Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das alte "Werde, der Du bist" bestimmt die abendländische Auffassung von der Entwicklung des Menschen bis heute. In der Tiefenpsychologie hat C. G. Jung dieses Prinzip unter der Bezeichnung "Individuation" als psychotherapeutische Leitlinie, aber auch als "Anleitung" für ein selbstbestimmtes, authentisches, jedoch sehr bezogenes Leben formuliert. Ziel ist die "geeinte und einzigartige Persönlichkeit" (Jung). Das Buch erläutert in moderner Sprache Jungs Auffassungen, deren Weiterentwicklungen und philosophischen sowie wissenschaftlichen Fundierungen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 193
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie
Herausgegeben von Ralf T. Vogel
Für Sabine
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Abbildung auf S. 52 aus: Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten. Aus dem Amerikanischen von Karl Koehne. S. 264. © Insel Verlag Berlin 2011.
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-028420-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-028421-0
epub: ISBN 978-3-17-028422-7
mobi: ISBN 978-3-17-028423-4
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine grössere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.
Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C. G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.
Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüsse ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der großen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.
Verena Kast
Geleitwort
Zur Einführung
1 Vorbemerkungen: Die ›Essentials‹ der Analytischen Psychologie C. G. Jungs
2 Einführung in ein individuationsorientiertes Denken
2.1 Erste Entwicklungen des Individuationsgedankens
2.2 Der Individuationsbegriff in der Psychoanalyse Freud’scher Tradition
2.3 Die Individuationsidee in den humanistischen therapeutischen Denkrichtungen
3 Der Individuationsbegriff bei C. G. Jung
Exkurs: Individuation und das Rote Buch C. G. Jungs
4 Individuation und Finalität
5 Individuation und die psychischen Grundfunktionen
6 Die Vereinigung der Gegensätze
7 Der Individuationsweg als Archetyp
7.1 Die Heldenreise
Exkurs: Der Held als Geflüchteter
7.2 Der Pilgerweg
8 Das alchemistische Werk – Die Rolle der Beziehung zum Anderen
9 Die Aufgaben des Individuationsprozesses
9.1 Kindheit und erste Lebenshälfte
Exkurs: Erich Neumanns »Ursprungsgeschichte des Bewusstseins« (1949) als Individuationsleitfaden
9.2 Die klassischen Individuationsanforderungen
9.2.1 Rücknahme der Projektionen
9.2.2 Aufbau und Relativierung der Persona
9.2.3 Die Schattenarbeit
9.2.4 Entwicklung der Inneren Begleiter
9.2.5 Ablösung von unbewusst-kollektiven Motiven
9.2.6 Arbeit an und mit den Komplexen
9.2.7 Konfrontation mit dem Tod
9.3 Der Individuationsprozess und die existenziellen Themen des Menschseins
9.4 Das Opfer und die Notwendigkeit der Krise
9.5 Das Bemühen um die Transzendente Funktion
10 Individuation und chinesische Philosophie
11 Das Selbst ist und bestimmt das Ziel
12 Symbole des Individuationsprozesses
13 Lebensphasen und Lebensaufgaben
14 Individuation und Lebenssinn
15 Die (Krise der) Lebensmitte und die zweite Lebenshälfte
16 Hindernisse im Individuationsverlauf – Abwehr und klinische Krankheitstheorie
17 Persönliche Entwicklung und soziale Entwicklung
17.1 Ausbildungsinstitute individuationstheoretisch betrachtet
17.2 Individuation und Supervision
18 Affekte des Individuationsprozesses
18.1 Individuation und Authentizität
19 Individuation als klinisch-psychologischer Begriff
19.1 Individuation als therapeutische Prozesstheorie
19.2 Wandlung statt Veränderung
19.3 Achtsamkeit und Aufmerksamkeit
19.4 Methoden der Individuation
20 Individuation und Zeit
21 Das Individuationskonzept als Spiritualität in der Psychotherapie
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenverzeichnis
Das vorliegende Buch bezweckt die Vermittlung der Individuationstheorie der Analytischen Psychologie für die therapeutische Praxis und ist Teil der Reihe ›Analytische Psychologie in der Psychotherapie‹, in der die Grundkonzepte der von dem Schweizer Psychiater und Psychologen C. G. Jung (19875–1961) entwickelten und seither beständig fortgeschriebenen ›Analytischen Psychologie‹ in kompakter und praxisnaher Form dargestellt werden. Dabei wird deutlich werden, dass jedes dieser Grundkonzepte seinen Platz im Individuationsgedanken (lat. individuare, sich untrennbar bzw. unteilbar machen, aber auch sich unterscheidbar, einzig machen) Jungs findet. Dieser Individuationsgedanke bildet also quasi eine die Jung‘sche Psychologie vereinigende ›Überschrift‹ über die einzelnen, von seinem Begründer im Laufe seiner langen Schaffenszeit ausgearbeiteten Einzel-Theorien. Jung selbst hielt den Individuationsgedanken für das Herzstück seiner Psychologie. Seine wichtigsten Schülerinnen (vgl. z. B. Jacobi 1971, S. 13) und zahlreiche moderne Jungianer folgen ihm und sehen in ihm »das zentrale Konzept der Jung’schen Psychologie« (Schnocks 2013, S. 11).
Das Individuationskonzept C. G. Jungs ist, wie sich zeigen wird, eine komplexe philosophisch-psychologische Theorie. Als solche ist sie, folgt man auch nur ansatzweise einer skeptischen Erkenntnistheorie, empirisch nicht letztgültig verifizierbar, sondern unterliegt vielmehr den geisteswissenschaftlichen Beurteilungskriterien. Allerdings ist es umgekehrt möglich, einzelne Bestandteile der Theorie einer forscherischen Untersuchung zu unterziehen. Wenn auch nicht ausdrücklich aus jungianischer Perspektive entwickelt, gibt es doch in den akademischen Forschungsbereichen v. a. der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften immer wieder Forschungsvorhaben, die sich, oft ohne es zu wissen oder gar zu benennen, mit Teilaspekten der Individuationstheorie befassen. Es würde den vorgegebenen Rahmen dieser Schriftreihe übersteigen, wollte man hierzu eine vollständige Auflistung geben. Allerdings wird der aufmerksame Leser feststellen, dass an unterschiedlichen Stellen Hinweise auf ganz ›klassisch‹-empirische Untersuchungen gegeben werden, die sich auf den jeweiligen Aspekt des Individuationsgedankens beziehen. Ergänzend zur Informationsgewinnung soll dadurch auch auf die Anschlussfähigkeit des Individuationskonzeptes an die modernen akademischen Mainstream- Wissenschaften hingewiesen werden.
Die neben ihrer Wissenschaftlichkeit zweite Notwendigkeit für eine psychologische Theorie, die praktische Anwendbarkeit derselben, soll im vorliegenden Band ebenfalls ausdrücklich berücksichtigt werden. Hierzu werden die theoretischen Aussagen v. a. in den für die Psychotherapie unmittelbar relevanten Kapiteln durch anonymisierte Fallvignetten der tiefenpsychologisch fundierten Behandlung eines Patienten, Herrn Z., ergänzt. Falldarstellungen haben v. a. in der Geschichte der Psychoanalyse eine lange Tradition, ja gelten sogar bisweilen als der ›Königsweg‹ zur Entwicklung oder zumindest Veranschaulichung einer therapeutischen Methode. Als wissenschaftliches Instrument haben sie im Zuge der Mathematisierung psychologischer Forschung ungerechtfertigterweise zunehmend an Bedeutung verloren. Als Methode, darzustellen, was mit theoretischen Erwägungen nun genau gemeint ist, haben sie aber nach wie vor größten Stellenwert. In letzteren Zusammenhang sind auch die nun hier zur Verfügung gestellten anonymisierten Fallvignetten einer Behandlung (formal als tiefenpsychologische Langzeittherapie mit 62 Behandlungsstunden) eines Anfang 50-jährigen Mannes mit infauster organischer Prognose gestellt. Sie werden immer dann eingefügt, wenn ein abstrakter Theoriebaustein dadurch konkreter und praxisnaher gefasst werden kann.
Herr Z. war bei seinem ersten Gesprächstermin 52 Jahre alt, verheiratet und ein stark engagierter Oberarzt der orthopädischen Abteilung einer kleinen Landklinik. Seit mehreren Jahren kämpfte er bereits um seine körperliche Gesundheit, nachdem nach einem Leberversagen eine Lebertransplantation erfolgte. Dieses Organ wurde aber abgestoßen, eine zweite Transplantation erfolgte. Nun war seit einigen Monaten klar, dass auch dieses Organ nicht von seinem Körper adaptiert wurdeund damit sein Lebensende nach Ansicht aller ihn behandelnder Ärzte absehbar wurde.
Immer wieder haben jungianische Analytiker darauf hingewiesen, dass das Werk Hermann Hesses, der ja sowohl bei einem Schüler Jungs, Josef Bernhard Lang (1881–1945), als auch bei diesem selbst Rat und Hilfe suchte (Feitknecht 2006), auch als eine literarische und gestalterische Bebilderung der jungianischen Theorie zu betrachten ist (z. B. Rasche 2003). Die den einzelnen Kapiteln vorangehenden kurzen Ausschnitte aus verschiedenen Werken Hesses sollen dem dienen und vielleicht auch etwas von der ›Stimmung‹ vermitteln, welche die in einem solchen Lehrbuch eher etwas sachlich-nüchtern daherkommenden Theoriekonzepte auch beinhalten. Sie stammen größtenteils aus dem Sammelbändchen Hermann Hesse: Leben ist Werden (2008), in dem bereits viele für unseren Gegenstand relevante Aussagen aus dem Gesamtwerk Hesses zusammengetragen sind.
Schließlich sei noch auf die durchgängig männliche Schreibweise in diesem Text hingewiesen, die der einfachen Lesbarkeit geschuldet ist, in der Hoffnung, weibliche Leserinnen dadurch nicht zu verärgern.
C. G. Jung schuf im Laufe seines schöpferischen Lebens ein psychologisch-philosophisches Denkgebäude, das, nach anfänglichen Versuchen auf naturwissenschaftlichen und experimentalpsychologischen Feldern, zu einem umfassenden geisteswissenschaftlichen System mit grundlegenden kultur-, religions- und geschichtswissenschaftlichen Ansätzen sowie sozialwissenschaftlichen und psychotherapeutischen Anwendungsformen derselben heranwuchs. Mit welchen Überschriften oder Kernbegriffen diese Tiefenpsychologie (hier verstanden als eine Psychologie mit herausragender Beachtung unbewusster dynamischer Prozesse) am besten und prägnantesten zusammenfassend beschrieben werden kann, ist innerhalb der Community der Analytischen Psychologie (also derjenigen tiefenpsychologischen Schulrichtung, die sich ableitet aus den Konzepten Jungs und seiner unmittelbaren Schüler) nicht eindeutig beantwortet, und auch die Frage, ob die Analytische Psychologie (wie etwa im Krankenkassensystem der Bundesrepublik Deutschland) der Psychoanalyse zuzuordnen ist oder ob sie nicht vielmehr eigenständig daneben steht, ist weltweit beständig in Diskussion.
Auszugehen ist bei der Frage nach dem, was eine therapeutische Denkrichtung im Endeffekt wirklich ausmacht – von ihrem zugrundeliegenden Menschenbild. Von Jung und zahlreichen seiner Nachfolger wird hier die Annahme eines Unbewussten mit tiefen, kollektiven Schichten genannt, das sich dem Bewusstsein gegenüber weitgehend autonom verhält und eine gewisse Dynamik aufweist. Dazu gehört, dass die Analytische Psychologie mit einem als letztlich unwissbar und damit auch unmessbar, geheimnisvoll, mit den Begriffen des Numinosen und der Opazität umschriebenen seelischen Innenraum rechnet, was auch als das ›Fremde‹ oder ›Andere‹ in uns benannt wird. An anderer Stelle (Vogel 2016) wurde auf dieser Grundlage folgender Vorschlag zur Formulierung solcher ›Essentials‹ gemacht, in die das hier vorzustellende Individuationskonzept eingebettet ist.
Die Kernbegriffe der Analytischen Psychologie sind demnach
• Das Konzept eines geschichteten, dynamischen Unbewussten und der Archetypen als die Inhalte der kollektiven, unbewussten Regionen
• Das Konzept des Selbst als das regulierende Zentrum des menschlichen Daseins und seiner Beziehung zum bewussten ›Ich‹
• Die sog. ›Typologie‹, also die Sicht des Menschen als ein Wesen mit komplementären psychischen Funktionen, die den Blick auf sich selbst und die Anderen bestimmen
• Das Finalitätsprinzip als ein Verständnis der menschlichen Entwicklung als zielgerichteter und sinnhafter Prozess
• Das Individuationskonzept
Spätestens seit dem Philosophenarzt und Maler Carl Gustav Carus (1789–1869) und den Einflüssen der Romantik auf das menschliche Bemühen, sich selbst zu verstehen, gilt die Psychologie v. a. in tiefenpsychologischen Kreisen als eine »Wissenschaft, die sich mit den Werdensprozessen der Seele beschäftigt« (Wehr 1996, S. 21). Jung selbst bezeichnete seine wissenschaftlichen Werke als »lediglich Nebenprodukte eines persönlichen Individuationsprozesses« (Jung in Hinshaw und Fischli 2003, S. 252) und ordnete seine wichtigsten wissenschaftlichen Konzepte diesem zu. Aber auch außerhalb der Jung‘schen Community wird der Individuationsbegriff zuallererst Jung zugeschrieben (z. B. im Duden), obwohl sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psychologie vielfältige weitere Bedeutungsfacetten zu finden sind, die mit der Sichtweise der Analytischen Psychologie nichts mehr zu tun haben.
Gleichzeitig kann Jungs Gesamtwerk aber eben auch als kreativer Ausdruck seines eigenen Individuationsprozesses gelesen werden. So wie die anderen Kernbegriffe Jungs ist auch der Individuationsgedanke keine primär klinisch-psychologische Theorie. Sie ist vielmehr eine empirisch belegbare und philosophisch-geisteswissenschaftlich begründbare Sicht auf das Wesen des Menschen im Sinne einer tiefenpsychologischen Grundlagentheorie/-philosophie. Aus ihr lassen sich sekundär Anwendungen entwickeln, etwa im Bereich der Kulturtheorie, der Sozialwissenschaften oder, wie in unserem Falle, der Psychotherapie.
Zu keinem der oben genannten Essentials hinterließ C. G. Jung eindeutige, erst recht nicht lehrbuchartige Werke. Auch der Individuationsbegriff wurde von ihm in gewisser Weise inkonsistent entwickelt und dargestellt. Dies gilt, obwohl durchaus Texte wie etwa das zweite Kapitel des 1916 verfassten Büchleins ›Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten‹ (Jung 1916, GW Bd. 7) oder der reich bebilderte Aufsatz ›Zur Empirie des Individuationsprozesses‹ (Jung 1950, GW Bd. 9/1) zu den empfehlenswerten ›Klassikern‹ Jung‘scher Individuationsdarstellungen zählen (die Literaturangaben zu Jungs Werk beziehen sich immer auf die Sonderausgabe der Gesammelten Werke im Walter Verlag). Vielmehr müssen seine theoretischen Konzepte aus vielen Abschnitten, Kapiteln und Einzelaussagen unterschiedlicher Bände des gewaltigen Gesamtwerks herausgeschält und zu einem weitestgehend einheitlichen Konzept zusammengefügt werden. Hinzu kommt, dass Jung auch bzgl. des Individuationsgedankens im Verlauf seiner persönlichen Entwicklung zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Betrachtungsschwerpunkte setzte und manchmal sogar fast gegensätzliche Formulierungen benutzte. Diese breite, von Jung durchaus anerkannte und gutgeheißene Heterogenität vieler seiner zentralen Begriffe führte bereits in der zweiten Generation der Jungianer und erst recht bis in die heutige Zeit hinein zu verschiedenen Anwendungs- und Darstellungsweisen der Individuationstheorie im deutschsprachigen, aber auch im angloamerikanischen Raum. Die Bandbreite der Begriffsverwendung geht dabei von der Nutzung des Individuationsgedankens als Nachweis der spirituellen, ja mystischen Grundausrichtung Jungs auf der einen bis hin zur Operationalisierung des Individuationskonzepts als psychotherapeutische Prozesstheorie auf der anderen Seite.
Der Wandlungsaspekt schließlich ist dem Individuationsprinzip bei- und begriffshierarchisch untergeordnet. Der Individuationsprozess folgt nicht einer linearen, schrittweisen Veränderung, sondern geschieht in (Lebens-)»Stadien« von Progression und Regression, Fließen und Stagnation (Jacobi 1971), in Wandlungsphasen, die den Prozess wiederum vorantreiben. Wandlung ist so betrachtet die praktische ›Funktionsweise‹ der Individuation und hat damit gerade für die psychotherapeutische Umsetzung der Individuationsidee eine besondere Bedeutung.
»Leben ist Werden«
H. Hesse
Im Folgenden sollen überblicksartig und ausgehend von ihren klassischen Vorläufern die wichtigsten in der Psychotherapielandschaft zu findenden Konzepte menschlicher Individuation aufgeführt werden, um in einem nächsten Schritt die genuin jungianische Sichtweise darauf beziehen und davon abheben zu können.
Das wahrscheinlich von dem klassisch-griechischen Dichter und Philosophen Pindar (ca. 520–446 v. Chr.) erstmals formulierte und von Friedrich Nietzsche gern adoptierte genoio, hoios essi – ›Werde, der/die du bist‹ – ist bis in die heutige Zeit in der Entwicklung der abendländischen Philosophie ein zentraler Terminus geblieben. Es ist »eine der klassischen und archetypischen Aussagen der Denker aller Zeiten« (Bucay 2015, S. 77) und gleichzeitig die wohl kürzeste Zusammenfassung des Jung‘schen Individuationsgedankens. Kenner des klassischen Altertums weisen allerdings darauf hin, dass der Satz von Pindar wohl so verstanden werden müsse, dass er den angesprochenen Fürsten damit auffordere, so zu werden wie Pindar gesagt habe, dass er tatsächlich sei (z. B. Thummer 1972). Damit ist bereits auf die Gefahr hingewiesen, dieses Ideal und damit auch die gesamte Individuationsidee normativ zu missbrauchen, indem der eine wisse, wie der andere werden solle, wie der »Individuierte« denn letztendlich sein solle. Übersetzt von Friedrich Hölderlin heißt es in Pindars zweiter pythischen Ode: »Werde der du bist erfahren« (Beißner 1974). Hier zeigt sich bereits die Nähe zu einem zweiten, v. a. in der Psychoanalyse häufig strapazierten Aphorismus, dem gnothi seauton, – ›erkenne dich selbst‹ – des delphischen Tempels. Zu werden, der man ist, setzt also schon lange vor Sigmund Freud (1856–1939) einen Erkenntnisakt voraus und formuliert längst vor Alfred Adler (1870–1937) und C. G. Jung die menschliche Entwicklung als nach vorne und auf ein Ziel hin ausgerichtet. Individuation als ›Werde, der/die du bist‹ setzt voraus, dass es etwas in uns gibt, das werden soll. Sie verläuft, so verstanden, nicht in irgendeine x-beliebige Richtung. Im Griechischen kennt man den Begriff der Entelechie, der übersetzt werden könnte als das ›in sich selbst zu findende Ziel‹ und der bereits deutliche Anklänge an moderne Vorstellungen von Selbstverwirklichung birgt. »Es ist das uns aufgetragene Wesen, das wir geheimnisvoll, keimhaft als ein unentfaltetes Bild in uns tragen« (Froboese 1956, S. 136) und Jungs dazu passende Auffassung, der Mensch solle zu dem bestimmten »Einzelwesen« werden, »das er nun mal ist« (GW Bd. 6 § 827; Bd. 7 § 267), stellt das Gegenteil einer (post-) modernen ›anything goes‹-Beliebigkeit dar. Die moderne Philosophie greift an vielen Stellen auf Pindars Mahnung zurück. So trägt etwa Nietzsches epochale wie umstrittene Selbstdarstellung ›Ecce homo‹ aus dem Jahr 1889 den Untertitel ›Wie man wird, was man ist‹, Martin Heidegger zitiert den Spruch in seiner Schrift ›Was ist Metaphysik‹ aus dem Jahr 1929 und der französische Existenzialismus greift Pindars Grundgedanken in seiner Konzeption einer anzustrebenden maximalen menschlichen Authentizität wieder auf ( Kap. 2.3, 9.3 und 18.1). Die prominente Jung-Schülerin und -Vertraute Jolande Jacobi (1890–1973) wies in der ersten deutschsprachigen Monographie zur Individuationsidee (1971) ebenso darauf hin, dass in der europäischen Geistesgeschichte bereits viele Gedanken von Jungs Individuationsvorstellungen vorweggenommen wurden.
Bei nicht wenigen zeitgenössischen Autoren der Soziologie und Philosophie finden sich zu Recht skeptische Gedanken zu einem zum postmodernen Leistungszwang verkommenen ›Werde, der du bist‹. Zu nennen ist hier v. a. Alain Ehrenberg (2008), der v. a die Depression in der Folge dieses Zwanges sieht, sowie Byung Chul Han (2015) und seine Rede von der »Last des spätmodernen Imperativs« […] man »selbst sein zu müssen« (S. 50). Dass diese einleuchtenden Gesellschaftsanalysen nicht direkt auf den Individuationsbegriff der Analytischen Psychologie anwendbar sein können, wird spätestens dann klar, wenn wir den damit gemeinten Prozess u. a. als Ausdruck von Spontaneität und Folge eines ›Tuns im Nicht-Tun‹ beschreiben (vgl. v. a. Kap. 19).
Zusammenfassend hat das individuationsbestimmende ›Werde, der/die du bist‹ also mehrere für die Entwicklung einer psychologischen Theorie – und als solche wird das Individuationskonzept hier verstanden – relevante Implikationen. Die Aufforderung ›Werde, der/die du bist‹ beinhaltet
• Es gibt jemanden, der/die man im tiefsten Innern ist.
• Wer man (eigentlich) ist, ist nicht beliebig.
• Es gibt eine ›Uneigentlichkeit‹ (Unechtheit, Unauthentizität, ›falsches Selbst‹).
• Man kann erkennen, wer man (eigentlich) ist.
• Es ist nötig, sich in diese Richtung zu entwickeln.
• Es ist möglich, sich in diese Richtung zu entwickeln.
In psychologischer Sprache ist hier oft die Idee eines ›Wahren Selbst‹ oder eines unverfälschten Selbstkerns ( Kap. 11) gemeint, der sich vom bewusst gelebten und erfahrenen Ich unterscheidet und der zudem jeden Einzelnen von allen anderen unterscheidet und konkret und einzigartig macht. Das Individuationskonzept Jungs erhebt den Anspruch, einen Weg aufzeigen zu können zu einer solchen Eigentlichkeit, zu einem ›Wahren Selbst‹ (ein Begriff, der in jungianischen Zusammenhängen weiter gefasst wird als in der populären Sicht des Psychoanalytikers und Zeitgenossen Jungs D.W. Winnicott (1886–1971)). Hier kommt also die Bedeutung des alten, spätestens seit Aristoteles die Philosophiegeschichte begleitenden und auch von Arthur Schopenhauer (1788–1860) wieder aufgegriffenen principiumindividuationis zum Tragen. Es geht um die Frage, wie der/das Einzelne zustande kommen kann, um die Art und Weise der Unterscheidung der Dinge voneinander, die diese dann als einmalig definiert, die in der Scholastik des Mittelalters dann zu komplexen systematischen Überlegungen führte. Schopenhauer, der auf Jung erheblichen Einfluss ausübte, kritisiert kurz gesagt die in der Philosophie vorherrschende Konzeption der Individuation als Entwicklung von Einzelwesen aus einer Grundgesamtheit und weist, entsprechend seiner Affinität zur indischen Philosophie, auf die notwendige Erkenntnis der der Vielheit immer zugrundeliegenden Einheit hin (Schopenhauer 1918). Das »Werde, die/der du bist« würde so auch zu einer Erkenntnis der Zugehörigkeit, zu einer allumfassenden Ganzheit (ein Begriff, der im vorliegenden Buch immer als Potenzialität verstanden werden will).
Die theologische Diskussion geht in diesem Zusammenhang aus vom »unverfälschten und unversehrten Bild […], das Gott sich von jedem von uns gemacht hat« (Grün 2014, S. 33) und dem wir nahekommen sollten. Dieses Bild ist immer einzigartig und kann nicht durch Imitation erreicht werden. So auch Jung, wenn er meint, bei der Individuation handelt es sich nicht um eine Art »einer gesuchten Besonderheit, sondern einer Besonderheit, die a priori schon in der Anlage begründet ist« (Jung 1921 GW Bd. VI, § 747).
Der französische Philosoph Jean Paul Sartre (1905–1980) kam in einigen seiner existenzialistischen Grundaussagen dem Jung‘schen Individuationsdenken in Teilen recht nahe (Vogel 2013), war aber durchaus skeptisch in Bezug auf das ›Werde, der/die du bist‹, da man nur der werden könne, der man noch nicht ist… (Thomä 2016). Der postmodernen Hinterfragung folgend, sind heute auch viele Psychotherapeuten und analytische Psychologen zurückhaltend bzgl. eines Individuationsbegriffes, der so etwas wie Bestimmung, ein vorgegebenes Schicksal, ein steuerndes Selbst annimmt (Jung 1934, GW Bd. 17, § 300), auch wenn dieses Ganzheitsziel, wie hier vertreten, lediglich als Möglichkeitsraum im Menschen schlummert. Die vielgenannte ›postmoderne Beliebigkeit‹ und die Idee des intersubjektiv gebildeten, multidimensionalen und multioptionalen Selbst vertragen sich nicht mit der von Jung aus der Antike abgeleiteten Individuationskonzeption: »Die in der modernen Psychologie des Selbst klar dominierende Gegenmeinung besagt, dass es dieses ›Werde, der du bist‹ gar nicht gibt, sondern dass es sich dabei um ein Narrativ handelt, das dazu diene, der subjektiven Biographie innere Plausibilität einzuhauchen und sie dadurch erst aushaltbar zu machen. Es bilde sich, so das moderne Verständnis, aus einem Verlangen nach Selbstkohärenz und diene der Abwehr drohender Desintegriertheit« (Wolf 2016, S. 166).
Es ist nun wichtig, bereits hier im Eingangskapitel zu betonen, dass dieser modernen, vorherrschenden Sichtweise auf das Selbst und seine Individuation in diesem Buch nicht gefolgt wird. Wie so oft ist das an den antiken philosophischen Vorbildern ausgerichtete Denken der Analytischen Psychologie auch hier gesellschafts- und kulturkritisch zu nutzen. »Es macht schließlich einen nicht unerheblichen Unterschied, ob wir uns, sofern wir hierüber aufgeklärt sind, im Leben von einem provisorischen ›Narrativ‹ geleitet fühlen, an dem wir fortwährend herum redigieren oder von einem unhintergehbaren ›inneren Bestimmtsein‹« (ebd., S. 167).
Es ist hier allerdings nicht der Ort, die verschiedenen und weitgefächerten philosophischen bzw. theologischen Rezeptionen und Weiterentwicklungen des individuationsleitenden ›Werde, der/die du bist‹ darzustellen. Vielmehr soll das bisher Gesagte genügen, nachzuweisen, dass wir es bei dem Individuationsgedanken mit einer grundlegenden, in der abendländischen Philosophie und Geistesgeschichte tief verankerten Idee zu tun haben, wir also einmal mehr ›klinische Philosophie‹ (Yalom 2005, S. 45) betreiben, wenn wir uns vonseiten der Tiefenpsychologie und seiner psychotherapeutischen Anwendungen her damit befassen.
Das ›Werde, der/die du bist‹ –Prinzip, im Englischen schön als ›becoming the person you are meant to be‹ ausgedrückt, ist in der psychotherapeutischen Literatur, i. e. S. spätestens nach dem Aufkommen humanistischer Therapieverfahren, fast schon altmodisch-abgegriffen, enthält aber, wie wir sehen werden, trotzdem einiges an psychotherapeutischer Brisanz. Bevor wir uns Jungs Vorstellungen im Einzelnen zuwenden, soll in den folgenden Kapiteln überblicksweise die Nutzung und der Stellenwert des Individuationsbegriffes in den anderen therapeutischen Schulrichtungen dargestellt werden, wobei innerhalb der Verhaltenstherapie der Individuationsgedanke quasi nicht relevant zu sein scheint.