Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Psychotherapeutische Praxis und ihre wissenschaftliche Erforschung müssen sich mit dem letztendlich unfassbaren, unverfügbaren, prinzipiell geheimnisvoll bleibenden Charakter des menschlichen Seelenlebens auseinandersetzen. Ausgehend von drei grundlegenden Säulen moderner Psychotherapie, der integrativen Idee, der Idee eines psychotherapeutischen Common Ground im Sinn einer Fokussierung auf existenzielle Themen in der Psychotherapie sowie der psychodynamischen Psychotherapie in Gestalt der Analytischen Psychologie, werden erkenntnistheoretisch grundlegende Eigenschaften einer zeitgemäßen Psychotherapiewissenschaft herausgearbeitet. Das Buch will aufzeigen, dass die Akzeptanz der Unmöglichkeit einer abschließenden Erkenntnisgewissheit bezüglich des Seeleninnenraums nicht das Ende einer wissenschaftlichen Psychotherapie bedeutet, sondern im Gegenteil kreative Wissenschaft inspirieren kann.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 243
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Cover
Titelei
Geleitwort
Einige Worte vorab
1 Einleitung
2 Die psychotherapeutischen Schulrichtungen und ihre praktischen und wissenschaftlichen Konsequenzen
2.1 Das Strukturmodell der Psychotherapieschulen
2.2 Psychotherapeutische Wissenskulturen
2.3 Inter Mundus: Aufenthalt zwischen den Wissenskulturen
2.4 Integrative Psychotherapie
2.5 Therapeutische Identität
3 Die Tiefenpsychologische Perspektive
3.1 Das Beispiel: Die Analytische Psychologie in der Nachfolge C. G. Jungs
3.2 Die menschenbildlichen Grundlagen der Analytischen Psychologie und ihre erkenntnistheoretischen Implikationen
3.3 Das Geheimnis
3.3.1 Opazität als psychotherapiewissenschaftliches Grunddatum
3.3.2 Zwei Beispiele: Zur Opazität von Selbst und Tod
3.4 Die Folgen des Geheimnisses
3.5 Imaginology
4 Die existenziellen Themen in Theorie und Praxis der Psychotherapie
4.1 Extrakte des Existenziellen
4.2 Die Unlösbarkeit des Todesthemas
4.3 Die Existenziellen Themen als »Common Base« der Psychotherapieschulen
4.4 Aporetik als psychotherapiewissenschaftliches Grunddatum
4.5 Von der Kunst lernen
5 Schlussfolgerungen: Opazität und Aporetik und die psychotherapeutischen Wissenskulturen
5.1 Psychotherapiewissenschaftliche Destillate
5.2 Eine skeptische Psychotherapiewissenschaft der Fraglichkeit
5.3 Psychotherapiewissenschaft als »Supra-Wissenskultur« zwischen den psychotherapeutischen Wissenskulturen
5.3.1 Grundsätzliches: Der/Die PsychotherapiewissenschaftlerIn als kritische/r HermeneutIn
5.3.2 Forschungslogische Nähe
5.4 Psychotherapiewissenschaft als wiederum eigenständige Wissenskultur
5.4.1 Ansätze einer psychotherapiewissenschaftlichen Forschungsmethodik
5.4.2 Der Stellenwert positivistischer Forschung
5.4.3 Einige Konsequenzen für Ausbildung und Praxis
5.5 Zusammenfassung
Literatur
Stichwortverzeichnis
Der Autor
Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut. Er habilitierte im Fachbereich Psychotherapiewissenschaften an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien und ist Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Ralf T. Vogel ist Lehranalytiker, u. a. am C. G. Jung Institut Zürich. In Ingolstadt arbeitet er in einer Privatpraxis für Psychotherapie und Supervision.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.
1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-044003-6
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044004-3epub: ISBN 978-3-17-044005-0
Psychotherapie und vor allem Psychotherapiewissenschaft sind relativ zu der jahrhundertelangen Historie der Professionen und Wissenschaften sehr junge Phänomene. Darüber hinaus sind sie in oft fataler Weise mit den Professionen und Wissenschaften der Medizin und der Psychologie verbunden. Diese schicksalhaften Bindungen haben zur Folge, dass beide – Psychotherapie und Psychotherapiewissenschaft – nach wie vor heftige und mannigfaltige Kämpfe im Zuge der Entwicklung einer eigenständigen Identität auszutragen haben.
Die Tendenzen, Psychotherapiewissenschaft als Naturwissenschaft oder aber als Humanwissenschaft zu verstehen, sind m. E. ebenso kontraproduktiv wie der Versuch, sie den in Medizin bzw. Psychologie richtungsweisenden Forschungs-Paradigmen und -traditionen anzugliedern. Ralf T. Vogel ist es gelungen, sowohl diesen Dichotomien als auch den hemmenden Faktoren alter Bindungen zu entgehen und neue Perspektiven zu eröffnen.
Thomas S. Kuhn hat in seinen bahnbrechenden Arbeiten zu den Phänomenen wissenschaftlicher Revolutionen, die den seit damals immer wieder beschworenen Begriff der Paradigmenwechsel geprägt haben, die Sozialwissenschaften im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen als »vorparadigmatische« Wissenschaften bezeichnet. Sein Hauptargument für diese These war die Tatsache, dass sich in den Sozialwissenschaften (und zu diesen würde Kuhn auch die Psychotherapiewissenschaft zählen) immer noch mehrere konkurrierende Paradigmen finden, während z. B. in der Physik so etwas wie Paradigmeneinigkeit herrsche. Nun stimmt das, wie wir 2023 wissen (Kuhn schrieb seine Hauptwerke in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts) auch für die Physik keineswegs mehr, wenn man z. B. nur an die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik denkt.
Dieser Umstand ändert aber nichts daran, dass Paradigmengeleitetheit für die Identität einer Wissenschaft von entscheidender Bedeutung ist, vor allem wenn sie formal bereits in den Kanon der akademischen Fakultätenlandschaft offiziell integriert ist. Im Falle der Psychotherapiewissenschaft erfolgte dies erst 2005 durch die Akkreditierung der Sigmund Freud PrivatUniversität, in der sie als eigene Fakultät akkreditiert wurde mit der Möglichkeit, alle akademischen Grade zu erreichen und sich auch in Psychotherapiewissenschaft zu habilitieren. Ralf Vogel ist einer der (noch immer) wenigen PsychotherapeutIinnen und PsychotherapiewissenschaftlerInnen, der sich in dieser neu fakultär verankerten Wissenschaft habilitiert hat.
In den letzten Jahrzehnten haben sich aus meiner Sicht auch unter den in der Psychotherapiewissenschaft Habilitierten nur einige wenige AutorInnen um die Entwicklung einer explizit eigenständigen Identität der Psychotherapiewissenschaft verdient gemacht. Einer dieser AutorInnen ist Ralf T. Vogel.
Das vorliegende Werk bietet einen guten Einblick in das Gesamtwerk Ralf T. Vogels. Seine »skeptische Psychotherapiewissenschaft der Fraglichkeit«, seine Hervorhebung des Narrativs, der kunstbasierten Forschung u. a.m. enthalten viele Ansatzpunkte und Ausgestaltungen für originäre wissenschaftslogische und forschungsmethodische Identitätselemente. Aus paradigmatologischer Perspektive ist ganz besonders hervorzuheben, dass er mit der Paradigmenkonstellation Opazität-Ambiguität/Polysemie/Numinosität-Aporetik seinen ganz eigenen Beitrag zur Paradigmenlandschaft der Psychotherapie und der Psychotherapiewissenschaft geleistet hat, der bis in die erkenntnistheoretische Paradigmenebene hinein unser Verständnis davon, was psychotherapeutisches und psychotherapiewissenschaftliches Denken und Handeln ausmacht, auf lange Zeit maßgeblich bestimmen wird.
Thomas Stephenson
Der Text ist hervorgegangen aus der Habilitationsschrift des Autors mit dem Titel Wieviel können wir wissen? Psychotherapiewissenschaft als Beforschung psychotherapeutischer Grundlagen an, mit und zwischen therapeutischen Schulrichtungen, die 2020 vorgelegt und im Februar 2021 an der SFU Wien im Fachbereich Psychotherapiewissenschaft angenommen wurde, und enthält weite Teile derselben.
Dass dieses Buch und zuvor schon die ihm zugrundeliegende Habilitationsschrift zustande kam, war in keiner Weise selbstverständlich und lag auch nicht in der sonstigen Schreibroutine des Autors. Dass es dann glücklicherweise doch so weit kam, verdanke ich einigen maßgeblichen Personen. Da ist als Erstes meine Lebensgefährtin Sabine Schöpfel zu nennen, die vor und während der »Corona-Zeiten« neben ihren nicht unerheblichen Aufgaben des Alltags nun auch noch einen nicht mehr ganz taufrischen Habilitanten zu managen hatte, dessen energetisches Potenzial, wie sollte es anders sein, von ebendieser Arbeit schwer in Turbulenzen gebracht wurde, und die mit Kraft, Geduld und Kreativität am Werk Anteil nahm. Als Zweites ist da mein Freund Klaus Reichelt, der die anstrengende Arbeit auf sich nahm, sich in ein ihm weitgehend unbekanntes wissenschaftliches Feld einzuarbeiten und der während der Erstellung des Textes durch zahlreiche inspirierende Gespräche und schließlich als Korrekturleser seinen nicht unerheblichen Beitrag dazu geleistet hat.
Auch Prof. Dr. Thomas Stephenson, dem jetzigen Leiter des Departements Psychotherapiewissenschaft Linz gebührt Dank, denn seit dem ersten Zusammentreffen mit ihm am Rande einer internationalen Tagung in Wien wirkte er motivierend und wegweisend. Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Verlagsleiter des Kohlhammer Verlags, ist ein weiterer Motivationsschub zu verdanken, als er in einem zoom-Gespräch spontan seine Bereitschaft äußerte, ein im Vergleich zu den sonstigen Büchern des Autors doch ungewöhnliches und nicht auf den ersten Blick eingängiges Werk in das Sortiment aufzunehmen. Schließlich waren es aber auch die zahlreichen LeserInnen der bisherigen Bücher und die vielen TeilnehmerInnen an Vorlesungen und Seminaren zu ganz unterschiedlichen Anlässen, deren Rückmeldungen, Fragen und Anregungen den Ausschlag gaben, die bisher doch recht heterogen daherkommenden Schwerpunkte des Autors auf ihre gemeinsamen Grundlagen und den ihnen vorausgehenden Grundannahmen und Basistheoreme zu durchforsten und daraus ein Ganzes zu machen.
Ihnen allen sei hier ein großer Dank ausgesprochen und ihnen allen sei dieses Buch zugetan!
Science is a heavy loaded Symbol.Sonu Shamdasani1
Der wissenschaftliche Zugang zur Psychotherapie ist im akademischen Sektor dominiert von einem positivistischen, naturwissenschaftlich-statistisch ausgerichteten Wissenschaftsverständnis. Es handelt sich, in der Terminologie des modernen Gesellschaftsdiskurses, um eine hegemoniale Vormachtstellung, die Diversität und Pluralität bremst oder gar verhindert. Der vorliegende kompakte Band möchte eine komplementäre, vielleicht auch alternative Sicht anbieten, die sich zum einen philosophisch-geisteswissenschaftlich, dann aber auch genuin psychotherapiewissenschaftlich positioniert und diese als eigenständige wissenschaftliche Disziplin entwickelnde Sicht anbieten. Die zentralen Thesen des Textes stellen quasi die erkenntnistheoretische Quintessenz der bisherigen Veröffentlichungen des Autors dar, auf die in den Fußnoten immer wieder verwiesen wird, deren Kenntnis jedoch nicht Voraussetzung zum Verständnis dieser Thesen ist.
Die heutige Psychotherapie und ihre Wissenschaft wird also in kritisch-erkenntnistheoretischer Manier betrachtet, denn »Wissenschaft, das zeigt sich [...] im Abstand von einhundertfünfzig Jahren, kommt nicht aus mit der Verfeinerung bestehender Theorien und der Erweiterung von Wissensbeständen, sondern sie muss sich auch immer auf ihre Grundlagen hin befragen lassen, ihre versteckten Mythologien«2.
Der vorliegende Text erarbeitet Spezifitäten des Faches Psychotherapie als Behandlungs- und Forschungspraxis und setzt diese in Beziehung zu einer sich dieser Spezifitäten gewahren Psychotherapiewissenschaft. Es wird dabei ein grundsätzlich theoretischer Zugang gewählt, der sich auch empirischer Erkenntnisse, jedoch nicht primär in beweisender, sondern in darstellender, heuristischer und amplifizierender Weise bedient. Die Methode dieser Arbeit ist damit gleichzeitig schon ein Beispiel für das für eine aktuelle Psychotherapiewissenschaft schließlich vorgeschlagene Forschungsverfahren. Dazu werden die vom Autor bisher bearbeiteten Schwerpunkte in drei große, zunächst weitgehend eigenständige Bereiche aufgeteilt. Es sind dies:
1.
Die Betrachtung der psychotherapeutischen Schulrichtungen und ihrer Verhältnisse zueinander
2.
Die tiefenpsychologische Sicht (als Exempel)
3.
Die Existenziellen Themen in Theorie und Praxis der Psychotherapie
Es wird sich zeigen, dass diese drei primär recht heterogen erscheinenden Blickwinkel auf die psychotherapeutische Landschaft zu gemeinsamen und für die Psychotherapiewissenschaft brauchbaren Schlussfolgerungen zu entwickeln sind. V. a. die genaue Betrachtung der in den unterschiedlichen psychotherapeutischen Denkschulen genutzten Konzepte und Begriffe in ihrer Vergleichbarkeit, Definierbarkeit ja Erkennbarkeit, wird hier einen roten Faden bilden. Die Kant'sche Grundfrage, was denn eigentlich überhaupt zu wissen ist, wird, in leicht vereinfachter Form und auf die Grundlagen der Psychotherapie beschränkt, gestellt, aber nicht, wie bei ihm auf a priori gegebene, erkenntniseinschränkende Kategorien des Denkens bezogen. Alle drei genannten psychotherapeutischen Kernthemen erweisen sich bei genauer Analyse als um diese zentrale wissenschaftstheoretische Frage nach dem überhaupt Erkenn- und Wissbaren kreisend. In einem abschließenden Kapitel werden deshalb die Konsequenzen aus den drei Themenfeldern zusammengefasst und auf die Entwicklung einer zeitgemäßen Psychotherapiewissenschaft bezogen.
1Vortrag in Zürich 2023
2Lehnert 2020, S. 188
Kulturgeschichtlich ist der Psychotherapiebegriff mehr als 1.000 Jahre alt. Die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende explizite Formulierung einer Psychotherapie3 mit ihrer Ableitung aus dem altgriechischen ursprünglichen Bedeutungsfeld von »Hauch«, aber auch »Seele« (gr. psychḗ)4 sowie »Sorge tragen« und »pflegen«5 (gr. therapeúein) jedoch ist der Ausgangspunkt einer in der Wissenschaftsgeschichte wohl einzigartigen Entwicklung einer neuen Disziplin ohne eine bereits von Anfang an bestehende Zuordnung zu den herkömmlichen Fakultäten (auch wenn v. a. die Medizin und die Philosophie hier immer wieder die Herrschaftsrechte anstreben). Sowohl in Weiterentwicklung der ersten therapeutischen Ansätze im Wien der vorletzten Jahrhundertwende wie auch als Entwicklung ganz anderer, sehr heterogener intellektueller Zugänge zum Menschen und seinem Leid, differenzierte sich die psychotherapeutische Szene in eine inzwischen kaum mehr überschaubare Vielfalt. Eine psychohistorische Aufbereitung der Entwicklung hinein in diese Heterogenität ist hier nicht das Anliegen.6 Wir betrachten vielmehr den in diesem Diversifizierungsprozess auftretenden Terminus der therapeutischen Schulrichtung in seinen aktuellen Konnotationen. Der Begriff der therapeutischen Schule ist, so kann angenommen werden, über dessen Verwendung in der antiken Philosophie7 in den modernen Sprachgebrauch eingeflossen. So muss man wohl durchaus davon ausgehen, dass auch in anderen akademischen Bereichen Schulenbildungen zu finden sind und dass sogar einzelne Bereiche naturwissenschaftlicher Disziplinen wie etwa die Chirurgie eine gewisse schulenformende »stabile Heterogenität« in grundlegenden Auffassungen aufweisen. Es ist dies alles aber wohl im psychotherapeutischen Bereich besonders prägnant ausgeprägt auffindbar. Die Strukturierung der Psychotherapielandschaft in einzelne Schulrichtungen ist seit Jahrzehnten zunächst seitens der Psychoanalyse, dann v. a. aus dem Lager der akademischen Psychologie einer enormen und anhaltenden Kritik ausgesetzt, die nicht selten in ein Plädoyer für deren völlige oder de facto Abschaffung und den Aufbau einer Einheitspsychotherapie mündet. Überblickt man die Begründungen für diese Forderungen, so lassen sich diese in drei Hauptkategorien einteilen:
•
Szientistisch-einheitswissenschaftliche Begründungen: Nur ein einziges wissenschaftstheoretisches Paradigma, meist das logisch-positivistische, wird als gültig erklärt, alle Schulrichtungen werden aus diesem Paradigma heraus bewertet.8
•
Ökonomische Begründungen: Einer Marktlogik folgend werden diejenigen Schulrichtungen, die eine möglichst kostengünstige, d. h. in den meisten Fällen kurze therapeutische Veränderungsstrategie vorschlagen, ausgewählt.
•
(Meist implizite) machtpolitische Begründungen unter Nutzung des wissenssoziologisch gut herausgearbeiteten allgemeinen Faktums, dass »jede Wissensproduktion zugleich die Repression und Marginalisierung unlauterer Behauptungen bzw. eine Marginalisierung von Grenzfällen erfordert«9. Die Verteidigung der Alleinstellung bisher bereits anerkannter Schulrichtungen oder die Verteidigung des akademischen Mainstreams10 erfolgt, um Einfluss und Dominanz etwa im Bereich des Gesundheitswesens oder der Vergabe akademischer Würden und Posten zu sichern.
In einer übergeordneten Sichtweise wird allgemein »seriöse«, also einen wissenschaftlichen Anspruch vertretende Psychotherapie durch einige zentrale Bestimmungsmerkmale von anderen, oft im paramedizinischen, seelsorgerischen spirituellen oder Lebensberatungs-Sektor vorzufindenden »Psych-Methoden« abgegrenzt. Es sind dies v. a. der Nachweis einer ausgearbeiteten Krankheitstheorie mit Angaben zur Wertigkeit ätiologischer Faktoren, eine elaborierte Differentialindikation sowie ein differenziertes und systematisch evaluiertes Repertoire an Behandlungsmethoden. Der Terminus der therapeutischen Schulrichtung ist dabei in der Wissenschaft, aber auch bei psychotherapeutischen PraktikerInnen und bisweilen auch SozialpolitikerInnen vielfältig genutzt, meist ohne dass sich über dessen breites Aussagefeld Gedanken gemacht wird. Vielmehr wird implizit vorausgesetzt, dass man schon wisse, was damit gemeint sei, wenn etwa von der »humanistischen Schule« gesprochen wird. Wir haben also zunächst die Frage zu stellen: Was ist eine Therapieschule genau? Was meint die genannte »stabile Heterogenität« in grundlegenden Auffassungen, die die psychotherapeutische Landschaft weltweit aufweist, genau? Fünf Ebenen lassen sich als Strukturmodell therapeutischer Schulrichtungen in einer vom Grundlegenden zum Konkreten hin aufsteigenden Reihenfolge11 angeben12:
a)
Darstellung des zugrundeliegenden anthropologischen Verständnisses und Bemühen um eine maximale Breite desselben (Philosophische Perspektive)»Anthropologie« wird im vorliegenden Zusammenhang nicht als übergeordnete Bezeichnung einer wissenschaftlichen Disziplin, sondern philosophisch und eng an seinen griechischen Grundworten (anthropos, der Mensch, logos, das Wissen, das Wort) als das jeder Person und meist auch jeder Gruppe eigene, implizite oder auch bewusste Vorstellungfeld von sich selbst, vom Menschen und seiner Position in der Welt aufgefasst. Dabei geht sie über Aussagen über das einzelne Subjekt hinaus und generalisiert, abstrahiert und typisiert ihre Auffassungen. Die meist kaum explizierten und manchmal selbst den ProtagonistInnen der jeweiligen Schulrichtungen nicht bewussten Antworten auf alle vier Kant'schen Grundfragen sind hier zu finden, so dass die philosophische Ebene nicht nur Therapierelevantes, sondern Grundsätzliches über den Menschen enthält. Die Ebene des anthropologischen Grundverständnisses ist also die Menschenbildperspektive. Sie bestimmt das »transzendentale apriori«, also die Bedingung der Möglichkeit und auch Unmöglichkeit von Erkenntnis und hat einen starken Bezug zum sog. Phantasma13. Sie beeinflusst die Auswahl und Bedeutungszuschreibung von Begriffen, bestimmt und lenkt damit für uns Menschen unseren Zugang zur Welt und zu uns selbst. Mit Popper konnte man hier einfügen, dass diese primäre Auswahl auch alle weitere Erkenntnisarbeit beständig durchdringt und mitbestimmt. Die den therapeutischen Schulrichtungen unterliegenden Menschenbildannahmen formen also alle Begriffe und übergeordneten Bestimmungsstücke einer Therapieschule maßgeblich und fließen in deren Formulierung ein: »Begriffsbildung und Theoriebildung (sind) so eng miteinander verflochten, daß sie, im Prinzip, zwei Aspekte der gleichen Vorgehensweise darstellen. Die Bildung von Begriffen kann von theoretischen Überlegungen nicht getrennt werden«14, denn »die begriffliche (philosophische) Klärung ist inhaltlich (etisch) nicht neutral.«15 Die betrifft natürlich auch und vorgängig die Frage nach der endgültigen Klärbarkeit von Begriffen, wie sie uns weiter unten ausführlich beschäftigen wird. Die Menschenbildannahmen steuern dabei die (zunächst theoretische und in ihrer Folge auch forscherische und psychotherapiepraktische) Wahrnehmungsselektion, die Selektion der relevanten Kerntermini sowie die Beschreibung derselben. Die spezifische Zusammenstellung der Kern- und Begleitbegriffe und deren jeweiliger Bedeutungshof bestimmen die psychotherapeutischen Konzepte16, die sich, bei genügender Übereinstimmung und Schnittmenge, zu unterschiedlichen Schulen verdichten und zusammenschließen.Die fraglichen, ganz grundlegenden anthropologischen Vorannahmen (das a priori einer Therapieschule) sind, wie beschrieben, selten bewusst und wohl auch bei gutem Willen nur bedingt völlig dem Bewusstsein zugänglich. Trotzdem ist das Bemühen um deren Explikation die zentrale und erste Aufgabe jeglicher psychotherapeutischer Erkenntnisarbeit, sei sie nun konkret psychotherapeutischer oder wissenschaftlicher Natur,17 denn auch die »Interpretation wissenschaftlicher Daten ist von der normativen Frage begleitet, wie wir leben wollen«, von unserem Selbst- und Weltverhältnis also.18 Wir betreten hier das Gebiet der Epistemologie als diejenige philosophische Disziplin, die fragt, wie überhaupt Wissen generiert werden kann und welche Voraussetzungen und welche Prozesse dabei zu beobachten sind. Die Therapieschulen, die PsychotherapeutInnen und auch die ForscherInnen bemühen sich jedoch tatsächlich in sehr unterschiedlichem Ausmaß, ihre zugrundeliegenden, nicht mehr hinterfragbaren Grundannahmen über »Gott, den Menschen und die Welt« darzustellen. V. a. empirisch-naturwissenschaftlich fundierte psychotherapeutische Denktraditionen verzichten in ihren Lehrbüchern bisweilen völlig auf eine solche epistemologisch relevante Basiseinordnung und Transparenz ihres Verfahrens.19 Durch eine in Mitteleuropa beobachtbare, immer ausschließlicher werdende Ausrichtung der Psychotherapie und ihrer Schulen auf das Gesundheitswesen, geschieht daneben deren fortschreitende Therapeutisierung. Die zugrundeliegenden anthropologischen Grundannahmen geraten dabei über einem dem Medizinsystem eigenen Multioptions-Pragmatismus weitestgehend in Vergessenheit. In psychotherapeutischen Ausbildungszusammenhängen erleben die AusbildungsteilnehmerInnen dann nicht selten ein diffuses Unbehagen an ihrer therapeutischen Tätigkeit, das sich in Selbsterfahrungsprozessen schließlich als Unvereinbarkeit zwischen den eigenen und den von der Therapieschule implizit vorausgesetzten Menschenbildannahmen erklärt.
b)
Umfassende Aussagen zur Einbettung des Verfahrens in die aktuellen kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse (Soziologische Perspektive)Der psychotherapeutische und psychotherapiewissenschaftliche Diskurs ist eingebettet in eine umfassende soziokulturelle Lage und Debatte und die diese bestimmenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Die Möglichkeit der Nutzbarmachung psychotherapeutischer Kompetenz im Nationalsozialismus oder der, natürlich auf einer ganz anderen Ebene angesiedelte, Einsatz von Psychotherapie primär zur raschen Wiederherstellung von Arbeitskraft und Sozialversicherungszahlungen seien exemplarisch ebenso genannt wie die grundsätzliche Einordnung psychotherapeutischen Tuns in ökonomische Logiken, die bis hin zu einer vollständigen Ökonomisierung von Psychotherapie oder zumindest einzelner psychotherapeutischer Methoden (etwa im betrieblichen Coaching) reichen kann. Auch was eine Gesellschaft als (psychisch) krank definiert, unterliegt sozialpsychologischen Prozessen, wie etwa die Diskussion um Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern oder neuerdings die Transgenderdebatte zeigen. (Psychotherapie-)Wissenschaftliche Ansätze und Erkenntnisse haben mancherorts schon längst ihre diskursbestimmende Position auch in klinisch-psychologischen Belangen eingebüßt und laufen soziopolitischen Entwicklungen hinterher oder/und werden durch diese instrumentalisiert. (Psychische) Gesundheit wird soziologisch bereits seit über 50 Jahren auch definiert als »der Zustand optimaler Leistungs-fähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist«20. Nicht selten finden wir diese Vorgaben explizit oder implizit handlungsleitend für die Psychotherapie. Die psychotherapeutischen Schulrichtungen positionieren sich der gesellschaftlichen oder privaten (vom Patienten/von der Patientin vorgebrachten) dementsprechenden Auftragsstellung gegenüber höchst unterschiedlich, reflektieren diese oder ignorieren sie völlig, was bisweilen einer widerspruchsfreien Eingliederung in die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse gleichkommt. Parallel findet sich auch zwischen den therapeutischen Verfahren ein immer stärker ökonomisch motivierter Konkurrenzkampf, ja, es kann gezeigt werden, dass die vorherrschenden wissenschaftlichen Normen innerhalb der Psychotherapieforschung nicht als Abbilder einer faktischen Überlegenheit, sondern auch als Versuche von VertreterInnen bestimmter therapeutischer Schulen, Machtstrukturen und Kontrolle zu etablieren, genutzt werden. Psychotherapeutische Schulrichtungen und einzelne Methoden bekommen, einem amerikanischen Privatisierungs- und Ökonomisierungs-Trend innerhalb der psychotherapeutischen »Szene« folgend, den Status einer Marke, werden dementsprechend beworben und genießen gesetzlichen »Markenschutz«21.Mikrosoziologisch ist anzuführen, dass psychotherapeutische Schulen heute in vielen mitteleuropäischen und anglo-amerikanischen Ländern auch als formale Institutionen zu betrachten sind. Hier gelten dann neben kultur-, sozial- und gruppenpsychologischen Dynamiken wiederum ökonomische Gesetze (ein psychotherapeutisches Ausbildungsinstitut als gewinnorientiertes Unternehmen) oder aber diese fehlen völlig (das Ausbildungsinstitut als gemeinnütziger und auf ehrenamtlicher Tätigkeit aufgebauter Mitgliederverein), was beides wiederum Rückwirkungen auf die Therapieausbildung und damit auf das psychotherapeutische Handeln haben kann. Dies gilt auch für therapieschulspezifische nationale und übernationale Zusammenschlüsse, etwa in Dachverbänden, dann ebenfalls meist strukturiert nach dem Vereins- oder Gesellschaftsrecht der jeweiligen Länder. Hier entfernt sich die institutionalisierte Psychotherapie nicht selten zunehmend von ihrem eigentlichen Fachgebiet und ihren psychotherapeutischen Anliegen und ergeht sich in administrativen und bisweilen der Weiterentwicklung der Therapieschule sogar hinderlichen Debatten und Streitigkeiten22.
c)
Eine Theorie der psychischen Störung und deren Therapie (Krankheits- und Veränderungstheorie, Psychopathologische Perspektive)Aus den spezifischen Inhalten der philosophischen und soziologischen Perspektive formt sich auf dem Gebiet der Psychotherapie eine grundlegende und übergeordnete Haltung gegenüber dem Leid, seiner Begründung, Sinnhaftigkeit und Funktionen sowie des erstrebenswerten Umgangs damit heraus. Im mitteleuropäischen Raum haben sich hier v. a. kausale Herleitungsmodelle durchgesetzt, die dem Menschen alltagspsychologisch primär als einen »Gewordenen«, als Produkt des Vergangenen betrachten. Die Einbettung der Psychotherapie in den von diesem Kausalitätsdenken bestimmten Medizinbetrieb tat das ihrige dazu, um bald nahezu ausschließlich kausale Theorien der Entstehung psychischer Erkrankungen und darauf fußende Veränderungstheorien zu entwickeln. Phänomenologische und erst recht teleologisch-finalitätsorientierte Konzepte wurden weitgehend an den Rand gedrängt, tauchen in manchen therapeutischen Schulrichtungen aber auf und sind etwa in individualpsychologischen der analytisch-psychologischen Zusammenhänge sogar an prominenter Stelle positioniert.
d)
Eine Theorie des therapeutischen Geschehens (Prozess- und Beziehungstheorie, Wirkfaktorentheorie, Psychologische Perspektive)Wir haben es hier nun mit dem psychotherapeutischem Handlungswissen i. e.S. zu tun. Die Prozess- und Beziehungstheorien sind quasi die Praxeologie der Psychotherapie und stehen mit einem Bein in der Philosophie und mit dem anderen im therapeutischen Behandlungszimmer. Inwieweit auch hier Menschenbildsannahmen eine Rolle spielen, zeigt etwa der psychotherapiewissenschaftliche Kernkonflikt der primären Betrachtung des/der PatientIn als unverwechselbare Einzigartige (idiosynkratisch) oder primär als Mitglied einer definierten Gruppe, über die gemeinsame gesetzhafte Aussagen gemacht werden können (nomothetisch). Je nach Schwerpunktsetzung wird dann etwa störungsspezifisch gedacht und gearbeitet oder ein solches Denken wird vehement verworfen, es werden Manuale entwickelt oder differenzierte Beziehungsmikroanalysen der therapeutischen Dyade bevorzugt.Wirkfaktorentheorien wiederum begründen seit dem Beginn psychotherapeutischer Systematisierung einzelne Interventionen mit der Annahme, dass diese auf den/die PatientIn einen bestimmten Effekt haben. Hier wird meistens die Unterscheidung getroffen zwischen einerseits sog. »allgemeinen« oder »unspezifischen« Wirkfaktoren (▸ Kap. 2.3, Exkurs »Allgemeine Wirkfaktoren in der Psychotherapie«), die in jeder erfolgreichen Therapie eine Rolle spielen und die hinreichende und/oder notwendige Bedingungen von therapeutischer Einflussnahme sind, und sog. »spezifischen« nur innerhalb einzelner therapeutischer Verfahren nachweisbaren oder nur bei definierten PatientInnengruppen indizierten Wirkfaktoren andererseits.
e)
Konkrete Handlungspraxis (Methoden) und wissenschaftliche Nachweise der Qualität und Quantität ihrer Wirkung (Handlungs- und Wirksamkeitsperspektive)Diese letzte Ebene befasst sich mit den empirischen, konkreten Konsequenzen des bisher Gesagten in Bezug auf die therapeutische Praxis (Methoden und Techniken) sowie auf die Forschungspraxis. Koppeln wir die Handlungs- bzw. Wirksamkeitsperspektive von den vier übergeordneten Strukturen ab, wie es bisweilen z. B. unter den alltagsphilosophisch gebrauchten Schlagwörtern wie »Pragmatismus« oder »Effizienz« erfolgt, so mündet die Psychotherapie und ihre Erforschung, meist dann nur noch ausschließlich bezogen auf die therapeutischen Techniken, in einen ›Instrumentalisierungsradikalismus‹ mit der Idee unbegrenzter psychotechnischer Verbesserungsmöglichkeiten und ohne der Notwendigkeit einer menschenbildbezogenen Herleitung oder gar Rechtfertigung. Im vorliegenden Strukturmodell fragen wir aber vielmehr: Welche Handlungen leiten sich im psychotherapeutischen Raum aus den übergeordneten schulspezifischen Bedingungen a) bis d) ab und wie und auf welche Art und Weise sind nun diese Handlungen wissenschaftlich zu bewerten?
Eine psychotherapeutische Schulrichtung ist durch die Auffindbarkeit der genannten fünf Basis-Strukturvariablen (Perspektiven, Ebenen, Dimensionen) definiert, wobei die Deutlichkeit der Transparenz der jeweiligen Variablen in den großen Schriften und Erzählungen der Schulen durchaus großen Schwankungen unterliegt. Dies gilt auch für die einen wissenschaftlichen Anspruch zuunterst rechtfertigende Kritisierbarkeit und Begründungfähigkeit,23 um nicht »zu einer tribalistischen Meinungs- und Identitätsdiktatur« zu verfallen und zu »unversöhnlichen Identitäten ohne Alterität« zu zerfallen.24 Daneben gibt es zahlreiche, sich ebenfalls das Etikett einer psychotherapeutischen Schulrichtung verleihende und mehr oder weniger systematisierte (psycho-)therapeutische Ansätze, denen aber eine oder mehrere Grundvariablen fehlen. Sie können evtl. als Vorformen psychotherapeutischer Schulrichtungen aufgefasst werden, gliedern sich aber nicht selten im Verlauf ihrer Entwicklung und des Diskurses mit den voll ausgeprägten psychotherapeutischen »Wissenskulturen« in eine dieser ein.25
Abb. 2.1:Strukturmodell der Psychotherapieschulen26
Neben dieser Strukturbetrachtung besteht eine formalhierarchische Einteilungsmöglichkeit, die implizit im Strukturmodell auffindbar ist:
Als Beispiel sei hier die Schulrichtung der Analytischen Psychologie genannt, die sich aufteilt in die Verfahren der Analyse, der Analytischen Psychotherapie und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Darunter wiederum, auf der Ebene der Methoden finden wir jedem Verfahren zugeordnet die Traumarbeit, die Aktive Imagination, die Übertragungs-Gegenübertragungsarbeit, Sandspiel und Maltherapie. Auf der basalsten Ebene schließlich sind etwa edukative, deutende, spiegelnde, amplifizierende oder konfrontative Techniken zu finden.
Abb. 2.2:Formalhierarchisches Modell der Psychotherapieschulen
Therapeutische Schulrichtungen sind also, das macht auch das beschriebene Strukturmodell sehr deutlich, viel mehr als psychotherapeutische Anwendungsformen. Stattdessen finden wir »überindividuelle, gesellschaftlich gebrochene Wissenssysteme vor, die sich in übergreifenden Diskurszusammenhängen konstituieren«27, kollektive soziokulturelle Bezugsrahmen, die sich nicht nur historisch auf Gedächtnis und Vergangenheit,28 sondern durchaus auch auf ein gegenwärtig-aktuelles Diskursgeschehen beziehen und ein Innen und Außen unterscheiden und »Wissensarchitekturen« im Sinne von »Sinnkonstrukten«29 aufweisen. V. a. der soziologische und sozialpsychologische Blick leistet hier gute Dienste in Bezug auf die Verallgemeinerung vorgefundener Befunde (hier der Struktur der Psychotherapieschulen) und v. a. deren gruppendynamische und interpersonelle Bedingungen. Ihm wurde daher vor alternativen Betrachtungsweisen psychotherapeutischer Schulrichtungen, etwa als »Mikrowelten«30 oder als Institutionen kollektiver Angstabwehr31, der Vorzug gegeben. Mit einem Begriff der Bielefelder Wissenssoziologin Katrin Knorr Cetina kann eine therapeutische Schulrichtung als eigenständige »Wissenskultur« bzw. »epistemische Kultur« bezeichnet werden. Zu ergänzen ist hier sicher auch ein nicht unerhebliches »epistemisches Unbewusstes«32, das eindrücklich in den Selbstdarstellungen mancher Schulen zu erahnen ist. Mit dem von ihr außerhalb des Psychotherapiefeldes entwickelten Terminus der Wissenskulturen bezeichnet sie »diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen. Wissenskulturen generieren und validieren Wissen«33. Wissenskulturen beinhalten diskursive Formationen34 und sind in ihrer Tradierung in weiten Teilen gut auch als Narrationen zu fassen, vermitteln sie doch ihren Angehörigen Sinnerleben und Gefühle von Kohärenz und Kontingenz sowie eine grundlegende Legitimität ihres Denkens und Handelns. In einigen Bereichen überschneidet sich die Konzeption mit älteren professionstheoretischen Überlegungen etwa von Talcott Parsons, der Professionen als abgegrenzte akademische Wissensbereiche mit eigenständigen Standards, einer gewissen Eigenständigkeit und gesellschaftlichem Ansehen beschreibt (Parsons 1967). Die aktuelle Konzeption Sinnfeldontologie von Markus Gabriel befasst sich, wenn man so will, mit den fundamentalen Grundlagen dieser eher sozialpsychologisch gefassten Begriffe, wenn er ein Sinnfeld definiert als »die Bezeichnung, die ich einem Gegenstandsbereich gebe, der durch dasjenige individuiert wird, was der korrekten Weise entspricht, über die in ihm vorkommenden Gegenstände nachzudenken« und er feststellt: »Es gibt kein allumfassendes Sinnfeld«35.
Eine narrationsorientierte Betrachtungsebene macht hier additiv durchaus Sinn, erweitert sie doch das Strukturmodell der Psychotherapieschulen um zwei weitere Ebenen, der der Historizität (im Blick nach hinten) und der der Generativität (im Blick nach vorne). Der geschichtliche Aspekt der wissenskulturellen Narration befasst sich neben den objektiven Daten (erstes Ausbildungsinstitut, sozialrechtliche Anerkennung etc.) auch mit Gründungsmythen und den Geschichten der Gründungsväter und -mütter. Diese Erzählungen finden im wissenschaftlichen Kontext im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Forschungen, aber auch in sehr subjektiven Beschreibungen von Einzelerfahrungen statt und bilden den ganz grundlegenden Mythos einer Psychotherapieschule. Der Aspekt der Weitergabe meint die Hoffnung der älteren Mitglieder, durch Wissenstransfer, Erfahrungsvermittlung etc. etwas sie selbst Überdauerndes zu schaffen.
Einem sozialkonstruktivistischen bzw. interaktionistisch-konstruktivistischen Ansatz folgend wird davon ausgegangen, dass Wissenskulturen in individuellen und v. a. sozialen Prozessen Erkenntnis erzeugen, selektieren und komprimieren. Das wurde bereits deutlich in der oben benannten »welt- und wirklichkeit-schaffenden« Funktion der Sprache (▸ Kap. 2.4). Sprache ist immer auch Deutung von Mensch und Welt. Praktiken und Regelsysteme werden auf der Grundlage der psychischen Situation der Beteiligten in historischen Abläufen und in Gruppenkontexten entwickelt. Wir haben es also psychologisch betrachtet in großen Teilen mit gruppendynamischen und intersubjektiven Prozessen zu tun, die allerdings um eine intrapsychische, subjektivistisch-konstruktivistische Perspektive erweitert werden müssen. Da Wissenskulturen als »Ensembles epistemischer und praktischer Kontexte«36 sich wie erläutert meist in konkreten Institutionen verankern, sind diese interpersonellen Faktoren besonders ausschlaggebend und Kommunikationsstrukturen, Begriffsdeutungen und regulative Macht- und Herrschaftsverhältnisse müssen berücksichtigt werden.37 Wissenskulturen vermitteln den an ihnen Mitwirkenden aber auch ein Gefühl von Zugehörigkeit und damit Sicherheit; sie binden damit Angst und Unsicherheiten (s. o.) und ermöglichen individuelle Selbstvergewisserungen ihrer Mitglieder, eine Funktion, die gerade für TherapeutInnen, die ja von Berufs wegen in verunsichernden Kontexten (die psychotherapeutischen Situationen nämlich) unterwegs sind, besonders von Bedeutung ist.
Der kulturwissenschaftliche und wissenssoziologische Begriff der Wissenskulturen, das soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, ist meist weitgehend größer gefasst als dies an dieser Stelle mit seiner Anwendung auf die Psychotherapieschulen erfolgt und umfasst breite Bereiche wie etwa »die Naturwissenschaft«. Der Angemessenheit und Nützlichkeit dieses Ansatzes für unsere Zwecke tut dieses »Herunterbrechen« des Begriffes auf die konkreten Gegebenheiten des konkret auffindbaren psychotherapeutischen Feldes allerdings keinen Abbruch.
Wissenskulturen können bisweilen durchaus den Anspruch einer eigenständigen Wissenschaft erheben. Wissens- und wissenschaftssoziologisch wird eine Wissenschaft schon seit den 1980er Jahren auch für die Psychologie definiert über den Nachweis kritischer Argumentationen und diskursiver Einigungsprozesse, die dann zumindest vorübergehend geltende Normen etwa bzgl. Erkenntnismethoden oder Gewinnung von Daten entwickeln.38