Individuation - Christina Berndt - E-Book
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Individuation E-Book

Christina Berndt

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Beschreibung

Wie werden wir zu der Person, die wir sein wollen? Wie werde ich, wer ich sein möchte? Diese spannende Frage untersucht Christina Berndt und hat eine faszinierende Nachricht: Wir haben stets die Möglichkeit, uns neu zu erfinden. Denn das Ich ist keine feste Größe. Über die Reifung hinaus wandelt sich die Persönlichkeit, und diesen Prozess können wir aktiv gestalten.  Christina Berndt liefert spannende Einblicke in die Forschung. Sie zeigt, wie es gelingen kann, die vielen Aspekte unseres Selbst in Einklang zu bringen und uns positiv weiterzuentwickeln. Tests und Fragebögen geben weiteren Aufschluss über das eigene Ich.

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Seitenzahl: 332

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Über das Buch

Was hat uns zu dem gemacht, was wir sind? Und vor allem: Wie können wir uns zu dem Menschen entwickeln, der wir gerne wären? Antworten auf diese zentralen Fragen des Menschseins gibt Christina Berndt in diesem wegweisenden Buch.

Fest steht: Das Ich ist nicht in Stein gemeißelt. Die Persönlichkeit wandelt sich über die Reifung hinaus durch klassische Wendepunkte im Leben wie Elternschaft, Midlifecrisis oder den Eintritt ins Rentenalter. Doch auch Lebensentscheidungen wie die Berufs- und Partnerwahl haben große Auswirkungen auf das Selbst, und Mikroerfahrungen wie ständige Kritik hinterlassen ihre Spuren. Sogar so überraschende Faktoren wie die Darmflora, der Schlaf und Gedanken spielen bei der Ich-Werdung gleichfalls eine wesentliche Rolle.

Die spannende Botschaft dabei lautet: Wir haben selbst Einfluss darauf, in welche Richtung wir uns weiterentwickeln. Und das ist eine riesige Chance. Wie wir sie am besten nutzen können, welches mentale Werkzeug hilft, sich gegen negative Einwirkungen zu schützen und die positiven konstruktiv umzusetzen, zeigt Christina Berndt Schritt für Schritt.

 

 

 

 

Für meine Mutter, die mich meinen Weg gehen ließ

Einleitung

»In jedem von uns ist auch ein anderer,den wir nicht kennen.«

Carl Gustav Jung

Am Anfang war da nur Ähnlichkeit. Als Paul und Jan Holst* 1982 geboren werden, ist die ganze Familie entzückt. Zwillinge! Kaum auseinanderhalten lassen sich die beiden Jungen, auch in ihrem Wesen nicht. Zupackend sind sie und lebensfroh. Die gehen schon ihren Weg, denkt die Mutter, da muss man sich keine Sorgen machen. Doch in der Pubertät werden die Unterschiede zwischen den beiden größer. Paul entwickelt Ehrgeiz, macht Abitur, studiert. Jan aber lässt sich mit zwielichtigen Typen ein, wird kriminell, schlägt auch mal zu. Vorläufiger Höhepunkt seiner Karriere: eine zweijährige Haftstrafe.

Wie nur kommt es, dass die beiden jungen Männer mit ihren so ähnlichen Startbedingungen dann doch so unterschiedliche Lebensgeschichten haben? Was macht aus dem einen den strebsamen, gesellschaftlich tragfähigen und die Gesellschaft mittragenden jungen Mann und aus dem anderen einen rücksichtslosen Egoisten, der sich zur Befriedigung seiner eigenen Interessen über Eigentum und Rechte der anderen hinwegsetzt? Reicht ein falscher Freund zur falschen Zeit, um unsere Zukunft einschlägig zu bestimmen, oder müssen schon viele Faktoren zusammenkommen, damit der Lebensweg eine andere Biegung nimmt?

Wie wir werden, wer wir sind: Die Frage beschäftigt fast jeden Menschen – spätestens an den großen Wendepunkten im Leben oder wenn er in eine Krise gerät. Was hat mich zu dem gemacht, der ich bin? Wäre ich ein anderer geworden, wenn die Bedingungen bessere gewesen wären? Weshalb reagiere ich so sentimental, aggressiv oder verletzt, wenn mir jemand Vorwürfe macht? Wie könnte ich ein besseres, glücklicheres Leben führen? Und wie kann ich mich gegen die negativen Einflüsse schützen, die mich in einer Weise verändern, die mir selbst nicht gefällt?

Auch Wissenschaftler beschäftigen sich mit diesen Fragen derzeit besonders intensiv. Psychologen, Hirnforscher und Soziologen fahnden danach, wie das Wesen eines Menschen Gestalt annimmt. Dabei müssen die Experten einräumen: Sie sind viele Jahre lang von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Lange glaubten sie, dass die Persönlichkeit jedes Menschen im Kern festgelegt sei. Dass er – in seinen jungen Jahren womöglich verformt und aus dem Tritt gebracht – später nach sich selbst suchen und sich dann auch selbst verwirklichen könne. Ob Psychoanalytiker, Kommunisten, Existenzialisten oder Hippies: Sie alle waren fasziniert von der Idee der Selbstverwirklichung. Doch mittlerweile müssen die Experten einräumen: Sie sind viele Jahre lang von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen.

Zweifelsohne kommen wir mit einem ausgeprägten Charakter zur Welt, der schon bald nach der Geburt für andere zu erkennen ist. Aber wie sich dieser entwickelt, wird erheblich von dem beeinflusst, was wir erleben und wem wir begegnen. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit oder von einer anderen Familie aufgezogen, wären wir ein ziemlich anderer Mensch geworden.

»Vom Augenblick der Geburt an verändert sich der Mensch in seinem Wesen«, sagt Werner Greve, Professor für Entwicklungspsychologie, »das beginnt schon in der allerersten Sekunde.« Jeder Mensch unterliegt tagtäglich immer neuen Einflüssen. Noch dazu zimmert er sich das, was er für sein Ich hält, im Zusammenspiel mit seinem Umfeld, seinen Lebenserfahrungen, seinen Unterstützern und Widersachern so hin, wie es für ihn passt. Er erfindet sein Ich mehr, als dass er es findet. Das Ergebnis ist ein Ich, das sich in das große Puzzlespiel des Lebens eingefügt hat und das sich spätestens dann wieder verändert, wenn es die umgebenden Teilchen tun.

Das Zauberwort dabei heißt Resonanz: Das Phänomen bezeichnet ursprünglich das Mitschwingen eines Systems in der Akustik. Doch Resonanz findet tagtäglich nicht nur in unserem Innenohr statt, sondern auch in unserem sozialen Miteinander. Zunehmend wird sie daher von den Humanwissenschaften entdeckt. Der Soziologe Hartmut Rosa hat die Bedeutung der Resonanz zuletzt für das Leben in einer Gesellschaft herausgearbeitet. Er beschreibt Resonanz als das Gefühl, das sich einstellt, wenn Menschen eingebunden sind in eine »Weltbeziehung«. Wir erfahren Resonanz, wenn wir eine sinnvolle Aufgabe erfüllen, auf die wir womöglich auch noch positive Rückmeldungen erhalten, wenn uns beim Blick aufs Meer oder oben auf einem Berg das Herz aufgeht, wenn wir uns mit engen Freunden die Ohren heißreden, wenn Musik unsere Seele berührt oder wenn unser Team ein Tor schießt. Und wenn die Resonanz fehlt, werden wir unserer Welt entfremdet.

Mehr und mehr beschäftigt das Thema Resonanz inzwischen die Psychologie. Auch die Seele des Menschen ist schließlich ein mitschwingendes System. Sie entwickelt sich in Reaktion auf äußere Einflüsse weiter. Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen klingen in ihr nach, verändern sie und werden wieder nach außen getragen. Der Mensch tauscht sich ständig mit seiner Umgebung aus, wird beeinflusst in seinem Sein und seinem Bewusstsein.

Das Phänomen wirkt auf uns weit über den Moment hinaus. Am Ende verankert sich Resonanz sogar in den Genen, wie der neue Forschungszweig der Epigenetik eindrücklich gezeigt hat. Was immer wir erleben, wird als chemisches Signal ins Erbgut geschrieben. Und wenn das Resonanzempfinden besonders groß ist, sind die molekularen Veränderungen an unseren Genen später kaum mehr zu löschen.

Dabei ist Resonanz keineswegs immer positiv. Der Mensch ist eben nicht nur mitschwingfähig im Gespräch mit anderen, wo man sich gegenseitig Bestätigung und Wohlfühlmomente zollt, oder in seinem Konferenzstuhl, wo er dem Chef regelmäßig zunickt und karrierefördernde Zustimmung signalisiert. Der Mensch schwingt auch mit der negativen Umwelt mit. Als soziales Wesen nimmt er auf, was um ihn herum passiert. Ein liebevolles Umfeld kann für ein fröhliches Welterleben sorgen, ein bösartiges dagegen kann bewirken, dass negative Erfahrungen in manchen angstbesetzten Situationen immer wiederkehren. Selbst Fremdenfeindlichkeit und Faschismus sind Resonanzereignisse, und zwar starke.

Im Laufe der Jahrzehnte bekommt ein Mensch jede Menge Schwingungen zu spüren. Manche erschüttern ihn, andere berühren ihn zart. So macht er bereichernde Erfahrungen, erlebt mitreißende Bestätigung und erleidet Verletzungen. Kurz: Er wird zu dem, was wir einen reifen Menschen nennen. Reif ist jemand, der viel erlebt hat und der sich von diesem Erleben verändern ließ. Reif ist nicht der, der darauf beharrt, so zu sein, wie er schon immer war, sondern jemand, der sich entwickelt hat, der durch seine Erfahrungen klüger geworden ist. Reifen ist also ein Prozess. Es bedeutet nicht, sich selbst zu finden, sondern sich im Widerhall auf das Leben zu verändern.

Bevor die Idee von der Selbstfindung die westliche Welt eroberte, hatten Philosophen bereits eine Ahnung davon, dass sich der Mensch in seinen selbstgewählten oder hingeschubsten Platz in der Welt einfügt. Schon in der Antike sprachen die Stoiker davon, wie sich der Mensch »selbst im Tun entwirft«. Moderner ausgedrückt: Wie man etwas wird. Wie man man selbst wird. Oder wie man sich sein Ich schafft. Es ist ein Prozess der Ich-Werdung, der Individuation.

Häufig geschieht dies passiv und unbewusst. Wir werden geprägt, schwingen mit, übernehmen Ideen anderer Menschen und passen uns an. Aber natürlich nehmen wir auch aktiv Einfluss. Wir sind nicht nur ein Spielball unserer Erlebnisse. Wir steuern schließlich auch, was wir erleben. So entscheiden wir uns gegen Freunde, die uns nicht guttun, oder wählen einen Beruf, der uns den ersehnten sozialen Status gibt, anstatt unseren Begabungen zu folgen. Wir gründen eine Familie oder verbringen viel Zeit im Ausland, wo wir uns ganz neuen, bisher unbekannten Schwingungen aussetzen. »Je nachdem, wie wir die Weichen für unseren Lebensweg stellen, stehen wir vor ganz unterschiedlichen Anforderungen, denen wir uns naturgemäß anpassen – und das hinterlässt Spuren in der Persönlichkeit«, sagt Jule Specht, die Inhaberin des Lehrstuhls für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität Berlin ist und zu den ausgewiesensten Kennern ihres Fachs gehört.

Jeder etwas in die Jahre gekommene Mensch weiß von sich, dass er sich in einem gewissen Maße verändert hat. Man begeistert sich plötzlich für Dinge, die einem früher egal waren. Und umgekehrt lächelt man nur noch müde über etwas, das einen in seiner Jugend faszinierte. Das muss nicht zwingend einen grundlegenden Wandel der Persönlichkeit bedeuten. Man muss als Mittvierziger nicht mehr auf jede Party gehen, wie man es als Mittzwanziger noch tat, und kann doch weiterhin ein extrovertierter, gesprächiger Zeitgenosse sein. Vielleicht plauscht man jetzt auf dem Weg zum Supermarkt an jedem Gartentor statt bis tief in die Nacht in der Disko. Aber es gibt sie eben auch, die Veränderungen, die aus einer einstmals menschenscheuen Person eine kommunikative Persönlichkeit machen und aus einem ordnungsliebenden, korrekten Menschen jemanden, der Rechnungen verschlampt und seine dreckigen Socken nicht mal dann wegräumt, wenn Besuch kommt.

Menschen ändern sich, und sie können an ihrem Wesen arbeiten. Dabei ist natürlich eine Portion Realismus sinnvoll: »Mit 55 kann man noch tanzen lernen, aber nicht jeder hat in diesem Alter noch das Potenzial zum Flamencotänzer«, sagt der Entwicklungspsychologe Werner Greve. Weniger als körperliche Einschränkungen sabotieren uns dabei Klischees: Schwierig ist das Arbeiten am eigenen Selbst nämlich vor allem dann, wenn man von den Menschen in seiner Umgebung auf einen bestimmten Charakter festgelegt wird. In der Kleinstadt, am alten Arbeitsplatz, wo sich andere längst ein Bild gemacht haben, ist es schwierig, aus gewohnten Vorstellungen auszubrechen. »Es sind oft die Rückmeldungen der anderen, die uns hindern, uns zu verändern«, sagt Greve. »In einem neuen Kontext sind Veränderungen leichter.«

Was also macht uns zu dem, wer wir sind? Und welche Möglichkeiten haben wir, diesen Prozess aktiv zu steuern? Können wir werden, wer wir sein wollen? Spannende neue Forschungsarbeiten helfen uns, den Prozess unserer Individuation immer besser zu verstehen. Sie zeigen, welche Lebensumstände, welche Entscheidungen uns am stärksten beeinflussen. Es sind nicht unbedingt nur die ganz großen Herausforderungen im Leben, die uns reifen lassen. Und wir müssen uns auch nicht sorgen, dass negative Erfahrungen und unerwünschte Einflüsse von außen uns auf Dauer zwangsläufig negativ prägen. Selbst die Bedeutung der Kindheit wurde bislang überschätzt. Wie sich die eigene Persönlichkeit entwickelt, haben wir zu einem guten Teil selbst in der Hand. Es ist nicht so wichtig, wer wir gestern waren. Viel wichtiger ist, was wir heute tun.

(* Namen geändert)

Was alles möglich ist

»Wir sind uns niemals so treu wie in denAugenblicken der Inkonsequenz.«

Oscar Wilde

Dass sich sein Rabaukensohn einmal derart wandeln würde, das hätte der alte Herr Birbaumer wohl nicht gedacht. Drohen musste er seinem Sohn Niels, um ihn von der Straße zu kriegen und in ihm, dem pöbelnden Gangmitglied, die Menschlichkeit zu wecken. Dass ausgerechnet aus diesem Sohn einer wird, der sich für die Wehrlosen starkmacht? Abzusehen war das nicht, damals, in den 1960er-Jahren in Wien.

Heute ist Niels Birbaumer nicht nur ein bekannter Psychologe und Neurowissenschaftler, der mit seiner Forschung die Welt in Staunen versetzt. Vor allem ist er berühmt dafür, dass er sich für die engagiert, die nicht selbst für ihre Rechte eintreten können. Eigentlich ist Birbaumer, Jahrgang 1945, längst in Rente. Aber er kennt seit Jahren nur ein Ziel: denen Gehör zu verschaffen, die nichts sagen können, die nicht einmal zucken oder blinzeln können, die bei vollem Verstand komplett eingeschlossen sind in ihrem Körper, weil eine furchtbare Krankheit namens ALS ihnen jede Kontrolle über ihre Muskeln genommen hat. Der Professor will die Gedanken solcher Patienten, die unter einem »Completely-Locked-in-Syndrom« leiden, sichtbar machen, indem er ihnen eine Neoprenkappe mit Sensoren auf den Kopf setzt und ihre Hirnströme aufzeichnet. So, sagt er, finde er Zugang zu jenen, deren Geist sonst keine Ausdrucksmöglichkeit hat.

Ein Schluck Tee zum Abendessen? Ein bisschen Erdbeereis auf die Lippen? Die beschwerliche Reise zum Wallfahrtsort? Seine Technik verrate, ob die Patienten das wollen oder nicht, sagt Birbaumer. So will er den komplett Gelähmten helfen, ihre Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken. Er will ihnen eine Stimme geben – und noch viel mehr als das: echte Partizipation.

Kann also jemand einfühlsamer sein als Niels Birbaumer?

Die Angehörigen seiner Patienten verehren ihn jedenfalls, als wäre er ein Heiliger. Doch die Menschen in dem Wiener Arbeiterbezirk, in dem Birbaumer aufwuchs, hatten eine ganz andere Meinung über ihn. In seiner Jugend sah es zunächst nicht so aus, als würde aus ihm eines Tages der weltbekannte und mit zahlreichen Ehrendoktorwürden belobigte Psychologieprofessor werden, der einen Preis nach dem anderen für die Erforschung des Bösen einheimst. Birbaumer war selbst, nun ja, böse. Als Jugendlicher hatte sich der Sohn eines überzeugten Kommunisten einer Bande von Kleinkriminellen angeschlossen, und statt hilflosen Menschen zur Seite zu stehen, war ihm die Hilflosigkeit der anderen völlig egal. Statt zu den Gedanken verschaffte er sich Zutritt zum Besitz Fremder: Er knackte Autos und klaute die Radios, um sich mit dem Geld ein neues Fahrrad oder Nächte mit Prostituierten zu leisten. Auch vor Gewalt schreckte er nicht zurück. Einmal kam er deshalb ins Gefängnis: Als ihm ein Mitschüler auf dem Schulhof ein Pausenbrot klaute, fackelte Birbaumer nicht lang. Er nahm eine Schere und rammte sie dem Dieb in den Fuß. Das brachte ihm zwei Tage Jugendarrest wegen Körperverletzung ein.

Heute lächelt Birbaumer über die Anekdoten von damals. In seinem Arbeitszimmer an der Universität Tübingen sitzt er zwischen Papierstapeln, Ehrendoktorwürden aus aller Welt und Porträts des von ihm verehrten Franz Schubert und ringt um Aufmerksamkeit für die, die sich selbst nicht äußern können. »Diese Menschen haben ja keine Lobby, für die interessiert sich niemand außer einigen wenigen Angehörigen«, sagt der kleine Mann mit dem voluminösen grauen Haar, der sich immer noch am liebsten in Schwarz kleidet, so wie früher in seiner Gang. Doch abgesehen von der Farbe der Kleidung: Den empathischen Professor und den rücksichtslosen Autoknacker von einst, dem der Schmerz und das Leid seiner Opfer reichlich egal waren, trennen Welten. »Man kann doch diese Leute nicht einfach da liegen lassen, wenn man über diese Methoden verfügt«, sagt er.

Doch wie kam es zu seiner erstaunlichen Wandlung? »Druck von außen«, meint Birbaumer trocken. »Ich habe mich nur dank meines Vaters eines Besseren besonnen.« Sein alter Herr griff ein und topfte ihn in ein anderes Umfeld um: Er drohte ihm, dass er als Polstererlehrling anfangen müsse, wenn sich sein Verhalten nicht umgehend ändere, und ließ ihn zur Probe in einer Werkstatt arbeiten. »Das war mir dann doch zu anstrengend. Da habe ich mich entschieden, weiter auf die Schule zu gehen.« Also beschloss Birbaumer, seine Chance zu nutzen. Er wechselte auf eine andere Schule, machte Abitur und studierte schließlich an der Universität Wien Psychologie und Neurophysiologie. Schon mit 23 Jahren wurde er promoviert. Und mit 29 Jahren wurde er von den linken Studenten in Tübingen zum Professor berufen.

Sein neues Umfeld hat es ihm leicht gemacht. »In unserem Bezirk herrschte das Gesetz der Straße, aber dann bin ich auf die Stubenbastei gegangen, auf eine Schule im ersten Bezirk«, erzählt er. Da war die große Welt versammelt. Es gab jüdische Lehrer, Lehrer aus Russland, Schüler mit den unterschiedlichsten Wurzeln. Plötzlich wurde die Welt des Lernens und Wissens interessanter als die Anerkennung der Jungs aus seiner Gang. »Der Mensch kann sich tiefgreifend ändern«, sagt Birbaumer, »wenn genügend Einflüsse von außen ihn dazu bringen oder wenn er es wirklich will.« Er kann vom Schläger zum sozial engagierten Wesen werden.

Ein Revoluzzer ist Birbaumer tief im Herzen trotzdem geblieben. Neuerdings hat er großen Ärger, weil ihm vorgeworfen wird, seine Daten über das Lesen der Gedanken von Completely-Locked-in-Patienten geschönt zu haben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) schloss ihn für fünf Jahre aus, er darf dort keine Anträge mehr auf Forschungsförderung stellen und auch nicht als Gutachter tätig sein. Birbaumer habe in seiner aufsehenerregenden Veröffentlichung zum Gedankenlesen »Falschangaben« gemacht und Daten nur selektiv publiziert, stellte die DFG fest. Birbaumer räumt ein, dass er manche Daten nicht übermittelt habe – aber nur, weil er die Untersuchungen der schwer kranken Menschen immer wieder unterbrechen musste. Er bleibt dabei, dass er mit Menschen, die als »komplett eingeschlossen« gelten, kommunizieren kann.

60 Jahre nach seinem Jugendarrest in Wien legt sich Niels Birbaumer also immer noch mit Autoritäten an. Aber gewandelt hat er sich doch: Seit seiner Läuterung zu Schulzeiten nutzt er seine Fähigkeiten konstruktiv und nicht destruktiv. Er setzt sie für Patienten ein, und dabei hinterfragt er angestaubte Therapien und probiert Dinge aus, die niemand vor ihm erkundet hat. »Veränderung ist möglich«, betont er noch mal. Seine Geschichte sei gar nicht so spektakulär, viele Menschen nutzten das ihnen innewohnende Potenzial zu einem Neuanfang. Auch das hat er schließlich in seinen Forschungsarbeiten belegt: »Erwachsensein bedeutet keinen Stillstand, das Hirn ist plastisch genug.«

Aber welcher Niels Birbaumer ist nun der echte? Der ruppige Gewissenlose von damals oder der einer starken humanistischen Überzeugung verpflichtete Kämpfer für Schwerstbehinderte von heute? Welcher von beiden verstellt sich? Hat sich hier einer angepasst, um doch noch Anerkennung und Erfolg zu erfahren? Oder ist er in Wirklichkeit derselbe geblieben, der sich nur anders verhält, weil er erkannt hat, dass er damit im Leben weiterkommt?

Die Wahrheit ist: Für Birbaumer wie für uns alle gilt – es gibt kein wahres Ich. Es gibt also gar nicht die eine Persönlichkeit zu entdecken, die man in seinen Ursprüngen ist. Es gibt nicht diesen unverrückbaren Kern in uns, den wir erkennen und dem wir mit unserem Dasein entsprechen sollten, wenn wir uns nicht verbiegen wollen. Die moderne Psychologie weiß vielmehr: Wir verbiegen uns jeden Tag. Oder, freundlicher ausgedrückt: Wir passen uns an. Wir entwickeln uns weiter. Wir lernen aus dem Leben. »Das Selbst ist keine stabile Größe, es ist nicht der unveränderliche Kern unserer Person, es ist nicht die Substanz unserer Identität«, sagt der Hildesheimer Entwicklungspsychologe Werner Greve. »Es wandelt sich vielmehr stets aufs Neue.«

Total authentisch

Diese Erkenntnis mag viele Menschen erschüttern. Schließlich glauben sie, genau zu wissen, wer sie sind. Sie haben sich ihr ganzes Leben lang mit sich selbst auseinandergesetzt, in sich hineingehorcht, ihre Bedürfnisse ergründet und Ideale geformt, und sie glauben fest daran, nach diesen Erkenntnissen auch zu leben. Sie wollen sich treu sein, jeden Tag. Und sie wollen stets der Überzeugung folgen, die ihnen in ihrem Innersten entspricht. »Menschen streben danach, authentisch zu handeln«, sagt der Sozialpsychologe Roy Baumeister von der University of Queensland in Australien. Nur so meinen sie in den Spiegel blicken zu können, ohne sich vor sich selbst schämen zu müssen.

Ganz man selbst, also wahrhaftig zu sein, ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert. Kein Wunder. Authentizität gibt der Gemeinschaft Sicherheit. Wer authentisch ist, auf den ist Verlass, der ist in gewisser Weise berechenbar. Ohne Authentizität gibt es kein Vertrauen.

Aber die Hochachtung vor der Authentizität ist auch tief in unserer Kultur verwurzelt. Für die Existenzialphilosophen von Sartre über Camus bis Heidegger ist Wahrhaftigkeit gar die Voraussetzung für Moral. »Werde das Selbst, das wirklich wahr ist!«, empfahl Sören Kierkegaard. Moral entsteht, so die Grundidee dieser Überzeugung, weil Menschen authentisch handeln, weil sie sich nicht von kurzfristigen Vorteilen oder Versprechen von dem Weg abhalten lassen, den ihre hehren Ansprüche an ein korrektes Leben vorgeben. Weise, Philosophen und Lehrer mit besonders hohen moralischen Forderungen wie Sokrates und Jesus schieden sogar lieber aus dem Leben, als ihre Ideale zu verraten. Jesus ließ sich ans Kreuz nageln, obwohl er vor dem Hohepriester die Chance gehabt hätte, sich von seinen Überzeugungen zu distanzieren; aber er wiederholte im Angesicht des drohenden Todesurteils noch einmal, er sei der Sohn Gottes. Sokrates leerte den Giftbecher, obwohl er sich zu Unrecht verurteilt sah und aus dem Gefängnis hätte fliehen können. Doch das hätte seinen Prinzipien widersprochen. Zu sehr achtete er den Staat und dessen Rechtsprechung, sogar seine Fehlurteile.

Echte Persönlichkeiten, die bereit sind, für ihre Überzeugungen alles aufzugeben, faszinieren uns. Bis heute gehört es in unserer Gesellschaft zum guten Ton, authentisch zu sein. »Sei ganz du selbst«, raten uns von klein auf unsere Eltern, Lehrer, Gurus. So kann man aus den Höhen der Philosophie bis in die Niederungen der Popkultur herabsteigen und ganz ähnliche Ideale wie bei Sartre, Sokrates und Kierkegaard finden. Quer durch alle kulturellen Nischen der Republik rühmen sich Menschen, ganz sie selbst zu sein. »Ich bin authentisch, ich spiele den Leuten nichts vor«, sagt da die erfolgreiche Schlagersängerin Andrea Berg (Album: »Diese Nacht ist jede Sünde wert«) und unterscheidet sich darin kaum von dem einem ganz anderen Genre verpflichteten Berliner Gangsta-Rapper Deso Dogg (Songzeile: »Willkommen in meiner Welt voll Hass und Blut«): »Ich kann sagen, ich bin authentisch«, gab der Rapper zu Protokoll, bevor er im salafistischen Terrorwahn in Syrien sein Leben ließ. Die eine erheblich lieblichere Welt verkörpernde Chansonsängerin Mireille Mathieu, der »Spatz von Avignon«, war sogar der Meinung: »Authentizität zahlt sich am Ende immer aus. Ich bin immer ich.«

Man erkennt also leicht: Wer authentisch ist, hat die Fans auf seiner Seite. Abschätzig blicken wir dagegen auf alle jene herab, die unehrlich wirken, die sich verrenken oder die ihr Fähnlein nach dem Wind richten.

Auch unter Managern gehört das Wort mittlerweile »zum festen Phrasenbestand«, konstatiert die ›Wirtschaftswoche‹, quasi als Garantie für kernigen Erfolg. Bei seinem Amtsantritt als RWE-Chef kündigte Peter Terium im Jahr 2012 an, er wolle »führen, ohne an Authentizität zu verlieren«. Olaf Koch, CEO der Metro, sagte einmal im Interview: »Wichtig ist, sich selber treu zu bleiben.« Und Jamie Dimon, CEO der Großbank JP Morgan Chase, wurde von der Marktforschungsfirma Quantified Communications zum authentischsten Vorstandsvorsitzenden gewählt – weil er »sein Herz auf der Zunge trägt«. In Stellenanzeigen und Jobbörsen wird nach einem authentischen Auftreten und authentischen Charakteren gesucht, weil Arbeitgeber denken, dass Authentizität für Erfolg steht und sowieso hoch im Kurs ist.

Gegenwind kommt nur von einzelnen Intellektuellen wie Susanne Breit-Keßler. Die evangelische Regionalbischöfin in Bayern kann das Gewese um die Authentizität schon nicht mehr hören. »Authentisch, das ist ein Modewort«, schimpfte sie vor Kurzem: »Manchmal kriege ich einen Koller bei dem Gedanken, dass jeder und jede authentisch sein könnte. Um Himmels willen! Das würde bedeuten, dass Männer und Frauen sich immer so zeigen und verhalten, wie sie sich im Innersten befinden. Eben nicht nur freundlich, intelligent und hilfsbereit. Sondern gelegentlich auch ausgesprochen ekelhaft, gemein, grausam, strohdumm und vollkommen gleichgültig.«

So streben wir letztlich (fast) alle nach dieser durch nichts zu erschütternden Art von Authentizität. Wenn wir meinen, uns nicht authentisch zu verhalten, fühlen wir uns unwohl. Wir haben den Eindruck zu lügen oder zu betrügen, unsere Prinzipien und damit auch uns selbst zu verraten. Sich selbst untreu zu sein, erzeugt ein schales Gefühl. Auch dadurch wurde Mitte des 20. Jahrhunderts die Idee von der Selbstverwirklichung in die Psychologie getragen.

Als Erster hat das Abraham Maslow, der Gründervater der Humanistischen Psychologie, 1954 getan. Selbstverwirklichung, so meinte er, sei das erhabenste aller menschlichen Bedürfnisse. Es sei ganz oben angesiedelt, setze dem Leben eine Krone auf, wenn alle anderen Bedürfnisse – von Nahrung über Sicherheit, Liebe, Zugehörigkeit bis hin zu Anerkennung und Wertschätzung – erfüllt seien. Allerdings ging es Maslow keineswegs darum, dass Menschen dazu ihr Selbst entdecken und ihren wahren Kern finden müssten. Er war lediglich der Meinung, dass in den Menschen Unruhe und Unzufriedenheit erwachen, wenn alle anderen Bedürfnisse befriedigt sind. Dann streben sie danach, ihre Talente und Potenziale zu entfalten. Sie wollen sich weiterentwickeln und ihrem Leben einen Sinn geben.

In den 1950er-Jahren hatten die Menschen in Europa und in den USA noch genug andere Sorgen, aber schon bald wurde Maslows Konzept begierig aufgenommen und neu interpretiert. Die Ideen von der Selbstverwirklichung passten in den 1960er- und 1970er-Jahren perfekt ins Konzept der jungen Menschen, die gerade gegen den Muff und die Verlogenheit ihrer elterlichen Kriegsgeneration rebellierten, welche sich so antisokratisch verhalten hatte. Schließlich hatten viele die Prinzipien der Menschlichkeit verraten, um in der Diktatur zu überleben. Umso überzeugter strebten die Jungen in der ebenso rigiden wie heuchlerischen Nachkriegsgesellschaft nach Befreiung, nach neuen, eigenen Ideen und Idealen, denen sie folgen wollten. Und aus der Selbstverwirklichung wurde bald noch mehr: die Selbstfindung, die Suche nach dem eigenen, dem wahren Ich.

Aber wie viel ist dran an dem Selbst, das man nach langer Suche – zum Beispiel durchs Meditieren, durchs Aussteigen oder indem man neue Wege einschlägt und muffige Talare abwirft – schließlich entdeckt? Ist das, was man in sich zu finden glaubt und mit Idealen füllt, alternativlos? Gibt es nur diesen einen Fund zu machen, diesen einen Weg zu gehen? »Hier stehe ich und kann nicht anders«, soll Martin Luther gesagt haben, als ihm Kaiser und Kirche in Worms eine letzte Chance gaben, seine aufrührerischen Thesen zu widerrufen. Doch der Reformator wollte – ebenso wie einst Sokrates – lieber die Konsequenzen für seine umstürzlerischen Ideen tragen, als sich von diesen zu distanzieren. Und auch wenn er den berühmten Satz vermutlich nie gesagt hat, so ist doch von ihm überliefert, dass er keinen anderen als diesen Weg sah; dass er glaubte, nicht anders zu können: »Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist«, sprach Luther. Offenbar war er der Meinung, dass er, wenn er von seinen Überzeugungen ließe, sich damit auch selbst verraten würde.

Kann man also – wenn man ganz »man selbst« sein will – wirklich nicht anders?

Nein, sagt der Psychoanalytiker Paul Verhaeghe von der Universität Gent: »Wir haben als Menschen immer die Wahl.« Wenn wir ehrlich mit uns sind, gestehen wir uns auch selbst ein: Wir sind keineswegs so konstant, wie wir das gerne glauben wollen. Wer großzügig und empathisch ist, legt gewiss häufig einem Bettler am Straßenrand eine Münze in den Becher. Aber es gibt auch Tage, an denen man das nicht möchte. Weil man schlechte Laune hat, weil es regnet, weil man sich gerade seines bedrückend niedrigen Kontostands bewusst ist, weil man sich nur einigeln und mit niemandem Kontakt aufnehmen möchte oder weil man selbst nicht gut behandelt wurde.

Wo ist es in diesen Momenten, das angeblich so großzügige Ich? Hat es sich verkrochen und wurde von einer fremden Gewalt gekapert? Oder streitet es gerade mit einem anderen, in unseren Augen ebenso sozialen, aber intellektuelleren Teil unseres Ichs, das ihm sagt, dass man mit Almosen nur die Aufgaben des Sozialstaats torpediert oder osteuropäische Bettlerbanden unterstützt? Wir bleiben jedenfalls, obwohl wir bei genauer Beobachtung immer auch Gegenargumente zu unserem Bild von uns selbst finden könnten, in der Regel bei unserer Einschätzung unseres Ichs. Wir sind, auch wenn wir feststellen, dass wir mitunter keineswegs großzügig sind, weiterhin davon überzeugt, ein großzügiger Mensch zu sein. Eigentlich. Jedenfalls meistens. Nur jetzt mal ausnahmsweise nicht. Dieses Bild, das wir uns da gemacht haben, pflegen wir und verteidigen es mit Zähnen und Klauen – notfalls auch gegen die Realität.

Der aufgeklärte Mensch – er strebt nach seinem Ich. Denn es verleiht ihm Stabilität in einer unüberschaubaren Welt, es verortet ihn im Leben, sagt ihm: Du bist etwas Einmaliges, du bist in deinen Verhaltensweisen, Gefühlen und Entscheidungen anders als die anderen. Du bist ein Individuum. Und das ist ja auch wahr. »Identität ist letztlich das Bewusstsein dafür, dass ein Mensch seine Besonderheiten hat«, sagt die österreichische Psychologin Eva Jaeggi, die lange an der Technischen Universität Berlin gelehrt hat. Schon von dem Moment an, in dem sich ein Kind zum ersten Mal im Spiegel selbst erkennt, ist es neugierig auf sich selbst. Es beobachtet sich beim Wütendsein, beim Liebsein, beim Weinen – Letzteres besonders gerne vor dem Spiegel. Es möchte sich in all seinen Facetten näher kennenlernen und mit anderen vergleichen. Tagtäglich entdeckt es dabei mehr über sich, trifft immer neue Feststellungen und formt so ein Bild von sich selbst, das es als sein Ich begreift.

»Schon beim kleinsten Menschenwesen entsteht ein Gefühl dafür, dass es etwas Eigenes ist, etwas, das sich auch irgendwie wehren kann gegen das andere«, sagt Jaeggi. »Ich bin anders als die anderen« – genau das sei der Kern dessen, was Menschen auch noch als Erwachsene in ihrer Selbstreflexion empfinden. Von diesem ersten kindlichen Moment vor dem Spiegel an beobachten wir uns ein Leben lang weiter und basteln an unserem Selbstbild. Schließlich verändert sich das Wesen, das wir als kleines Kind im Spiegel sahen, fortlaufend. Es macht Erfahrungen und trifft andere Menschen, die jeden Tag wieder Einfluss auf dieses kleine, sich entwickelnde Ich nehmen (siehe Die Vermessung der Seele, S. 90). So kommt es manchmal zu kleineren, kaum wahrnehmbaren Veränderungen, manchmal aber auch zu größeren Weichenstellungen. Und mitunter gibt es einen dramatischen Umsturz – nämlich dann, wenn man etwas Einschneidendes erlebt.

Manche Menschen sagen nach so einem Ereignis von sich, sie fühlten sich wie neu geboren, seien ein ganz anderer als früher, ihre alte Identität gebe es quasi nicht mehr. Fachleute nennen das ein Damaskus-Erlebnis, benannt nach der Wandlung des Christenverfolgers Saulus, der auf dem Weg nach Damaskus zum gläubigen Christen Paulus wurde, weil er dort dem auferstandenen Jesus begegnet sein soll. Es muss nicht immer so drastisch sein. Manchmal ändert sich auch einfach nur die Lebenseinstellung – etwa nach einem schweren Unfall, der einen neuen Blick auf das eigene Dasein und die eigene Verletzlichkeit eröffnet, nach einer bedrohlichen Erkrankung, einer schmerzlichen Trennung. Oder wenn der Vater mit einer Polstererlehre droht.

In der Summe wandeln sich Menschen über die Jahre in erstaunlichem Maße. Unsere Vorlieben werden andere, die Art zu leben, die Dinge, die wichtig sind, das Aussehen sowieso. Sogar unser Gehirn und unsere Gene verändern sich – sie besitzen, anders als lange gedacht, eine beachtliche Plastizität. Das Gehirn, das zeigen immer neue Forschungsergebnisse, kann selbst beim Erwachsenen noch neue Zellen ausbilden und damit neue Verknüpfungen ermöglichen, die unser Denken und unser Bewusstsein durchaus mitbeeinflussen können. Und an den Genen finden durch die schon erwähnten epigenetischen Prozesse ständig molekulare Veränderungen statt, von denen manche unser Verhalten nachhaltig beeinflussen können. Über die Jahre ergibt sich aus all dem eine immense Wandlungsfähigkeit.

Im Grunde ist es also wie bei Heraklit: »Panta rhei«, alles fließt. Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht. Wie die Welt, so ist auch der Mensch immer in Bewegung, konstruiert sich stets neu. Selbsterfahrung sei gar nicht der Blick nach innen, sagt Werner Greve. Es ist eigentlich nur eine Metapher für einen höchst komplexen und ständig andauernden Konstruktionsprozess eines Ichs.

Der Philosoph Thomas Metzinger schließt daraus gar: Ich bin »niemand«. Aber das wird dem Ich des Menschen auch nicht gerecht. Wenngleich wir uns ständig ändern, auch wenn wir immer im Fluss sind, so haben wir doch ein Bewusstsein dafür, dass wir ein Individuum sind: Wie unser Lebensfluss, so verändert sich zum Beispiel auch der Rhein ständig. »Der Rhein von gestern ist nicht mehr der Rhein von heute«, sagt Greve. Er ändert sein Flussbett, das Wasser darin wird andauernd ausgetauscht. Aber trotzdem würde niemand sagen, dass der Rhein heute ein bisschen wie die Donau ist. Er bleibt der Rhein. Das gleiche gilt für den Menschen – für seine Persönlichkeit und seinen Lebensfluss. Wir wissen ganz genau, dass wir das waren, die da vor 25 Jahren mit einer Freundin gemeinsam durch Sibirien zogen. Wir wissen, dass wir uns vor zehn Jahren bei der Anti-Atommüll-Demo in Gorleben den Castoren in den Weg gestellt haben, dass wir einmal einen Kater hatten, der Peter hieß, und wen wir einmal liebten. Und selbst wenn wir wissen oder ahnen, dass wir uns seither doch in so manchen Eigenschaften erheblich gewandelt haben, herrscht in uns das Gefühl vor, ein Leben lang dieselbe Person geblieben zu sein. Wir haben eine ununterbrochene Geschichte.

Das Gehirn: ein großer Erzähler

Doch dass wir dieselbe Person sind, heißt nicht, dass wir auch die gleiche Persönlichkeit haben wie der Schüler, die Studentin oder der Auszubildende von damals. Denn die genauen Umstände, zahlreiche Details, unsere Ideale und Ziele von früher und auch die Gefühle, die wir damals hatten, die haben wir längst einer Reform unterzogen. Und dabei haben wir uns unsere Erinnerungen so hingezimmert, wie wir sie heute brauchen, damit wir weiterhin überzeugt sein können: Das bin und war ich. Damit wir uns einreden können: Ich konnte damals nicht anders und kann es auch heute nicht.

Auch wenn wir uns als Dreißig-, Fünfzig- oder Siebzigjährige mit großer Gewissheit daran zurückerinnern, wie wir uns schon als junge Menschen für andere eingesetzt haben oder nichts lieber tun wollten, als einmal eine Weltreise zu machen, sind wir nicht dieselben geblieben. Die Ereignisse von früher, die unserem Selbstbild von heute widersprechen, haben wir nämlich längst vergessen. Oder wir haben sie in unsere Story vom Ich so eingefügt, dass sie unser Ich von heute erklären.

Denn besser noch als unser Gedächtnis funktioniert das damit einhergehende Vergangenheitsvergoldungsprogramm, das uns schmerzliche Erinnerungen vergessen lässt und zum Beispiel unsere Kindheit, so sie nicht unfassbar schrecklich gewesen ist, in sonnigem Licht erscheinen lässt. Unzählige Studien haben gezeigt, dass unsere Erinnerungen unser früheres Leben nur ausgesprochen punktuell beleuchten und dass wir sie immer wieder neu anpassen. So machen wir uns ständig selbst etwas über unsere Vergangenheit vor – und damit über unser Ich von früher. Unser selektives Gedächtnis trimmt unsere Vergangenheit so, dass sie zu unserem Leben von heute passt.

Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Das sagt sich das Gehirn jeden Tag. Tatsächlich können wir unser Geschwätz von gestern nicht einmal richtig erinnern. Wenn sich unsere Ansichten ändern, sind wir uns dessen nicht bewusst, haben die US-Amerikaner Michael Wolfe und Todd Williams mit einem Experiment gezeigt, das ziemlich überzeugend ausfiel – auch wenn das Thema alles andere als angenehm war. Die beiden Psychologen fragten 548 Probanden online nach ihrer Meinung zur körperlichen Züchtigung von Kindern. Dabei ging es nicht um Moral. Ob Kinder geschlagen werden dürfen und welche Folgen das für ihre Entwicklung haben könnte, war nicht das Thema. Gegenstand der Meinungsumfrage war allein, ob Schläge wohl dabei helfen können, Erziehungsziele durchzusetzen. Die Teilnehmer sollten direkt, aus dem Bauch heraus antworten.

Erst nachdem sie ihre Meinung unwiderruflich kundgetan hatten, erhielten 128 der Befragten Informationen. Wenige Wochen nach der Online-Befragung lasen sie einen Text, der Argumente entweder für oder gegen die Wirksamkeit körperlicher Züchtigung als Erziehungsinstrument lieferte. Diese Argumente beeinflussten die Haltung der Probanden messbar: Wer zuvor die Meinung vertreten hatte, körperliche Züchtigung sei ein gutes Mittel, um die Disziplin von Heranwachsenden zu verbessern, trat plötzlich gegen die Gewalt ein, wenn er mit der konträren Ansicht konfrontiert worden war; wer umgekehrt Schlägen in der Kindererziehung nichts abgewinnen konnte, ließ sich durch Gegenargumente radikalisieren. Es ist an sich ja auch nicht verkehrt, sich von guten Argumenten überzeugen zu lassen. Peinlich für die Teilnehmer wurde es erst im zweiten Teil der Studie: Da wurden sie nämlich gefragt, welcher Meinung sie vor der Lektüre des Textes gewesen waren. Das frappierende Ergebnis: Die meisten waren felsenfest davon überzeugt, schon immer ihre aktuelle Meinung vertreten zu haben und von dem gelesenen Text nicht beeinflusst worden zu sein – ganz gleich, wie stark sich ihre Haltung zum Thema gewandelt hatte.

Belügen wir uns also selbst, weil wir uns nicht eingestehen wollen, dass wir manchmal Fehler machen? Nein, meinen Wolfe und Williams einhellig, diese Art von Vergangenheitsverklärung sei kein bewusster Selbstbetrug. Es sei nur einfach so, dass einem Menschen jene Argumente, die er zuletzt gelesen hat, schneller einfallen als die älteren Standpunkte. Deshalb akzeptiert er sie leichter als wahr. »Was ohne Mühe in den Sinn kommt, das fühlt sich gut und richtig an«, sagt Wolfe. Auf die Frage, welche Meinung man früher hatte, meldet sich als Erstes die aktuelle Haltung; auf das Gehirn wirkt das so, als habe man schon immer diese Meinung vertreten.

Das gilt nicht nur für kognitive Leistungen wie die Einstellung zu einem schwierigen Thema. Mit unserer objektiven Selbsteinschätzung ist es auch sonst nicht weit her. Schon vor langer Zeit haben die Psychologen Cathy McFarland und Michael Ross Menschen gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem ersten Date waren und wie glücklich ihre Beziehung vor fünf Jahren war. Die Antworten hingen kaum davon ab, wie es den Menschen damals wirklich mit ihren Partnern ging. Sie richteten sich vielmehr danach, wie glücklich die Paare aktuell in ihrer Beziehung waren.

Jeder vergangene Moment kann im Nachhinein so erzählt werden, dass er sich völlig logisch in den aktuellen Lebensentwurf einordnet und dass er die Geschichte, die man gerade gerne von sich selbst erzählt, stützt. »Authentisch ist da nichts«, sagt der Kognitions- und Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt. Die Erinnerungen an vergangene Momente erscheinen uns nur deshalb als authentisch, weil sie irgendwie zur Erklärung unseres jetzigen Verhaltens zu passen scheinen. Und das tun sie, weil wir sie passend gemacht haben. Bereits im nächsten Moment kann die gleiche Erinnerung nebensächlich wirken. Nicht nur unsere Gegenwart verändert sich ständig, auch unsere Vergangenheit ist also im Fluss.

»Unsere Gehirne sind meisterhafte Erzähler, sie verstehen es ausgezeichnet, sogar aus eklatanten Widersprüchen eine stimmige Geschichte zu spinnen«, sagt der Hirnforscher und Neurowissenschaftler David Eagleman, der am Baylor College of Medicine in Houston (Texas) das Laboratory for Perception and Action leitet. Denn mit Hilfe von Geschichten ergeben verwirrende Informationen einen Sinn, das hilft dem Gehirn bei der Einordnung. »Also erzählen wir uns ständig Märchen«, sagt Eagleman. Auch das Ich sei so ein Märchen, »eine vom Gehirn aus Zweckpragmatismus erfundene Fiktion«.

Schon Benjamin Franklin witzelte im Jahr 1750 klug: »Drei Dinge sind extrem hart: Stahl, ein Diamant und sich selbst zu kennen.« Tatsächlich können wir uns in der Regel nicht einmal realistisch einschätzen. Das Bild vom eigenen Ich ist reichlich verzerrt. Im Vergleich zur Realität sehen wir uns dabei vor allem: viel positiver. Unzählige Studien haben gezeigt, dass wir uns vor uns selbst in günstigem Licht präsentieren. Erfolge schreiben wir, wenn wir psychisch gesund und nicht mit allzu vielen Selbstzweifeln ausgestattet sind, tendenziell uns selbst zu, Misserfolge eher den Umständen. Außerdem vergessen wir Misserfolge leichter als Erfolge, während schmeichelnde Rückmeldungen tief ins Gedächtnis sickern. Die Wissenschaft spricht vom »Self-Enhancement«. Das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen, auch wenn der Alltagserfahrung nach Frauen ihre Erfolge häufig ihrem Team statt sich selbst zuschreiben und sich erschreckend häufig kleinmachen, während unter Männern mehr Hochstapler zu finden sind.

Wissenschaftler gehen inzwischen sogar davon aus, dass eine in Maßen übertriebene Selbstachtung zu einer gesunden menschlichen Psyche dazugehört: Die »positiven Illusionen« stärken unsere Zufriedenheit und unser Selbstwertgefühl, sagt die Sozialpsychologin Shelley Taylor. Wohl deshalb halten wir uns in der Regel für besser als die anderen – und zwar quer durch die verschiedensten Disziplinen. So meinen Studenten nicht nur, dass sie mehr Führungskompetenz haben als ihre Kommilitonen. Sie schätzen sich auch noch als sozialkompatibler ein und denken, dass ihr schriftlicher Ausdruck besser sei als der der anderen. Manager sind der Ansicht, sie seien fähiger als »der typische Manager«, und Fußballspieler glauben, mehr Fußballverstand zu besitzen als der Rest ihrer Mannschaft. Unnötig zu erwähnen, dass mehr als 85 Prozent der deutschen Autofahrer ihre Fahrkünste für überdurchschnittlich halten. Und dabei haben ausgerechnet männliche junge Autofahrer, die besonders viele Unfälle verursachen, das größte Selbstvertrauen.

Nun kann es, rein statistisch betrachtet, sogar sein, dass ein Großteil einer Gruppe besser ist als der Durchschnitt – sofern ein paar Kandidaten so schlecht sind, dass sie den Schnitt furchtbar runterreißen. Wenn man 85 Leistungsturner und 15 frischoperierte Hüftpatienten einer orthopädischen Klinik nach ihren aktuellen Künsten auf dem Schwebebalken befragt, dürfte die Aussage »Ich bin besser als der Durchschnitt« tatsächlich auf alle 85 zutreffen, die sich als Leistungsturner regelmäßig auf internationalen Wettkämpfen tummeln. Wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine solche Statistik auch die Selbsteinschätzung der deutschen Autofahrer bestätigt, sei dahingestellt.

Mit Gewissheit entlarvt werden die positiven Illusionen jedenfalls, wenn man nach Eigenschaften fragt, die sich messen lassen. So kommen Menschen, die ihren eigenen IQ schätzen sollen, regelmäßig auf höhere Werte, als es die Testergebnisse am Ende zeigen – und zwar auf erheblich höhere: Sie überschätzen sich um rund 14 Punkte auf der IQ-Skala, was eine gehörige Menge ist, wenn man bedenkt, dass 100 Punkte als durchschnittliche Intelligenz definiert sind, ab 130 aber schon die Hochbegabung beginnt und man ab einem IQ von 70 und weniger von einer geistigen Behinderung spricht.

Nicht einmal unser Verhalten können wir realistisch einschätzen, obwohl wir das doch eigentlich unter Kontrolle haben könnten. Egal, welche Antwort ein Mensch auf eine moralische Alltagsfrage gibt – man muss nicht glauben, dass er sich auch entsprechend Verhalten wird, sagt