerungen an die gestrige Nacht mit sich herum, kämpfte mit seinen eigenen Dämonen, die der Tod und die Zerstörung bei ihm hinterlassen hatte. Bei Alexander war es sicherlich die Sorge um Lauren. Seit Angus Harrison verkündet hatte, dass sowohl sie als auch zwei weitere Mädchen verschwunden waren, konnte ich sehen, dass in ihm etwas versteinerte. All seine Muskeln hatten sich angespannt und ich hatte beinahe gehört, wie ihm das Herz gebrochen war.
Ich konnte nur erahnen, wie es mir ergehen würde, wenn ich nicht wüsste, wo Ashton sich befände. Allein die Stunden im Versteck hatten mir den letzten Nerv geraubt. Nicht zu wissen, wie es ihm erging, hatte mein Blut in Wallungen gebracht. Die groteske Szene, die Alexander und seine Mutter König Herold gemacht hatten, hatte mich für kurze Zeit aus meiner Starre gerissen. Sie schienen keinen Schimmer davon gehabt zu haben, dass mein Vater die Zügel in der Hand hielt. Lange hatte er geplant, Alexander zur Zielscheibe der Medien zu machen, damit unser Land aus der Presse herausgehalten würde. Denn die Aufstände in Belvarien waren immer häufiger und ausschweifender geworden. Oft waren Verletzte darunter gewesen, inzwischen sogar ein Toter.
Ich hasste es, dass mein Vater nichts dagegen unternahm. Er ließ sie einfach weitermachen. Die Menschen gingen aufeinander los, nur um der Regierung zu zeigen, dass sie mit der Politik unzufrieden sind. Dass das, was mein Vater dort oben an der unerreichbaren Spitze des Landes tat, nicht dem Willen des Volkes entsprach.
Nur interessierte es ihn nicht mehr, was seine Bevölkerung dachte. Er wollte nichts von ihren Gefühlen oder ihrer Kritik wissen. Stattdessen zog er sein Regiment durch. Lehnte jegliche Erwähnung von Missständen ab und konzentrierte sich auf das, was er für richtig hielt. Dabei konnte es so falsch sein wie nur menschenmöglich und andere in die dunkelsten Abgründe stürzen.
In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass meine Mutter niemals hinter ihm gestanden hätte, wenn sie gewusst hätte, wie sehr er sich nach ihrem Tod verändern würde. Seine Entscheidungen waren nicht das, was sie als vernünftig angesehen hätte. Früher hatten sich ihre moralischen Vorstellungen kaum von denen meines Vaters unterschieden. Sie hatten an einem Strang gezogen, auch wenn er die politischen Entscheidungen dennoch allein treffen musste. Mutter hatte in meiner Kindheit stets gut über ihn gesprochen.
Nach ihrem Tod war er zu einem eigensinnigen starrköpfigen Mann geworden, der nur schwer von einer anderen Meinung als seiner zu überzeugen war. Layla hatte damals gemeint, dass ich die Taten und Worte meines Vaters immer auf die Goldwaage legen müsse. Ich solle zwischen den Zeilen lesen, da das, was er sagte, meist nicht dem entspreche, was man normalerweise darunter verstehen würde.
Er wusste zu gut mit Worten umzugehen. Konnte eine Menge im Handumdrehen von sich überzeugen. Nur deshalb hatte ihn das belvarische Volk damals akzeptiert, auch wenn er als Kronprinz früher ein ziemlicher Rebell gewesen war. In dieser Hinsicht stand er Alexander in nichts nach, weshalb er meinem Vater wohl ein besonderer Dorn im Auge war.
Bei seiner Krönung hatte er dem Volk noch etliche Versprechungen gemacht, doch diese waren inzwischen nicht viel mehr als verblasste Worte einer anderen Ära. Alles utopische Ziele, die er bis heute nicht erreicht hatte, da er sie in den letzten Jahren schlicht und ergreifend nicht mehr angegangen war. Steuerentlastungen, Investitionen in die Bildung und das Gesundheitssystem – noble Leitsätze, die allerdings in Vergessenheit geraten waren.
Belvarien hatte sich die letzten fünfundzwanzig Jahre an einen Herrscher gewöhnt, der die Sachen anpackte. Einen, dem es vertrauen konnte. Der einer von ihnen war.
Nun hatten sie nur noch Ärger mit meinem Vater und wollten ihn vom Thron stoßen. Jegliche seiner Entscheidungen wurden aufgerollt und angezweifelt.
Vor allem seitdem die politischen Gefangenen aus dem Hochsicherheitstrakt geflohen waren, war das Volk in hellem Aufruhr. Mein Vater hatte einige Fehler begangen, da war ich mir sicher. Aber dass unsere Familie und die Featherstones nun von irgendwelchen wilden Angreifern attackiert wurden, war sicher auch keine Lösung oder eine sinnvolle Art einer Revanche.
Ich seufzte und versuchte, meine Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu lenken. Meine Lippen waren rau und der Geschmack in meinem Mund erinnerte mich an den Besuch einer Schweinefarm in der Nähe von Vilbao. So wie es dort gestunken hatte, schmeckte es zwischen meinen Zähnen. Mein Magen grummelte und ich war mir nicht sicher, ob es vor Hunger oder Übelkeit war.
Plötzlich klapperte es an der Tür. Ich schrak zusammen und starrte auf den sich bewegenden Knauf. Vor der Tür hörte ich einige aufgeregte Stimmen. Das Einzige, was mich von den anderen Fluggästen trennte, war dieses Stück Blech. Und ich war mir sicher, dass es mich nicht ewig abschirmen würde.
Schwerfällig rappelte ich mich auf und betätigte die Toilettenspülung, die viel zu laut in meinen Ohren widerhallte. In meinem Kopf klingelte es unangenehm.
Bevor ich die Möglichkeit hatte, mich vernünftig vorzubereiten, wurde die Tür aufgerissen. Vor mir standen Alexander und einer der Flugbegleiter, in dessen Hand ein Notschlüssel prangte. Der Thronfolger rümpfte die Nase und betrachtete mich von oben bis unten.
Mein zukünftiger Ehemann.
Beinahe musste ich lachen. Ich hatte nie gewusst, was meine Mutter damit sagen wollte, als sie gemeint hatte, ich solle mir einen Mann suchen, der mich wirklich liebe. Doch seit ich mit Ashton eine heimliche Beziehung führte, spürte ich zum ersten Mal, was es bedeutete, Gefühle für jemanden zu entwickeln.
Und was tat mein Vater stattdessen? Arrangierte weiterhin eine Ehe mit einem Prinzen, mit dem ich nicht weniger gemeinsam haben könnte. Den ich nicht einmal ansatzweise attraktiv fand und der wenig Wert darauf legte, mich zu erobern. Anders hingegen fühlte es sich mit Ashton an. Ich fragte mich unwillkürlich, ob Mutter eine solche Art von Liebe gemeint hatte. Und ob sie meinen Vater jemals geliebt hatte, so wie er früher gewesen war.
»Maisie, was ist denn passiert?« Alexanders Arme gaben mir Halt, als er mich an den Schultern packte.
Mein Blick fiel ein weiteres Mal auf mein Spiegelbild und ich musste die Tränen zurückhalten. Ich sah aus wie meine Mutter, nachdem sie ihre tödliche Diagnose bekommen hatte.
Einen Moment setzte mein Herz aus. Was, wenn ich dieselbe Krankheit hatte wie sie? Wenn auch ich genetisch bedingt dem Krebs ausgeliefert wäre?
Layla hatte früher oft darauf bestanden, dass ich mich beim Arzt durchchecken ließ. Ich hingegen hatte nicht auf sie gehört und ihre Sorgen als unbegründet abgetan. Und nachdem sie mit Arthur verschwunden war, war dieses Thema nicht mehr aufgekommen.
Ruth hatte immer schon genug mit sich selbst zu tun gehabt, anstatt sich um ihre kleinen Schwestern zu kümmern. Doch nicht nur sie hatte ihre Mutter verloren. Dass Layla und ich sie ebenso vermissen könnten, war ihr wohl nicht in den Sinn gekommen.
»Ich fühle mich nicht sehr gut«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, da die Übelkeit erneut in mir empor krabbelte wie ein fieses, kleines Insekt.
»Sobald wir gelandet sind, werde ich einen Arzt ins Schloss kommen lassen. Kann ich sonst etwas für dich tun?«
Die Sorge in Alexanders Augen ließ mich innehalten. Vielleicht hatte ich ihn doch falsch eingeschätzt. Er konnte tatsächlich ein ganz netter Kerl sein. Auch wenn er niemals der Mann an meiner Seite sein sollte.
»Bitte hilf mir zurück zu meinem Sitz.« In meinem Mund sammelte sich übelschmeckender Speichel. Trotz allem rang ich mir ein müdes Lächeln ab, bei dem ich selbst merkte, dass es nicht meine Augen erreichte. »Und vielleicht könntest du einen Haufen Kotztüten besorgen?«
»Ich bin so erleichtert, dass es euch gut geht. Die letzte Nacht habe ich mir unzählige Sorgen gemacht. Herrgott nochmal, wie konnte das alles passieren?« Meine Großmutter stellte sich auf die Zehenspitzen und zog mich an ihren Körper. Trotz ihrer geringen Größe konnte sie umso fester zupacken, daher fühlten sich ihre Arme an, als würde ich in einem Schraubstock feststecken.
»Versteh mich nicht falsch – ich bin froh, dass du nicht dort warst. Es war schrecklich.« Ich sog ihren vertrauten Duft nach Seife ein und fühlte mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt. »Aber warum warst du nicht auf dem Ball, Großmutter? Geht es dir gut?«
Sie drückte mir noch einmal die Oberarme, bevor sie mich losließ, um meine Schwester zu umarmen. »Meinem Alter entsprechend gut. Die Beine waren so schwer und taten mit jedem Schritt weh. Als alte Dame schwingt man nicht mal eben das Tanzbein. Die Feierei wollte ich lieber euch jungen Leuten überlassen.«
»Geht es dir denn jetzt wieder besser?«, fragte Alice.
»Natürlich. Und ich bin froh, dass ihr die Feiertage hier verbringt. Ich muss ehrlich sagen, ich hätte keine Lust gehabt, schon wieder auf die Insel zu fahren, nur um diese Farce von Verlobung mitzuerleben.«
»Großmutter, bitte.«
»Was denn, mein Junge? Ich hätte gedacht, dass du mehr Hintern in der Hose hast und deiner Freundin endlich die Wahrheit sagst, anstatt euch beide unglücklich zu machen.«
Sie wusste genau, dass sie mit ihren Worten recht und ich mich wie ein Waschlappen benommen hatte. Als hätte ich keinen freien Willen gehabt, um mich von Anfang an für Lauren zu entscheiden.
Mein Herz klopfte wild bei der Erinnerung daran, dass ich ihr letzte Nacht meine Gefühle offenbart hatte. »Ich … Na ja, ich habe es versucht und wollte ihr gerade Vaters Plan erklären, als die Angriffe begonnen haben.«
Grandma tätschelte mir die Wange.
Um Lauren zu sagen, was sich tief in meinem Herzen für ein Sturm zusammenbraute, hatte mir die Zeit gefehlt, aber wenigstens hatte ich es geschafft, ihr meine Liebe zu gestehen. Zu gern hätte ich gemeinsam mit ihr für eine geringe Chance eines Uns gehofft. Allerdings hatte ich es bei unserem letzten Zusammentreffen im Fitnessraum des Schlosses schon ziemlich versaut. Ich hätte ihr schon am gestrigen Morgen die Wahrheit über ihren Dad und seinen Plan mit meinem Vater erzählen sollen.
Alice sah mich aufmunternd an, doch ich wich ihrem Blick aus. Über Lauren zu reden, versetzte mich in eine Art Delirium, aus dem ich nicht mehr fliehen konnte. Zu groß war immer noch die Angst um ihr Leben.
Ob bei Vater bereits eine Nachricht von George auf uns wartete bezüglich ihrer Sicherheit?
Grandma räusperte sich und schaute von meiner Schwester zu mir. Ein unsicheres Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wollt ihr später mit mir zu Abend essen? Ich habe extra kochen lassen. Ihr wisst doch, wie sehr euer Großvater seine Lasagne geliebt hat, wenn er Stress oder Probleme hatte.«
Lauren liebte Lasagne ebenfalls. Irgendwann hatte sie mir erzählt, dass ihr Dad früher liebend gern dieses Gericht gekocht hatte und sie sich in sein Essen hätte reinlegen können.
In meinem Hals schwoll ein Kloß auf die Größe einer Apfelsine. Ich schluckte gegen die aufkommende Sehnsucht an, konnte jedoch nicht verhindern, dass meine Gedanken sich abermals nur um Lauren drehten.
Ich würde beim Essen keinen Bissen hinunterbekommen.
»Aber natürlich, Großmutter.« Alice antwortete an meiner Stelle.
Mir war nicht aufgefallen, dass ich mich wie ein verschrecktes Kind an die Wand gelehnt und die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte.
Meine Schwester verpasste mir mit ihrem Ellenbogen einen Stoß in die Rippen, als ich keine Reaktion von mir gab.
Stumm nickte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Dem Ausdruck meiner Großmutter nach zu urteilen, gelang mir das nicht sonderlich gut. Mit trockener Kehle verabschiedete ich mich von den beiden, die tuschelnd in ein Gespräch vertieft waren, von dem ich nichts mitbekam. Mein Kopf war schon wieder meilenweit entfernt.
Eilig trugen mich meine Beine in Richtung meines Zimmers, in dem hoffentlich Jonathan bereitstehen würde, um unsere Sorge zu teilen.
Rasend vor Wut biss ich in das Sandwich, das Vivienne mir hinhielt. Da sah man seinen Dad wieder, der beschissene vier Jahre totgeglaubt war und ihm fiel nichts Besseres ein, als in Hieroglyphen zu sprechen und in der nächsten Sekunde direkt wieder abzuhauen.
Er konnte mir nicht erzählen, dass es wichtiger war, die Welt zu retten, statt seiner Tochter von seinen Plänen zu berichten. Immerhin hatte er mir versichert, dass Mum in Sicherheit sei und seine Leute auf Hochtouren nach May suchten. Dennoch zermalmten meine Zähne den weichen Toast, so aggressiv kaute ich auf dem Stück Brot herum.
Dad sah nicht mehr ganz so verlottert aus wie beim Zusammentreffen vorm Krankenhaus. Heute hatte er nur noch erschöpft gewirkt. Sein Bart wuchs in alle Richtungen und unter seinen Augen hatten sich tiefe Schatten gebildet. Als hätte er die letzten Tage nie vernünftig geschlafen.
Ich starrte den Käse auf meinem Brot an und genehmigte mir einen ordentlichen Happen, der nach Nichts schmeckte. In dieser verdammten Lagerhalle, in die Vivienne uns gebracht hatte, gab es anscheinend kein vernünftiges Essen.
»Autsch«, entfuhr es mir aufgebracht. Ich pfefferte das Sandwich mit voller Wucht zurück auf den Teller. In meinen Ohren klingelte es, das Blut rauschte im Eiltempo durch meine Adern. »Scheiße.«
Vivienne sprang vom Bett auf und musterte mich besorg- ten Blickes. »Ist alles in Ordnung? Tut dir dein Arm weh?«
In meiner ungezügelten Wut auf die ganze verfluchte Welt trat ich ein paar Mal gegen den Bettpfosten und brüllte dabei wie ein Bär auf Fischjagd. Meine Laune war mittlerweile so weit gesunken, dass sie auf einem Radar sicher nicht einmal mehr angezeigt werden würde.
Die Schmerzen aus meinem Herzen und meinem Arm bahnten sich ihren Weg weiter nach oben in meine Mundhöhle.
»Ich hab mir auf die Wange gebissen«, zischte ich.
Mitleid sprühte aus ihren Augen und sie senkte schnell ihren Blick. »Mir hilft es immer, wenn ich bis zehn zähle und tief durchatme.«
»Ach ja? Standest du auch schon mal deinem toten Dad gegenüber, nachdem dir von dem Kerl, den du liebst, dein Leben zerstört wurde? Nicht, dass vorher irgendetwas besonders gut gelaufen wäre, aber jetzt ist alles nur noch zum Davonlaufen.« Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Die Welt tritt mir ständig nur in den Arsch. Anstatt zu sagen: Hallo Lauren, ich wünsche dir einen wunderbaren Tag ohne irgendwelche beschissenen Zwischenfälle. Dein Ex taucht nicht plötzlich an deinem neuen Arbeitsplatz auf und bringt deinen Kopf völlig durcheinander. Prinz Alexander gesteht dir in einem Kugelhagel nicht urplötzlich seine Liebe, ohne dass du etwas erwidern kannst. Nein, heute wird ein guter Tag. So etwas höre ich nie.«
Normalerweise verpuffte meine Wut beinahe von ganz allein, wenn ich nur einmal die Möglichkeit hatte, ihr Luft zu machen. Doch diesmal war es anders.
Ich spürte einen Groll, der mich von innen heraus aufzufressen drohte wie ein widerliches Virus oder eine tödliche Krankheit. Ich erinnerte mich an den Horrorfilm, den Chris unbedingt mit uns im Kino schauen musste. Darin war ein kleiner Junge von einem Dämon besessen gewesen. Als dieses schwarze Monster aus ihm herausgekrochen war, hatte ich mich fast übergeben. Das war zu viel gewesen, obwohl ich einiges gewohnt war, denn früher hatten wir oft gruselige Filme geschaut. Aus dem einfachen Grund, dass sie, bis wir achtzehn wurden, normalerweise nicht erlaubt gewesen waren. Und was war spannender als das Verbotene?
Noch Nächte später hatte ich von diesem Dämon geträumt, der in dem Kind seinen Wirt gefunden hatte und nur durch den Exorzismus vertrieben werden konnte.
So stellte ich sie mir vor. Meine Wut.
Wie ein ekelhaftes schwarzes Monster ohne Gesicht oder Konturen. Sie wohnte in mir, steuerte meine Handlungen. Auch wenn ich es nicht wollte, übernahm sie die Kontrolle über mich, die ich nur ungern abgab. So wie der Dämon wäre sie nicht leicht zu vertreiben. Möglicherweise niemals wieder. Vielleicht musste ich lernen, mit ihr zu leben.
Mittlerweile war mir ohnehin alles egal.
Ich wollte raus aus diesem beschissenen Zimmer. Musste wissen, wo May war. Wie es Alexander und Alice ging. Ob sich Jane besser fühlte. Wo Mum war. Was Dad für einen geistreichen Plan schmiedete. Was Wren auf dem Schloss gewollt hatte. Wo Chris war.
Unzählige Fragen, die in meinem Schädel herumschwirrten.
Noch einmal trat ich gegen den Bettpfosten. »So eine Scheiße.«
In dem Moment klopfte es erneut an der Tür.
»Hoheit, ich denke, es wäre besser, wenn Ihr einen Arzt aufsuchen würdet. Mit Verlaub, aber Ihr seid sehr grün um die Nase.« Haileys Stimme drang kaum zu mir durch.
Meine Ohren waren belegt, während ich auf dem Boden des Badezimmers lag und versuchte, meinen Kreislauf in den Griff zu bekommen. Vor meinen Augen tänzelten kleine schwarze Punkte. Ich schloss sie für einen kurzen Moment, nur um das Gefühl zu haben, in den Strudel eines Abflussrohrs geraten zu sein. Säure brannte sich meine Speiseröhre hinauf und nur mit Mühe konnte ich den Würgereiz weg atmen.
»Wisst Ihr was? Ich lasse den Arzt einfach hierherkommen, dann müsst Ihr Euch nicht zu ihm quälen. Ich werde eine der Zofen nach ihm schicken.«
Hailey sprach mit einer Person im Hintergrund, die ich aus meiner horizontalen Lage nicht erkannte. Davon abgesehen, war mir gleichgültig, wer ihn holte, aber er musste kommen. Endlich sah ich es ein.
Einen Tag hatte ich gewinnen können, indem ich mich ins Bett zurückgezogen und über zwölf Stunden geschlafen hatte. Doch jetzt am frühen Morgen eines verregneten Novembertages, an dem ich es nicht einmal schaffte, mich unter die Dusche zu stellen, wusste ich, dass es an der Zeit war, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sollte der Arzt kommen und feststellen, was mit mir los war. Ich würde es selbst gern erfahren.
Lange warten musste ich nicht, bis Stimmengewirr an mein Ohr drang. Vielleicht kam es mir auch nur so vor und in Wirklichkeit hatte ich eine halbe Ewigkeit auf dem kühlen Steinboden vor der Badewanne gelegen. Tränen kullerten über meine Wangen. Mit meinen fünfundzwanzig Jahren würde ich doch nicht zu einer vorpubertären Heulsuse mutieren.
»Guten Morgen, Hoheit. Wie fühlt Ihr Euch?« Eine warme Stimme durchfuhr meinen Brustkorb. Über mir erschien das dickliche Gesicht eines älteren Mannes, der mich mit leichter Sorge im Blick musterte. Als ich nicht gleich antwortete, kniff er die Augen zusammen. »Darf ich ein paar Untersuchungen vornehmen?«
Ich nickte schwerfällig und ließ ihn gewähren. Er maß Blutdruck, nahm eine Blutprobe und prüfte meine Vitalfunktionen.
Ich spürte, wie sich mein Kreislauf langsam wieder normalisierte. Seine Stimme beruhigte mich und da er nicht sofort meinte, ich sei ein Fall für die Intensivstation, war ich guter Dinge, dass ich es mit ein paar Antibiotika in den Griff kriegen würde. Es war sicher bloß ein lästiger Infekt, den ich mir dank der schwankenden Temperaturen eingefangen hatte.
Hailey half mir, mich aufzurichten und zu meinem Bett zu geleiten.
»Wissen Sie, woran ich erkrankt bin?«
Er betrachtete mich mit undeutbarer Miene. Es könnte alles und nichts bedeuten. Mein Magen krampfte sich abermals zusammen und ich hatte schon Angst, er würde sich erneut entleeren wollen, als er endlich das Wort ergriff. Dabei wandte er sich an meine Zofen, die in einer Reihe standen und mich anschauten.
»Sie könnten sich einen Magen-Darm-Infekt eingefangen haben. Es deutet aber auch einiges auf eine Lebensmittelvergiftung hin. Ich würde gern die Laborergebnisse Ihres Blutes abwarten, bevor ich mich auf eine Diagnose festlegen.« Er seufzte und winkte meine Zofe herbei. »Sorgen Sie bitte dafür, dass die Prinzessin sich hinlegt. Ich werde einen Pfleger herschicken, der ihr einen Tropf legt. In der Zwischenzeit werde ich zum Krankenhaus fahren, damit wir möglichst schnell die Blutergebnisse haben.« Er wandte sich wieder an mich. »Dann können wir Sie auch dementsprechend behandeln.«
Ich nickte ihm dankbar zu und ließ mir von Hailey die Kissen hinter den Rücken stopfen. Normalerweise konnte ich es nicht ausstehen, wenn jemand mir helfen musste, doch mir war klar, dass ich momentan keine andere Wahl hatte.
Der Arzt verschwand nach einer kurzen Verbeugung. Wenige Minuten später sank ich erschöpft in die Kissen und dämmerte in einen nebelartigen Schlaf.
Als ich aufschreckte, hörte ich leise Stimmen im Hintergrund. In meinem Handrücken spürte ich einen Zugang, der mir unangenehm in die Vene stach.
Ich richtete mich auf und entdeckte den Arzt, der ein Klemmbrett in der Hand hielt. Er nickte mir zu und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er immerhin keine miesen Neuigkeiten.
»Dürfte ich einen Augenblick mit der Prinzessin allein sprechen?«
Zu früh gefreut.
So fing es immer an, wenn jemand schlechte Nachrichten zu berichten hatte. Mein Puls setzte kurz aus, bevor er auf die doppelte Geschwindigkeit beschleunigte. Der Blick des Arztes war auf einmal nachdenklich geworden und in die Ferne gerichtet. So als müsse er überlegen, wie er es mir erklärte. Was auch immer es war.
Nachdem die Zofen die Tür hinter sich geschlossen hatten, richtete er sich wieder an mich. »Es gibt gute und weniger gute Neuigkeiten.«
Ich atmete tief durch. Wenn ich nicht völlig kraftlos wäre, hätte ich ihn zurechtgewiesen, dass er schleunigst mit der Sprache rausrücken sollte.
»Bitte …«, krächzte ich.
»Ihr habt euch tatsächlich einen Virus eingefangen, den wir jedoch mit der Einnahme eines Antibiotikums schnell wieder in den Griff bekommen sollten.«
Ich nickte schwerfällig und wollte nach meinem Wasserglas greifen, was sich allerdings als beinahe unmöglich herausstellte, weshalb mir der Arzt das Getränk reichte. Die Flüssigkeit tat unsagbar gut, sodass ich langsam wieder meine Stimme zurückerlangte. »Und was sind die guten Neuigkeiten?«
»Ist Euch nichts aufgefallen?«
Ich runzelte die Stirn. »Was hätte mir denn auffallen sollen? Von heute auf morgen habe ich mich furchtbar gefühlt. Ich bin davon ausgegangen, dass es nur ein kleiner Virus ist, der mit Ruhe und Tee auszukurieren sei.«
Er lächelte mich zaghaft an, wobei sich um seine grauen Augen tiefe Falten bildeten. Die Haut auf seinen Wangen war gerötet. Er warf einen Blick auf die Notizen, die er sich auf einem Klemmbrett gemacht hatte.
»Verzeiht die Frage, aber wann hattet Ihr Eure letzte Periode?« Das Rot seiner Wangen nahm einen noch tieferen Farbton an.
Eine Weile war ich wie versteinert, konnte nichts antworten.
»Ich dachte mir schon, dass Ihr wegen des ganzen Stresses nichts bemerkt habt.« Er musterte mich. »Zur Kontrolle habe ich den HCG-Wert prüfen lassen und Ihr Blutbild schreibt eine eindeutige Geschichte: Ihr seid schwanger, Hoheit.