In der Bar zum Krokodil - Dirk von Petersdorff - E-Book

In der Bar zum Krokodil E-Book

Dirk von Petersdorff

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Beschreibung

Wenn Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhält, dann kommt dieses Buch zur richtigen Zeit. Dirk von Petersdorff liest Lieder und Songs als Gedichte. Sie sind »leicht« und »einfach«, wie schon Herder feststellte, gehen aus der »reichen und für alle fühlbaren Natur hervor« und verbinden Sprache und Musik. Lieder und Songs sind in Lebensvollzüge eingebunden, und gerade in ihrer Einfachheit können sie komplizierte Gefühlszustände ausdrücken. Dirk von Petersdorff untersucht drei Phasen der Geschichte des Lieds: Die Romantik von Clemens Brentanos Erfindungen alter Lieder bis zu Heinrich Heines Selbstparodien; die 1920er Jahre mit dem Witz der Comedian Harmonists, den Liebesexperimenten Marlene Dietrichs und den vielen Stimmen der Dreigroschenoper; die Gegenwart seit den 1970er Jahren von Udo Lindenbergs Wiedereinsatz, über die skeptischen Songs von Tocotronic bis zu den Erkundungen eines ungesicherten Ich bei Sven Regener, Judith Holofernes oder im Rap. Immer geht es um die Form von Liedern, also um ihre Rhythmik oder den Einsatz von Reimen, aber ebenso um den historischen Zusammenhang, in dem sie entstehen. Der Lyriker und Literaturwissenschaftler zeigt, dass die Songwriter selbst ein Bewusstsein von der Geschichte des Lieds besitzen, dass sie um ihre Vorläufer wissen und deren Lieder weitersingen.

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Kleine Schriften zur literarischenÄsthetik und Hermeneutik

Bd. 9

Herausgegeben vonWolfgang Braungart | Joachim Jacob

Dirk von Petersdorff

In der Bar zum Krokodil

Lieder und Songs als Gedichte

Wallstein Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf

ISBN (Print) 978-3-8353-3022-1

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4090-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4091-6

Inhalt

Einleitung

Was ist ein Lied?

Clemens Brentanos Mixtechnik

Eichendorffs romantische Programmmusik

Die Wende zur Ironie: Heinrich Heine

Urbanität und Witz der Comedian Harmonists

Im Liebeslabor: Marlene Dietrich

Die vielen Stimmen der Dreigroschenoper

Stefan Georges späte Lieder

Die Nachtigall singt wieder: Udo Lindenberg

Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool: Tocotronic

Weibliche Deutungshoheit: Judith Holofernes

Eine Kultur ohne Zentrum: Element of Crime

A-N-N-A: Rap

Bildnachweis

Einleitung

Mit den Begriffen ›Lied‹ und ›Song‹ verbindet jeder etwas, und viele haben gleich Töne und Worte im Kopf, die sich mehr oder weniger schön singen lassen. Was man dann zu hören bekommt, liegt allerdings weit auseinander, denn die Begriffe ›Lied‹ und ›Song‹ bezeichnen höchst unterschiedliche Erscheinungen. Eine denkt vielleicht an die Verse: »Am Brunnen vor dem Tore, / Da steht ein Lindenbaum: / Ich träumt in seinem Schatten / So manchen süßen Traum.«[1] Dieses Lied, Der Lindenbaum, dessen Text von Wilhelm Müller und dessen bekannteste Vertonung von Franz Schubert stammt, galt lange als der Inbegriff des romantischen, ja des deutschen Lieds. Wenn in Thomas Manns Roman Der Zauberberg der Protagonist Hans Castorp seine Lieblingsplatten hört, dann wird dieses Lied als »besonders und exemplarisch Deutsches« angekündigt. Es ist ein trauriges Lied, und im Letzten spricht aus ihm und klingt in ihm eine »Sympathie mit dem Tode«.[2]

Für andere ist das ›ideale Lied‹ kein altes deutsches, sondern ein jüngeres amerikanisches, zum Beispiel von Bob Dylan: »Come mothers and fathers / Throughout the land / And don’t criticize / What you can’t understand / Your sons and your daughters / Are beyond your command«.[3] Dieser Song, The Times They Are A-Changin’, gehört zu den neueren Volksliedern, denn er ist nicht nur von vielen anderen Interpreten nachgesungen worden, besonders klar akzentuiert etwa von Tracy Chapman, sondern auch von zahllosen Straßenmusikern und schließlich von Menschen, die in ihren Privaträumen bei welchen Gelegenheiten auch immer gerne singen: »And the first one now / Will later be last / For the times they are a-changin’«.

Zu den jüngeren deutschsprachigen Volksliedern zählt 99 Luftballons von Nena. Deshalb konnte es in eine Sammlung wie stimmband. Lieder und Songs aufgenommen werden, die Texte und Gitarrennoten für den praktischen Gebrauch enthält. Darin findet man Das Wandern ist des Müllers Lust, aber eben auch 99 Luftballons, das mit der schönen Wendung beginnt: »Hast Du etwas Zeit für mich, / dann singe ich ein Lied für dich, / von 99 Luftballons / auf ihrem Weg zum Horizont«.[4] Mit einem Lied, so signalisiert dieser Anfang, kann ein Mensch sich einem anderen zuwenden, und nicht nur Kinder mögen es, wenn ihnen vorgesungen wird. (Wer es einmal versucht hat: 99 Luftballons ist gar nicht so einfach zu singen, enthält einige schwierige Stellen).

Lieder und Songs treten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen auf. Bedeutung gewinnen können sie im Bereich der Politik. Ein eindrucksvolles jüngeres Beispiel dafür ist die Feierstunde, die der Deutsche Bundestag im November 2014 zum 25. Jahrestag des Mauerfalls abhielt. Dabei trat der Liedermacher Wolf Biermann auf, dessen Ausbürgerung aus der DDR 1976 ein einschneidendes Ereignis war, weil damit Hoffnungen auf eine innere Liberalisierung dieses Staats zunichtegemacht wurden. Biermann war als Sänger in den Bundestag geladen worden, hielt aber auch eine kleine Ansprache und geriet in einen Disput mit der vor ihm sitzenden Fraktion der ›Linken‹. Er sah sie als direkte Nachfahren bzw. als »elende[n] Rest« der DDR-Machthaber an und konnte deshalb sagen: »Ich habe euch zersungen mit den Liedern, als ihr noch an der Macht wart«. Das Lied Ermutigung, das er anschließend sang, bezeichnete er als »Seelenbrot«, mit dessen Hilfe Menschen in den Gefängnissen der DDR überlebt hätten, und er nannte es wunderbar, dass dieses Lied nun im Parlament der deutschen Demokratie gesungen werden könne: »Du, laß dich nicht verhärten / in dieser harten Zeit. / Die allzu hart sind, brechen, / die allzu spitz sind, stechen, / und brechen ab sogleich.«[5]

Abb. 1: Wolf Biermann bei der Mauerfallgedenkstunde im Bundestag, 2014.

Ein gesellschaftlicher Bereich, für den der Gesang immer konstitutiv war, ist die Religion. Hier wird besonders der Aspekt der Gemeinschaftsbildung durch das Singen deutlich. Die Gläubigen erfahren sich im Gesang als zusammengehörig. Manche haben die alten Kirchenlieder im Ohr wie Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, andere Lieder des 20. Jahrhunderts wie die Gesänge aus der ökumenischen Glaubensgemeinschaft von Taizé. Die Anziehungskraft, die dieser Ort in der Nähe von Cluny auf Jugendliche ausübt, hat auch mit den dort entstandenen Gesängen zu tun, die bewusst schlicht gebaut sind, Elemente des gregorianischen Chorals aufgreifen und durch starke Wiederholungen meditativen Charakter gewinnen. Die Lieder existieren jeweils in verschiedenen Sprachen, setzen manchmal das Lateinische ein (»Laudate omnes gentes, laudate dominum«) und sind auch in deutschen Glaubenszusammenhängen weit verbreitet: »Meine Hoffnung und meine Freude / Meine Stärke, mein Licht / Christus, meine Zuversicht, / Auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht«.[6]

Aber, so hört man als Einwand, wird eigentlich auch in der Mitte der Gesellschaft noch gesungen? Auch wenn gegenwärtige Gesellschaften gar keine Mitte besitzen, so lässt sich zumindest feststellen, dass sehr viele durchaus hartgesottene und nicht unbedingt kulturell sozialisierte Menschen jedes Wochenende inbrünstig ihre Lieder singen, nämlich im Fußballstadion. Ausgehend von den differenzierten englischen Fangesängen hat sich auch in deutschen Stadien ein ausdauerndes Singen verbreitet. Es lässt mittelmäßige Spiele in den Hintergrund treten und wird inzwischen auch rituell eingesetzt. So wurde ein im Stadion gestorbener Fan nach dem Spiel mit dem Fußball-Klassiker You’ll never walk alone betrauert (Dortmund, März 2016).[7] Auch alte Lieder leben im Stadion weiter: In der abgedunkelten Schalker Arena wird regelmäßig das aus der Frühen Neuzeit stammende Bergmannslied Glück auf! Der Steiger kommt gesungen. Eben dieses Lied hat auch Herbert Grönemeyer seinem vielleicht besten Song Bochum vorangestellt: »Glück auf, Glück auf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht schon angezünd’t, schon angezünd’t.«[8]

Dieser einführende Rundblick soll mit dem Abendlied von Matthias Claudius enden: Der Mond ist aufgegangen. Auch dies dürfte für nicht wenige Menschen das ›ideale Lied‹ sein, gerade weil hier die rituelle Funktion besonders hervortritt. Das Vorsingen des Abendlieds hilft dem Kind, die Schwellensituation vom Wachsein zum Schlafen zu überwinden. Gleichzeitig stellen solche Lieder, wenn sie wiederholt gesungen werden, Kontinuität im Leben her, wirken der gegenteiligen Erfahrung beständiger Veränderung entgegen. Hinzu kommt die persönliche Zuwendung: Ein Mensch singt ein Lied für einen anderen, der sich dadurch emotional gestärkt fühlt. Für manche Menschen stellen Lieder daher auch Begleiter im gesamten Leben dar. Die Trauerfeier für den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt, die im November 2015 in der Hamburger St. Michaelis-Kirche stattfand, führte dies vor.[9] Schmidt hatte die Lieder für diese Feier selbst festgelegt, und dass dort Der Mond ist aufgegangen gesungen wurde, konnte man so verstehen: Dieses Lied, das er als Kind gehört hat, ist ihm auf seinem Lebensweg wichtig geblieben, und deshalb soll es nun auch am Ende stehen.

Was ist ein Lied?

Auch wenn sich leicht Phänomene benennen lassen, die als ›Lied‹ oder ›Song‹ gelten: Die Bestimmung dieser Begriffe fällt nicht ganz leicht. In einem Artikel aus dem Handbuch der literarischen Gattungen werden drei Typen unterschieden:[10] 1. Das Lied »im engeren Sinne also als Zusammenspiel von Text und Musik«. Ein Beispiel dafür wäre der genannte Dylan-Song, in dem beides untrennbar zusammengehört. Denn die Texte bilden in diesem Fall die eine Hälfte eines Produkts, das sich durch seine »Medienüberschreitung« auszeichnet, wie es der Handbuchartikel nennt. 2. Das Kunstlied »als vertonter lyrischer Text, also als Lied, dem die Musik nur zum Zwecke einer nachträglichen Vertonung hinzugefügt wurde«. Ein solcher nachträglich vertonter Text ist Der Lindenbaum. Er ist Teil des Gedichtzyklus Die Winterreise, dessen Texte von Wilhelm Müller 1823 und 1824 veröffentlicht wurden. Schubert entdeckte und vertonte sie 1827, ohne dass es zu einem nachweisbaren Kontakt von Dichter und Komponist gekommen wäre. 3. Das Lied »als eigene literarische Gattung, die sich zwar formal in die Tradition des Strophenliedes stellt, jedoch weder auf Musik oder Gesang bezogen noch auf sie angewiesen ist«. Als Lied kann also auch ein ausschließlich sprachlich-literarisches Phänomen gelten. Das Lied in diesem Sinn stellt eine Untergattung der Lyrik dar, befindet sich also auf einer Ebene mit dem Sonett oder der Ode. Für manche Autoren war das Lied die wichtigste lyrische Gattung. Heinrich Heines Werk zum Beispiel besteht hauptsächlich aus Liedern, von denen viele nachträglich vertont wurden, andere aber nicht, und ganz unabhängig davon bezeichnet man seine Gedichte, wenn man sie literaturwissenschaftlich betrachtet, als Lieder.

Damit stellt sich die Frage, welche Kennzeichen ein solches Lied-Gedicht besitzt und wie man es von anderen lyrischen Formen unterscheiden kann. Vorschläge dazu findet man bei einem Autor, Sammler und Theoretiker des Lieds, bei Johann Gottfried Herder. Seine Beschäftigung mit dem Lied findet in den 1770er-Jahren statt, also in der Phase des ›Sturm und Drang‹. 1778 und 1779 erscheint in zwei Teilen die europäisch angelegte Sammlung Volkslieder, die später den Titel Stimmen der Völker in Liedern erhielt. In der Einleitung zum zweiten Teil charakterisiert Herder das Lied als »leicht, einfach«, aus »Gegenständen« und aus der »Sprache der Menge, so wie der reichen und für alle fühlbaren Natur« hervorgegangen.[11] Damit ist einiges gesagt: Das Lied zeichnet sich im Vergleich zu anderen Gedichtarten durch eine relativ geringe Komplexität aus. Die Themen des Lieds sind allgemein geteilte Erfahrungen, Situationen und Zustände, die möglichst viele Menschen erlebt haben. (So kann man auch den Begriff des ›Volkslieds‹ neutraler und ohne politischen Beiklang fassen.) Die Sprache des Lieds sollte keine Begriffe enthalten, die nur kleinen gesellschaftlichen Gruppen bekannt sind. Auch die Syntax wird der »Sprache der Menge« folgen, also überschaubar und gut erfassbar sein.

Wenn Herder von der »reichen und für alle fühlbaren Natur« spricht, dann meint er die äußere Natur, die den Schauplatz vieler Lieder bildet und aus der die meisten Symbole stammen. Typische Räume und Gegenstände sind Wiesen, Bäche, Blumen und Bäume. Heinrich Heine bemerkte später in seiner Charakterisierung der Volkslieder: »Die Linde spielt nämlich eine Hauptrolle in diesen Liedern, in ihrem Schatten kosen des Abends die Liebenden, sie ist ihr Lieblingsbaum, und vielleicht aus dem Grunde, weil das Lindenblatt die Form eines Menschenherzens zeigt.«[12]

Aber Herders Bemerkung kann auch die Natur des Menschen einschließen, also sinnliche Erfahrungen wie das Sehen, Hören und Schmecken und auch Gefühlszustände. Die Trauer des Menschen, der sich fremd und unverstanden fühlt, wie sie Die Winterreise ausdrückt – auch sie gehört zur »für alle fühlbaren Natur«. Ebenso der gemischte Gefühlszustand, den das Abendlied von Matthias Claudius heraufruft: die Verbindung der Geborgenheit mit dem »Jammer« des Tages, der noch im Kopf herumgeht und den man »verschlafen und vergessen« darf.[13]

An einer anderen Stelle seiner Einleitung in die Liedersammlung erklärt Herder, dass das »Wesen« des Lieds »Gesang, nicht Gemälde« sei, dass es den Leser durch den »melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung« mitziehe, bis das Ohr in diesem Klang »fortschwimmet«.[14] Was meint er damit? In Einführungen in die Gedichtanalyse wie der viel erprobten von Dieter Burdorf findet man Kapitel zur Bildlichkeit des Gedichts und zur Metrik oder Rhythmik.[15] Damit sind Merkmale von Gedichten angesprochen: Sowohl durch ihre Rhythmisierung wie auch durch ihren konzentrierten Einsatz von Bildern weicht lyrische Sprache von der Normalsprache ab. Im Fall des Lieds, so behauptet Herder, ist die rhythmische Qualität viel wichtiger als die bildliche. Das Lied muss »gehört werden, nicht gesehen«, muss also eine markante rhythmische Struktur besitzen, die auf den Leser auch körperlich wirkt.[16] Es ist nicht nur Buchstabe, geht nicht nur durch Verstand und Vernunft in uns ein, sondern ergreift den ganzen Menschen.

Schließlich spricht Herder auch über die Entstehung und Veränderung von Liedern. So kann die Melodie eines Lieds genommen und mit einem neuen Text versehen werden. Gerade im Fall von Kirchenliedern und politischen Liedern ist dies sehr oft geschehen. Oder der Inhalt eines Lieds wird verändert: »Hätte ein Lied von guter Weise einzelne merkliche Fehler; die Fehler verlieren sich, die schlechten Strophen werden nicht mit gesungen.«[17] Die Textbasis ist also variabel. Auch in berühmten Liedern werden Strophen beim Singen oft ausgelassen: Der Mond ist aufgegangen umfasst nach dem Willen seines Autors eigentlich sieben Strophen. In den meisten Liederbüchern finden sich aber nur fünf, ohne dass diese Kürzung als problematisch angesehen würde. Die Praxis leichter Veränderungen eines Liedtexts kann man in der Winterreise erkennen. Schubert griff an einigen Stellen in Müllers Gedichte ein. Wo es in Müllers Im Dorfe heißt: »Die Menschen schnarchen in ihren Betten«, schreibt und vertont Schubert: »Es schlafen die Menschen in ihren Betten.«[18] Schnarchgeräusche schienen ihm nicht in gefühlvolle Lieder zu passen. Wie aber ein wirklich freier oder auch wilder Umgang mit alten Liedern aussieht, aus denen ein neues hervorgeht, soll die folgende Geschichte zeigen.

Clemens Brentanos Mixtechnik

Die große Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn erschien 1805 und 1808 in drei Bänden. Die Herausgeber Clemens Brentano und Achim von Arnim gaben ihr den Untertitel Alte deutsche Lieder, und damit ist ihr Programm benannt, denn sie behaupteten, verstreute Lieder aus vergangenen Jahrhunderten zusammenzutragen. Im zweiten Band des Wunderhorn steht das Lied Laß rauschen Lieb, laß rauschen, das den eingeklammerten Zusatz »mündlich« enthält. Es soll sich damit um ein Lied handeln, das aus der mündlichen Überlieferung stammt und beim Hören aufgezeichnet wurde, im Rahmen einer Feldforschung sozusagen:

LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN (Mündlich.)

Ich hört ein Sichlein rauschen,

Wohl rauschen durch das Korn,

Ich hört ein Mägdlein klagen,

Sie hätt ihr Lieb verlorn.

Laß rauschen Lieb, laß rauschen,

Ich acht nicht, wie es geht,

Ich thät mein Lieb vertauschen

In Veilchen und im Klee.

Du hast ein Mägdlein worben

In Veilchen und im Klee,

So steh ich hier alleine,

Thut meinem Herzen weh.

Ich hör ein Hirschlein rauschen

Wohl rauschen durch den Wald,

Ich hör mein Lieb sich klagen,

Die Lieb verrauscht so bald.

Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,

Ich weiß nicht, wie mir wird,

Die Bächlein immer rauschen,

Und keines sich verirrt.[19]

Wenn das Lied beim ersten Lesen wie aus einem Guss wirkt, dann spricht dies für das literarische Geschick Clemens Brentanos, der es bearbeitet hat, wobei statt von Bearbeitung auch von Erfindung die Rede sein könnte. Denn fragt man nach den zugrunde liegenden Quellen und zerlegt den Text in seine Bestandteile, dann ergibt sich eine angesichts der Kürze erstaunliche Heterogenität. Dem Lied liegen drei verschiedene Quellen zugrunde, und die letzte Strophe hat Brentano selber geschrieben. Markiert man das graphisch, dann sieht das Ganze so aus:

LASS RAUSCHEN LIEB, LASS RAUSCHEN (Mündlich.)

Q1       Ich hört ein Sichlein rauschen,    Wohl rauschen durch das Korn,    Ich hört ein Mägdlein klagen,    Sie hätt ihr Lieb verlorn.

Q2       Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,    Ich acht nicht, wie es geht,    Ich thät mein Lieb vertauschen    In Veilchen und im Klee.

            Du hast ein Mägdlein worbenIn Veilchen und im Klee,So steh ich hier alleine,Thut meinem Herzen weh.

(q)       Ich hör ein Hirschlein rauschen    Wohl rauschen durch den Wald,    Ich hör mein Lieb sich klagen,    Die Lieb verrauscht so bald.

B         Laß rauschen, Lieb, laß rauschen,    Ich weiß nicht, wie mir wird,    Die Bächlein immer rauschen,    Und keines sich verirrt.

Zu den einzelnen Quellen: Die erste Strophe stammt aus der Sammlung