Kollektives Trauern - Ralf T. Vogel - E-Book

Kollektives Trauern E-Book

Ralf T. Vogel

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Beschreibung

Warum inszenieren wir kollektive Trauer? Wie lassen sich Trauerprozesse in einer adäquaten Weise sozial und gesellschaftlich verankern? Ralf T. Vogel befasst sich mit Trauerprozessen und den Erscheinungsweisen der kollektiven Trauer aus tiefenpsychologischer Perspektive. Das ganzheitliche Phänomen "Trauer" ist seit jeher eingebettet in soziale Gefüge, beginnend mit der Familie oder Peergroup bis hin zu Großgruppen, Institutionen und Nationen. Beobachtet man diese makrosozialen Trauerphänomene genauer, so werden z. B. anhand ihrer Struktur rasch Assoziationen zu grundlegenden psychoanalytischen (Trauer-)Konzepten deutlich, die für ein tiefergehendes Verständnis nutzbar zu machen sind.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einführung

1 Zuallererst: Trauer und Tod

1.1 Zur Psychologie der Trauer

1.2 Die existenzielle Hypothese der (kollektiven) Trauer

2 Zur Begriffsklärung: Was genau meint kollektive Trauer?

2.1 Kollektiv – makrosozial – gruppenbezogen

2.2 Ergriffenheit

2.3 Trauer als intersubjektives Geschehen

3 Die Funktion des Rituals

3.1 Ritualtheorien

3.2 Ritual und Trauer

4 Einschub: Trauer und Gedenkkultur

5 Formen kollektiver Trauer

6 Die Orte der (kollektiven) Trauer

7 Kunst und kollektive Trauer

8 Weitere Funktionen kollektiven Trauerns

9 Trauerpolitik – Psychopolitik

10 Ein Anwendungsbeispiel zum Abschluss: Die Mega-Trauerevents: Queen Elizabeth II., Lady Diana und Tina Turner

Literatur

Der Autor

Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut. Er habilitierte im Fachbereich Psychotherapiewissenschaften an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien und ist Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Ralf T. Vogel ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gremien und Autor zahlreicher Fachbücher. Zudem ist er Lehranalytiker, u. a. am C. G. Jung Institut Zürich. In Ingolstadt arbeitet er in einer Privatpraxis für Psychotherapie und Supervision.

Ralf T. Vogel

Kollektives Trauern

Eine tiefenpsychologische Perspektive

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041838-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-041839-4epub:ISBN 978-3-17-041840-0

Für Sabine

Einführung

Dem ersten Eindruck folgend verweist der Begriff der Trauer auf ein höchst subjektives seelisches Geschehen in Reaktion auf einen stattgefundenen, manchmal auch bevorstehenden Verlust. Allerdings ist dieses individuelle, das gesamte Individuum betreffende Phänomen Trauer seit jeher eingebettet in soziale Gefüge, beginnend mit der Familie oder peer-group bis hin zu Großgruppen, Institutionen und Nationen, ja bisweilen scheint sich ein Großteil der Welt in Trauer zusammenzufinden. Sie wird damit zu einem sozialen Phänomen und soziale Phänomene sind unter einem psychologischen Blickwinkel Gegenstand von Sozialpsychologie, Ethnopsychologie, Politischer Psychologie etc. In diesem Buch erfolgt der Versuch einer solchen psychologischen Annäherung unter einer tiefenpsychologischen, d. h. von der Psychoanalyse und der Analytischen Psychologie abgeleiteten Perspektive.

Wichtig ist an dieser Stelle auch zu betonen, dass eine (tiefen-)‌psychologische Herangehensweise an ein gesellschaftliches Phänomen natürlich nicht andere Verstehens- und Erklärungsansätze, wie etwa soziologische, kulturwissenschaftliche oder politologische Zugänge, obsolet macht. Im Gegenteil, es wird der Anspruch erhoben, eine durchaus bedeutsame aber immer auch zusätzliche Sichtweise zu einem komplexen sozialen Gesamtthema beizusteuern.

Beobachtet man im Besonderen makrosoziale Trauerphänomene, so werden anhand ihrer Struktur (z. B. Inszenierungen und Ritualisierungen) und ihren vorherrschenden Emotionen (z. B. Ergriffenheit) rasch Assoziationen zu den Grundkonzepten der Analytischen Psychologie in der Nachfolge C. G. Jungs (Vogel 2018) geweckt. Diese verfügt zudem über eine jahrzehntelange Tradition in der theoretischen und praktischen Befassung mit Trauerthemen (Kast 2011, 2013, Brodersen 2023).

Die Nutzung psychologischer Ansätze, um gesellschaftliche Phänomene besser zu verstehen und dazu auch die Kenntnisse der Psychoanalyse heranzuziehen, hat also zahlreiche historische Vorläufer und ist auch heute noch weit verbreitet. Wie bei ihren Altvorderen, so ist zudem auch bei den zeitgenössischen ProtagonistInnen der Psychoanalyse mit steigendem Lebensalter ein gewisser Shift der Interessen und der Veröffentlichungen weg von klinisch-psychotherapeutischen Topi hin zur Befassung mit Gesellschaft, Politik, Kultur und Religion zu beobachten. Heute gibt es eine gewisse Anzahl an wissenschaftlich untersuchten psychologischen Trauermodellen wie etwa die inzwischen umstrittenen und relativierten aber dennoch nach wie vor sehr populären Phasenmodelle (z. B. Bowlby 1984, Kübler-Ross & Kessler 2005). Hinzu kommen Traueraufgabenmodelle (z. B. Worden 2002), sog. Continuing-Bonds-Theorien (z. B. Field 2006) oder das Duale Prozessmodell der Trauer (z. B. Stroebe & Shut 1999). Trauer hat solche individuell-psychologischen Fundamente, aber es gibt auch biologische, spirituelle und eben auch soziale Komponenten. Trauer hat immer auch eine interpersonelle Seite, ist zunächst dyadisch auf den/die/das Verlorene bezogen, betrifft aber auch unseren Umgang mit anderen, noch lebenden Menschen. Trauer fühlt sich subjektiv bisweilen an wie eine Depression, ist aber doch meist klar von ihr zu unterscheiden, auch wenn moderne psychiatrische Diagnose- und Behandlungsschemata heute wieder Ähnlichkeiten aufweisen: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst« so schon Freud (1916/2010, S. 431). Die Diskussion über die Kriterien, ab wann Trauer ins Pathologische übergeht, ist in der Fachwelt bis heute jedoch heiß diskutiert. Es wird – teilweise zurecht – befürchtet, dass die enorme Bandbreite an Trauerverläufen (z. B. Bonanno u. a. 2008) in die Dichotomie Gesund vs. Krank eingezwängt, Etikettierungen unterworfen und/oder einer neoliberalen Logik untergeordnet wird, denn »Trauer, so viel wissen wir aus der Forschung, hemmt aber Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, lenkt von den Erfordernissen des schulischen und beruflichen Alltags ab und widerspricht daher der ökonomischen Logik des Funktionierens« (Geldmacher, Metz & Musiol 2019, S. 1). Jegliche Pathologisierungstendenzen müssen also auch auf ihre ideologisch-politische (Mit-)‌Begründung hinterfragt werden.

Schwere Trauerverläufe werden bisweilen auch dem Cluster der Depressionen oder der Traumafolgestörungen zugeordnet. Trauer als psychische Störung, etwa die sog. Anhaltende Trauerstörung (Prolonged Grief Disorder PGD), wäre z. B. nach den Kriterien des 2019 von der WHO verabschiedeten Diagnosemanuals ICD-11 anhand von sog. Kern- sowie akzessorischen Symptomen zu bestimmen. Sie ist z. B. dann zu diagnostizieren, wenn nach mindestens sechs Monaten nach dem Verlust, anhaltende und tiefgreifende Gefühle der Sehnsucht und des Verlangens nach dem/der Verstorbenen oder anhaltende Beschäftigung mit ihm/ihr oder den Umständen des Todes zu beobachten sind. Dazu gehören auch intensiver emotionaler Schmerz, Verbitterung, Verleugnung oder Vermeidungsverhalten und wesentliche Beeinträchtigungen im alltäglichen Lebensvollzug. Das alles soll die jeweils gesellschaftlich und kulturell erwartbaren Trauerreaktionen sichtbar übersteigen, womit als Novum in die psychiatrische Diagnostik eine kulturelle Abwägung aufgenommen wurde (vgl. z. B. Maerker & Eberl 2022). Extreme sind häufig auch in der Nähe von Traumatisierungen angesiedelt, so dass eine gelungene Trauerverarbeitung und -integration auch als Möglichkeit von Traumabearbeitung bzw. als Prophylaxe längerfristiger posttraumatischer Belastungsreaktionen gelten kann.

Wegen der oft auch latenten, wenig bewussten (sozial-)‌psychologischen Komponenten der Trauer geht das vorliegende Buch aus von vorwiegend psychodynamischen Auffassungen von Trauer, versucht auf diesem Hintergrund ein Verständnis gesellschaftlicher Trauerphänomene und befasst sich somit auch mit »der psychokulturellen und psychopolitischen Bearbeitung« (Wirth 2022, S. 189) großer, d. h. auf viele Menschen wirkende Verlustereignisse. Dies erfolgt allerdings immer unter Berücksichtigung der bereits von Freud und seinen ersten Anhängern erkannten »Schwierigkeit der Anwendung der Psychoanalyse« auf komplexe gesellschaftliche Phänomene (in unserem Fall der kollektiven Trauer) und der begrenzten Möglichkeit, Kollektive einfach als »Großindividuen« (Le Rider 2023, S. 40) aufzufassen und am Individuum gewonnene Einsichten auf diese zu übertragen.

Durch öffentliche Debatten, wie etwa um den gesellschaftlichen Umgang mit den in der Corona-Pandemie Verstobenen, wird immer wieder eine breite Unsicherheit bei den politischen und administrativen Entscheidungsträgern bzgl. einer adäquaten sozialen Verankerung von Trauerprozessen deutlich. Art, Sinn und Nutzen einer inszenierten kollektiven Trauer bzw. eines Gedenkens abseits der etablierten, sich v. a. auf Geschehnisse in Zusammenhang mit der Naziherrschaft und hier v. a. auf den Holocaust beziehenden Zeremonien bleiben unklar, mit der Folge ausbleibender Wirkung oder bisweilen unbeholfen erscheinender Maßnahmen. Und dies, obwohl, so scheinen die spektakulären Trauerevents etwa um den Tod der britischen Prinzessin Diana (Lady Di) 1997 aufzuzeigen, ein erhebliches kollektives Trauer-Bedürfnis besteht. Das Buch will diese Problemlagen aufzeigen und mit tiefenpsychologischen Wissensbeständen bzgl. Trauer und kollektiver Verunsicherung abgleichen. Einzelne soziologische und sozialphilosophische Überlegungen werden hinzugezogen.

Und noch eine Bemerkung vorneweg: Psychologische Aussagen über gesellschaftliche Phänomene weisen immer über wissenschaftliche Betrachtungsformen (etwa anhand von empirischen Studien oder wissenschaftlicher Theorien) hinaus und spiegeln immer auch politische und gesellschaftliche Einschätzungen und Haltungen und auch die Positioniertheit der AutorInnen wider. Dies wird auch im vorliegenden Text nicht anders sein. Er möchte, nicht zuletzt aus diesem Grunde, denn auch als Denk- und Diskursgrundlage dienen und beinhaltet nicht den Anspruch auf eine geschlossene und forscherisch überprüfbare Hypothese. Existenzielle Themen wie das der Trauer und sozialpolitische Themen wie das des Kollektiven fordern beständig das eigene Denken und die eigene Stellungnahme heraus.

1 Zuallererst: Trauer und Tod

Über 900.000 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr, weltweit sind es wohl 50 bis 60 Millionen. Dies und die vielen sonstigen alltäglichen und außergewöhnlichen Verluste machen die große Bedeutung des Trauerthemas klar. Trauer, egal welcher Art, ist immer auch »[...] der Extremfall des Hereinragens des Todes ins Leben« (Kast 2013, S. 182) und es ist unmöglich, sich mit individuellen oder sozialen Trauergeschehnissen zu befassen, ohne diesen Zusammenhang voranzuschicken. Trauer ist diejenige zugrundeliegende Gefühlsmelodie, die auch diejenigen Verlustverarbeitungen begleitet, die nicht primär mit Todesfällen zu tun haben. Nicht nur der Verlust, sondern v. a. das durch relevante Verluste zwangsläufig konstellierte Todesthema ist das primäre Motiv der Trauer. Die leitende Hypothese dabei ist, die Trauer als die zentrale anthropologische Einbruchstelle des Todes ins menschliche Dasein zu betrachten. Gleichzeitig ist sie die hervorragende Möglichkeit, sich dem Phänomen des Todes und des Sterbenmüssens überhaupt anzunähern. Seit Anbeginn von Philosophie und Religion beschäftigt den Menschen die Frage nach dem Tod und damit, was darüber zu wissen bzw. wie darüber zu sprechen sei. »Das Wesen des Todes, eine Grenzwahrnehmung, die dem Ausdruck widerstrebt; eine metaphysische Verwirrung« so der rumänische Philosoph Emil Cioran (1980, S. 48). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tod, die Thanatologie, ist die aporetische Disziplin par excellence. Wie also sich ihm annähern, wie eine Ahnung von ihm erhaschen? Eine Antwort kann sein: in der und durch die Trauer. »Der Tod des Nächsten: das ist unendlich viel mehr als der Tod des Anderen im Allgemeinen«, schreibt Paul Ludwig Landsberg (2009, S. 34), mit ihm/ihr sterben wir, wenn wir uns wirklich einlassen, ein Stück mit und können so dem Tode selbst nahekommen.

Die genannte Wissenschaft vom Tode, die Thanatologie, ist zusammengesetzt aus Psychologie, Soziologie und Philosophie, den