In den Schluchten des Balkan - Karl May - E-Book + Hörbuch

In den Schluchten des Balkan E-Book und Hörbuch

Karl May

4,6

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Beschreibung

Überarbeitete Ausgabe in Neuer Deutscher Rechtschreibung Kara Ben Nemsi reitet mit seinen Gefährten Halef, Osko und Omar Ben Sadek von Edirne aus, um neuen Gefahren entgegenzutreten. Ihre Abenteuer beinhalten Begegnungen mit Schmugglern und ein groteskes Erlebnis von Halef in einem Taubenschlag. In Ostromdscha treffen sie auf den »heiligen« Mübarek und erfahren zum ersten Mal vom Schut. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 735

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Zeit:14 Std. 34 min

Sprecher:Peter Sodann
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Karl May

In den Schluchten des Balkan

Reiseerzählungen

Karl May

In den Schluchten des Balkan

Reiseerzählungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024 EV: Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 1881–88 1. Auflage, ISBN 978-3-954187-22-5

null-papier.de/354

Inhaltsverzeichnis

Karl May und die Ori­gi­na­le

Zum Buch

Schi­min, der Schmied

Un­ter Pa­schern

In Ge­fahr

Alte Be­kannt­schaft

Im Tau­ben­schlag

Ein Vam­pir

Im Ko­nak von Da­bi­la

Ein Hei­li­ger

Ein Nach­wort

Karl May bei Null Pa­pier

Durch die Wüs­te

Durchs wil­de Kur­dis­tan

Von Bag­dad nach Stam­bul

In den Schluch­ten des Bal­kan

Durch das Land der Ski­pe­ta­ren

Der Schut

Karl May und die Ori­gi­na­le

Will­kom­men in der Welt von Karl May: Ein klas­si­sches Erbe neu prä­sen­tiert

Lie­be Le­se­rin, lie­ber Le­ser

In der Welt der li­te­ra­ri­schen Klas­si­ker gibt es we­ni­ge Na­men, die so sehr mit Aben­teu­er und fer­nen Län­dern ver­bun­den sind wie Karl May. Mit sei­nen fes­seln­den Er­zäh­lun­gen aus dem Wil­den Wes­ten und dem Ori­ent hat Karl May nicht nur Ge­ne­ra­tio­nen von Le­sern be­geis­tert, son­dern auch eine li­te­ra­ri­sche Land­schaft ge­schaf­fen, die bis heu­te nach­hallt. Sei­ne Fi­gu­ren, ins­be­son­de­re Win­ne­tou und Old Shat­ter­hand, sind mehr als nur Cha­rak­tere auf dem Pa­pier – sie sind Sym­bo­le für Mut, Freund­schaft und die Su­che nach Ge­rech­tig­keit.

Als Ein­zel­ver­le­ger habe ich es mir zur Auf­ga­be ge­macht, Karl Mays Wer­ke in ih­rer reins­ten und au­then­tischs­ten Form zu prä­sen­tie­ren. Ich ar­bei­te mit den Erst­ver­öf­fent­li­chun­gen sei­ner Wer­ke, um si­cher­zu­stel­len, dass der ur­sprüng­li­che Cha­rak­ter und Stil von Mays Schrif­ten so treu wie mög­lich er­hal­ten bleibt. Mein Ziel ist es, die­se klas­si­schen Tex­te so zu über­ar­bei­ten, dass sie die Qua­li­tät und den Geist der Ori­gi­nal­aus­ga­ben wi­der­spie­geln, wäh­rend sie gleich­zei­tig den heu­ti­gen Le­se­ge­wohn­hei­ten an­ge­passt sind.

Will­kom­men zu­rück zu den Wur­zeln von Karl Mays li­te­ra­ri­schem Erbe, prä­sen­tiert mit ei­nem tie­fen Re­spekt für sei­ne Ar­beit und ei­nem Auge für die Be­dürf­nis­se des heu­ti­gen Le­sers.

Treue zu den Erst­ver­öf­fent­li­chun­gen

Bei der Über­ar­bei­tung der Tex­te lege ich größ­ten Wert dar­auf, Karl Mays ori­gi­na­le Er­zähl­stim­me zu be­wah­ren. Ich ver­mei­de es, in­halt­li­che Än­de­run­gen vor­zu­neh­men oder mo­der­ne In­ter­pre­ta­tio­nen ein­zu­fü­gen, die vom ur­sprüng­li­chen Geist der Ge­schich­ten ab­wei­chen könn­ten. Statt­des­sen kon­zen­trie­re ich mich dar­auf, sprach­li­che Glät­tun­gen durch­zu­füh­ren, wo es not­wen­dig ist, um die Les­bar­keit zu ver­bes­sern und gleich­zei­tig die Authen­ti­zi­tät zu wah­ren.

Bar­rie­re­frei­heit und Zu­gäng­lich­keit

Es ist mir wich­tig, dass Karl Mays Wer­ke von al­len ge­nos­sen wer­den kön­nen. Da­her ge­stal­te ich die E-Books so, dass sie mit ver­schie­de­nen Tech­no­lo­gi­en zur Un­ter­stüt­zung des Le­sens kom­pa­ti­bel sind, um si­cher­zu­stel­len, dass auch Men­schen mit Seh­be­hin­de­run­gen oder an­de­ren Ein­schrän­kun­gen Zu­gang ha­ben.

Beglei­ten Sie mich auf die­ser Rei­se zu­rück zu den Wur­zeln

Ich lade Sie ein, Karl Mays Welt durch die­se neu­en Edi­tio­nen wie­der­zuent­de­cken, die so­wohl die Tie­fe als auch das Aben­teu­er sei­ner Ge­schich­ten mit ei­ner Fri­sche und Klar­heit prä­sen­tie­ren, die Sie viel­leicht noch nicht er­lebt ha­ben. Tau­chen Sie ein in die klas­si­schen Er­zäh­lun­gen, die Karl May zu ei­nem der meist­ge­le­se­nen Au­to­ren sei­ner Zeit mach­ten.

May und sei­ne Zeit

May war und ist ei­ner der er­folg­reichs­ten Schrift­stel­ler deut­scher Spra­che. Ge­ne­ra­tio­nen von Le­ser ha­ben ihn für sich ent­deckt, egal, wie stark und aus wel­chen Grün­den er im­mer wie­der von Tu­gend­wäch­tern oder be­sorg­ten El­tern in die li­te­ra­ri­sche Schmud­de­le­cke ge­drängt wur­de.

Es gibt wohl kei­nen Deut­schen, der sei­ne Fi­gu­ren nicht kennt: Win­ne­tou oder Had­schi Ha­lef Omar, Old Shat­ter­hand oder Kara Ben Nem­si. Vie­le wer­den so­gar die Na­men der Pfer­de oder der Waf­fen der Pro­tago­nis­ten ken­nen. Nicht zu­letzt die far­ben­präch­ti­gen Fil­me der 1960er Jah­re ha­ben Mays Fi­gu­ren auch eine ki­ne­ma­to­gra­fi­sche Un­ters­terb­lich­keit ver­passt – soll­te das je­mals not­wen­dig ge­we­sen sein. Und wo sonst hät­te ein Fran­zo­se einen ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner, ein Ame­ri­ka­ner einen deut­schen Aben­teu­rer und ein Ber­li­ner einen Ori­en­ta­len spie­len kön­nen?

Zu ei­ner Zeit, als es noch kei­nen or­ga­ni­sier­ten Mas­sen­tou­ris­mus und kein In­ter­net gab, brach­te May dem Le­ser die wei­te Welt bis vor die Haus­tür oder un­ter die ver­ber­gen­de Bett­de­cke. Sei­ne Tex­te präg­ten, ob ge­recht­fer­tigt oder nicht, die Vor­stel­lung des Wil­den Wes­tens und des Ori­ents für Ge­ne­ra­tio­nen.

Am bes­ten, Sie, lie­ber Le­ser, lie­be Le­se­rin, füh­len sich ein­fach nur gut un­ter­hal­ten.

In die­sem Sin­ne Ihr Jür­gen Schul­ze, Neuss

Karl May

Zum Buch

Ka­ra Ben Nem­si rei­tet mit sei­nen Ge­fähr­ten Ha­lef, Osko und Omar Ben Sa­dek von Edir­ne aus, um neu­en Ge­fah­ren ent­ge­gen­zu­tre­ten. Ihre Aben­teu­er bein­hal­ten Be­geg­nun­gen mit Schmugg­lern und ein gro­tes­kes Er­leb­nis von Ha­lef in ei­nem Tau­ben­schlag. In Ostrom­dscha tref­fen sie auf den »hei­li­gen« Mü­ba­rek und er­fah­ren zum ers­ten Mal vom Schut.

Schi­min, der Schmied

Noch nicht lan­ge wa­ren wir ge­rit­ten, als wir Huf­schlag hin­ter uns ver­nah­men. Wir wen­de­ten uns um und er­blick­ten einen Rei­ter, der uns im Ga­lopp ein­zu­ho­len trach­te­te. Wir zü­gel­ten also un­se­re Tie­re, um ihn her­an zu las­sen, und er­kann­ten bald Mal­hem, den Tür­hü­ter Hu­lams. Er ritt ein schwer be­pack­tes Pferd, von dem er her­ab­sprang, als er uns er­reicht hat­te.

»Sal­lam!« grüß­te er kurz.

Wir er­wi­der­ten die­sen Gruß, und auf un­se­re fra­gen­den Bli­cke er­klär­te er mir:

»Ver­zeiht, Ef­fen­di, dass ich eu­ren ei­li­gen Ritt un­ter­bre­che! Mein Herr ge­bot mir, euch zu fol­gen.«

»Wes­halb?« frag­te ich.

»Um euch die­ses Pferd zu brin­gen.«

»Was hast du auf­ge­la­den?«

»Pro­vi­ant und an­de­re not­wen­di­ge Din­ge, die ihr viel­leicht brau­chen wer­det.«

»Wir sind be­reits für meh­re­re Tage ver­sorgt!«

»Mein Herr glaub­te an die Mög­lich­keit, dass die­je­ni­gen, die ihr ver­folgt, von der Stra­ße ab­wei­chen könn­ten. Wenn sie sich in die Ber­ge schla­gen, so fin­det ihr nur Fut­ter für die Pfer­de, für euch aber nichts.«

»Dein Herr ist sehr gü­tig; aber die­ses schwer be­pack­te Pferd ist doch nur ge­eig­net, un­se­ren Ritt zu ver­lang­sa­men.«

»Ich habe es euch ge­bracht; ich muss ge­hor­chen; ich kann nicht an­ders. Wa­rin sagh­lik ile Al­lah jol atsch­lik­lig­hi – bleibt ge­sund; Al­lah gebe euch eine gute Rei­se!«

Bei die­sen Wor­ten warf er dem Pferd die Zü­gel über den Hals, wand­te sich um und rann­te ei­li­gen Lau­fes da­von, zu­rück in die Stadt.

So­fort dreh­te Ha­lef sein Pferd her­um, der Stadt ent­ge­gen, und frag­te:

»Soll ich ihm nach, Ef­fen­di?«

»Wozu?«

»Ihn fest­neh­men und her­brin­gen, da­mit er dei­nen Wil­len er­fährt?«

»Nein, lass ihn ge­hen. Wir ha­ben kei­ne Zeit zu ver­säu­men.«

»Was wird da in den De­cken und Mat­ten ver­packt sein?«

»Das brau­chen wir jetzt nicht zu wis­sen. Wir wer­den nach­se­hen, wenn es Abend ge­wor­den ist und wir we­gen der Dun­kel­heit nicht wei­ter rei­ten kön­nen. Nimm du das Pferd am Zü­gel. Vor­wärts wie­der!«

Der un­ter­bro­che­ne Ritt wur­de fort­ge­setzt. Ich ritt vor­an, und die an­de­ren folg­ten. Es ge­sch­ah dies aus dem Grund, weil ich nach Spu­ren su­chen muss­te, ob­wohl es kaum denk­bar war, dass sol­che zu fin­den sei­en.

Der Weg war, ob­wohl kei­ne Stra­ße zu nen­nen, doch leid­lich be­lebt. Der klei­ne Had­schi hat­te ganz recht ge­habt, als er sag­te, dass hier die Fähr­te ei­nes Ver­folg­ten nicht so leicht zu ent­de­cken sei wie in der Sa­ha­ra.

Da­rum rich­te­te ich mein Au­gen­merk auch nicht auf den Weg selbst, son­dern auf den Rand des­sel­ben, der dem Flus­sufer ent­ge­gen lag. So lan­ge ich nicht die Spu­ren fand, dass drei Rei­ter von der Rich­tung, die wir ver­folg­ten, ab­ge­wi­chen wa­ren, konn­te ich ziem­lich si­cher sein, dass wir die Ver­folg­ten vor uns hat­ten.

Es be­geg­ne­ten uns Rei­ter, schwer­fäl­li­ge Wa­gen und Fuß­gän­ger, doch rich­te­te ich an nie­mand eine Fra­ge. Da die Flüch­ti­gen be­reits am vo­ri­gen Abend hier ge­rit­ten wa­ren, konn­te kei­ner der uns Be­geg­nen­den sie ge­trof­fen ha­ben.

Auch an den klei­nen Häu­ser­grup­pen, die wir pas­sier­ten, hielt ich nicht an, da hier kei­ne Wege ab­zweig­ten, die Ba­rud el Ama­sat hät­te ein­schla­gen kön­nen. Aber als wir eine klei­ne Ort­schaft er­reich­ten, Bu-kiöj ge­nannt, von der ei­ni­ge Pfa­de zur Sei­te lie­fen, hielt ich an und frag­te den Ers­ten, den ich traf:

»Sal­lam! Gibt es in die­sem Ort, den Al­lah seg­nen möge, viel­leicht einen Bekd­schi?«1

Der Ge­frag­te trug einen rie­si­gen Sar­ras an der Sei­te, einen fürch­ter­li­chen Knüp­pel in der Rech­ten, hat­te über den Fez ein Tuch ge­schla­gen, das frü­her je­den­falls eine Far­be ge­habt hat­te, jetzt aber nur so vom Schmutz starr­te, und ging – bar­fuß. Er be­trach­te­te mich eine gan­ze Wei­le und schick­te sich dann an, die­se ein­ge­hen­de Beo­b­ach­tung auch über die an­de­ren er­ge­hen zu las­sen.

»Nun?« be­merk­te ich un­ge­dul­dig.

»Sabr, sabr – Ge­duld, nur Ge­duld!« ant­wor­te­te er.

Er stütz­te sich auf sei­nen Stock und be­gann die Ge­stalt des klei­nen Had­schi ei­ner ein­ge­hen­den Be­sich­ti­gung zu un­ter­wer­fen. Ha­lef Omar aber lang­te mit der Hand nach den Sat­te­lö­sen, zog sei­ne Peit­sche her­vor und frag­te:

»Kennst du viel­leicht die­ses Ding hier?«

Der Ge­frag­te warf sich in Po­si­tur, griff nach dem Sä­bel und ant­wor­te­te:

»Kennst du die­ses hier, Klei­ner?«

Klei­ner! Kein an­de­res Wort hät­te Ha­lef Omar so wie die­ses be­lei­di­gen kön­nen. Er hol­te zum Schlag aus; ich aber dräng­te rasch mein Pferd zwi­schen ihn und den Be­droh­ten und warn­te:

»Kei­ne Übe­rei­lung, Ha­lef! Die­ser Mann wird mir mei­ne Fra­ge schon be­ant­wor­ten.«

Ich zog ei­ni­ge klei­ne Mün­zen aus der Ta­sche, zeig­te sie dem Sar­ras­trä­ger und wie­der­hol­te:

»Also, gibt es hier einen Bekd­schi?«

»Gibst du mir das Geld?« frag­te er.

»Ja.«

»So her da­mit!«

Er streck­te die Hand aus.

»Erst die Ant­wort!«

»Ja, es gibt einen Bekd­schi. Nun aber gib mir das Geld!«

Es wa­ren nur ei­ni­ge kup­fer­ne Pa­ra­stücke.

»Hier hast du!« sag­te ich. »Wo wohnt der Bekd­schi?«

Er steck­te das Geld ein, zuck­te mit den Schul­tern und frag­te da­bei grin­send:

»Be­zahlst du auch die­se Fra­ge?«

»Du bist be­reits be­zahlt!«

»Für die ers­te, aber nicht für die zwei­te.«

»Gut, hier hast du noch zwei Fünf­pa­ra­stücke! Also, wo wohnt der Bekd­schi?«

»Dort im letz­ten Haus,« ant­wor­te­te der Mann, auf ein Bau­werk deu­tend, das er zwar Haus nann­te, das aber nicht ein­mal die Be­zeich­nung Hüt­te, son­dern nur den Na­men Stall ver­dien­te.

Wir setz­ten uns in Be­we­gung, in die an­ge­ge­be­ne Rich­tung. Als wir die bau­fäl­li­ge, ein­stö­cki­ge Woh­nung er­reich­ten, stieg ich vom Pferd, um an das Loch zu tre­ten, das als ein­zi­ger Ein- und Aus­gang diente. In die­sem Au­gen­blick aber trat eine Frau her­aus, die durch den Huf­schlag un­se­rer Pfer­de her­vor­ge­lockt wor­den war.

»O ja­zik! Atsch gözü­nü – o wehe! Nimm dich in Acht!« rief sie und trat ei­ligst zu­rück.

Ihr Ge­sicht war näm­lich nicht ver­schlei­ert ge­we­sen, wor­an al­ler­dings nicht wir die Schuld tru­gen. Auch sie war bar­fuß. Ihr Kör­per war in ein al­tes zer­fetz­tes Tuch gehüllt, und ihr Haar hat­te ganz das Aus­se­hen, als ob ihr Schei­tel eine Filz­ma­nu­fak­tur im Klei­nen sei. Was­ser war je­den­falls seit Mo­na­ten nicht an ihr Ge­sicht ge­kom­men.

Ich glaub­te bei­na­he, dass sie sich nicht wie­der­se­hen las­sen wer­de; aber nach ei­ni­gen un­ge­dul­di­gen Aus­ru­fen mei­ner­seits kam sie doch wie­der zum Vor­schein. Sie hielt den Bo­den ei­nes zer­bro­che­nen Kor­bes vor ihr Ge­sicht. Durch die Rit­zen des al­ten Wei­den­ge­flech­tes konn­te sie uns se­hen, ohne dass es uns mög­lich war, uns an ih­rer Schön­heit zu wei­den.

»Was wollt Ihr?« frag­te sie.

»Hier wohnt der Bekd­schi?« muss­te ich aber­mals fra­gen.

»Ja.«

»Du bist sein Weib?«

»Ich bin sein ein­zi­ges Weib,« ant­wor­te­te sie stolz, um an­zu­deu­ten, dass sie das Herz ih­res mit­ter­nächt­li­chen Paschas ganz al­lein be­sit­ze.

»Ist er da­heim?«

»Nein!«

»Wo be­fin­det er sich?«

»Er ist aus­ge­gan­gen.«

»Wo­hin?«

»Auf die Wege sei­nes Am­tes.«

»Es ist ja doch jetzt nicht Nacht!«

»Er wacht nicht nur des Nachts, son­dern auch am Tage über die Un­ter­ta­nen des Pa­disch­ah. Er ist nicht bloß Bekd­schi, son­dern auch Die­ner des Kia­ja, des­sen Be­feh­le er aus­zu­füh­ren hat.«

Kia­ja ist Orts­vor­ste­her. Da fiel mir der Mann ein, mit dem wir vor­hin ge­spro­chen hat­ten. Ich dreh­te mich um, und rich­tig, da kam er lang­sam und stolz auf uns zu­ge­schrit­ten.

Das war mir denn doch zu viel. Ich schnitt die fins­ters­te Mie­ne und trat ihm ei­ni­ge Schrit­te ent­ge­gen.

»Du selbst bist der Bekd­schi?« frag­te ich ihn.

»Ja,« ant­wor­te­te er in ei­nem höchst selbst­be­wuss­ten Ton.

Had­schi Ha­lef Omar be­merk­te, dass ich nicht mehr gu­ter Lau­ne sei, und lenk­te sein Pferd hart an den Wäch­ter der Nacht und des Ta­ges her­an, mich fest da­bei im Auge hal­tend. Ich wuss­te, was er woll­te, und nick­te ihm be­ja­hend zu.

»Wa­rum sag­test Du das nicht gleich, als ich vor­hin mit Dir sprach?« frag­te ich.

»Ich habe es nicht nö­tig. Hast Du noch Geld?«

»Ge­nug für Dich. Da, ich will Dich für alle wei­te­ren Fra­gen gleich vor­aus­be­zah­len.«

Ein Wink von mir, und die Peit­sche des klei­nen Had­schi klatsch­te auf den Rücken des Wäch­ters der Un­ter­ta­nen des Pa­disch­ah her­nie­der. Er woll­te zu­rück­sprin­gen, aber der klei­ne Had­schi hat­te sein Pferd so si­cher zwi­schen den Schen­keln, dass er den Mann an die Wand dräng­te und im­mer neue Hie­be fal­len ließ.

Der Ge­züch­tig­te dach­te gar nicht dar­an, von sei­nem Sar­ras oder Knüt­tel Ge­brauch zu ma­chen. Er schrie in al­len mög­li­chen Ton­ar­ten und sein ›ein­zi­ge­s‹ Weib stimm­te ein. Da­bei ver­gaß sie, den Bo­den des Kor­bes vor dem Ge­sicht zu be­hal­ten; sie warf viel­mehr die­sen Be­wah­rer ih­rer weib­li­chen Wür­de weit von sich, sprang zum Pferd des Had­schi, fass­te die­ses am Schwanz, zerr­te aus Lei­bes­kräf­ten und schrie da­bei:

»Wai ba­schi­na, Wai ba­schi­na! Wehe Dir, wehe Dir! Wie kannst Du den Die­ner und Lieb­ling des Pa­disch­ah be­lei­di­gen? Zu­rück, zu­rück! Bre bre, he he – zu Hil­fe, zu Hil­fe!«

Auf die­se mit krei­schen­der Stim­me aus­ge­sto­ße­nen Rufe wur­de es vor den Tü­ren der Häu­ser und Hüt­ten le­ben­dig. Män­ner, Frau­en und Kin­der eil­ten her­aus und her­bei, um nach der Ur­sa­che die­ses Ge­schrei­es zu for­schen.

Ich gab Ha­lef einen Wink, ab­zu­las­sen, und er ge­horch­te. Der Nacht­wäch­ter moch­te zehn bis zwölf kräf­ti­ge Strei­che er­hal­ten ha­ben. Er ließ den Knüt­tel aus der Rech­ten fal­len, zog den Sä­bel aus der Schei­de und rief, in­dem er sich mit der Lin­ken den Rücken rieb:

»Mensch! Was hast Du ge­wagt! Soll ich Dich um ein Haupt kür­zer ma­chen? Ich wer­de die gan­ze Ge­mein­de ge­gen Dich het­zen und Dich von ihr zer­rei­ßen las­sen!«

Ha­lef nick­te la­chend. Er woll­te Et­was ant­wor­ten, kam aber nicht dazu, denn ein Mann dräng­te sich durch das Pub­li­kum und wen­de­te sich mit der bar­schen Fra­ge an mich:

»Was geht hier vor? Wer seid Ihr?«

Je­den­falls hat­te ich den ho­hen Herrn Orts­vor­ste­her vor mir, den­noch frag­te ich:

»Wer bist denn Du?«

»Ich bin der Kia­ja die­ses Dor­fes. Wer gibt Euch das Recht, Euch an mei­nem Kha­was­sen zu ver­grei­fen?«

»Sein Ver­hal­ten gibt uns das Recht.«

»Wie so?«

»Ich for­der­te Aus­kunft von ihm, und er ver­wei­ger­te sie mir. Er ver­langt, dass ich ihm eine jede Ant­wort ein­zeln be­zah­le.«

»Er kann sei­ne Ant­wor­ten ver­kau­fen, so teu­er er nur im­mer will.«

»Und ich kann sie be­zah­len, so hoch es mir be­liebt. Jetzt hat er den Lohn vor­aus, und nun wird er mir ant­wor­ten müs­sen.«

»Kein Wort!« rief der Wäch­ter.

»Kein Wort wird er ant­wor­ten,« be­stä­tig­te der Kia­ja. »Ihr habt Euch an mei­nem Die­ner ver­grif­fen. Folgt mir au­gen­blick­lich! Ich wer­de die Sa­che un­ter­su­chen, und Ihr sollt Eure Stra­fe fin­den!«

Da zeig­te der klei­ne Had­schi die Peit­sche und frag­te:

»Ef­fen­di, soll ich die­sem Kia­ja von Bu-kiöj die­se schö­ne Haut des Nil­pfer­des auch zu kos­ten ge­ben?«

»Jetzt nicht, viel­leicht aber spä­ter,« ant­wor­te­te ich.

»Was, Hund, mich willst Du peit­schen las­sen?« schrie der Orts­vor­ste­her.

»Vi­el­leicht ja,« ant­wor­te­te ich ru­hig. »Du bist der Kia­ja die­ses Dor­fes; aber weißt Du denn, wer und was ich bin?«

Er ant­wor­te­te nicht. Mei­ne Fra­ge schi­en ihm höchst un­ge­le­gen zu kom­men. Ich fuhr fort:

»Du hast die­sen Mann Dei­nen Kha­was­sen ge­nannt?«

»Ja, er ist es.«

»Nein, er ist es nicht. Wo ist er ge­bo­ren?«

»Hier.«

»Ah so! Von wem ist er zu Dir ab­kom­man­diert wor­den? Er ist ein Ein­woh­ner die­ses Or­tes, und Du hast ihn zu Dei­nem Die­ner ge­macht; aber ein Po­li­zeisol­dat ist er nicht. Da, sie­he Dir ein­mal die­se drei Rei­ter an, wel­che die Uni­form des Groß­herrn tra­gen! Du hast einen Nacht­wäch­ter; ich aber habe drei wirk­li­che Kha­was­sen bei mir. Ahnst Du nun, dass ich ein ganz an­de­rer Mann bin, als Du?«

Um mei­nen Wor­ten mehr Nach­druck zu ver­lei­hen, fuch­tel­te Ha­lef ihm so vor dem Ge­sicht her­um, dass er aus Angst zu­rück­wich. Auch die hin­ter ihm ste­hen­den Per­so­nen zo­gen sich zu­rück. Ich merk­te an den vie­len Ge­sich­tern, dass sie be­gan­nen, mich für einen ho­hen Herrn zu hal­ten.

»Nun, ant­wor­te!« be­fahl ich.

»Herr, sage zu­vor, wer Du bist!« bat er.

Da fuhr Ha­lef ihn an:

»Mensch! Wurm! Wie kannst Du ver­lan­gen, dass ein sol­cher Herr Dir sagt, wer er ist? Aber ich will Dir in Gna­den mit­tei­len, dass Du vor dem ho­hen und ed­len Had­schi Ef­fen­di Kara Ben Nem­si Bey stehst, dem Al­lah noch vie­le tau­send Som­mer ge­ben möge, die Win­ter gar nicht mit­ge­zählt. Ich hof­fe, dass Du schon von ihm ge­hört hast!«

»Nein, nie!« be­teu­er­te der ein­ge­schüch­ter­te Mann nach bes­tem Wis­sen und Ge­wis­sen.

»Was? Nie?« don­ner­te der Klei­ne ihn an. »Soll ich etwa Dein Ge­hirn so lan­ge zu­sam­mendrücken las­sen, bis der rich­ti­ge Ge­dan­ke her­vor­ge­bracht wird. Den­ke nach!«

»Ja, ich habe von ihm ge­hört,« be­kann­te der Kia­ja in hel­ler Angst.

»Etwa nur ein­mal?«

»Nein, sehr vie­le, vie­le Male!«

»Das ist Dein Glück, Kia­ja! Ich hät­te Dich ge­fan­gen ge­nom­men und nach Istan­bul ge­schickt, um Dich im Bos­po­rus er­trin­ken zu las­sen! Nun aber höre, was die­ser er­ha­be­ne Ef­fen­di und Emir Dir zu sa­gen hat!«

Bei die­sen Wor­ten dräng­te er sein Pferd von dem Be­droh­ten zu­rück. Sei­ne Au­gen blitz­ten noch im­mer in schein­ba­rem Zorn, aber um sei­ne Lip­pen zuck­te es ver­rä­te­risch. Der bra­ve Had­schi muss­te sich alle Mühe ge­ben, um nicht in ein lau­tes La­chen aus­zu­bre­chen.

Al­ler Au­gen hin­gen jetzt an mei­nem Mun­de. Ich sag­te zum Kia­ja in be­ru­hi­gen­dem Ton:

»Ich bin nicht ge­kom­men, um Euch Übles zu er­wei­sen; aber ich bin ge­wöhnt, mei­ne Fra­gen ge­hor­sam und au­gen­blick­lich be­ant­wor­tet zu se­hen. Die­ser Mann wei­ger­te sich, mir frei­wil­lig Aus­kunft zu er­tei­len; er woll­te Geld er­pres­sen; dar­um habe ich ihn züch­ti­gen las­sen. Es soll auf ihn selbst an­kom­men, ob er viel­leicht gar noch die Bas­ton­na­de emp­fängt!«

Wäh­rend ich mich dem Nacht­wäch­ter zu­wand­te, gab der Orts­vor­ste­her die­sem ein has­ti­ges Zei­chen und raun­te ihm zu:

»Um Al­lahs wil­len, ant­wor­te schnell!«

Der nächt­li­che Be­schüt­zer der Un­ter­ta­nen des Pa­disch­ah warf sich in eine so stram­me Hal­tung, als ob er in mir den Be­herr­scher der Gläu­bi­gen vor sich sähe.

»Ef­fen­di, fra­ge mich!« sag­te er.

»Hast Du wäh­rend der letz­ten Nacht ge­wacht?« frag­te ich.

»Ja.«

»Wie lan­ge?«

»Vom Abend bis zum Mor­gen.«

»Ka­men Frem­de in das Dorf?«

»Nein.«

»Sind kei­ne Frem­den durch das Dorf ge­rit­ten?«

»Nein.«

Aber be­vor er die­se Ant­wort gab, glitt aus sei­nem Auge ein fra­gen­der Blick hin­über zu dem Kia­ja, des­sen Ge­sicht ich zwar nicht be­ob­ach­ten konn­te, aber ich hat­te ge­nug ge­se­hen und konn­te die­ser Ant­wort kei­nen Glau­ben schen­ken. Da­rum sag­te ich in stren­gem Ton:

»Du lügst!«

»Herr, ich rede die Wahr­heit!«

In die­sem Au­gen­blick dreh­te ich mich schnell nach dem Kia­ja um und sah, dass die­ser den Fin­ger war­nend an den Mund ge­legt hat­te. Erst hat­te er dem Wäch­ter zu­ge­raunt, schnell zu ant­wor­ten, und nun ver­an­lass­te er ihn, zu schwei­gen. Das war na­tür­lich auf­fäl­lig. Ich frag­te den Wäch­ter:

»Du hast auch mit kei­nem Frem­den ge­spro­chen?«

»Nein.«

»Gut! Kia­ja, wo ist Dei­ne Woh­nung?«

»Das Haus da drü­ben,« ant­wor­te­te der Ge­frag­te.

»Du und der Bekd­schi, Ihr wer­det mich dort­hin be­glei­ten, Ihr bei­de al­lein. Ich habe mit Euch zu spre­chen.«

Ohne mich nach ih­nen um­zu­se­hen, schritt ich nach dem mir be­zeich­ne­ten Haus und trat in die Tür.

Es war ganz auf bul­ga­ri­sche Wei­se ge­baut und be­stand nur aus ei­nem Raum, der aber durch Wei­den­ge­flech­te in meh­re­re Ab­tei­lun­gen ge­schie­den war. In dem vor­de­ren Raum fand ich eine Art von Stuhl, auf den ich mich setz­te.

Die bei­den Ge­nann­ten hat­ten nicht ge­wagt, mir zu wi­der­spre­chen; sie tra­ten da­her fast un­mit­tel­bar hin­ter mir ein. Und durch das Mau­er­loch, wel­ches als Fens­ter diente, be­merk­te ich, dass sich drau­ßen noch im­mer die Be­woh­ner des Or­tes zu­sam­men­hiel­ten, je­doch in re­spekt­vol­ler Ent­fer­nung von mei­nen Beglei­tern.

So­wohl der Kia­ja als auch sein Un­ter­ge­be­ner be­fan­den sich sicht­lich in ei­ner nicht be­nei­dens­wer­ten Lage. Bei­de hat­ten Angst, und das muss­te ich nut­zen.

»Bekd­schi, bleibst Du auch jetzt noch bei dem, was Du mir vor­hin ge­sagt hast?« frag­te ich.

»Ja,« ant­wor­te­te er.

»Trotz­dem Du mich be­lo­gen hast?«

»Ich habe nicht ge­lo­gen!«

»Du hast ge­lo­gen, und zwar nur des­halb, weil es der Kia­ja so ha­ben woll­te.«

Das Orts­ober­haupt fuhr er­schro­cken auf:

»Ef­fen­di!«

»Was? Was willst Du sa­gen?«

»Ich habe ja zu die­sem Mann kein Wort ge­sagt!«

»Nein, aber ge­winkt hast Du ihm!«

»Nein!«

»Ich sage Euch, dass Ihr bei­de lügt. Kennt Ihr das Sprich­wort von dem Ju­den, wel­cher er­trank, weil er sich in den Brun­nen schla­fen ge­legt hat­te?«

»Ja.«

»Wie je­nem Ju­den wird es auch Euch er­ge­hen. Ihr be­gebt Euch in eine Ge­fahr, wel­che wie das Was­ser des Brun­nens über Euch zu­sam­men­flie­ßen und Euch er­sti­cken wird. Ich aber will Euer Un­glück nicht; ich will Euch war­nen. Ich rede hier mit Euch, da­mit Eure Un­ter­ge­be­nen und Freun­de nicht er­fah­ren sol­len, dass Ihr den­noch die Un­wahr­heit ge­sagt habt. Ihr seht, dass ich mild und freund­lich mit Euch bin. Nun aber ver­lan­ge ich auch, von Euch die Wahr­heit zu hö­ren!«

»Wir ha­ben sie be­reits ge­sagt,« be­teu­er­te der Kia­ja.

»Es sind also wäh­rend die­ser Nacht nicht Frem­de durch die­sen Ort ge­rit­ten?«

»Nein.«

»Drei Rei­ter?«

»Nein.«

»Auf zwei Schim­meln und ei­nem dunklen Pferd?«

»Nein.«

»Sie ha­ben nicht mit Euch ge­spro­chen?«

»Wie kön­nen sie mit uns ge­spro­chen ha­ben, wenn sie gar nicht hier ge­we­sen sind! Wir ha­ben kei­nen Frem­den ge­se­hen.«

»Gut! Ich habe es gut mit euch ge­meint, ihr aber meint es de­sto schlim­mer mit euch selbst. Da ihr mich be­lügt, so wer­de ich euch nach Ed­re­neh schaf­fen las­sen, und zwar zum Weli2 selbst. Ich habe des­halb die drei Kha­was­sen mit­ge­bracht. Man wird euch dort schnell den Pro­zess ma­chen. Nehmt also Ab­schied von den Eu­ri­gen!«

Ich sah, dass bei­de hef­tig er­schra­ken.

»Ef­fen­di, du scher­zest!« sag­te der Orts­vor­ste­her.

»Was fällt dir ein?« ant­wor­te­te ich, von mei­nem Sitz auf­ste­hend. »Ich habe euch wei­ter nichts zu sa­gen und wer­de jetzt die Kha­was­sen ru­fen.«

»Aber wir sind un­schul­dig!«

»Man wird euch be­wei­sen, dass ihr schul­dig seid. Dann aber seid ihr ver­lo­ren. Ich hat­te die Ab­sicht, euch zu ret­ten. Ihr aber wollt es nicht. Nun mögt ihr auch die Fol­gen eu­res Starr­sinns tra­gen!«

Ich schritt der Tür zu, als ob ich die Po­li­zis­ten ru­fen woll­te; da aber trat der Kia­ja mir schnell in den Weg und frag­te:

»Ef­fen­di, ist’s wahr, dass du uns ret­ten woll­test?«

»Ja.«

»Auch jetzt noch?«

»Hm! Ich weiß es nicht. Ihr habt ge­leug­net!«

»Aber wenn wir nun ge­ste­hen?«

»Dann ist’s viel­leicht noch Zeit.«

»Du wirst nach­sich­tig sein?«

»Vi­el­leicht.«

»Und uns nicht ge­fan­gen neh­men?«

»Ihr habt nicht zu fra­gen, son­dern zu ant­wor­ten. Ver­steht ihr mich? Was ich dann be­schlie­ße, das wer­det ihr er­fah­ren. Grau­sam aber bin ich nicht.«

Sie blick­ten ein­an­der an. Der Nacht­wäch­ter er­hob wie in stum­mer Bit­te ein we­nig die Hand.

»Und hier wird nie­mand er­fah­ren, was wir dir er­zäh­len, Ef­fen­di?« frag­te der Kia­ja.

»Wohl schwer­lich.«

»Nun gut, so sollst du die Wahr­heit hö­ren. Gehe nicht hin­aus; blei­be hier und sage uns, was du wis­sen willst. Wir wer­den dir nun ant­wor­ten.«

Ich nahm mei­nen vo­ri­gen Platz wie­der ein und wand­te mich an den Nacht­wäch­ter:

»Also es sind Frem­de in der Nacht durch das Dorf ge­kom­men?«

»Ja.«

»Wer?«

»Nach Mit­ter­nacht ein Och­sen­wa­gen. Spä­ter aber die­je­ni­gen, nach de­nen du zu for­schen scheinst.«

»Drei Rei­ter?«

»Ja.«

»Auf was für Pfer­den?«

»Auf zwei Schim­meln und ei­nem Brau­nen.«

»Spra­chen sie mit dir?«

»Ja. Ich stand mit­ten auf der Stra­ße, und da re­de­ten sie mich an.«

»Spra­chen alle drei mit dir?«

»Nein, son­dern nur der eine.«

»Was sag­te er?«

»Er bat mich, zu ver­schwei­gen, dass ich die­se drei Rei­ter ge­se­hen habe, wenn ich ge­fragt wer­den soll­te. Er gab mir ein Bak­schisch.«

»Wie viel?«

»Zwei Pias­ter.«

»Ah, das ist viel, sehr viel!« lach­te ich. »Und für die­se zwei Pias­ter hast du ge­gen das Ge­bot des Pro­phe­ten ge­sün­digt und mir Lü­gen ge­sagt?«

»Ef­fen­di, nicht die­se Pias­ter al­lein ha­ben die Schuld.«

»Was noch?«

»Sie frag­ten mich, wie un­ser Kia­ja hei­ße, und als ich den Na­men sag­te, be­gehr­ten sie, zu ihm ge­führt zu wer­den.«

»Kann­test du sie oder einen von ih­nen?«

»Nein.«

»Aber sie schei­nen den Kia­ja ge­kannt zu ha­ben, da sie wünsch­ten, mit ihm zu spre­chen. Hast du ih­ren Wunsch er­füllt und sie zu ihm ge­führt?«

»Ja.«

In Fol­ge des­sen wand­te ich mich an den Orts­vor­ste­her, wel­cher sich of­fen­bar in weit grö­ße­rer Sor­ge be­fand, als sein Un­ter­ge­be­ner. Der un­si­che­re Blick, den ich an ihm be­ob­ach­te­te, ließ leicht er­ra­ten, dass er sich nicht im Be­sitz ei­nes gu­ten Ge­wis­sens be­fand.

»Be­haup­test du im­mer noch, dass nie­mand durch das Dorf ge­kom­men sei?« frag­te ich ihn.

»Ef­fen­di, ich hat­te Angst,« ant­wor­te­te er.

»Wer Angst fühlt, hat Un­recht ge­tan! Du selbst gibst dir da ein schlech­tes Zeug­nis.«

»Herr, ich bin mir kei­nes Un­rech­tes be­wusst!«

»Wozu und wo­her also die Angst? Sehe ich aus wie ein Mann, vor dem man sich un­schul­di­ger­wei­se zu ängs­ti­gen braucht?«

»O, vor dir hat­te ich kei­ne Furcht.«

»Vor wem denn?«

»Vor Ma­nach el Bar­scha.«

»Ah, so kennst du ihn?«

»Ja.«

»Wo hast du ihn ken­nen­ge­lernt?«

»In Ma­st­an­ly und Is­mi­lan.«

»Wie oder wo bist du da mit ihm zu­sam­men­ge­trof­fen?«

»Er ist Ein­neh­mer der Kopf­steu­er in Us­kub und war nach Se­res ge­kom­men, um sich mit den dor­ti­gen Ein­woh­nern zu be­spre­chen. Er be­such­te von da aus den be­rühm­ten Jahr­markt zu Men­lik.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Jah­ren. Dann hat­te er in Is­mi­lan und Ma­st­an­ly zu tun, und an bei­den Or­ten habe ich ihn ge­se­hen.«

»Hast du auch mit ihm ge­spro­chen?«

»Nein. Aber ich hör­te kürz­lich von ihm, dass er hö­he­re Steu­ern er­ho­ben hat, als er durf­te, und dass er des­halb ge­flo­hen sei. Er ist in die Ber­ge ge­gan­gen.«

›In die Ber­ge ge­hen‹ heißt, wie be­reits be­merkt, un­ter die Räu­ber ge­hen. Da­rum sag­te ich in stren­gem Ton:

»So hat­test du, so­bald er zu dir kam, die Ver­pflich­tung, ihn fest­zu­hal­ten!«

»O Ef­fen­di, das durf­te ich nicht wa­gen!«

»Wa­rum nicht?«

»Es wäre mein Tod ge­we­sen. Es woh­nen so vie­le Män­ner in den Ber­gen; in al­len Schluch­ten ste­cken sie, und ihre Ver­bün­de­ten zäh­len nach vie­len Hun­der­ten. Sie ken­nen sich alle und rä­chen ein­an­der. Hät­te ich ihn ge­fan­gen ge­nom­men, so wä­ren sei­ne Freun­de ge­kom­men und hät­ten mich ge­tö­tet!«

»Du bist ein Feig­ling und fürch­test dich, dei­ne Pf­licht zu tun. Du soll­test kei­nen Au­gen­blick län­ger Sta­re­schin3 blei­ben dür­fen!«

»O Herr, du irrst! Es ist mir nicht um mich zu tun; aber sie hät­ten un­ser gan­zes Dörf­chen dem Erd­bo­den gleich­ge­macht.«

Da öff­ne­te sich die Tür, und der Kopf des klei­nen Had­schi er­schi­en in der Öff­nung.

»Sih­di,« sag­te er, »li ma’ ak ke­li­met – ich habe ein Wort mit dir zu spre­chen.«

Er sprach das, um von dem Kia­ja und Nacht­wäch­ter viel­leicht nicht ver­stan­den zu wer­den, in ara­bi­scher Spra­che, und zwar in dem west­sa­ha­ri­schen Dia­lekt sei­ner Hei­mat.

»Schu has­sa – was ist es?« frag­te ich.

»Ta’a, kka­wam, ist a’ dschil – komm her; mach ge­schwind!« ant­wor­te­te er, ohne sich wei­ter zu er­klä­ren.

Ich ging also zu ihm hin. Er hat­te mir je­den­falls et­was nicht Un­wich­ti­ges mit­zu­tei­len.

»Nun rede!« flüs­ter­te ich ihm zu.

»Sih­di,« er­klär­te er lei­se, so­dass die bei­den ihn nicht zu ver­ste­hen ver­moch­ten. »Ei­ner von den Eha­lis­si4 gab mir einen ver­stoh­le­nen Wink und ent­fern­te sich hin­ter das Haus. Ich folg­te ihm so un­auf­fäl­lig wie mög­lich, und da sag­te er, dass er uns Et­was mit­tei­len wol­le, wenn wir ihm zehn Pias­ter be­zah­len möch­ten.«

»Wo be­fin­det er sich jetzt?«

»Noch hin­ter dem Haus.«

»Hat er dir wei­ter nichts ge­sagt?«

»Nein, kein Wort.«

»Ich wer­de zu ihm ge­hen. Blei­be vor­erst hier, da­mit die­se zwei Män­ner sich nicht ge­gen uns ver­stän­di­gen kön­nen.«

Zehn Pias­ter, un­ge­fähr zwei Mark, das war gar nicht zu viel, um et­was Wich­ti­ges zu er­fah­ren. Ich ging nicht vorn auf die Dorf­stra­ße hin­aus, son­dern ich ver­ließ den Raum di­rekt durch den schma­len hin­te­ren Aus­gang. Da sah ich ein vier­e­cki­ges Tscha­ly du­wa­ry,5 in­ner­halb des­sen sich meh­re­re Pfer­de be­fan­den. In der Nähe stand ein Mann, der au­gen­schein­lich auf mich war­te­te. Als er mich sah, kam er schnell auf mich zu und sag­te lei­se:

»Willst du be­zah­len, Ef­fen­di?«

»Ja.«

»So gib her!«

»Hier!«

Ich zog die klei­ne Sum­me her­vor. Er steck­te sie ein und raun­te mir dann zu:

»Sie sind da­ge­we­sen!«

»Ich weiß es.«

»Er hat ih­nen ein Pferd ver­tauscht.«

»Wel­ches?«

»Ei­nen Schim­mel. Sie woll­ten drei Schim­mel ha­ben und lie­ßen das an­de­re da. Sie­he, dort in der Ecke steht es.«

Ich blick­te hin. Die Far­be des Pfer­des stimm­te mit dem über­ein, was man mir ge­sagt hat­te.

»Ist das al­les, was du mir sa­gen woll­test?« frag­te ich.

»Nein, es kam kurz nach Mit­tag noch ei­ner, der sich nach ih­nen er­kun­digt hat.«

»Bei wem?«

»Bei mir. Da­rum weiß ich es. Ich stand am Weg, als er kam, und er frag­te nach drei Rei­tern, von de­nen zwei auf wei­ßen Pfer­den ge­rit­ten wä­ren. Ich wuss­te nichts und wies ihn zum Wäch­ter; die­ser aber führ­te ihn dann zu dem Sta­re­schin.«

»Hielt er sich lan­ge auf?«

»Nein. Er schi­en es sehr ei­lig zu ha­ben.«

»Kannst du ihn be­schrei­ben?«

»Ja. Er ritt einen al­ten Fal­ben, der be­reits sehr schwitz­te. Auf dem Kopf hat­te er ein ro­tes Fez, und da er sich in einen lan­gen, grau­en Bi­nisch6 gehüllt hat­te, konn­te ich nur noch sei­ne ro­ten Kun­du­ra7 se­hen.«

»Hat­te er einen Bart?«

»Er war au­ßer ei­nem klei­nen, hel­len By­jik,8 voll­stän­dig sa­kal­syz9 wie ich be­merkt habe.«

»Wo­hin ritt er?«

»Nach Ma­st­an­ly zu. Aber die Haupt­sa­che hast du noch gar nicht ge­hört. Näm­lich der Kia­ja hat in Is­mi­lan eine Schwes­ter, de­ren Mann der Bru­der der Schut-a ist.«

Das war al­ler­dings so wich­tig, dass ich vor Über­ra­schung einen Schritt zu­rück­wich.

Dem Räu­be­run­we­sen auf der Bal­kan­halb­in­sel hat nie­mals ge­steu­ert wer­den kön­nen; ja, ge­ra­de in den ge­gen­wär­ti­gen Ta­gen be­rich­ten die Zei­tun­gen fast un­un­ter­bro­chen von Auf­stän­den, Über­fäl­len, Mord­bren­ne­rei­en und an­de­ren Er­eig­nis­sen, wel­che auf die Halt­lo­sig­keit der dor­ti­gen Zu­stän­de zu­rück­zu­füh­ren sind. Da oben nun, in den Ber­gen des Schar-Dagh, zwi­schen Pris­ren­di und Ka­kan­de­len, mach­te ein Ski­pe­tar von sich re­den, wel­cher mit den Un­zu­frie­de­nen, die er um sich ver­sam­melt hat­te, bis hin­über zum Kur­becs­ka-Pla­ni­na­ge­bir­ge und bis her­ab in die Tä­ler des Ba­bu­na streif­te. Man er­zähl­te sich, dass er so­gar in den Schluch­ten des Pe­rin-Dagh ge­se­hen wor­den sei und in der Ein­sam­keit des De­spo­to-Pla­ni­na sei­ne An­hän­ger habe.

Sei­nen ei­gent­li­chen Na­men wuss­te nie­mand. El Aß­far, Sa­ryk, Schut, so wur­de er ge­nannt, je nach der Spra­che, de­ren man sich be­dien­te. Die­se drei Wör­ter be­deu­ten ›der Gel­be‹. Vi­el­leicht hat er die­se Fär­bung in­fol­ge ei­ner Gelb­sucht er­hal­ten. Schut-a ist das ser­bi­sche Fe­mi­ni­num von Schut und be­deu­tet na­tür­lich ›die Gel­be‹.

Also die­se Schut-a, die Frau die­ses Ski­pe­ta­ren, war eine Ver­wand­te mei­nes Kia­ja. Das gab mir na­tür­lich sehr zu den­ken. Doch konn­te es mir nicht ein­fal­len, ihm wis­sen zu las­sen, was ich schloss und fol­ger­te.

»Hast du noch Et­was zu sa­gen?« frag­te ich den Mann.

»Nein. Bist du nicht zu­frie­den?«

»O doch. Aber wie kommt es, dass du dei­nen Vor­ge­setz­ten ge­gen mich ver­rätst?«

»Ef­fen­di, er ist kein gu­ter Mensch. Kei­ner hat ihn lieb, und alle lei­den un­ter sei­ner Un­ge­rech­tig­keit.«

»Weiß noch je­mand, dass du mit mir sprichst?«

»Nein. Ich bit­te dich, es Kei­nem zu sa­gen.«

»Ich wer­de schwei­gen.«

Nach die­ser Ver­si­che­rung woll­te ich ab­bre­chen, da aber fiel mir ein, dass ich bei­na­he et­was sehr Not­wen­di­ges un­ter­las­sen hät­te.

»Bist du in Is­mi­lan be­kannt?« frag­te ich.

»Ja.«

»So kennst du auch wohl den Schwa­ger des Kia­ja, von dem du be­haup­test, dass sei­ne Schwes­ter das Weib des Ski­pe­ta­ren sei?«

»Ja, ich ken­ne ihn.«

»Was ist er?«

»Er ist Silahd­schi,10 und hat zu­gleich ein Kahwe­ha­ne11 wo sei­ne Waf­fen zum Ver­kauf aus­hän­gen.«

»Wo wohnt er?«

»In der Gas­se, wel­che nach dem Dorf Tscha­tak führt.«

»Ich dan­ke dir! Aber nun schwei­ge auch du, so wie ich ver­schwie­gen sein wer­de.«

Jetzt nun ging ich nach dem In­nern des Hau­ses zu­rück. Den Mie­nen des Kia­ja und des Nacht­wäch­ters sah ich es nicht an, ob sie er­rie­ten, dass mei­ne Ent­fer­nung eine ih­nen feind­li­che Ur­sa­che ge­habt habe. Ha­lef zog sich au­gen­blick­lich zu­rück.

»Nun,« fuhr ich in dem un­ter­bro­che­nen Ge­spräch fort, »möch­te ich gern wis­sen, was die­ser frü­he­re Steuer­ein­neh­mer von Us­kub bei dir ge­wollt hat.«

»Er er­kun­dig­te sich nach dem Weg,« ant­wor­te­te der Kia­ja.

»Wo­hin?«

»Nach So­fa­la.«

So­fa­la lag grad ge­gen Sü­den, wäh­rend ich über­zeugt war, dass die drei Flüch­ti­gen nach Wes­ten ge­rit­ten wa­ren. Die­ser bra­ve Kia­ja woll­te mich also von der rich­ti­gen Bahn ab­len­ken. Ich ließ ihm na­tür­lich nicht mer­ken, dass ich sei­nen Wor­ten kei­nen Glau­ben schenk­te, doch frag­te ich:

»Nicht wahr, Ma­nach el Bar­scha kam von Ed­re­neh?«

»Ja.«

»So ist er von dort aus über Sa­man­ka, Tschin­ger­li und Or­takiöj ge­ra­de nach Wes­ten ge­rit­ten und nun hier ganz plötz­lich nach Sü­den ab­ge­bo­gen. Wenn er nach So­fa­la woll­te, konn­te er doch so­fort über Ta­tar, Ada, Sch­a­han­dscha, De­mo­ti­ka und Man­dra süd­lich rei­ten. Wa­rum hat er in­fol­ge die­ses Win­kels, die­ser Ecke einen Um­weg von mehr als sech­zehn Reit­stun­den vor sich ge­legt?«

»Ich habe ihn nicht ge­fragt.«

»Und ich kann es nicht be­grei­fen.«

»Er darf sich nicht se­hen las­sen. Man will ihn fan­gen. Vi­el­leicht hat er die Zab­tie12 ir­re­lei­ten wol­len.«

»Das ist mög­lich.«

»Du suchst ihn auch? Du willst ihn fan­gen?«

»Ja.«

»So musst du der Rich­tung fol­gen, die ich dir an­ge­ge­ben habe.«

»Es ist sehr gut, dass du mir das ge­sagt hast. Wohnt in die­ser süd­li­chen Rich­tung kein Ver­wand­ter oder Be­kann­ter von dir, an den ich mich nö­ti­gen­falls wen­den könn­te?«

»Nein.«

»Aber Ver­wand­te hast du doch?«

»Nein.«

»Kei­ne El­tern?«

»Nein.«

»Kei­nen Bru­der, kei­ne Schwes­ter?«

»Auch nicht.«

Das war eine Lüge. Und der Wäch­ter, wel­cher je­den­falls die Ver­hält­nis­se sei­nes Dor­f­obers­ten kann­te, mach­te kei­ne Mie­ne, mir die Wahr­heit zu ver­ra­ten. Die­se bei­den Men­schen sa­hen mich für einen sehr ho­hen Herrn an; den­noch täusch­ten sie mich. Ich, der ich doch nur ein Frem­der war, ganz al­lein auf mich selbst an­ge­wie­sen, hat­te na­tür­lich nicht die min­des­te Macht ge­gen sie in den Hän­den. List war es al­lein, die ich an­wen­den konn­te, und die­se be­stand hier auch nur dar­in, dass ich mir den An­schein gab, als ob ich den Wor­ten des Kia­ja Glau­ben schen­ke. Ich zog mein No­tiz­buch aus der Ta­sche, blät­ter­te dar­in, so tu­end, als ob ich et­was su­che, mach­te dann eine Mie­ne, als wenn ich das Ge­such­te ge­fun­den hät­te, und sag­te:

»Ja, es ist rich­tig: der Sta­re­schin von Bu-Kiöj, ein har­ter, rück­sichts­lo­ser und un­ge­rech­ter Be­am­ter. Dazu kommt, dass du Flücht­lin­ge ent­kom­men lässt, an­statt sie fest­zu­hal­ten. Man wird dir – –«

»Hart? Rück­sichts­los? Un­ge­recht?« un­ter­brach er mich. »Ef­fen­di, es ist ganz un­mög­lich, dass ich ge­meint bin!«

»Wer an­ders denn? Ich habe heu­te kei­ne Zeit, mich län­ger mit dir zu be­fas­sen; aber du kannst dich dar­auf ver­las­sen, dass jede Un­ge­rech­tig­keit ihre si­che­re Stra­fe fin­det. Hast du ge­hört, was der Pro­phet von den Ji­uhn Al­lah13 ge­sagt hat?«

»Ja, Emir,« ant­wor­te­te er klein­laut.

»Sie sind schär­fer als das Mes­ser, wel­ches dir ins Herz dringt, um dich zu tö­ten. Sie drin­gen tiefer; sie drin­gen in die See­le, und vor ih­nen kann kein Leug­nen be­ste­hen. Den­ke im­mer an die­se Au­gen des All­wis­sen­den, sonst wird es dir schlim­mer er­ge­hen, als ei­nem ’a­bid elass­nam,,14 trotz der Ssa­la­wat15 wel­che du pünkt­lich ein­zu­hal­ten ge­wohnt bist! Ich gehe. Al­lah len­ke die Ge­füh­le dei­nes Her­zens und die Ge­dan­ken dei­nes Kop­fes! Al­lah ju­sel­li­mak – Gott be­hü­te dich!«

Er ver­neig­te sich tief und ehr­er­bie­tig und ant­wor­te­te:

»Ne­si­nin sa’id – Dei­ne Jah­re sei­en ge­seg­net!«

Der Nacht­wäch­ter ver­beug­te sich so tief, dass sein Ge­sicht fast den Bo­den be­rühr­te, und sag­te auf Tür­kisch:

»Aki­be­ti­niz cha­jir ola Sul­ta­num – möge euer Ende gut sein, mein Herr!«

Er gab mir also jetzt den Plu­ral an­statt den Sin­gu­lar, eine große Höf­lich­keit; doch als ich durch die Tür hin­austrat, hör­te ich den Kia­ja, wel­cher mir so­eben erst ge­seg­ne­te Jah­re ge­wünscht hat­te, lei­se und in­grim­mig mur­meln:

»In­ga­li ’min hon.«

Es be­deu­tet das so ziem­lich das­sel­be, was in ge­bräuch­li­che­rem Ara­bisch aus­ge­drückt wird: »ruh lild­sche­hen­num – geh’ zum Teu­fel!« Es war also wohl vor­aus­zu­se­hen, dass mei­ne an ihn ge­rich­te­te from­me Er­mah­nung von kei­nem großen Nut­zen sein wür­de.

Ich stieg wie­der auf, und wir rit­ten zum Dorf hin­aus, aber nicht in west­li­cher, son­dern in süd­li­cher Rich­tung. Erst als wir nicht mehr ge­se­hen wer­den konn­ten, bo­gen wir wie­der in den Weg ein, der uns nach Ge­ren, ei­nem un­ge­fähr an­dert­halb Stun­den ent­fern­ten Dorf, füh­ren muss­te.

Erst jetzt be­merk­te ich, dass wir nur noch zwei Kha­was­sen bei uns hat­ten.

»Wo ist dein Un­ter­ge­be­ner?« frag­te ich den Kha­waß-Ba­schi.

»Er ist zu­rück nach Ed­re­neh.«

Das ant­wor­te­te er so ru­hig, als ob es sich um et­was ganz und gar Selbst­ver­ständ­li­ches hand­le.

»Wa­rum?«

»Er konn­te uns nicht län­ger fol­gen.«

»Aber wes­halb denn?«

»Er hat­te den basch döm­nes­si gö­lin.16 Er konn­te es nicht län­ger mehr aus­hal­ten.«

»Wie kommt er denn zu die­sem Schwin­del?«

»Weil sein Pferd ge­lau­fen ist,« ant­wor­te­te er ernst­haft.

»Du sag­test ja, ihr könn­tet so fein rei­ten!«

»Ja; aber man muss das Pferd ste­hen blei­ben las­sen. Wenn es läuft, so wankt und wa­ckelt und schau­kelt es zum Er­bar­men. Das ver­mag doch nur der Ma­gen ei­nes Kassak rus­sia­ly,,17 aus­zu­hal­ten. Mei­ne Bad­schir­sak18 sind ver­schwun­den; sie sind weg; sie sind bis hin­un­ter in die­je­ni­gen des Pfer­des ge­rutscht; ich füh­le sie nicht mehr; ich füh­le nur noch den Schal­war19 wel­cher mir da fest­klebt, wo ich mir mei­ne gute, ei­ge­ne Haut hin­weg­ge­rit­ten habe. Wäre ich der­je­ni­ge, der den Teu­fel zu be­stra­fen hat, so wür­de ich ihn ver­ur­tei­len, mit euch nach Men­lik zu rei­ten. Er wür­de ohne Haut und Kno­chen dort an­kom­men und lie­ber im stärks­ten Feu­er der Höl­le sit­zen, als auf die­sem Pferd.«

Das war eine Kla­gre­de, über wel­che wir an­de­ren zwar la­chen muss­ten, doch tat mir der Mann im­mer­hin leid. Er mach­te ein gar zu jäm­mer­li­ches Ge­sicht. Sei­ne Haut war ihm trotz der kur­z­en Zeit, wäh­rend wel­cher er auf dem Pfer­de saß, an ei­ni­gen Stel­len ab­han­den ge­kom­men.

Sei­nem Ka­me­ra­den er­ging es je­den­falls nicht bes­ser, denn er mur­mel­te in den Bart hin­ein:

»Wal­la­hi, öjle dir – bei Al­lah, es ist so!«

Mehr als die­sen Stoß­seuf­zer ließ er zwar nicht hö­ren, aber sei­nem Ge­sicht war es deut­lich an­zu­se­hen, dass er ganz den­sel­ben kör­per­li­chen Emp­fin­dun­gen wie sein Vor­ge­setz­ter un­ter­wor­fen war.

»Wer hat ihm denn die Er­laub­nis ge­ge­ben, um­zu­keh­ren?« frag­te ich den Letz­te­ren.

»Ich«, ant­wor­te­te er, ganz er­staunt, dass ich über­haupt so fra­gen kön­ne.

»Ich den­ke aber, dass ich es bin, den er hät­te fra­gen sol­len.«

»Du? Ef­fen­di, bist Du Kha­waß-Ba­schi, oder bin ich es?«

»Na­tür­lich bist Du es; aber Du weißt doch wohl, wes­sen Be­feh­le Du jetzt zu voll­brin­gen hast!«

»Die Be­feh­le des Kadi. Die­ser aber hat mir nicht be­foh­len, in den Rücken die­ses Pfer­des ein sol­ches Loch zu rei­ten, dass ich schließ­lich nur noch mit dem Kopf her­aus­zu­gu­cken ver­mag. Ich will sin­gen und lob­prei­sen wie ein Trub oder Es­ra­fil,20 wenn ich wie­der in Ed­re­neh in mei­ner Ky­schlag21 lie­ge!«

Da mein­te der klei­ne Had­schi:

»He­rif,22 wie kannst Du so un­ehr­er­bie­tig mit mei­nem Ef­fen­di spre­chen! Er ist Dein Herr, so lan­ge es ihm be­liebt. Wenn er Dir be­fiehlt, zu rei­ten, so hast Du zu rei­ten, und wenn Dir Dei­ne gan­ze Uni­form an die Haut wach­sen soll­te. Wa­rum hast Du das große Mund­werk ge­habt und be­haup­tet, dass Ihr so aus­ge­zeich­net rei­ten könn­tet!«

»Was sagt die­ser klei­ne Mann?« ent­geg­ne­te der Un­ter­of­fi­zier zor­nig. »Wie nennt er mich? Ei­nen Kerl nennt er mich? Und doch bin ich ein On­ba­schi23 des Be­herr­schers al­ler Gläu­bi­gen! Ich wer­de das nach mei­ner Rück­kehr dem Kadi sa­gen!«

Der klei­ne Had­schi woll­te ant­wor­ten, doch Osco kam ihm zu­vor. Er nahm das Pferd des Kha­was­sen beim Zü­gel und sag­te la­chend in sei­ner hei­mat­li­chen (ser­bi­schen) Spra­che:

»Kom­men Sie, wac­sche pre­wasz­chodszt­wo!24 Hal­ten Sie sich fest am Sat­tel an, wis­zo­ko bla­go­rod­ni gosz­po­di­ne!25 Jetzt geht das Wett­ren­nen an!«

Im nächs­ten Au­gen­blick saus­te er mit dem Kha­waß-Ba­schi im Ga­lopp da­von. Zu­gleich er­griff Omar Ben Sa­dok dem an­de­ren Kha­waß in die Zü­gel und jag­te mit ihm den bei­den nach.

»Fyr­ty­na! Tschap­kyn! Cho­war­da! Oghul sche­jta­ni! Böjük oghul dsche­hen­ne­mi! Hala oghlu büjüd­schü­li! Bad­scha­nak fena­ly­ki – Wet­ter und Don­ner! Schuft! Schur­ke! Teu­fels­sohn! Höl­le­nen­kel! He­xen­vet­ter! Bos­heits­schwa­ger!«

So und noch viel an­ders hör­ten wir die bei­den Si­cher­heits­be­am­ten schrei­en, in­dem sie sich mit den Hän­den an den Sät­teln oder Mäh­nen fest­klam­mer­ten. Wir folg­ten ih­nen schnell nach. Die bei­den ar­men Ker­le ta­ten mir leid; aber sie wa­ren doch be­reits voll­stän­dig au­ßer Atem, als ich sie ein­ge­holt hat­te.

Nun er­gin­gen sie sich in Kraft­äu­ße­run­gen, wel­che der ara­bi­schen, tür­ki­schen, per­si­schen, ru­mä­ni­schen und ser­bi­schen Spra­che ent­nom­men wa­ren. In die­sem Gen­re ist der Ori­en­ta­le, zu­mal der ori­en­ta­li­sche Sol­dat, sprach­lich sehr viel­sei­tig be­wan­dert. Ich hat­te große Mühe, ih­ren Zorn zu be­sänf­ti­gen, und es ver­ging eine gan­ze Wei­le, ehe wir in ru­hi­ger Stim­mung wei­ter rei­ten konn­ten.

Nun gab es auch Zeit, un­se­re Mei­nun­gen über das Er­leb­nis in Bu-Kiöj aus­zut­au­schen.

Ha­lef, dem Scharf­sin­ni­gen, fiel ganz eben­so, wie es bei mir der Fall ge­we­sen war, der Um­stand auf, dass heu­te nach Mit­tag ein Rei­ter sich nach den drei Flüch­ti­gen er­kun­digt hat­te.

»Er muss sie ken­nen,« sag­te er. »Er muss von ih­rer Flucht wis­sen. Wa­rum aber ist er nicht so­gleich mit ih­nen ge­rit­ten, Sih­di?«

»Weil es wohl über­haupt gar nicht in sei­ner Ab­sicht ge­le­gen hat, mit ih­nen zu rei­ten.«

»Aber warum folgt er ih­nen nach?«

»Ich ver­mu­te, um sie von dem zu un­ter­rich­ten, was heu­te noch ge­sche­hen ist.«

»Dass Du wie­der frei bist?«

»Ja.«

»Dass Du die­sen Ali Ma­nach, den Tan­zen­den, ge­fan­gen ge­nom­men hast?«

»Ja, und wohl auch, dass der Tan­zen­de nun tot ist.«

»Was wird Ba­rud el Ama­sat dazu sa­gen?«

»Schreck und Wut wird er emp­fin­den, vor­aus­ge­setzt, dass es die­sem Rei­ter ge­lingt, ihn ein­zu­ho­len und ihm die­se Nach­richt zu brin­gen.«

»Wa­rum soll­te es ihm nicht ge­lin­gen? Er ist ja so schnell ge­rit­ten, dass sein Pferd ge­schwitzt hat!«

»Es ist alt. Und eben weil es be­reits ge­schwitzt hat, wird es nicht lang aus­hal­ten. Au­ßer­dem liegt es auch nicht in mei­ner Ab­sicht, die­sen Mann sei­ne Ab­sicht er­rei­chen zu las­sen.«

»Wa­rum nicht?«

»Die Flücht­lin­ge wür­den durch ihn er­fah­ren, dass ich frei bin und dass sie ver­folgt wer­den. Das aber kann uns kei­nes­wegs lieb sein. Je si­che­rer sie sich füh­len, de­sto läs­si­ger wer­den sie ihre Flucht be­trei­ben, und de­sto eher und leich­ter wer­den wir sie ein­ho­len. Da­rum möch­te ich dem Rei­ter, von wel­chem die Rede ist, schnell nach­set­zen, um sei­ne Ab­sicht zu ver­ei­teln.«

»Er hat einen zu großen Vor­sprung.«

»Denkst Du etwa, Rih kön­ne nicht mehr lau­fen?«

»Der Rap­pe, Sih­di? O, Rih heißt Wind und fliegt wie der Wind. Er hat lan­ge Zeit kei­ne Ge­le­gen­heit ge­habt, zu zei­gen, dass er stäh­ler­ne Flech­sen be­sitzt. Wie wür­de er sich freu­en, ein­mal mit dem Sturm wet­ten zu kön­nen! Aber wir an­de­ren ver­mö­gen ja nicht, Schritt zu hal­ten.«

»Das ist auch gar nicht nö­tig. Ich wer­de al­lein rei­ten.«

»Al­lein, Sih­di? Und was tun wir?«

»Ihr kommt so schnell wie mög­lich nach.«

»Wo­hin?«

»Ihr bleibt im­mer auf dem Wege nach Ma­st­an­ly. Auch ich rei­te dort­hin, schla­ge aber mög­lichst eine ganz gra­de Rich­tung ein. Da ich nun nicht weiß, wo ich ihn tref­fe, so kann ich auch nicht sa­gen, wo ich Euch er­war­ten wer­de.«

»Weißt Du denn, ob auch er die gra­de Rich­tung ein­ge­schla­gen hat?«

»Das hat er je­den­falls nicht ge­tan. Die­ser Weg ist ganz ge­wiss viel zu be­schwer­lich für sei­nen al­ten Fal­ben.«

»Aber wie nun, wenn Du ihn über­holst?«

»So war­te ich auf ihn.«

»Wirst Du denn er­fah­ren, ob er vor oder hin­ter Dir ist?«

»Ich hof­fe es.«

»Aber Du kennst die­se Ge­gend nicht. Du kannst also sehr leicht in die Irre rei­ten; es kann Dir ein Un­glück wi­der­fah­ren. Nimm mich mit, Sih­di!«

»Habe kei­ne Sor­ge, mein lie­ber Ha­lef! Ich bin ja gut be­rit­ten und eben­so gut be­waff­net. Dich kann ich un­mög­lich mit­neh­men, da Du doch der An­füh­rer der Üb­ri­gen sein musst.«

Das schmei­chel­te sei­nem Stolz. Er wil­lig­te also in mei­nen Plan ein, und so gab ich ihm, Osco und Omar mei­ne Wei­sun­gen. Da hier­bei alle Mög­lich­kei­ten be­rück­sich­tigt und be­spro­chen wer­den muss­ten, hat­ten wir wäh­rend ei­ni­ger Zeit kei­ne Acht auf die bei­den Kha­was­sen. Als ich mich dann zu die­sen um­dreh­te, sah ich wohl den Reit­künst­ler-Kor­po­ral, nicht aber sei­nen Ka­me­ra­den.

»Wo ist Dein Ge­fähr­te?« frag­te ich er­staunt.

Er wen­de­te sich auch um und rief dann be­stürzt:

»Ef­fen­di! Er ritt hin­ter mir!«

Sei­ne Be­stür­zung war kei­nes­wegs ge­heu­chelt. Ich sah sei­nem Ge­sicht an, dass er sich wirk­lich in dem Glau­ben be­fun­den hat­te, den Ka­me­ra­den hin­ter sich zu ha­ben.

»Aber wo ist er denn?« fuhr ich fort.

»Na­be­did al­misch, bo­ghul­misch, kajb et­misch, jog et­misch, boz­misch, sin­dir­misch – ver­schwun­den, ver­duns­tet, ver­lo­ren, ver­nich­tet, ver­wischt, ver­daut!« ant­wor­te­te er in sei­ner un­be­schreib­li­chen Ver­blüf­fung.

»Aber Du musst doch ge­merkt ha­ben, dass er zu­rück­ge­blie­ben ist!«

»Wie soll ich das mer­ken? Hast denn Du es ge­merkt? Ich wer­de so­fort zu­rück­ei­len, um ihn zu ho­len!«

Er mach­te Mie­ne, die­sen Vor­satz aus­zu­füh­ren. Auf die­se Wei­se hät­te auch er sich vor­teil­haft nach rück­wärts zu kon­zen­trie­ren ver­mocht.

»Halt!« sag­te ich aber. »Du bleibst! Wir ha­ben kei­ne Zeit, die­sen Aus­rei­ßer zu su­chen oder zu war­ten, bis Du ihn ge­fun­den hast!«

»Aber er soll doch mit­rei­ten!«

»Das ma­che Du spä­ter mit ihm aus, wenn Du wie­der in Ed­re­neh bist! Jetzt folgst Du uns! Had­schi Ha­lef Omar, habt, wenn ich fort bin, auf die­sen On­ba­schi ein wach­sa­mes Auge, da­mit er sei­ne Pf­licht er­füllt!«

Jetzt ließ ich den Rapp­hengst lau­fen und konn­te schon nach kur­z­er Zeit die an­de­ren nicht mehr hin­ter mir er­bli­cken.

In je­ner Ge­gend sind die Fle­cken nach bul­ga­ri­scher Wei­se an­ge­legt. Ein Bul­ga­ren­dorf oder Celo liegt sehr oft von der Land­stra­ße, oder was man mit die­sem Na­men zu be­zeich­nen be­liebt, ent­fernt und folg­lich un­sicht­bar für die Mehr­zahl der Rei­sen­den. Ge­wöhn­lich dehnt sich der Celo der Län­ge nach auf ei­ner Prä­rie am Ran­de ei­nes Ba­ches aus, der ihm als Gra­ben und na­tür­li­ches Schutz­mit­tel dient.

Je­des die­ser Dör­fer, die ziem­lich eng auf­ein­an­der fol­gen, zählt nur we­ni­ge Höfe, wel­che durch Grasp­lät­ze von­ein­an­der ge­trennt sind. Sechs bis zehn Hüt­ten bil­den einen Hof. Die­se Hüt­ten wer­den ent­we­der in die Erde ge­gra­ben und mit ei­nem ke­gel­för­mi­gen Dach von Stroh oder Zwei­gen ver­se­hen, oder man er­rich­tet sie aus Wei­den­ge­flecht, in wel­chem Fal­le sie das Aus­se­hen von großen Kör­ben be­sit­zen. Je­der und Je­des hat sei­ne ab­ge­son­der­te Woh­nung in die­sen Hö­fen. Es gibt Hüt­ten für die Men­schen, für die Pfer­de, die Rin­der, die Schwei­ne, die Scha­fe und die Hüh­ner. Die­se Tie­re ver­las­sen be­lie­big ihre Woh­nun­gen und wan­dern fried­lich zwi­schen den Hö­fen um­her.

West­eu­ro­päi­sche Chaus­seen gibt es nicht. Schon das Wort Stra­ße sagt viel zu viel. Will man von ei­nem Celo zum an­de­ren, so sucht man so­gar meist ver­ge­bens nach der Ver­bin­dung, wel­che wir einen Pfad oder Weg zu nen­nen ge­wohnt sind. Wer fremd ist und ein nicht ganz und gar na­hes Ziel ver­folgt, muss, falls er von dem Och­sen­kar­rengleis, wel­ches hier als Stra­ße gilt, ab­wei­chen will, den In­stinkt des Zug­vo­gels be­sit­zen und ist doch schlim­mer dar­an, als die­ser, da der Vo­gel die Luft un­ge­hin­dert nach je­der Rich­tung durch­strei­chen kann, dem Men­schen sich hier aber hun­dert Hin­der­nis­se in den Weg le­gen.

Ich be­ging wirk­lich ein Wa­g­nis, als ich von dem nach Adat­scha­ly füh­ren­den Wege ab­wich. Ich wuss­te nur, dass Ma­st­an­ly ziem­lich ge­nau in süd­west­li­cher Rich­tung lag, und konn­te mich auf un­über­brück­te Bä­che, un­be­que­me Tä­ler und wal­di­ge Stre­cken ge­fasst ma­chen.

Zwi­schen nicht sehr zahl­rei­chen Fel­dern und Ro­sen­gär­ten und über sonn­ver­brann­te Gras­flä­chen hin ge­lang­te ich an meh­re­ren Dör­fern vor­über, bis ich doch end­lich das Be­dürf­nis fühl­te, mich zu­recht zu fra­gen.

Hin­ter ei­nem ur­wüch­sig aus Wei­den­ru­ten ge­zo­ge­nen Zaun sah ich einen al­ten Mann be­schäf­tigt, Ro­sen­blät­ter ein­zu­sam­meln. Ich lenk­te das Pferd an den Zaun und grüß­te. Er hat­te mein Kom­men nicht be­merkt und er­schrak, als er mei­ne Stim­me hör­te. Ich er­sah, dass er mit sich zu Rate ging, ob er nä­her kom­men oder sich hin­ter die Ro­sen­bü­sche zu­rück­zie­hen sol­le, und be­eil­te mich da­her, ihm durch ei­ni­ge Wor­te Ver­trau­en ein­zu­flö­ßen. Das wirk­te we­nigs­tens so weit, dass er lang­sam her­bei­ge­schrit­ten kam.

»Was willst Du?« frag­te er.

Er mus­ter­te mich mit miss­traui­schem Blick.

»Ich bin ein Dilend­schi,«26 ant­wor­te­te ich. »Möch­test Du mir nicht eine Gul es Se­ma­wat27 schen­ken? Dein Gar­ten ist voll die­ser herr­lichs­ten der Ro­sen.«

Da lä­chel­te er mich freund­lich an und sag­te:

»Rei­tet ein Bett­ler solch ein Pferd? Ich habe Dich noch nie ge­se­hen. Du bist fremd?«

»Ja.«

»Und Du liebst die Ro­sen?«

»Sehr.«

»Ein bö­ser Mensch ist nicht ein Freund der Blu­men. Du sollst die schöns­te mei­ner Him­mels­ro­sen ha­ben, halb Knos­pe und halb auf­ge­blüht; dann ist ihr Duft so süß und ent­zückend, als kom­me er di­rekt von Al­lahs Thron.«

Er schnitt mir nach län­ge­rer Wahl zwei der Blü­ten ab und reich­te sie mir über den Zaun her­über.

»Hier, Fremd­ling!« sag­te er. »Ei­nen ein­zi­gen Duft nur gibt es, wel­cher über den­je­ni­gen die­ser Rose geht.«

»Wel­cher ist das?«

»Der Duft des Tütün dsche­be­li.«28

»Kennst Du denn die­sen Duft?«

»Nein; aber ich hör­te da­von spre­chen und ihn rüh­men als den herr­lichs­ten der Wohl­ge­rü­che. Al­lah hat uns nicht er­laubt, ihn ken­nen zu ler­nen. Wir rau­chen hier nur Tütün mysr bugh­da­jy.«29

»Ha­scha! Sche­ni! – Gott be­wah­re! Ab­scheu­lich!«

Er nick­te mit dem Kopf und er­klär­te:

»Ja, wir sind arm, sehr arm. Ich bin ein al­ter Ro­sen­hü­ter und muss die Blät­ter des Mai­ses in den Ta­bak schnei­den.«

»Und doch ist Euer Ro­sen­öl so teu­er!«

»Sus ol – sei still! Wir wä­ren wohl nicht so arm; aber die Babi hu­ma­jun, die Babi hu­ma­jun!30 Die steht stets of­fen für das, was hin­ein­flie­ßen soll. Die Paschas und Mi­nis­ter kön­nen wohl Dschi­ba­li rau­chen. Wenn ich ihn doch nur ein­mal rie­chen dürf­te, nur rie­chen!«

»Hast Du denn eine Ta­baks­pfei­fe?«

»O Al­lah! Ich wer­de doch wohl einen Tschi­buk ha­ben!«

»Nun, so komm ein­mal her!«

Ich nahm mein Bast-Etui aus der Sat­tel­ta­sche und öff­ne­te es. Der Alte war so zu­trau­lich ge­gen mich; ich muss­te ihm eine Freu­de ma­chen. Sei­ne Au­gen wa­ren mit Be­gier­de auf das Etui ge­rich­tet.

»Ein Dschib tütünün!«31 sag­te er. »Nicht wahr, es ist Ta­bak dar­in?«

»Ja. Du hast mir zwei Dei­ner köst­li­chen Ro­sen ge­schenkt; ich wer­de Dir da­für von mei­nem Ta­bak ge­ben.«

»O Ef­fen­di, wie gü­tig Du bist!«

Ich hat­te zwei oder drei Brief­um­schlä­ge bei mir. Ich füll­te eins da­von mit Ta­bak und gab es ihm. Er hielt es an die Nase, roch dar­an, zog die Brau­en hoch em­por und sag­te:

»Das ist kein Mai­sta­bak!«

»Nein, son­dern es ist Dschi­ba­li.«

»Dschi­ba­li!« rief er aus. »Ef­fen­di, sagst Du mir auch die Wahr­heit?«

»Ja. Ich täu­sche Dich nicht.«

»So bist Du nicht ein Ef­fen­di, son­dern ein Pa­scha oder gar ein Na­zir.32 Nicht?«

»Nein, mein Freund. Der Dschi­ba­li wird nicht nur an der ho­hen Pfor­te ge­raucht. Ich war da, wo er wächst.«

»Du Glück­li­cher! Aber ein ho­her Herr bist Du doch!«

»Nein. Ich bin ein ar­mer Müel­lif;33 aber die hohe Pfor­te hat mir doch ein we­nig Dschi­ba­li ge­las­sen.«

»Und von dem We­ni­gen gibst Du mir! Al­lah of­fen­ba­re Dir ein Ja­zys­se,34 für wel­ches Dir Dein Bas­mat­schi35 die Schät­ze In­diens be­zahlt! Aus wel­chem Lan­de bist Du?«

»Aus Nemt­sche mem­le­ke­ti.«

»Ist es das, wel­ches wir auch Ale­man­ja nen­nen?«

»Ja.«

»Ich habe noch kei­nen Nemt­schen ge­se­hen. Sind die Eu­ri­gen alle so gut, wie Du?«

»Ich hof­fe, dass sie so sind, wie Du und ich.«

»Und was tust Du hier im Os­m­an­li mem­le­ke­ti? Wo willst Du hin?«

»Nach Ma­st­an­ly.«

»Da bist Du doch vom Wege ab. Du musst nach Ge­ren, um von da zu­nächst nach De­rekiöj zu kom­men.«

»Ich bin mit Ab­sicht von die­sem Wege ab­ge­wi­chen. Ich will in mög­lichst ge­ra­der Li­nie nach Ma­st­an­ly rei­ten.«

»Das ist für einen Frem­den schwer, sehr schwer.«

»Kannst Du mir nicht viel­leicht den Weg be­schrei­ben?«

»Ich wer­de es ver­su­chen. Da bli­cke ein­mal ge­gen schenu­bi garb36 hin­über. Wo jetzt die Son­ne auf die Hö­hen fällt, das sind die Ber­ge von Ma­st­an­ly. Nun weißt Du die Rich­tung. Du kommst durch vie­le Dör­fer, auch durch Ko­schi­ka­wak. Dort musst Du über den Bur­gas­fluss, und dann liegt Ma­st­an­ly grad im Wes­ten. Deut­li­cher kann ich es Dir nicht sa­gen. Mor­gen Abend wirst Du dort sein.«

Das war spaß­haft. Ich frag­te lä­chelnd:

»Du bist wohl kein Rei­ter?«

»Nein.«

»Nun, ich will heu­te auf alle Fäl­le bis Ko­schi­ka­wak kom­men.«

»Un­mög­lich! Kannst Du he­xen?«

»Nein; aber mein Pferd läuft wie der Wind.«

»Ich habe ge­hört, dass es so schnel­le Pfer­de ge­ben soll. Du willst also die­se Nacht in Ko­schi­ka­wak blei­ben?«

»Wahr­schein­lich.«

»Das freut mich sehr. Du sollst nicht einen Khan,37 auf­su­chen, denn am Ein­gang des Or­tes wohnt mein Bru­der, Schi­min, der De­mird­schi38 wel­cher Dich mit Freu­den auf­neh­men wird.«

Vi­el­leicht konn­te die­ses Aner­bie­ten mir von Nut­zen sein. Da­rum ant­wor­te­te ich:

»Ich dan­ke Dir! Ich wer­de Dei­nen Bru­der we­nigs­tens im Vor­über­rei­ten von Dir grü­ßen.«

»Nein, nicht so! Du musst wirk­lich bei ihm blei­ben. Du hast mir von Dei­nem – w’Al­lah! Welch ein Duft! Wie aus der Kaa­ba der hei­li­gen Stadt Mek­ka!«

Er hat­te näm­lich, wäh­rend wir spra­chen, eine kur­ze Pfei­fe her­vor­ge­zo­gen und sie ge­stopft. Jetzt sog er den ers­ten Rauch durch das Rohr und brach da­bei in den Aus­ruf des Ent­zückens aus.

»Mun­det er Dir?« frag­te ich.

»Mun­den? Mun­den? Er geht durch die Nase wie das Son­nen­licht durch die Röte des Mor­gens. So schwebt die See­le des Ge­rech­ten in die sie­ben Him­mel ein. Ef­fen­di, war­te, ich wer­de Dir Et­was ho­len!«

Er schi­en nicht nur ent-, son­dern ver­zückt zu sein. Er rann­te, so schnell sei­ne al­ten Bei­ne es ihm er­laub­ten, da­von, kam aber sehr bald wie­der zwi­schen den Ro­sen­sträu­chern zum Vor­schein.

»Ef­fen­di, rate ein­mal, was ich hier in mei­ner Hand hal­te!« sag­te er, noch be­vor er den Zaun er­reicht hat­te.

»Ich sehe nichts.«

»O, es ist klein, aber fast auch so viel wert wie Dein Dschi­ba­li. Willst Du es se­hen?«

»Zei­ge es mir!«

»Hier! Was ist es?«

Er hielt mir ein klei­nes, wohl ver­schlos­se­nes Fläsch­chen ent­ge­gen und frag­te aber­mals:

»Was ist in die­sem Schi­sche­dschick?39 Sage es, Ef­fen­di!«

»Wird es wohl Gülab40 sein?«

Ich konn­te ihm, dem ar­men Hü­ter, doch nur die­ses zu­trau­en; er aber ant­wor­te­te in ge­kränk­tem Tone:

»Gülab? O, Ef­fen­di, willst Du mich be­lei­di­gen? Gül jaghy ist es, ech­tes Gül jaghy,41 so wie Du in Dei­nem Le­ben noch keins ge­se­hen hast!«

»Von wem ist es?«

»Von wem? Von mir!«

»Du bist doch nur der Hü­ter die­ses Gar­tens!«

»Ja, das bin ich, nur der Hü­ter; Du hast recht. Aber mein Herr er­laub­te mir, die eine Ecke des Gar­tens zu be­pflan­zen. Ich such­te mir die bes­te Sor­te aus und habe ge­spart seit lan­ger, lan­ger Zeit. Zwei sol­che Fläsch­chen habe ich zu­sam­men­ge­bracht. Das eine woll­te ich heu­te ver­kau­fen; man hat mich dar­um be­tro­gen. Das an­de­re ist Dein. Ich schen­ke es Dir.«

»Mann, was sagst Du?«

»Es ist Dein.«

»Höre ein­mal, wie ist Dein Name?«

»Ja­fiz hei­ße ich.«

»Nun, Ja­fiz, Du bist toll!«

»Wa­rum?«

»Weil Du die­ses Öl ver­schen­ken willst.«

»Öl? Öl? O, sage nicht die­ses Wort! Zad und Chülas­se42 ist’s, aber kein ge­wöhn­li­ches Öl. In die­sem klei­nen Fläsch­chen woh­nen die See­len von zehn­tau­send Ro­sen. Willst Du es ver­schmä­hen, Ef­fen­di ?«

»Ich kann es nicht an­neh­men.«

»Wa­rum nicht?«

»Du bist arm; ich darf Dich nicht be­rau­ben.«

»Wie kannst du mich be­rau­ben, da ich es dir ja schen­ke? Dein Dsche­be­li ist eben­so kost­bar wie die­se Es­senz.«

Um nur eine Unze gu­tes Öl zu ge­win­nen, be­darf es sechs­hun­dert Pfund der bes­ten Ro­sen­blät­ter. Ich wuss­te das. Da­rum sag­te ich:

»Und den­noch darf ich die­ses Ge­schenk nicht an­neh­men.«

»Willst du mich be­trü­ben, Ef­fen­di?«

»Nein.«

»Oder be­lei­di­gen?«

»Auch nicht.«

»Nun, ich sage dir: Wenn du es nicht an­nimmst, so schüt­te ich das Öl jetzt auf die Erde!«

Ich sah, dass es ihm ernst war.

»Halt!« bat ich. »Du hast das Öl de­stil­liert, um es zu ver­kau­fen?«

»Ja.«

»Nun gut; ich kau­fe es dir ab.«

Er lä­chel­te mich sehr über­le­gen an und frag­te:

»Wie viel wür­dest du mir bie­ten?«

Ich zog so viel, wie ich nach mei­nen Kräf­ten zu ge­ben ver­moch­te, her­vor und hielt es ihm hin.

»Das gebe ich dir da­für.«

Er nahm es in die Hand, zähl­te und sag­te, in­dem er un­ter ei­nem be­zeich­nen­den Lä­cheln den Kopf auf die Sei­te leg­te:

»Ef­fen­di, dei­ne Güte ist grö­ßer als dein Beu­tel!«

»Da­rum bit­te ich dich, dein Öl zu be­hal­ten. Du bist zu arm, um es mir zu schen­ken, und ich bin nicht reich ge­nug, es zu kau­fen.«

Er lach­te und ant­wor­te­te:

»Ich bin reich ge­nug, es zu ver­schen­ken, denn ich habe dei­nen Ta­bak, und du bist arm ge­nug, es von mir an­neh­men zu kön­nen. Hier hast du das Geld zu­rück!«

Die­se Frei­ge­big­keit war zu groß, als dass ich sie hät­te an­neh­men kön­nen. Ich konn­te mir den­ken, dass das Sümm­chen, wel­ches ich ihm ge­ge­ben hat­te, für ihn doch nicht ohne Wert sein wür­de. Eben­so sah ich, dass er das Fläsch­chen nicht wie­der neh­men wür­de. Da­rum wies ich das Geld zu­rück, in­dem ich in be­stimm­tem Ton ihm er­klär­te:

»Wir bei­de wol­len uns be­schen­ken, ohne reich zu sein; dar­um ist es bes­ser, wir be­hal­ten, was wir von­ein­an­der be­kom­men ha­ben. Wenn ich mein Wa­tan43 glück­lich er­rei­che, wer­de ich den schö­nen Frau­en, die sich an dem Wohl­ge­ru­che dei­nes Öles er­freu­en, von dem Ro­sen­gärt­ner Ja­fiz er­zäh­len, wel­cher so freund­lich ge­gen mich ge­we­sen ist.«

Dies schi­en ihn zu er­freu­en. Sein Auge be­gann zu glän­zen. Er nick­te mir be­frie­digt zu und frag­te:

»Sind die Frau­en dei­nes Lan­des Freun­din­nen der Wohl­ge­rü­che, Ef­fen­di?«

»Ja; sie lie­ben die Blu­men, die ihre Schwes­tern sind.«

»Und hast du noch lan­ge Zeit zu rei­ten, ehe du zu ih­nen kommst?«

»Vi­el­leicht noch wo­chen­lang. Und dann, wenn ich vom Pferd stei­ge, habe ich noch ta­ge­lang auf dem Gemi44 und auf der De­mir jol45 zu fah­ren.«

»Das ist weit, sehr weit. Kommst du da viel­leicht in ge­fähr­li­che Ge­gen­den und zu bö­sen Leu­ten?«

»Das ist sehr mög­lich. Ich muss durch das Land der­je­ni­gen, die in die Ber­ge ge­gan­gen sind.«

Er blick­te erst sin­nend vor sich nie­der; dann mus­ter­te er mich auf­merk­sam und end­lich sag­te er:

»Ef­fen­di, des Men­schen An­ge­sicht ist wie die Ober­flä­che des Was­sers. Das eine Was­ser ist rein, hell und klar, und sei­nem leuch­ten­den Spie­gel ver­traut sich der Ba­den­de gern an. Das an­de­re Was­ser aber ist fins­ter, dick und schmut­zig; wer es er­blickt, der ahnt Ge­fahr und geht ei­ligst vor­über. Das ers­te­re gleicht dem Ant­litz des gu­ten und das zwei­te demje­ni­gen des bö­sen Men­schen, des Bö­se­wich­tes. Dei­ne See­le ist freund­lich und hell; dein Auge ist klar, und in dei­nem Her­zen lau­ert we­der Ge­fahr noch Ver­rat. Ich möch­te dir et­was sa­gen, was ich sehr sel­ten ei­nem Be­kann­ten mit­ge­teilt habe. Und du bist doch ein Frem­der.«

Die­se Wor­te muss­ten mich er­freu­en, ob­gleich ich kei­ne Ah­nung von der Na­tur sei­ner Mit­tei­lung ha­ben konn­te. Ich ant­wor­te­te:

»Dei­ne Wor­te sind warm und son­nig wie die Strah­len, wel­che auf das Was­ser fal­len. Sprich wei­ter!«

»In wel­cher Rich­tung wirst du von Ma­st­an­ly aus rei­ten?«

»Nach Men­lik zu­nächst. Dort aber wird es sich ent­schei­den, wel­che Rich­tung ich ein­schla­ge. Vi­el­leicht muss ich nach Us­kub und von da hin­auf in die Ber­ge von Kos­ten­dil.«

»Wul­lak – wehe dir!« ent­fuhr es ihm.

»Hältst du die­sen Weg für schlimm?«

»Für sehr schlimm. Bist du in Kos­ten­dil und willst an das Meer, so musst du über den Schar-Dagh nach Per­se­rin, und da ha­ben sich die Ski­pe­tars und Katsch­kyu­ler46 ver­steckt. Sie sind arm; sie ha­ben nur ihre Waf­fen; sie müs­sen vom Rau­be le­ben. Sie wer­den dir al­les, al­les neh­men, was du hast, viel­leicht so­gar das Le­ben!«

»Ich wer­de mich zu ver­tei­di­gen wis­sen!«

Er schüt­tel­te lei­se den Kopf und sag­te:

»Bir gendsch kan war on bin küstach­lück47 – ein jun­ges Blut hat zehn­tau­send Mut! Und du bist noch jung. Du hast zwar vie­le Waf­fen bei dir, aber was hel­fen sie ge­gen zehn oder zwan­zig und gar fünf­zig Fein­de?«

»Mein Pferd ist schnell!«

»Ich bin kein At agna­jan,48 doch sehe ich, dass dein Rap­pe kein At er­kek ket­schi.49 ist; aber die­je­ni­gen, wel­che in die Ber­ge ge­hen, be­sit­zen auch nur tscha­puk ha­jw­an­lar50 Sie wer­den dich leicht ein­ho­len.«

»Mein Hengst ist von rei­nem Blu­te; er heißt Wind und läuft wie der Wind.«

»So wer­den dich doch ihre Ku­geln tref­fen, denn die Ku­gel fliegt schnel­ler als das flin­kes­te Pferd. Die Ski­pe­tars sind Pfer­de­ken­ner; sie wer­den so­fort se­hen, dass dein Pferd den ih­ri­gen über­le­gen ist, und dich also nicht of­fen er­war­ten, son­dern aus dem Hin­ter­halt auf dich schie­ßen. Wie willst du dich vor ih­nen ver­wah­ren?«

»Durch Vor­sicht.«

»Auch die­se wird dich nicht ret­ten, denn das Sprich­wort sagt: Sa­kin­ma dir kawl ka­ba­ha­tun.51 Du bist ein ehr­li­cher Mann; sie wer­den zehn Mal vor­sich­ti­ger sein als du! Er­lau­be mir, dass ich dich war­ne!«

»Steht die­se War­nung viel­leicht in Be­zie­hung zu dem, was du mir sa­gen woll­test?«

»Ja.«

»So bin ich sehr wiss­be­gie­rig, es zu er­fah­ren.«

»Nun, ich will dir an­ver­trau­en, dass es ein Kiag­had emin­li­kün52 gibt, wel­ches die Freun­de, Be­kann­ten und Ver­bün­de­ten der Un­heim­li­chen be­sit­zen.«

»Wo­her weißt du das?«

»Das weiß hier je­der. Aber nur We­ni­ge ken­nen die Art und Wei­se, wie es zu er­lan­gen ist.«

»Und Du aber weißt es?«

»Nein. Ich blei­be in mei­nem Gar­ten und ma­che nie­mals eine Rei­se. Aber Schi­min, mein Bru­der, ist ein Wis­sen­der53 und auch ein Wis­sens­su­chen­der54 Ich darf Dir das sa­gen, weil ich Dir ver­traue, und weil Du die­ses Land ja bald ver­las­sen wirst.«

»So wäre es mir lieb, wenn er das­sel­be Ver­trau­en zu mir hät­te!«

»Er wird es ha­ben, wenn ich Dich schi­cke.«

»Könn­test Du mir nicht ei­ni­ge Zei­len an ihn ge­ben?«

»Ich kann nicht schrei­ben. Aber zei­ge ihm Dein Ro­sen­öl. Er kennt das Fläsch­chen ganz ge­nau; er weiß, dass ich es an kei­nen Un­wür­di­gen ver­kau­fe oder ver­schen­ke. Und dann, wenn Du es ihm zeigst, so sage ihm, dass Dich sein Stief­bru­der55 oder sein Halb­bru­der56 sen­det. Kein Mensch weiß, dass wir ver­schie­de­ne Müt­ter hat­ten. Sen­de ich ihm eine ver­trau­li­che Bot­schaft, so dient das Stief- oder Halb-Bru­der stets als Zei­chen, dass er dem Bo­ten trau­en kann.«

»Ich dan­ke Dir! Du glaubst also, dass er mir Nä­he­res über das Kiag­had emin­li­kün mit­tei­len wird?«

»Ich hof­fe es. Es sind in die­ser Ge­gend – –«