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Jungian methods in applied psychotherapy are experiencing a renaissance: Imagination techniques belong to the standard repertoire, the inclusion of fairy tales is regarded as an important method and Jungian dream considerations extend classic concepts with essential aspects. Nevertheless, not all therapists can gain training in Jungian psychoanalysis. A compromise is the deep integration of Jungian thinking and the resulting methods in the previous therapeutic work. This book should help this process.
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Seitenzahl: 278
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Für Sabine
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2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-026852-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-026853-1
epub: ISBN 978-3-17-026854-8
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Wissen wir Therapeutinnen und Therapeuten jeweils eigentlich, woher wir einen Einfall zu einer Intervention haben? Es gibt einen solchen Reichtum an psychotherapeutischen Einfällen, die wir oft im Vorbeigehen aufnehmen, und dann auch wieder vergessen – man könnte ja auch einmal ein therapeutisches Unbewusstes postulieren – in entscheidenden Momenten in der therapeutischen Situation aber wieder aktivieren können! Ein schöpferischer Einfall, basierend auf Arbeiten von vielen Kolleginnen und Kollegen.
Solche Anregungen stammen nicht selten – auch unerkannt – aus der Jung’schen Psychotherapie. Darauf macht Ralf T. Vogel energisch, selbstbewusst und lustvoll im vorliegenden Buch aufmerksam. Die Jung’sche Psychotherapie, mit ihrer Orientierung an Ressourcen, mit ihrer Beziehung zu Imagination und Erzählungen, zu Träumen, ist eine Form der Therapie, die viele Impulse für verschiedene Formen von Therapien – nicht nur die psychodynamischen – gesetzt hat und immer noch setzt. Es ist deshalb sinnvoll und hilfreich, diese Methoden in einem Zusammenhang für die Praxis darzustellen. Der Dreiklang, den der Autor jeweils bei der kurzen Darstellung der Methoden anstrebt – anthropologische Fundierung, klinische Relevanz und therapeutische Implikation –, bewirkt, dass die Arbeitsmethoden in einem größeren Zusammenhang stehen.
Besonders anregend an diesem Buch ist, dass weit gespannt weiterführende Literatur zur Vertiefung genannt wird. Dadurch wird sichtbar, wie viele jungianische Kolleginnen und Kollegen sich von den Gedanken Jungs haben inspirieren lassen, an ihnen weitergearbeitet und versucht haben, sie für die Praxis immer mehr nutzbar zu machen. Dieses Einbeziehen der Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen ist nicht selbstverständlich: Die Sichtung der Literatur ist mit sehr viel Arbeit verbunden. Diese Darstellungsweise zeugt indessen auch davon, dass der Autor sich einem integrativen Ansatz, auch innerhalb der Jung’schen Community verpflichtet fühlt. Man glaubt daher dem Autor, dass es ihm darum geht, auf jungianische Methoden zu sensibilisieren, um sie noch gezielter in psychotherapeutische Behandlungen integrieren zu können.
Ich wünsche diesem Buch mit seinen vielen Anregungen für die Praxis viele interessierte Kolleginnen und Kollegen, die sich davon anregen und gelegentlich auch herausfordern lassen.
Verena Kast
Geleitwort zur ersten Auflage
Vorwort
Einführung
1 Die Tradition deutschsprachiger Einführungsliteratur zu Jung
2 Methodenintegration in der Psychotherapie
Exkurs: Jungianisches in der Psychotherapie
3 Zur Biographie Jungs (1875–1961) und der modernen Analytischen Psychologie
4 Grundlegende Begriffe
4.1 Jung im Original
4.2 Allgemeines zur Analytischen Psychologie
4.3 Das Unbewusste im Zentrum der Aufmerksamkeit
4.3.1 Die unbewusste Landschaft
4.3.2 Die Inhalte des kollektiven Unbewussten
4.4 Das Selbst
4.5 Individuation
Exkurs: Jungianische Entwicklungspsychologie
4.6 Die Typologie – Das Stiefkind jungianischer Theorie und Praxis
4.7 Finalität
4.7.1 Herleitung und Begriffsbestimmungen
4.7.2 Das Finalitätsprinzip in der Praxis
Exkurs: Synchronizität – Eine weitere Ergänzung des Kausalitätsdenkens
4.7.3 Gefahren des Finalitätskonzepts
5 Die klinische Theorie Jungs
5.1 Die Komplextheorie
5.2 Die Theorie von der psychischen Balance und den Einseitigkeiten
5.3 Die Theorie des Individuationsstillstands
5.4 Die Theorie der Inflationierung
Exkurs: Jung »störungsspezifisch«?
6 Die therapeutischen Ansätze
6.1 Prozess und Ziel in der Jung’schen Psychotherapie
6.2 Nutzbarmachung des Potentials des Unbewussten – Die symbolisierende Einstellung
6.3 Der veränderte Umgang mit dem Schatten
7 Die Stärken jungianischer Psychotherapie
7.1 Die Arbeit am Existentiellen
7.1.1 Der (verlorene) Sinn
7.1.2 Der Tod in der Analytischen Psychologie
7.2 Religion und Spiritualität
7.3 Psychotherapie im höheren Lebensalter
7.4 Frühstörungen
8 Therapeutische Methoden
8.1 Jung und die therapeutischen Methoden
8.2 Die therapeutische Beziehung: Jung »topaktuell«
8.2.1 Übertragung und Gegenübertragung nach C. G. Jung
8.2.2 Dieckmanns Systematisierung
8.2.3 Weitere jungianische Aspekte des Übertragungsgeschehens
Exkurs: Alchemie als Metapher
8.3 Intersubjektivität
8.4 Traumarbeit nach C. G. Jung
8.5 Die Arbeit mit Märchen und Mythen
8.5.1 Das Märchen/der Mythos des Patienten
8.5.2 Das Märchen/der Mythos des Therapeuten
8.6 Kreativtherapeutische Methoden
8.6.1 Das therapeutische Sandspiel
8.6.2 Therapeutisches Malen
8.6.3 Andere Kreativmethoden
8.7 Aktive Imagination
8.7.1 Zum Ablauf der Aktiven Imagination
Exkurs: Achtsamkeit
8.8 Persönlichkeit Nr. 1 und Nr. 2
8.9 Einreden
8.10 Gruppenpsychotherapie in der Analytischen Psychologie
9 Die Anwendung des Jungianischen beim Therapeuten
9.1 »Passung« und persönliche Indikationsstellung
9.2 Der Traum des Therapeuten
9.3 Die Komplexe des Therapeuten
9.4 Der therapeutische Schatten
9.5 Die Archetypen der Psychotherapie
9.6 Die Veränderung des Psychotherapeuten in der und durch die Psychotherapie
9.7 Die Aktive Imagination des Therapeuten
10 Wie integrieren?
11 Analytische Psychologie und die Wissenschaft
12 Tipps und Hinweise zum Weiterlesen
Literatur
Stichwortverzeichnis
Das vorliegende Buch entstand aus der Vortrags- und Seminartätigkeit des Autors zu Themen der praktischen Arbeit mit jungianischen Methoden und wurde anhand entsprechender Gelegenheiten weiterentwickelt und nun, zusätzlich einige Kritik- und Anregungspunkte aufgreifend, in zweiter Auflage erweitert und, v. a. was die Zitierexaktheit der Werke Jungs betrifft, korrigiert. Selbst in unterschiedlichen Therapiemethoden ausgebildet, war es immer mein Anliegen, die verschiedenen psychologischen Zugänge zum Seelenleben der uns Therapeutinnen und Therapeuten anvertrauten Menschen sich nicht einander ausschließen zu lassen, sondern ihren Wahrheitsgehalt als auf verschiedenen Verstehensebenen angesiedelt zu betrachten und ihren – in gut jungianischem Sinne – komplementären Gehalt herauszustellen. Sowohl in der eigenen therapeutischen Arbeit als auch in den zahlreichen supervisorischen Zusammenhängen, in denen ich derzeit tätig bin, habe ich den Vorteil eines breiten Verstehens- und Methodenrepertoires zu schätzen gelernt, auch wenn dies manchmal auf Kosten einer tiefen »Durchdringung« einzelner Theorieelemente gehen mag. Letzteres erschien mir immer wieder als intellektueller Selbstzweck oder als manchmal durchaus gewinnbringende »Grundlagenüberlegung« zur Weiterentwicklung spezifischer Teile einer therapeutischen Denkrichtung. Für die praktische therapeutische Arbeit aber brauchen diese komplexen Denkgebäude die Umsetzung in handhabbare Therapieelemente. So nützte mir v. a. ein Zugang zu unterschiedlichen, manchmal durchaus heterogenen therapeutischen Wissensbeständen, um meine therapeutische Tätigkeit den Bedürfnissen der zu mir kommenden Patientinnen und Patienten anzupassen, statt diese zur Anpassung an meinen zunächst schmalen Methodenkanon bewegen zu müssen. Dass dies nicht zu einem theorielosen und oberflächlichem Eklektizismus führen muss, wird hoffentlich das vorliegende Buch ebenso zeigen wie die meiner Ansicht nach besondere Eignung und der besondere Nutzen gerade jungianischer Ansätze für die konkrete Praxisarbeit. Obwohl neuere Entwicklungen innerhalb der Analytischen Psychologie gerade in der vorliegenden zweiten Auflage verstärkt Berücksichtigung finden, wird vorwiegend ausgegangen von Jung selbst, die von ihm herangezogenen Zitate beziehen sich, wenn nicht explizit anders bezeichnet, sämtlich auf die 20-bändigen Gesammelten Werke in der Studienauflage des Walter Verlags (1995), die angeführte Jahreszahl meint das Ersterscheinungsdatum des jeweiligen Einzelwerkes.
Ralf T. Vogel
Jungianische Methoden erleben in der angewandten Psychotherapie eine Renaissance: Die Arbeit mit Imaginationstechniken verschiedenster Art gehört zum Standardrepertoire vieler psychodynamisch und verhaltenstherapeutisch ausgebildeter Kolleginnen und Kollegen (im Weiteren werde ich der einfacheren Lesbarkeit halber die männliche Anrede benutzen und hoffe, dadurch keine Ressentiments zu erzeugen), die Einbeziehung von Märchen und kreativen Methoden gilt gerade bei den schwierigen, mit verbalen Methoden nur schwer erreichbaren Patienten als wichtige und oft unabdingbare Methodenergänzung, und jungianische Traumbetrachtungen erweitern klassische Konzepte um unverzichtbare Aspekte. Von der Hirnforschung werden zentrale Konzepte der Analytischen Psychologie, wie das Archetypenkonzept, erforscht, moderne therapeutische Beziehungstheorien erinnern an traditionelle jungianische Grundannahmen. Trotzdem wollen oder können sich nicht alle an Jung und seinen Methoden interessierten Therapeuten einer aufwändigen Ausbildung in jungianisch orientierter Psychoanalyse an einem der wenigen Jung-Institute im deutschsprachigen Raum unterziehen. Ein Kompromiss ist die fundierte Integration jungianischen Denkens und der daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden in die bisherige therapeutische Arbeit. Diesem Zweck will das vorliegende Buch dienen. Es richtet sich vorwiegend an ausgebildete und praktisch erfahrene Therapeuten, die sich angesprochen fühlen vom Menschenbild und von der Weite, der Kreativität und der originellen und doch tiefsinnigen Gedankenwelt klassischer und moderner Jung’scher Psychologie und sich inspirieren lassen wollen, das eine oder andere wohl reflektiert zu übernehmen, ohne die bisherige therapeutische Identität verlassen zu wollen. In Ausbildung befindlichen jungianischen Therapeuten mag es ein nützliches Kompendium zum alltagsrelevanten Überblick über die Jung’schen »Essentials« sein. So verzichtet das vorliegende Werk auf allzu ausschweifende theoretische Diskurse, schildert Theorie so weit, wie sie zum Verständnis der Methoden und des ihnen zugrunde liegenden Menschenbilds notwendig ist und verweist ansonsten auf weiterführende Literatur. Die für die therapeutische Praxis zentralen Konzepte werden größtenteils in einem »Dreiklang« in ihrer anthropologischen Fundierung, ihrer klinischen Relevanz und schließlich ihren therapeutischen Implikationen vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt demgemäß nicht auf einer umfassenden Einführung in das Jung’sche Gesamtwerk (dazu liegen ausreichend Schriften vor), sondern auf dem praktischen Nutzen des jungianischen Gedankengebäudes in der alltäglichen therapeutischen Arbeit. Dazu werden neben den grundlegenden Ideen auch zentrale Therapiemethoden so geschildert, dass sich Therapeuten rasch orientieren und diese in der Therapiestunde umsetzen können. Bezüge zur Freud’schen Denktradition und deren Begrifflichkeiten werden gezogen, so dass Unterschiede, oft aber auch Überschneidungen deutlich werden können.
Für die Annäherung an das jungianische Gedankengut ist es sicher gut, nicht nur auf Ratio und Denken zu setzen, sondern zu versuchen, sich auch gefühlsmäßig auf die dargestellten Konzepte einzulassen, denn »es gilt schon für Freud, erst recht für Jung: Über die Lektüre und den intellektuellen Nachvollzug allein gewinnen ihre Einsichten bestenfalls eine unverbindliche Plausibilität. Die ihnen innewohnende, oftmals erschütternde Evidenz eröffnet sich nur durch ein Stück erlebten Mitvollzugs. Sie sind ›am eigenen Leibe‹ gewonnen und vermitteln sich daher nur in der Bereitschaft zur Selbstbegegnung, die aus der Selbstverwunderung und Selbstverwundung kommt.« (Evers 1997, S. 26)
Natürlich fällt ein solcher »Selbsterfahrungsaspekt« u. U. beim Lesen eines Fachbuches schwer. Manch einem klassisch psychodynamisch denkenden Kollegen wird aber auffallen, dass er, vielleicht schon lange, eigentlich »Jungianer wider Wissen« war, also durchaus bereits »am eigenen Leibe« Jungianisches verspürte. Denn »Wenn man sich vergegenwärtigt, in wie vielfältiger Hinsicht die postjungianische Analytische Psychologie mit den verschiedenen Entwicklungen in der Psychoanalyse übereinstimmt, dann ergibt sich, dass Jung nicht nur der Hauptströmung der Theorie zuzurechnen ist, sondern dass Analyse wie Psychotherapie heute in der Tat in einem gewissen Sinne ›Jungianisch‹ sind« (Samuels, 1989, S. 35). Der in diesem Band so häufig auftauchende Terminus »jungianisch« meint übrigens nicht nur den Bezug auf die Schriften von Jung selbst, sondern selbstverständlich auch alle von ihm ausgehenden, weiterführenden und modernen Theorieentwicklungen.
Jedem Kapitel folgen, teilweise kurz kommentiert, Empfehlungen zu weiterem Literaturstudium. In Kapitel 12 finden sich die wichtigsten Adressen jungianischer Aus-, Fort- und Weiterbildungsinstitutionen und Tipps für mögliche vertiefende Auseinandersetzungen.
Jung selbst verfasste nie eine zusammenhängende Darstellung seiner Lehre. Dies entsprach wohl nicht seiner Persönlichkeit, es entsprach seiner Ansicht nach aber auch nicht der von ihm vertretenen Sicht auf die menschliche Seele, die sich mit ihren Paradoxien, mehreren Wahrheiten und ständig in Wandlung befindlichen Einzelaspekten wenig für eine in eine einheitliche Form gegossene Lehre eignet. Gleichwohl verfolgte Jung wohlwollend den ersten Versuch einer einführenden Zusammenfassung seiner Meisterschülerin Jolande Jacobi. Deren 1940 erstmals aufgelegtes Buch »Die Psychologie von C. G. Jung« ist heute noch erhältlich und besticht durch kurze, prägnante Erklärungen sämtlicher wichtiger jungianischer Einzelbegrifflichkeiten und viele anschauliche Diagramme. In dieser ersten deutschsprachigen Einführung wird allerdings deutlich, was sich durch alle späteren Werke zieht: Es scheint unmöglich (sogar oder vielleicht erst recht für Jung noch persönlich nahestehende Menschen), Jungianisches zu erörtern, ohne eigene Deutungen, Sichtweisen und Weiterentwicklungen dieser Konzepte mit einfließen zu lassen. Dies ist auch augenscheinlich in der 1972 erstmals erschienenen Monographie der zweiten großen Jung-Schülerin, Marie-Louise von Franz (1996, 2001), die die Lebensgeschichte Jungs mit der Entwicklung seines Werkes in spannender Art und Weise verbindet. Die Auseinandersetzung mit jungianischen Grundkonzepten fordert eben eine persönliche Stellungnahme und einen daraus sich entwickelnden persönlichen Bezug zu den durch diese Konzepte zu verstehen gesuchten seelischen Belangen, so dass schon während der Rezeption Jungs individuell gefärbte Verständniszugänge aufscheinen. Dies soll wohl auch so sein und wäre sicher »im Sinne des Erfinders«.
Wir machen nun einen zeitlichen Sprung nach vorne: 1989 erschien das wahrscheinlich bis heute erfolgreichste Grundlagenwerk zu Jung von der in unseren Tagen wohl bekanntesten und wichtigsten Protagonistin jungianischer Psychologie, das Buch »Die Dynamik der Symbole« von Verena Kast. Generationen von Studenten an Universitäten sowie Ausbildungsteilnehmern an Instituten näherten sich über die Lektüre dieser Schrift dem Gedankengebäude Jungs an. Wie oft in den Werken Kasts liegt einer der Schwerpunkte auf komplexpsychologischen Überlegungen; aber auch das Kapitel zu Übertragungsaspekten aus jungianischer Sicht und insgesamt der Ansatz, Theorie und praktisches therapeutisches Arbeiten aufeinander zu beziehen, unterscheidet das Buch von seinen Nachfolgern. Unter diesen ist als Erstes die 2000 in deutscher Sprache erschienene Ausgabe von »C. G. Jungs Landkarte der Seele« des bekannten amerikanischen Jungianers Murray Stein zu nennen. In der Tradition amerikanischer Lehrbücher gelingt es ihm, auch komplizierte Begriffskomplexe spannend und anschaulich zu erläutern und, wo notwendig, mit Graphiken zu veranschaulichen. 2003 kam die »Einführung in die Psychologie C. G. Jungs« des Münchner Psychiaters und Psychoanalytikers Wolfgang Roth hinzu, das durch Schwerpunktsetzung auf Unbewusstes, Animus- und Animakonzept, Symbol und Traum versucht, Jungs zentrale Thesen des Seelischen zu vermitteln. Es wurde 2009 unter dem Titel »C. G. Jung verstehen« neu aufgelegt. Erstmals nach Jacobi findet sich hier auch wieder ein gesondertes kurzes Praxiskapitel, was deutlich macht, dass die Zielsetzung der Einführungswerke bisher auf der Vermittlung des jungianischen Denksystems lag und, wie übrigens in anderen psychoanalytischen Traditionen ebenfalls zu bemerken, die Darstellung dessen, was nun therapeutisch tatsächlich zu tun ist, deutlich geringer ausfällt. Das breit rezipierte, 2013 erschienene Buch des Stuttgarter Jungianiers Dieter Schnocks, »Mit C. G. Jung sich selbst verstehen« darf bei dieser Aufzählung nicht fehlen, auch wenn es nicht direkt in die klassische Kategorie der »Einführungsliteratur« passt. Nach einer lesenswerten Übersicht über die grundlegenden Konzepte der Analytischen Psychologie wendet er sich nämlich in direkten Fragen wie »Wie reguliert sich meine Psyche?«, »Wie gelangt mein Ich zum Selbst?« einer unmittelbaren und erfahrungsorientierten Umsetzung derselben zu. In einer Neuauflage erschien 2014 Verena Kasts »Die Tiefenpsychologie C. G. Jungs – Eine praktische Orientierungshilfe, das kurz und fundiert, auch für Laien verständlich, in die Gedankenwelt Jungs einführt. Auf etwa hundert Seiten gibt diese Schrift einen komprimierten und gleichzeitig umfassenden Überblick über moderne Jung’sche Psychologie und ihre Verbindungen zu heute gängigen Forschungstraditionen, so dass nach dieser kurzen Lektüre »klar ist, was jungianisch ist«. 2015 kam schließlich die Übersetzung eines Einführungsbuches des britischen Jungianers Anthony Stevens, »C. G. Jung: Eine sehr kurze Einführung«, auf den Markt, die trotz ihrer Knappheit wegen der teils unkonventionellen Schwerpunktsetzungen und seiner Bezüge zur Bindungstheorie (Stevens war Schüler von John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie) sehr lesenswert ist und hier besonders empfohlen werden soll.
Nicht direkt als Schriften zur Einführung in das Werk Jungs verfasst, sind auch die Lexika und Wörterbücher anzuführen, allen voran das »Wörterbuch der Analytischen Psychologie« von Lutz und Anette Müller (2003), in dem sämtliche wichtigen Grundbegriffe des Jungianischen gesammelt und von zeitgenössischen Autoren erläutert werden. Das Wörterbuch steht in der Tradition des »Wörterbuchs Jungscher Psychologie« von Andrew Samuels u. a. (1989) und des »Lexikons Jungscher Grundbegriffe« von Helmut Hark (1990), das v. a. durch seine Zuordnung Jung’scher Originalzitate zu den Zentralbegriffen besticht. Im Jahr 2013 brachte der Patmos Verlag in seiner »Edition C. G. Jung« schließlich unter dem etwas irreführenden Titel »Kleines Lexikon der Analytischen Psychologie« einen Abschnitt aus Jungs 1921 erschienenem Werk »Psychologische Typen« (1926, GW Bd. 6), in dem er selbst lexikalisch wichtige Begriffe prägnant definiert.
Das vorliegende Buch versucht, die oben genannten und jede für sich empfehlenswerten Einführungen in das Jung’sche Gesamtwerk um einen praktischen Akzent zu ergänzen. Der Schwerpunkt liegt daher auf der Herleitung und der kompakten Darstellung der konkreten Arbeitsmethoden zum Zwecke des »Einbaus« in die praktische psychodynamische Behandlung.
Jacobi, J. (2006). Die Psychologie von C. G. Jung.
Kast, V. (2006/2014). Die Tiefenpsychologie nach C. G. Jung.
Kast, V. (2007). Die Dynamik der Symbole.
Roth, W. (2007). Einführung in die Psychologie C. G. Jungs.
Stein, M. (2006). C. G. Jungs Landkarte der Seele.
Stevens, A. (2015). C. G. Jung: Eine sehr kurze Einfühung
v. Franz (1996/2001). C. G. Jung. Leben, Werk und Visionen.
Der Vollständigkeit halber sei auch eine klassische, gut lesbare anglo-amerikanische Einführung empfohlen, die Jung im Original im Stil eines Lesebuchs zu den verschiedenen »Essentials« seiner Psychologie zusammenfasst:
Campel, J. (Ed.) (1976). The portable Jung.
Das griechische Wort methodos enthält hodos, den Weg. Es weist uns darauf hin, dass wir einen bestimmten Weg einschlagen, wenn wir uns für eine therapeutische Methode entscheiden, dass es sich also um einen Prozess handelt, der im Verlauf verändert und ergänzt werden kann. Moderne Psychotherapie ist methodenübergreifende Psychotherapie, verschiedene Abzweigungen auf dem (therapeutischen) Weg sind möglich und fordern immer wieder unsere Entscheidungen. Dies stellt unsere gängige, in Psychotherapieschulen aufgeteilte Psychotherapielandschaft in Frage, macht diese aber nicht automatisch obsolet (vgl. z. B. Vogel, 2003). Auch wenn die bundesdeutschen Psychotherapierichtlinien dieser Tatsache noch immer nicht ausreichend Rechnung tragen, geht die therapeutische Arbeit der Praktiker längst über eine unflexible Anwendung einer bestimmten therapeutischen Methode hinaus. So veröffentlichte zum Beispiel Kriz (2006) folgende Zahlen einer Befragung von 11 000 KV-zugelassenenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten: 58,8 % der Befragten arbeiten nach einem integrativen Konzept, 23,8 % arbeiten eklektisch (nutzen, was hilft) und lediglich 20,6 % arbeiten nur nach dem Verfahren, für das sie eine Zulassung haben. Was aber ist sinnvollerweise unter einem integrativen Arbeiten zu verstehen? Verschiedene Integrationsmodelle wurden in der Literatur bereits vorgeschlagen und diskutiert. Integrative Psychotherapie meint in unserem Zusammenhang »die Anwendung unterschiedlicher therapeutischer Methoden auf dem theoretischen Boden einer definierten therapeutischen Schulrichtung. Dabei ist es unumgänglich, vor der Integration eines Therapieelements einer therapeutischen Richtung dieses in die theoretische Sprache der Basistheorie zu übersetzen und ihre Wirksamkeit mit den Möglichkeiten der Basistheorie zu erklären« (Vogel, 2001, S. 35). Was zunächst die Möglichkeit des Einfügens zum Beispiel verhaltenstherapeutischer Elemente in psychodynamisches Arbeiten meint, kann auch auf den Zusammenhang des vorliegenden Buches angewandt werden. Es geht um die Frage der Möglichkeit und Nützlichkeit der Anwendung analytisch-psychologischer (= »jungianischer«) Methoden in einem psychodynamischen (evtl. auch anderen?) Therapie-Setting, also außerhalb einer regelrechten jungianisch-analytischen Langzeitbehandlung.
Was für die Psychoanalyse gilt, gilt für die Analytische Psychologie Jungs in besonderem Maße: Die Klinische Psychologie und ihr praktischer Arm, die Psychotherapie, stellen nur einen kleinen Teil des Gesamtgebäudes jener psychologischen Denkrichtung dar, sind nur eine unter vielen Anwendungsformen der dort niedergelegten Grundlagen. Schwierig wird es dann, wenn andere Bereiche, z. B die Religionspsychologie, in den klinischen Sektor hineingreifen, wie dies bei Jung sehr häufig der Fall war. Für den psychotherapeutischen Bereich gibt es von Jung selbst eine Aufteilung in »Fälle, welche bloß des menschlichen common sense und eines guten Rates bedürfen«, (…) »Patienten, zu deren Heilung nichts als eine mehr oder weniger gründliche Beichte, eine sogenanntes Abreagieren genügt«, (…) »schwere Neurosen«, die »je nach Art des Falles ›reduktionistisch‹ entweder nach Freud oder Adler zu behandeln wären«, und schließlich diejenigen Behandlungssituationen, bei denen »wenn die Sache anfängt, monoton zu werden, und Wiederholungen eintreten, so dass nach unvoreingenommenem Urteil Stillstand eingetreten ist, oder wenn mythologische, sogenannte archetypische Inhalte erscheinen, dann ist es Zeit (…) anagogisch, respektive synthetisch zu behandeln …« (1935, GW Bd. 16, § 24 f) (anagogisch: einen tieferen Sinn durch Auslegung erfassend, synthetisch: zusammenführend, verbindend [Anm. d. Verf]).
Modern und pragmatisch ist die Berücksichtigung jungianischen Wissens und die Anwendung jungianischer Methoden in psychotherapeutischen Zusammenhängen in folgenden zugrunde liegenden Settingvariationen denkbar:
1. Integration jungianischer Aspekte in die ansonsten (klassisch) psychodynamische (tiefenpsychologische und analytische) Psychotherapie: Dies ist der primäre Gegenstand der vorliegenden Schrift, hier gilt obige Integrationsdefinition.
2. Jungianische tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Sie baut die jungianischen Faktoren zur therapeutischen Hauptstrategie aus. Der Unterschied zwischen tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und analytischer (Langzeit-)Therapie wird im Allgemeinen am Grad der Nutzung des Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehens gemacht. Während die tiefenpsychologisch fundierte Therapie diese zwar beachtet, jedoch lediglich ansatzweise in und mit der Übertragung als Methode arbeitet, zentriert sich die analytische Therapie um das Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen. Auch jungianische Therapeuten würden diese Unterscheidung durchaus akzeptieren (vgl. die Definition von Kast weiter unten). Allerdings kommt hier ein weiterer zentraler Unterscheidungsfaktor hinzu. In tiefenpsychologischen Settings arbeiten jungianische Psychotherapeuten unter Beachtung archetypischer Muster und nutzen ihre Kenntnisse des Archetypischen zur Anregung des therapeutischen Prozesses. Ihr primäres Anliegen liegt neben der (von Jung manchmal zu defensiv gesehenen) Kräftigung der Persona in der Arbeit an den komplexhaften Niederschlägen der persönlichen Biographie. Die Individuation, das zentrale Anliegen der Jungianer (siehe vor allem die Kapitel 4.5 und 5.4), steht hier nur insoweit im Fokus, als versucht wird, Individuationshemmnisse so gut wie möglich aus dem Weg zu räumen und zur persönlichen Weiterentwicklung zu inspirieren. Es bleibt der jungianisch-analytischen (Langzeit-)Arbeit vorbehalten, den Individuationsprozess zu begleiten, anzuleiten und kontinuierlich zu fördern.
3. In der jungianisch-analytischen (Langzeit-)Therapie (entspricht der Analytischen Psychotherapie als Richtlinienverfahren in der Bundesrepublik Deutschland) wird das Augenmerk immer stärker auf eine Integration kollektiv-unbewusster Anteile gelegt, es erfolgt eine Arbeit an der von Jung so bezeichneten »Transzendenten Funktion« (s. u.), die Verbindung zwischen dem (bewussten) Ich und den verschiedenen (auch kollektiven) Schichten des Unbewussten (vor allem auch des Schattens). Die Individuation gerät ins Zentrum der therapeutischen Bemühungen: »Eine Jung’sche Therapie kann aber auch in Form einer Analyse durchgeführt werden. Dabei geht es um das Suchen nach dem Sinn und um einen Individuationsprozess als Orientierung im Leben mit der Möglichkeit, Schicksalsschläge als wichtige Knotenpunkte der Biographie zu verstehen. Die Inhalte des Unbewussten, Emotionen, Übertragung und Gegenübertragung spielen hier eine größere Rolle« (Kast, 2006, S. 31).
4. Das Pendant zur Freud’schen »Tendenzlosen Psychoanalyse« ist die jungianische Analyse »als Selbstzweck«, d. h. ohne den Auftrag einer Krankenbehandlung. Die Methoden ähneln der unter Punkt 3 dargestellten Analytischen Psychotherapie, allerdings ergibt sich durch die fehlende Zeitbeschränkung und den vorausgesetzten kohärenten Ich-Komplex eine stärkere und ausschließlichere Arbeit an der von Neumann sogenannten » Ich-Selbst-Achse« (Neumann, 1963, s. u.) und den Anliegen der Individuation: »Dem zufolge von ›analytischer Psychotherapie‹ (Punkt 3, Anm. d. Verf.) zu sprechen ist, wenn es um eine Form der Behandlung geht, die zwar nicht durch die Intensität der analytischen, wohl aber durch analytische Methoden und Ziele gekennzeichnet ist« (Samuels, 1989, S. 348).
Die dargestellte Abfolge von der analytischen fundierten tiefenpsychologische Therapie bis hin zur »tendenzlosen« Anwendung ist auf der Ebene der therapeutischen Prozesstheorie auch eine stückweise Umwandlung einer Veränderungstheorie hin zu einer Wandlungstheorie. Die Entscheidung, wann und warum von einer primär symptomorientierten und auf Komplexarbeit fokussierten Therapie zu einer am Individuationsprozess ausgerichteten Langzeitarbeit übergegangen werden kann, ist allgemein schwer zu beantworten. Sie erfordert das Einbeziehen des Patienten und auch eigener Gegenübertragungsphänomene. Es ist dabei durchaus legitim und u. U. sogar angebracht, bei der Indikation für eine analytische Langzeittherapie einen Behandlerwechsel zu empfehlen. Nicht selten aber kommt der Patient auch durch eine fokussierte Therapie wieder auf den Individuationsweg zurück, wenn die Hindernisse ausreichend beiseite geschafft werden konnten.
Die psychoanalytische Theoriebildung hat es seit ihren Anfängen mit dem Problem einer Pluralität von Ansätzen zu tun. Historisch gesehen – und heute immer noch nicht ganz überwunden – wurde dieses Problem nicht selten mit Ausschluss(-drohungen) aus der psychoanalytischen Community »gelöst«. Trotzdem hat es sich als allgemein nützlich erwiesen, als psychodynamisch arbeitender Therapeut neben klassischer Trieb- und Konfliktpsychologie auch fundierte Erkenntnisse der – sich eigentlich konkurrierend gegenüberstehenden – Selbst- und Objektbeziehungspsychologie zu erwerben. Einem Entweder-oder weicht mehr und mehr ein Sowohl-als-auch, d. h., moderne Versuche, den Patienten und sein Anliegen psychodynamisch zu verstehen, greifen auf unterschiedliche Konzepte, entweder parallel oder auch selektiv-indikativ (Welches Konzept entspricht dem vorliegenden »Fall« am besten?) zurück. Psychodynamische Kompetenz zeigt sich mehr und mehr in der Fähigkeit, »Theorie für uns arbeiten zu lassen« (Will, 2006, S. 48), auch auf theoretischer Ebene verschiedene Wahrheiten zuzulassen und nicht Kriterien von richtig und falsch, sondern eher Fragen nach Nachvollziehbarkeit, Kommunizierbarkeit etc. (den Gütekriterien qualitativer Forschung also, vgl. Vogel, 1994) anzulegen. Diesem entspricht auf wissenschaftstheoretischer Ebene die Hinwendung der psychodynamischen Therapie zu den Geisteswissenschaften und ihren Methoden von Forschung und Erkenntnisgewinn.
Betrachtet man nun aber diese sehr begrüßenswerten Ansätze, so fällt auf, dass die Stimmen der ersten »Dissidenten«, namentlich also Alfred Adlers und C. G. Jungs, in dieser modernen psychodynamischen »Mehrebenen-Psychologie« kaum vorkommen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Für den Bereich der Jung’schen analytischen Psychologie bedeutet dies zum einen, dass in psychodynamische Therapien mit großem Aufwand »neue« Verfahren eingeführt werden (zum Beispiel imaginative Methoden, kreative Methoden), die bei Jungianern längst Standard sind und für die bereits langjährige Erfahrungen vorliegen, auf die kaum oder überhaupt nicht Bezug genommen wird. Zum anderen bleiben die Jungianer oft am Rande der großen »psychoanalytischen Bewegung« und ihr Wissen und ihre Erfahrung bleiben wenig genutzt.
Das Verhältnis der jungianischen Erkenntnisse zu denen der klassischen und modernen freudianischen Schulen ist ein kompensatorisches wie auch paralleles. Kompensatorisch ist es, weil einige Erkenntnisse und auch therapeutische Methoden eine nicht kleine Anzahl an Einseitigkeiten der Freud’schen Richtungen ergänzen und vervollständigen können. Parallel ist es, da einige Sichtweisen eben als eine weitere Reflexionsebene des psychischen Geschehens angesehen werden können, die die freudianische nicht ersetzt oder überbietet, sondern einfach als eine »weitere Wahrheit« daneben gestellt werden kann. Schließlich finden sich bei den Begriffen beider Denkschulen, wenn auch selten, einfache Übersetzungsmöglichkeiten, d. h., Gleiches wird manchmal auch nur anders benannt. Einer grundsätzlichen Übersetzbarkeit, wie sie in Kapitel 2 beschrieben wurde, steht allerdings das grundlegende Menschenbild der beiden Richtungen entgegen, das sich doch deutlich unterscheidet, sowie die Problematik, dass die Begriffe der Analytischen Psychologie »sich in ihrer von Jung ja immer bevorzugten Bildhaftigkeit von den Sprachgewohnheiten der übrigen psychoanalytischen Gemeinschaft deutlich abheben und in andere Therapiesprachen überwiegend schwer zu übersetzen sind« (Lesmeister 2012, S. 4)
»Mann und Werk zu einer unvergänglichen Einheit gehämmert«
(v. d. Post, 1994, S. 355)
Die psychoanalytischen Theoriegebäude erschließen sich wirklich nur dem, der versucht, ihre Entwicklung nachzuvollziehen. Sie sind wie kaum andere therapeutische Systematiken – und hier wiederum durchaus vergleichbar mit den Werken der Philosophen – Schöpfungen ihrer Begründer. Biographiearbeit, wie wir sie aus unseren therapeutischen Zusammenhängen kennen, tut auch not im Versuch, Welt- und Wertverständnisse einer Denk- bzw. Theorieschule verstehen zu lernen. Erst wenn uns wenigstens ansatzweise klar wurde, wie und warum ein Mensch gerade diese psychologischen Hypothesen entdeckte und entwickelte, können wir im Werk dieses Vordenkers auf die Suche nach für uns selbst angemessenen Erkenntnissen gehen. Dies gilt insbesondere für Jung, denn seine »Erforschung der Psyche trug immer zutiefst persönliche Züge« (Stein, 2000, S. 14). Dazu kommt, dass Jungs Verhalten zu Beginn der Nazizeit dazu führte, dass moralische Bewertungen der Person Jungs sowohl innerhalb als auch außerhalb der jungianischen Community mit fachlicher Kritik vermischt werden. Daher steht an dieser Stelle auch ein kurzer Überblick über das Leben Jungs, der hoffentlich zu weiterer Lektüre in einer der zahlreichen Biographien anzuregen vermag:
Jung wird am 26. 7. 1875 in ländlicher Schweizer Gegend als Sohn eines protestantischen Pfarrers und dessen Gattin Emilie Preiswerk geboren. Er ist das erste überlebende Kind nach drei Todesfällen. Seine Kindheit und vor allem einige einzelne Begebenheiten beschreibt er in seinen »Erinnerungen« als bereits richtungsweisend für seine spätere Berufung (Jaffé, 2005). 1895 beginnt Jung nach einigem Zögern das Studium der Medizin in Basel. Es folgen erste spiritistische Experimente mit seiner Cousine. 1900, im Jahr des Erscheinens von Freuds »Traumdeutung«, die allgemein als der eigentliche Beginn der Psychoanalyse gilt, wird Jung psychiatrischer Assistent bei dem vielleicht bekanntesten Psychiater überhaupt, Eugen Bleuler, in der großen Klinik »Burghölzli«. Bei ihm schreibt er 1902 auch seine Dissertation zum Thema »Zur Psychologie und Pathologie so genannter okkulter Phänomene«, die eine psychologische Theorie zu den ihn schon lange interessierenden spiritistischen Phänomenen entwickelt (1902, GW Bd. 1, § 1–150). 1903 reist Jung, den damaligen Gepflogenheiten folgend, zu einer Hospitation bei dem berühmten Psychiater und Philosophen Pierre Janet nach Frankreich. Im gleichen Jahr heiraten er und Emma Rauschenbach, aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor. Neben finanzieller Sicherheit bietet ihm diese Verbindung die ideale Basis für seine späteren beruflichen und persönlichen Entwicklungen. Emma Jung wird selber Analytikerin, veröffentlicht eigene Schriften (z.B. Jung, E., 1967) und engagiert sich stark in der Ausbildung angehender jungianischer Psychotherapeuten. 1905 beginnt C. G. Jung einen regen Briefwechsel mit dem ca. 20 Jahre älteren Freud (Freud, 1974), von dem er wünschte, dass er erst 1991 veröffentlicht werden solle, wenn beide bereits zu geschichtlichen Personen geworden seien. In den Briefen geht es u. a. auch um die Behandlung von Sabina Spielrein, deren zeitweise sehr enges Verhältnis zu Jung Anlass zu vielfältigen Spekulationen bis hin zur Annahme einer intimen Beziehung zwischen beiden gab (auch Spielrein arbeitete später analytisch und veröffentlichte noch heute erhältliche und erst kürzlich wieder aufgelegte Schriften [Spielrein, 2002, 2003]).
1907 folgt ein erstes Treffen mit Freud, das zu einer starken Faszination (»… der erste wirklich bedeutende Mann, dem ich begegnete …« [Jaffé, 2005, S. 153]) und zunächst engen Freundschaft führt. 1909 verlässt Jung wegen der angespannten Beziehung zu Bleuler sowie seiner veränderten Arbeitsschwerpunkte die Klinik und eröffnet eine Privatpraxis in Küsnacht bei Zürich, wo sich bis heute der Sitz des bedeutenden Jung-Instituts (gegründet 1948) befindet. Jung reist zusammen mit Freud zu Gastvorlesungen an die Clark University in den USA, und obwohl schon in dieser Zeit erste fachliche und dann auch persönliche Risse zwischen den beiden Männern aufscheinen, wird Jung auf Freuds Betreiben im Jahr 1910 erster Präsident der IPV (Internationale Psychoanalytische Vereinigung). Im gleichen Jahr beginnt Jungs tiefe Verbundenheit mit Toni Wolff, die nach Ansicht einiger Biographen fast zu einer Art »Dreiecksbeziehung« (zwischen Jung, seiner Frau Emma und Toni Wolff) führt. Wolff wird über viele Jahre zur wohl wichtigsten fachlichen und persönlichen Stütze und Mitstreiterin Jungs (z. B. Wolff, 1959). 1912 beendet Jung sein Buch »Wandlungen und Symbole der Libido«, in dem er erstmals klar und eindeutig eigene und von Freud abweichende Positionen in die psychoanalytische Diskussion einbringt. 1914 folgt der Rücktritt als Präsident der IPV, kurz danach der Austritt aus der Vereinigung. Der Bruch ist vollzogen und stürzt Jung in eine tiefe persönliche Lebenskrise. Ein Ausfluss davon ist die 1916 im Privatverlag erschienene kryptische Schrift »Septem Sermones ad Mortuos« (Die sieben Belehrungen der Toten). In diesem Jahr folgt auch »Die Struktur des Unbewussten« (1916, GW Bd. 7, §442–521). Jung reist in dieser Zeit gerne und viel, 1920 erstmals nach Nordafrika, ab 1924 mehrmals in die USA, 1925 nach Kenia und Uganda, 1926 nach Ägypten sowie 1938 nach Indien und Ceylon. Viele Ideen Jungs wären ohne seine Reisen gar nicht zu denken, und oft fand er auf fremden Kontinenten Bestätigungen und Ergänzungen seiner Lehre.
1928 beginnt Jungs Interesse an der Alchemie, deren psychologische Betrachtung er im Laufe seines Schaffens zur Grundlage seiner Theorieentwicklung ausbaut. 1931 verfasst er »Seelenprobleme der Gegenwart«.
1934 erscheint ein Artikel über das höhere Potential des »arischen Unbewussten«, 1935 wird Jung zum Titularprofessor in Zürich ernannt. 1936 schreibt er seinen stark umstrittenen Beitrag »Wotan«. Wir befinden uns nun inmitten der Zeit der Entwicklung Jungs, die ihm und später der gesamten Jung’schen Bewegung einen deutlichen Stempel aufdrücken sollte. Sowohl durch seine Schriften in dieser Zeit als auch durch sein Verhalten dem auch psychotherapeutisch von den Nazis gleichgeschalteten Deutschland gegenüber brachten ihm den Vorwurf des Antisemitismus ein. Viele Versuche wurden unternommen, um diese Verhaltensweisen zu erklären, vom Ausagieren der ambivalenten Beziehung dem Juden Freud gegenüber bis hin zur Ergriffenheit vom Archetyp und dessen einseitig-positiver Betrachtung reicht das Spektrum. Kein Zweifel, Jung verhielt sich in diesen Jahren nicht, wie man es von einer sonst so reflektierten und differenzierten Persönlichkeit erwarten konnte, und seine Position in diesen Tagen ist klar zu verurteilen. Dass das pauschale Substantiv »Antisemit« aber zu kurz greift, zeigen seine durchgehenden, zum Teil engen Freundschaftsbeziehungen zu Juden, allen voran zu seinem Schüler und später wichtigen, aber immer respektvollen Kritiker und in manchen Augen »zweitwichtigsten« jungianischen Analytiker Erich Neumann (vgl. Löwe 2014), mit dem ihn ein beständiger Briefwechsel bis zu dessen Tod 1960 in Tel Aviv verband (vgl. Neumann, 2005).
Es ist hier nicht der Ort, komplizierte Geschichtsaufarbeitung zu betreiben. Die nationalen und internationalen jungianischen Vereinigungen verwenden viel Zeit auf dieses Thema, und es hat den Anschein, dass die schwere Bürde, die Jungs »zumindest problematisches« Verhalten (Rasche, 2005a) im Nationalsozialismus den Jungianern hinterließ und zu den langjährigen feindschaftlichen Gefühlen der freudianischen Gruppierungen beitrug, zu einer besonderen Sensibilität und Geschichtsaufarbeitung führen konnte. Dies betrifft auch die – nicht nur für die Analytische Psychologie – relevante Frage nach der Nutzbarkeit einer (psychologischen oder philosophischen) Theorie für politische und im eigentlichen Sinne sogar totalitäre Zwecke. Etwa ein Drittel der Mitglieder der internationalen jungianischen Community sind und waren Juden, und wie in anderen psychoanalytischen Schulrichtungen gehören auch bei den Jungianern jüdische Autoren und Analytiker zu den bedeutsamsten Protagonisten des Fachs. Zur weiteren Auseinandersetzung seien einige Literaturangaben gemacht (vgl. nachfolgende Literatur) und auf die Website des Geschichts-Arbeitskreises der Deutschen Gesellschaft für Analytische Psychologie (DGAP), www.ap-geschichte.de, verwiesen.
Dass Jung auch schon während der Zeit seiner Nähe zu nationalsozialistischem Denken und Handeln nicht eindeutig festzulegen ist, zeigt auch die Tatsache, dass seine Beschäftigung mit dem Phänomen der Religion in dieser Zeit ebenso voranschreitet. 1940 erschien » Psychologie und Religion«. 1944 hat Jung ein Todesnäheerlebnis, das ihn tief beeindruckt und ihn sich noch mehr als bisher existentiellen Themen zuwenden lässt. 1948 erfolgt, von Jung selbst ambivalent begleitet, die Gründung des C. G. Jung Instituts in Zürich, 1952 verfasst er sein letztes und zentrales religionspsychologisches Werk »Antwort auf Hiob«.