Ins Innere hinaus - Christian Lehnert - E-Book

Ins Innere hinaus E-Book

Christian Lehnert

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine »Geschichte der unsichtbaren Welt in einzelnen Blättern«, nichts Geringeres schwebt dem Dichter und Theologen Christian Lehnert in diesem Buch vor. Ausgangspunkte seiner Gedanken sind Naturgeister und niedere Gottheiten, dualistische Vorstellungen von Engeln und Dämonen, himmlische Hierarchiebildungen, Grenzüberschreitungen zwischen Diesseits und Jenseits mit geheimnisvoller geistiger Schmuggelware im Gepäck. Gnosis, Kabbala und Visionen kommen ebenso vor wie moderne Psychotechniken. Von der sogenannten ›faktischen‹ Seite der Wirklichkeit her aber treten Analogien des Geistersehens im philosophischen Denken und in den Naturwissenschaften ins Bild. Zugrunde liegt die Frage: Wie kann das Numinose heute, in einer postsäkularen Welt, zu einer progressiven Kraft werden, welche die vorherrschenden, scheinbar festgefügten Weltbilder unterwandert und verflüssigt? Den kleinen Rissen in den festen Straten religiöser oder wissenschaftlicher, liberaler oder säkularer Weltanschauungen folgt Lehnert, sucht jene Risse, wo der Zweifel eindringt, wo die vergessenen Axiome der ›Exaktheit‹ und die Brüchigkeit ihrer Anschauungen aufleuchten.

Wie stellt man derartiges dar? Begriffliches Denken, poetisches Bild und Erzählung, Autobiographisches und Spekulation schwingen in den einzelnen Texten ineinander, erhellen sich gegenseitig. Eine bewegliche Form des Schreibens stellt sich ein: ein suchendes Sprechen, das sich ins Unsagbare vortastet. So versammeln sich – immer vom Ausgangs- und Bezugspunkt des eigenen Lebens aus und ohne Fiktion – Bruchstücke eines Bekenntnisses als »Blätter« sehr unterschiedlicher Tonlagen. Sie behalten als Ganzes die Gestalt einer Frage.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christian Lehnert

Ins Innere hinaus

Von den Engeln und Mächten

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Als ein Vorwort

Für ein einziges Mal

Einsehen

Gethsemane

Inzwischen

Numina

Großohr

Gehe hinüber

Der Tanz

Tod, wo ist dein Stachel?

Unter Myriaden

Allein durch Glauben

Sehvermögen

Mal

ak

Wiederholungen des Unwiederholbaren

Jubel oder Die weggeworfene Leiter

Was ist Theologie?

Kaltes Glas

Von der Täuschung

Doppelgänger

Der Doppelgänger springt mir zweifelhaft zur Seite

Dämmerschein im kühlen Gewölbe, hier wimmeln die Schnaken, glimmendes Öl im Glas, Schatten ertasten den Stein, Höhlengeruch, ein Tunnel führt mich, fast blind, vor die Bilder,

Feinste Zirren Schnee

Lückenbüßer

Sodom

Musica

Luzifers Engel

Im Bernstein

Winke

Von den Quellen des Stolzes

Wen sucht ihr im Grab?

Neun Chöre

Der kahle Engel (angelus calvus)

Figuren der Flüchtigkeit

Raffaels Nebel

Wirres Gezweig, in sich verflochten,

Ein Gespenst geht um

Ein Schlag aus dem Dunkel

Am Jabbok

Anfangslos

T-Zellen

Im Freigehege oder Lutherische Einbildungen

Wolfslicht

Verschlossene Ohren, verfettete Herzen

Hefata. Tu dich auf!

Nicht ganz bei sich

Apotropäische Riten

Die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind

Der Wächter

Metamorphosen

Glen Doll

Nachtrag aus Falkland

Stille

Die Glut

Nach der Hoffnung

Mikroben

»Wo keine Frage war«

In den Aporien des Monotheismus

Vergleichende Anatomie

Anmerkung zum Anthropomorphismus

Es werde Licht!

Im Innern des Berges

So hast du mich angesehen, sage ich in Ermangelung eines Ausdrucks

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Als ein Vorwort

Gegen zwei Uhr morgens verließ er das Gebäude, unbemerkt vom Wachhabenden am Tisch neben dem Eingang zur Kompanie. Er hatte sich den Mantel seiner Ausgehuniform übergeworfen, darunter trug er graue Armeeunterwäsche. Seine Stiefel hatte er nicht an, er lief in Socken.

Wir Spatensoldaten waren abkommandiert nach Wolfen zu einer gefürchteten Arbeit. Mit gestielten, löffelartigen Kellen, die mehrere Meter lang waren, hatten wir Schlacke aus Kesseln mit Aluminiumschmelze zu schöpfen, und die enorme Hitze durfte nie die Aufmerksamkeit trüben, denn Starkstromkabel hingen mit notdürftig reparierten Schäden an der Isolation überall durch den Raum wie Fäden im Altweibersommer. Wer mit seinem Werkzeug hineinkam, riskierte einen tödlichen Stromstoß. Von Lichtblitzen, in Sekundenschnelle versengten Körpern ging die Rede.

Er war nach zehn Stunden Arbeit mit uns anderen stumm auf den Lastkraftwagen geklettert, der uns in die Kaserne zurückbrachte. Seine Pupillen, ohne erkennbare Blickrichtung, waren auffallend scharf, stechend klein – nicht nach außen gerichtet, nicht nach innen; so marschierte er in der Kolonne zum Essen.

In der Nacht erwachten wir von Schüssen und Schreien. Um den Appellplatz standen Soldaten des Wachregiments. Ratlos hatten sie in die Luft gefeuert. Er ging langsam, ohne auf die drohenden Zurufe und Befehle zu reagieren, Bahnen um den ovalen Platz. In den Scheinwerferkegeln zweier Einsatzwagen der Feldjäger, die angefordert worden waren, streckten sich die Schatten seiner Beine zu tanzenden Streifenmustern auf dem Beton. Er blieb genau auf der Piste, auf der wir oft lange Abende marschierten, ohne Sinn und Grund und immer um die leere Mitte herum. In der Hand hielt er seine kleine Blockflöte, die er von Zeit zu Zeit an die Lippen setzte. Er versuchte zu spielen, aber die Finger waren zu kalt und der Atem ging zu schnell, da ließ er sie sinken und sang eine fremdartige Tonfolge auf dunkle Silben.

Er galt uns als Sonderling und den Vorgesetzten als seltsam, aber gefügig. Seine auffälligste, in der Kaserne und auf den Baustellen oftmals gefährliche Eigenschaft war seine Ehrlichkeit; er sagte immer und auch unaufgefordert, was er dachte und fühlte. Widerstandslos wurde er jetzt abgeführt. Die Posten mit den Maschinenpistolen und die hinzugeholten Beamten der Staatssicherheit waren augenscheinlich verunsichert, so wie wir an den Fenstern: Was war das? Sicherlich keine Provokation – denn das paßte nicht zu ihm, und er hatte ja auch die Nacht und die Einsamkeit gesucht. Es war auch kein seelischer Zusammenbruch – denn er war da unten ganz ruhig und fröhlich. Eine Laune? Ein Traumzustand?

Jedenfalls eine harte und skurrile Regelwidrigkeit und Überschreitung aller bestehenden Vorschriften, und so saß er dann mehrere Tage in einer Zelle, wurde verhört und schrieb Erklärungen. Jahre später zeigte er mir ein Dokument aus seinen Stasi-Unterlagen, kommentarlos war es eingeordnet zwischen Spitzelberichten aus unserem Kasernenzimmer. Man schien es abgeheftet zu haben, ohne zu wissen, was man damit anfangen sollte. Die Vermerke am Seitenrand betrafen den Abschluß eines Untersuchungsvorgangs: keine nachweislich staatsfeindliche oder propagandistische Aktion. Er wurde mit einer Woche Arrest bestraft, die er aber bereits während der Verhöre abgesessen hatte. Die ersten Sätze seiner Stellungnahme lauteten in verblüffender und selbstgefährdender Offenheit:

»Wer niemals eine Berührung mit einer anderen Realität hatte, nie einen Schauder empfand, weil etwas nah kam, das im tiefsten Sinn guttat und doch angst machte, wird in meinen Zeilen nichts finden, was ihn interessieren oder was er verstehen könnte. Wer nie plötzlich überwältigt wurde von einem gewöhnlichen Eindruck, und es war darin mehr, viel mehr als das Wahrgenommene, der wird in diesem Text keine Erklärung für mein Tun finden. Denn ich kann es selbst nicht erklären, ich kann höchstens auf Ihr Mitgefühl oder Ihre Neugier hoffen. Begründen kann ich nichts.«

Für ein einziges Mal

Und plötzlich wurde die Wiese zu einer durchscheinenden Haut; die Maulswurfshügel, die Mäusegänge unter den tauenden Schneezungen, das frische, noch spärliche Gras und die vielen blassen Krokusköpfe, die jedes Jahr mehr wurden in der feuchten Senke am Zaun, flirrten, schwirrten, belebten, verfeinerten sich. Wirre Konturen, Adern, Schattenspiel und Härchen; Quellgeister überall, Erdkräfte, das mittägliche Märzlicht lag darauf. In ihrer Klarheit wogte diese wache Haut am Berghang. Sie fror nicht, sie erwartete jemanden – deshalb wohl zitterte sie.

Einsehen

Gewiß immer, sagen die Legenden, könne die erwachende Natur im Frühjahr zum Lager eines Engels werden, vornehmer aber seien ihnen, wenn sie einkehren wollten, die Augen der Tiere. Seitlich zu mir, den Kopf leicht gedreht, stiert eine Amsel. Ich kann nicht genau sehen, wohin der plötzlich verharrende Vogel in gespannter Aufmerksamkeit schaut, denn seine Augen sind randlos schwarz und zeigen somit keine Bewegung der Pupillen. Aber ich kann spüren, wie die Blicke mich berühren, abtasten, nach meinem Herzschlag lauschen, um zu erkennen, was ich im Schilde führe.

Wer bin ich für den Vogel? Wen oder was sieht er in mir? Welches Bild macht sich eine Amsel von einer anderen Kreatur, wo sie doch zur Mimesis in der Vorstellung kaum in der Lage sein soll. Oder doch? Eine Amsel kann ja auch einen Kranken nachahmen, und sie hüpft und hinkt fort von ihrem Nest und flattert, um einen Feind abzulenken, als könne sie sich in ihn hineinversetzen. Aber bin ich in den Amselaugen überhaupt ein abgegrenztes Gegenüber?

Sie wendet sich, pickt wieder wild in einem frischen Maulwurfshügel, beruhigt von meiner sinnenden Erscheinung, die sich reglos in der hohen Glastür spiegelt.

Gethsemane

»Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.«1 Als Jesus vor seiner Folterung und Hinrichtung im Garten Gethsemane betete und weinend zusammenbrach, war in einem erschreckenden Sinne niemand bei ihm. Die Jünger schliefen. Gott, Abba, der Vater, war stumm.

»Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe«2 – dieser Gebetsschrei Jesu war pure Verzweiflung: Ach, wenn doch ein »Wille« fühlbar wäre! Aber der nächtliche Himmel war so leer wie der ganze Raum um ihn, eine entseelte Ordnung der Dinge ohne Gott, wahllos die Stämme und Mauersteine und Ginsterstrünke und der Kies im Geviert, und kein »Wille« war zu erkennen, kein Sinn. Nichts gab es hier zu verstehen in der Todesnähe, die alles Verstehen verschlang. Das Kreuz warf seine Schatten voraus, das Röcheln des Sterbenden: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Die biblische Heilsgeschichte war mit dem letzten Schein der Dämmerung über dem Olivenhain in Gethsemane erloschen. Der Messias war nicht gekommen und wurde hier nicht mehr erwartet. Der Gottesgedanke war haltlos geworden und Jesus ein hinfälliger Mensch. Die Kreaturen, knorrige Ölbäume und Farne und Zedern, die Nachtlaute, fallender Tau und Insektensirren, sagten nichts weiter mehr. Die Jünger lagen schlafend, niedergeschlagen, in ihrem Unwissen wie betäubt. Niemand hörte, wie Jesus betete.

Da trat ein Geschöpf zu ihm – nicht von oben und eigentlich kein höheres Wesen für ihn, sondern ein niederes, wie es die Exegeten seit den Kirchenvätern verwundert bemerkten. Es kam wohl herangehuscht zum verwaisten Gottessohn wie ein Vogel aus dem Dunkel, nicht erhaben, sondern scheu aus dem Dickicht. Zum menschgewordenen Logos im Verstummen gelangte ein Engel und »stärkte ihn«, so heißt es bei Lukas. Wie stieg der Trost aus der Niederung? Als ein Surrogat, wie ein Stofftier ein Kind tröstet, weil es für etwas einsteht, das nicht da ist? Oder war es der melancholische Trost der leisen Erinnerung, wie alles Leben in der Sage einmal in der Vaterhand ruhte? Oder die Nähe eines Gefährten, wie ein Tier einen Menschen anschaut, und es war ein Einverständnis fühlbar, ein gemeinsamer ängstlicher Blick ins Offene, draußen, sprachlos, ins Verlöschen?

Jesus, der Mensch, begehrte auf, rang mit dem Tod, »betet heftiger«, hinein in die Gottesleere, »und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen«.3Niemand hörte, und die Angst vibrierte im Echo eines schweren Atems: aus und ein, der Engel bewegte die Flügel im Ostwind, eine schwebende Lunge. Der niedere Engel führte das Hohe herauf: Trost jenseits des möglichen Trostes, Gott jenseits des Gottes. Nichts, was man begrifflich fassen oder denken könnte, und es hallte von innen nach (wie ein Anlaut des Kommenden, der Auferstehung des in den Tod Verstoßenen): »Und er stand auf von dem Gebet und kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend vor Traurigkeit.«

Inzwischen

Wie kann ich jenen Wesen näherkommen, von denen ich nicht weiß, wie ich sie denken und benennen kann, ja nicht einmal, in welcher Weise es sie überhaupt gibt? Doch ahne ich, wie sie zugegen sind und sich in jenen Rissen und Übergängen einnisten, die entstehen, sobald sich »Gott«, wie ich unsicher sage, löst aus der Betrachtung und in mir Erfahrung werden will. Oder beginnen hier bereits die fragwürdigen Hilfskonstruktionen?

Von Engeln als »Zwischenwesen« neben Gott und Mensch zu sprechen, wie es oft geschieht, erscheint schlicht und geradezu sträflich verharmlosend, wird doch mit diesem Kompositum eine Vermittlung eingeführt, ein obskures Übergangsfeld und damit eine Kontinuität über einen Abstand postuliert, der gar nicht als Abstand zu denken ist, geht es doch um Unvereinbares, maßlos Geschiedenes, um eine andere Dimension. Es klingt dann, als sei »Gott« ein unendlich vermehrter, gedehnter, erweiterter, geöffneter oder verklärter Menschenzustand. Damit aber wird er, sei es auch im Sinn der unendlichen Übersteigung, auf den brüchigen Boden der Tatsachen geholt. Dort steht er fehl, als Götze, der nur den Menschen in seinen Vorstellungen von »Höherem« und in seiner Jenseitssehnsucht spiegelt.

Hier ist die Crux allen Nachsinnens über eine Körperlichkeit der Engel. Diese fallen als Kreaturen entweder schwerfällig zurück auf die Seite des Menschen, oder sie schweben haltlos davon ins unvorstellbare All-Nichts der Gottheit. Ein »Zwischen« von Unvergleichbarem, ohne tertium comparationis, kann es nicht geben.4

Besteigen wir ein anderes Vehikel: Engel sind Bewegungsformen, keine umschriebenen Körper. Sie ziehen unentwegt »hinüber«, treiben in die Transzendenz oder von ihr her, ohne jemals anzukommen. Denn ihr Ankommen ist kein lokalisierbarer Zustand, sondern ereignet sich als Energie und Möglichkeit. Sie sind hier und dort und dort und hier. Sie haben keinen bestimmten Aufenthalt. Engel sind nicht ubiquitär, nicht allverortet – aber sie können nur punktuell erkannt werden, und dann auch nur schattenhaft, innerhalb einer bestimmten Vorstellungsform, denn sie haben eine Unschärfe, wie Elektronen, die als Teilchen oder Wellen beschrieben werden können, und es ist unmöglich, ihren Ort und ihre Geschwindigkeit zugleich zu erfassen.

Anders gesagt: Engel sind Kurzschlüsse, blitzartig gezündet zwischen unvereinbaren Polen, als Wunder, Unvorhersehbares, als Verwandlungskräfte. Sie durchschlagen schockartig die gewohnten Verläufe. Doch entsteht da kein Zwischenraum, sondern es fallen vielmehr Gegensätze in eins, und es zuckt, undenkbar, eine Entladung, ein Anfall, Aufschrei durch die Wirklichkeit, die für Bruchteile von Sekunden ein zitterndes Ganzes wird.

Folgenlos ist das nicht, kein abzutrennendes Abnormes. Aber was folgt? Menschen meinten, Engel gesehen zu haben, und was sie sahen, verschwand doch vor ihren Augen, weil sie – wie sie später erkennen mußten – alles Gesehene in das ganz Alltägliche und Erklärliche hineingesehen hatten. Sie stellten ernüchtert fest, daß da nichts gewesen war. Und doch sind sie andere geworden.

Numina

Seit den frühesten überlieferten Versuchen von Menschen, ihren flüchtigen Ort in der Welt, ihre Herkunft und ihre brüchige Wirklichkeit zu verstehen und Ausflüge zu unternehmen über das Gegebene hinaus, meinten sie, berührt wie durchdrungen zu werden von höheren Mächten, von numina. Personenartig oder als unmenschlich wesenlose Kräfte, war stets unklar, woher sie kamen. Aus der Fremde der Dinge und Erscheinungen? Geburten der Angst, »mysterium tremendum«,5 oder des Gefühls »der Kreatur, die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über aller Kreatur ist«?6

Numina erwachten in der unbelebten Materie, im Wind und im Gewitter, sie konnten mit den Tieren streunen, in Hunden und Hyänen nahen, oder sie zogen in Gestalt unermeßlicher Rinderherden durch die Steppe. Sie verwirklichten sich in Geistwesen, die aus unsichtbaren anderen Welten einfielen, oder flüsterten mit den Toten und Ahnen und wandernden Seelen. Sie konnten in Träumen und Gesichten sprechen oder plötzlich einstrahlend Erhellung bringen. Sie brachen als Sehnsucht, »Beseligung« – »mehr, viel mehr als bloßes natürliches Getröstetsein, Zuversichthaben, Liebesglück, wenn auch in noch so hohen Steigerungen«7 – die Ordnung der Erfahrungen auf. Diese Mächte waren höchst unbestimmt und amorph, sie konnten sich zu Göttern verdichten, ja zu Hochgöttern, die dann ein geordnetes Weltganzes, Allzeit und Kosmos, faßlich werden ließen, in dessen Schatten sich doch wieder das Chaos ausdehnte; und sie konnten absinken zu diffusen Dämonen und zu magisch beschworenen Geistern.

Numina hatten eine Art Willen – woher er kam und worauf er zielte, ließ sich meist nur durch kultisch vermittelte Kontaktaufnahmen klären. Ansonsten lebten sie in einer bedrohlich wandelbaren Möglichkeitsform. Sie ähnelten Wetterwendungen, Wellengeburten. Sie konnten an Völker und Sippen gebunden sein, an bestimmte Tiere, und sie konnten wandern, in Vulkanen erwachen oder in Stürmen. Sie konnten mächtig werden mit feinen atmosphärischen Verschiebungen, konnten rhythmisch erscheinen und vergehen mit den Jahreszeiten oder der Dämmerung. Manche hohen Götter, verehrt von einem Gefolge zahlloser untergebener Geister, schwanden und fanden sich irgendwann selbst wieder als solche numina, gar als Dienende und Botschafter neuer Götter, als Randfiguren in anderen gewaltigen himmlischen Staaten, welche die alten Reiche überrollten. Oder sie verkrochen sich in einer Quelle oder einem Geysir, in einem Baum und warteten auf bessere Zeiten.

Wer immer sich auf religiöse Phänomene einläßt, muß, wie schon der pragmatische Psychologe William James konstatierte, den Realitätsbegriff relativieren: »Es ist, als gäbe es im menschlichen Bewußtsein ein Empfinden von Realität, ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von ›da ist etwas‹ – eine Wahrnehmung, die tiefer und allgemeiner reicht als irgendeiner der besonderen ›Sinne‹, denen die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken realer Existenz zuspricht.«8 Es ist kaum zu unterscheiden, ob so ein »Da ist etwas« eine emphatische Bildung von Wahrnehmung, eine Technik zur Modifikation bestimmter neurokognitiver Zusammenhänge9 oder widerfahrene Fremde ist. Dies liegt im Wesen der »Sache« begründet. Einer Entmythologisierung halten numina nicht stand, sie zerfallen sofort vor den Augen der Vernunft; aber unversehens tauchen sie wieder auf aus den Eisbädern der methodischen Kritik und sind lebendig wie eh und je. Sogar in unserer ab- und aufgeklärten Kultur, die sich fast ganz den rationalen Konstruktionen einer abgesicherten Immanenz verschrieben hat, schauen sie aus den Ritzen und verwirren Gemüter. Sie scheren sich, scheint’s, nicht um Existenzbestreitungen, denn diese gehen an ihnen fehl. Numina existieren ja auch nicht, aber sie sind wirkmächtig.

In dem Moment, als sich in der Geschichte mythische Systematisierungen jener »Da ist etwas«-Erfahrungen und Götterhierarchien bildeten, Fraktale spiritueller Unendlichkeitsräume, als Stadtmauern gebaut und Ordnung und Regel in die unerklärliche Fremde der Welt gesenkt wurden, dazu im Einklang Riten sich verfestigten wie Mörtel zwischen den Steinen, begann es zu wimmeln von »Zwischenwesen«. Sie hatten die wachsenden Entfernungen auszufüllen zwischen den himmlisch aufsteigenden Göttern und den Menschen in ihren irdisch-niederen Grenzen. Zahllose Mischgestalten erwachten. Siegelamulette aus Mesopotamien und Kleinasien geben frühe Zeugnisse ihrer Erscheinung, soweit sie abbildbar waren. Sie vermehrten sich explosiv und verzauberten den Luftraum und die Tatsachendinge, das Seiende und die Zeit; da waren die indischen Gandharvas und Apsaras, die singenden Kimnaras, Yaksas und Yaksini, die zahlreichen Geister, die den Emanationen Buddhas zugehörten, die assyrischen Lamassu, die biblischen Cherubim und Seraphim, die chinesischen Shen, die altamerikanischen Zeit- und Kalendergeister und der Bote Chacmool, die Dryaden, Satyrn und Silene, Nymphen, Najaden und Tritonen.

Diese Wesen entziehen sich wohltuend einer Systematik. Ihre Genese ist verwickelt. Aber es lassen sich doch Formbildungen und Verhaltensweisen beschreiben, die dann in einem ihrer Entwicklungsströme in die Engelsvorstellung im engeren Sinn münden, als deren Heimat der Iran benannt werden kann.

So haben viele dieser Wesen einen Botencharakter, sie vermitteln; und sie bewohnen mit Vorliebe Grenzstreifen, Niemandsland, wo keine Wege mehr sind. Sie sind als Überführer, als Schmuggler wie auch als warnende Wächter höchst beweglich zwischen den Welten unterwegs, sie huschen wie Gedanken im Nu von einem Ort zum nächsten.

Sie werden zudem von Menschen meist als Kräfte erfahren, die in ihnen wirken – als Eindrücke und Träume, als Atmosphären und Gefühle, als Aura und Anziehung. Sie kommen aus der äußersten Ferne und gehen auf in der Verinnerlichung, nah dem eigenen Lebensgeheimnis derer, die sie erfahren. Sie werden verwandelt – sie öffnen sich etwa für Einsprüche, die in der gewöhnlichen Vorstellungswelt nicht verständlich sind und aufwendig übersetzt werden müssen, weil sie doch als höchst bedeutsam empfunden werden. Als Muhammad seine ersten Suren den verstörten Mekkanern vortrug und sie ihn wertschätzend »Dichter« (shā’ir) nannten – und damit aussonderten als einen »Besessenen«, madjnūn, in dem ein djinn, ein shaitān hauste, der ihm Verse diktierte –, mußte er klarstellen: »Es ist nicht die Rede eines verfluchten Satans, wozu versteigt ihr euch?«10 Es wurde ein brisantes theologisches Thema für ihn, woher denn nun seine augenscheinlich hoch poetische Eingebung kam, ob er sie – undenkbar – als Offenbarung direkt von Gott gehört hätte oder von einem vermittelnden Engel: »Es ist die Rede eines edlen Gesandten […]. Euer Gefährte ist nicht besessen, er sah ihn doch klar am Horizont, er geizt nicht mit dem Verborgenen.«11 Deutlich wird: Das »Äußere« der Offenbarung war eine »innerste« Verwandlung, eine Neuschöpfung des »Propheten«, erfahren als tiefere Erkenntnis des Eigenen, und er hatte noch keinen Ausdruck dafür.

Ihre »Übernatürlichkeit« erweisen diese Wesen oft in ganz natürlichen Erscheinungen, werden in Bergen und Bäumen, Pflanzen und Tieren, in Flüssen, Winden und Meeren, in Stimme und Gesang manifest. In der Naturgestalt aber verändern sie Wahrnehmungen, greifen als »reale Existenzen« ein in die Seelen, die sie besuchen, knüpfen neue Muster von Sinneseindrücken und ganz andere Beziehungen, etwa magische Identifikationen von Dingen und Menschen oder den Austausch zwischen Lebenden und Toten. So kann eine Akazie im Sinai zur Wohnstatt eines Djinns wie auch der Seele eines beduinischen Scheichs werden. Eine Eiche im Heiligtum von Dodona oder in den germanischen Wäldern konnte als Anwesenheitsform einer Gottheit erfahren werden, und »Eichenmänner«, Druiden, pflegten den in lebenden Ästen ausgreifenden Tempel. Wachstum und Verdorren wurden zu Nachrichten aus verborgenen Sphären, Blätterrauschen enthielt wunderwirkende Namen, und Zweige, zu Bündeln gebunden, nährten die Opferfeuer.

In Persien verdichteten sich die angelischen Energien, und das mag mit dem harten Dualismus zusammenhängen, in dem sich hier die jenseitige Welt zeigte: als Kampf und Krieg zwischen Gut und Böse. Feinde regen die Gestaltwerdung an, und das gilt auch für Engel und Teufel. Im Iran wurden »die Engel« als solche identifiziert und benannt – und das hieß: als Emanationen des Gottes Ahura Mazda. Heerscharen standen gegen die schlimmen Zwillingsgeburten, die »Teufel«.

Hierarchisch geordnet, löste sich in Persien eine untergeordnete Geistwelt von der Gottheit wie ein feiner, sorgsam gewebter Schleier, der sich öffnete und zur Erde sank. Zahlreiche Wesen erwachten, niedere und höhere Engel. Auffällig ist auch hier, daß sich diese vorrangig im Menschen selbst realisierten, sie wurden etwa als Fravashi, als seelenstärkende Schutzengel, oder als Daēnā, Glaubensgeister, erlebt. Gerade in dieser Gestalt wurden Engel nun zu Kräften in der Religiosität des Menschen: Als Glaubensinhalte wurden sie zu Glaubensgründen. Sie schufen sich gleichsam selbst im Denken der Menschen, sie zogen sich selbst ans Licht.

Über allen thronten die erhabenen Erzengel, die in Zarathustras Verkündigung »unsterbliche Heilige« (amesha spenta) hießen. Sie schillerten in ihrem Wesen, und dieses Erbe gaben sie weiter: Als metaphysische Mächte waren sie zugleich Hypostasen menschlicher Begriffe, erwachten als »Wahrheit«, »Gerechtigkeit«, »Gesundheit« oder »Maß« zum Leben. Als Elementarkräfte bildeten sie sinnliche Urelemente, waren Feuer, Erde, Wasser, Luft. Als Boten waren sie Ausströmungen des höchsten, ganz jenseitigen Gottes. So unterwanderten die persischen Engel erfolgreich die aufgebrochene Kluft zwischen Transzendenz und Immanenz. Sie waren in ihrer lebendigen Bewegung Garanten für die Einheit der Wirklichkeit.

Großohr

Fledermäuse jagen knapp über meinen Kopf, fressen wohl die Mücken, die vom Säugetiergeruch angezogen im Dunkeln über meinem Haar kreisen. Die schwarzen Schatten jagen auf mich zu und berühren fast meine Schläfen. Ich spüre ihren Luftzug, und eine archaische Angst packt mich: Seelenverwirrer? Todesboten? Amphibien der Luft, die sich am Schädel oder im Gedächtnis festsaugen?

Ein kindlicher Reflex: Ich lege mich auf den Berg. Eingerollt bin ich sicher, verschwimme mit dem, was mich umgibt. Hier bin ich Tau, der in der Nacht fällt, bin ein Weidenstamm, ein nasser Stein. Mein hechelnder Atem kommt von fern, sehr fern aus einem kleinen Körper in seinem Versteck, aus dem Erdreich, aus dem Gras.

Ich lebe in einer entzauberten Welt, aber sie faßt und hält mich nicht ganz. Ich muß keine Angst haben vor dem Unerklärlichen und habe doch Angst – vor den allgegenwärtigen Erklärungen, die mich absichernd in sich einschließen. Es ist dieser merkwürdige Schwebezustand, der mich nach numina fragen läßt. (Während doch um mich her die professionellen Mittler der Transzendenz, die Kirchen und ihre Theologie, sich ihrer Begriffe meist viel zu gewiß sind und ich mich mühen muß, mit ihnen zu glauben. Ich meine damit: lauschen ins Offene, das mit dem Wort »Gott« aufbricht, lauschen und hoffen.)

Gehe hinüber

Engel sind, jedenfalls für Menschen bestimmter geschichtlicher Epochen und Kulturen, beschreib- und mitteilbar, und sie erweisen sich, solcherart identifiziert, dann doch immer als andere. Ihr Erscheinen, das manchmal so flüchtig ist, daß es wie ein verzögertes Verschwinden wirkt, ist stets unterschieden von dieser ihrer Erscheinung – Engel sind Gesten in der Bewegung, Spuren, sichtbar wie die Bahnen von Teilchen in einer Nebelkammer, sie verweisen auf etwas anderes, als sie sind. Gerichtet auf ein Hinaus aus der Welt und auf ein Hinüber haben sie einen Zeichencharakter – so jedenfalls von der Warte derer aus, die Engel erfuhren und davon erzählten. Nur, wer kann sie entschlüsseln?

In jeder starken Erfahrung gibt es zwei Pole, wie aufgeladene Kondensatorplatten, und was wir erleben, leuchtet im Zwischenraum als eine Entladung auf: Da ist eine passive und eine aktive Dimension, die Widerfahrnis einer Fremde und deren Deutung in sprachlichen, bildlichen oder rituellen Mustern. Äußeres Geschehen und innere Antwort, Überraschung und deren Verständnis verschmelzen zum Eindruck.12 Die Engel sind in ihrer gestischen Gestalt dafür besondere Zeugen. Sie sind das, als was sie erscheinen – und sie sind es nicht. Sie werden von manchen als etwas verstanden und stehen für etwas ein, was sie dann sind und doch nicht sind, weil sie sich in ihrer Flüchtigkeit weder objektivieren lassen, noch irgendwie beweisbar werden. Sie sind so eindeutig wie metaphorisch, so gewiß wie vernünftig unhaltbar. Sie kennen auch keine Wiederholung ihrer selbst, somit ist ihre Existenz nicht zu überprüfen. Das nun nicht, weil sie Masken und Kostüme tragen über einer »eigentlichen«, verborgenen, geistigen Substanz, sondern weil ihr ureigener Daseinszustand einem Hinüberwehen gleicht: Was sie sind, fließt ins Offene aus. Sie sind Verweise und in ihrer Gestalt nie geronnen, erscheinen als dies und das, sind fraglos gewiß und zugleich unwiderlegbar eine esoterische Spinnerei.

Sie sind, könnte man sagen (und auch solchen Übersetzungen gegenüber bleiben sie stumm), mythische Personifizierungen jener Grenzlagen, in denen sich der sprechende, denkende Mensch findet, sobald er Fremdes realisiert – und man meint ihr Rauschen zu hören, wenn Bernhard Waldenfels fragt: »Doch inwiefern sind Grenzen Bestandteil der Erfahrung? Wären sie der Erfahrung gänzlich fremd, so wären sie nicht mehr als Außengrenzen erfahrbar; wären sie ihr völlig zugehörig, so wären sie keine Grenzen der Erfahrung mehr, sondern nur noch Binnengrenzen. Als Grenzwesen ist der Mensch in einer heiklen Zwischenlage, die ihn weder im Innern noch im Außen zur Ruhe kommen läßt.«13

So wurden die Engel (meist nur deshalb so genannt, weil ein Wort nottat und dieses schnell bei der Hand war) immer wieder von Seherinnen und Propheten, von Mystikern, aber auch von unverdächtigen Zeugen, die zuvor religiös nicht weiter aufgefallen waren, plötzlich und blitzartig als bestimmende fremde Kräfte im Innern erlebt. Engel tragen, so gesehen, in sich selbst den Riß zwischen dem antwortenden Verstehen, das sie als etwas erfaßt, und dem Einstich des Unbekannten. Der Horizont ist ihr Körper. Sie sind sagbar, indem sie auf das Unsagbare zeigen – und darin verschwinden. Ein Engel ist eine Chiffre für die Erscheinungsweise der Transzendenz als Überschreitung.

»Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: ›Gehe hinüber‹, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.« So läßt Franz Kafka in seiner Prosaminiatur »Von den Gleichnissen«14 einen Weisen auftreten und sehr unbestimmt sprechen: »Gehe hinüber.« Das große Thema der Religion, die »andere Seite«, verliert sich hier im Nebel, wird leichthin zu etwas Vagem, zu einer langsamen und unsicheren Bewegungsform. Was ist denn auch dort drüben? Wir schauen in eine merkwürdige Leere. Niemand kann etwas davon sagen – auch der Weise nicht, denn er ist hier wie wir und weist nur hinüber. Wer wirklich seinen Worten folgen und sich auf den Weg machen würde, hätte kein verläßliches Ziel, ja könnte nicht einmal einen Sinn des Aufbruchs benennen. Ein Laufen »dorthin« ließe alle vorausgreifenden Begriffe und Erwartungen hinter sich.

Die Pragmatiker, die Kafka sprechen läßt und die darauf schauen, »womit wir uns jeden Tag abmühen«, die Diesseitsmenschen, bleiben auf der Stelle. Sie halten das »Drüben« für generell nutzlos, ohne es zu kennen. Aber die religiösen Ideologen verharren ebenso, weil sie dogmatisch das »Drüben« bereits »hierher« geholt zu haben meinen in ihre »religiösen Wahrheiten«.

Nein, was der Weise anzubieten hat, ist nur eine Zeigegeste: »Dahin!«, über die Grenze, über den Horizont.

»Darauf sagte einer: ›Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und schon der täglichen Mühe frei.‹

Ein anderer sagte: ›Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.‹

Der erste sagte: ›Du hast gewonnen.‹

Der zweite sagte: ›Aber leider nur im Gleichnis.‹

Der erste sagte: ›Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren.‹«

Der Text bleibt offen, rätselhaft, läßt die unterschiedlichsten Folgerungen zu. Uns fehlt der Schlüssel. Wer dem Weisen wörtlich glaubte und losginge, geriete in zweifelhafte Unruhe, eine Getriebenheit. Ihm stünde kein verwertbares Wissen, schon gar keine begriffliche Metaebene zur Verfügung und nichts, was von seiner riskanten Bewegung selbst zu lösen wäre. Denn hier, wo ich bin, ist zumindest ein konkreter Ort, und dort nur von hier beschreibbar. Die Grenze zwischen beidem verschiebt sich noch im Gehen. Der stets bewegliche Spalt zwischen Diesseits und Jenseits schließt sich nie. Wahr wird das Dort im Gehen von hier hinüber, einem Laufen im radikalen Wagnis, das von keinem vorstellbaren Ziel gemildert wird. Ohne zu wissen, wohin, aber gehen: Das ist eine uralte spirituelle Erfahrung. Kein Wissen hilft und kein Dogma auf dem Weg, dem »schmalen Pilgerpfad«,15 hinaus »in eine dunkle Nacht«,16 ziellos auf das Ziel zu, und »auf dem Weg […] stehenbleiben, heißt zurückgehen«.17 Kafkas Sätze bewegen sich an einer Schwelle, wo sie nur verstummen können.

»Dahin!«, die Wortgeste, »Gehe hinüber« – so hören sich die unaussprechlichen Namen von Engeln an. Kafkas Prosaminiatur versteht sprechend zu schweigen. Die Umkehrung, wie sie Kafka in den Stimmen der Zweifler entwirft, gilt dabei uneingeschränkt: Es gibt solche Wesen nicht. Wer zieht nicht in Betracht, daß es sich bei gesteigerten Erfahrungen, intensiven Engelsvisionen, etwa von Sadiel, Muriel, Agriel, Jophiel, Nachiel, von »Rasdael, VI. Chor der Fürsten, aus dem Versiegelten Drittteil. Er ist der Verwalter über Kohle und Kohlenstoff in allen Verbindungen […]«,18 um gestörte Wahrnehmung oder Einbildung handeln könnte? Man kann und muß vielleicht das, was ein anderer als eine Vision erlebt, als dissoziativen Zustand oder als Halluzination interpretieren. Man kann dann auf Ströme und Erregungspotentiale im Gehirn, auf Störungen der Integration von Informationen und der Gehirn-Welt-Verschränkung in den weiträumigen Netzwerken präfrontaler und parietaler Areale verweisen19 und das Geschehene messen an Vorgaben von Normalität, und man hat in gewissem Sinne recht.

Beide Worte, »Engel« und »Halluzination«, bringen starke Weltbilder in Stellung. Doch von welcher Warte aus, so müssen wir mit dem Weisen Kafkas fragen, von welchem Ort hier ließe sich Fremdes erkennen, das offene Dort, ohne es einem vorgreifenden Verständnis unterzuordnen und damit seiner Fremde, seiner Wirklichkeit zu berauben? Beide Worte, »Engel« oder »Halluzination« werden hier semantisch überdehnt und reißen. Wir haben nichts als die Namen »Dahin!« und »Gehe hinüber«, die Zeigegesten – ganz verwechselbar, Grenzlagen des unruhigen Menschen.

Der Tanz

Er hob langsam die rechte Hand, und sein ganzer Körper folgte wie ein angehängter Schleier dieser einfachen Gebärde. Auch ich, als Betrachter, hatte mich sofort darin verfangen, und meine Blicke glitten höher, bis sie zuletzt auf den leuchtenden Fingerspitzen ruhten, die weiter hinauf wiesen. Alles um ihn herum hing nun so organisch zusammen, als strömte eine Flüssigkeit. Der gotische Altarraum war ein Wirbel geworden, das Gewölbe setzte den Schwung der Hand fort, verharrte dann mit ihr schwebend.

Obwohl das Alter des Tänzers eine gewisse kantige Trägheit in die Bewegung eintrug, blieb sie rein und klar. Sie war so fein, daß sie seinen aufrechten Körper zuletzt wie das Ornament an einem Kapitell nach oben öffnete, ein wehendes Akanthusblatt, und er stand sicher und still. Die anschwellende Musik verlangte einen Fortgang, aber der Tänzer ruhte. Die Fuge schritt immer bestimmender und vielstimmiger aus und eilte. Er verharrte. Was nun? Nach einigen Sekunden war die Spannung zwischen dem unverändert Stehenden und den drängenden Tönen bereits so stark geworden, daß etwas geschehen mußte: entweder das Verstummen des Klaviers oder ein eruptiver Tanz.

Da drehte er sich um, von der Tür zum Fenster, zur hellen Apsis, von Westen nach Osten, und ließ den Kopf sinken, während die Hand aber erhoben blieb. Zuerst schien es, als sei diese Umwendung der Auftakt zu einer neuen Bewegungsfolge. Dann verstand ich die schlüssige, ganz unerwartete Antwort des Körpers auf den fordernden Fluß der Töne – Verweigerung, Widerstand. Dabei war augenscheinlich das Verweilen nach der Drehung, das Ausharren, ganz aus der Hingabe an die Musik erwachsen, ja ich meinte, jetzt erst den wahren Gestus der strömenden Töne zu hören: Sie waren gefaßt. Ihr Eilen war eine Umkehr, getragen von Stille.

Schließlich geschah ein Rückzug, ohne daß er sich stärker bewegte, als sei ein Irrtum geschehen, ein Schwinden des Ausdrucks. Er sank in sich zusammen.

Die Choreographie zu Bachs »Wohltemperiertem Klavier« hatte er vor fast fünfzig Jahren mit seiner Lehrerin Elisabeth Vogler in West-Berlin erarbeitet, und nachdem er als Ausdruckstänzer ein Berufsverbot in der DDR bekommen hatte und nur noch in Kirchen hatte auftreten können, waren die vertrauten Schrittfolgen und Bilder ihm ein Geländer zum Weitergehen geworden, aus der Not in die Tugend, aus der Enge ins Freie. Er begann unwillkürlich in der erzwungenen Einfassung durch sakrale Räume, empfunden zunächst als muffige anders-ideologische Käfige, seinen Tanz doch immer mehr zu Gebetsversuchen zu vertiefen, gebildet von seinen Muskeln und Sehnen, den Gliedern und der Mimik. Das aber hieß für ihn, ins Ungewisse zu tasten, Gesten sinken zu lassen in einen unbekannten Abgrund, den sie erhellten wie brennendes Papier, das einen Brunnenschacht hinabschwebt. Er ließ das Unsichtbare ein in die Bewegungen.

Die Lehrerin war nach wochenlangem Studium der Noten mit ihm zunächst nur in höchster Konzentration hin und her über die Bühne gegangen; sie waren stehengeblieben; sie hatten rudimentäre Gesten probiert, in Spiegelungen und Krebs. Sie erkundeten vorsichtig den Raum innerhalb und außerhalb der Musik, und ihre Körper machten diesen sichtbar. Dabei erwies es sich als entscheidende Aufgabe, die natürliche Transzendenz der Bühne zu erkunden, den Auftritt und den Abgang, erschütternd klare Metaphern des Lebens, dazu die Ausrichtung dessen, was im Wort »Raum« plötzlich viel zu statisch erschien. Dieser konnte versickern und aufsteigen, konnte anschwellen und platzen, konnte pulsen und konnte schrumpfen zu einer Zwangshaut.

Alles war immer leichter geworden, spärlicher – und er hatte das Gefühl gehabt, mit ihr in ein gemaltes Bild einzutreten, in den goldenen Grund einer Ikone: Wo kamen sie beide her? Wo gingen sie hin? Was war groß, und was war klein? Es gab keine Fenster im Kellerraum der Oper, in dem sie probten. Sie tanzten, Laub leuchtete, Nachbilder des Sonnenlichts, oder es war Neumond, eine Milchstraße zog sich durch das ausdehnungslose, das maßlose nächtliche All der Bachschen Komposition. Hing nicht eine große russische Ikone des Pantokrators in diesem Keller? Oder war sie weggetragen worden, und nur ein heller Schatten in der Tapete zeugte noch von ihr? Nun formten sie beide ein verschwundenes Abbild.

Wenige Wochen nach der gemeinsamen Einstudierung starb plötzlich seine Lehrerin. Erst viele Tage später erfuhr er davon in Dresden. Der Mauerbau verhinderte, daß er zur Beerdigung kommen konnte.

Jahrzehnte danach war er selbst als alter Mann dabei, die Choreographie weiterzugeben, die er empfangen hatte – als Glied einer Kette, dachte er, weil die Aufzeichnungsformen unvollkommen sind, kaum taugliche Reduktionen, und so geht die Überlieferung von Leib zu Leib. Er hatte zu Beginn der ersten Probe seine und des jungen Tänzers Schuhe vom Vorleger vor der Tür fortgenommen und unter einer Pappkiste versteckt. Dies hatte er jahrelang nicht mehr getan, plötzlich aber erinnerte sich dieser verirrte Reflex an ihn. Früher war das wichtig, um den Spitzeln der Staatssicherheit, die ihn stichprobenartig, aber doch häufig observierten, keine zusätzliche Informationsquelle zu bieten, wer bei ihm aus und ein ging. Vor allem die Meditationskurse in seiner Wohnung, wenn Menschen schweigend am Boden hockten, waren den Lauschern, die nun nichts wahrnehmen konnten, eine Quelle wüster Verdächtigungen. Warum aber plötzlich diese grundlose Wiederholung?

Zu einer seiner freien Tanzvorstellungen im Saal der Porzellansammlung im Zwinger in Dresden waren an einem Abend, irgendwann im Sommer 1968, auffallend viele Kollegen und Offizielle gekommen. Es gab im Anschluß an die Vorführung eine spontane öffentliche Versammlung, auf der sein Stil unvermittelt und in rauhem Ton angegriffen wurde: Seine Tänze verkörperten den »Geist des imperialistischen Feindes«, seien »dekadent in ihrer spätbürgerlichen Formensprache« und gäben nicht wieder, was die »Lebenskräfte des Landes« seien, »den Tatendrang der Arbeiter und Bauern unter der Führung der Partei«. Tage später verlor er seine Stelle am Ballett. Nur weil seine Tänze, auf das Drängen von Freunden hin, von den ostdeutschen Bischöfen in einer gewagten Entscheidung als »Gottesdienst« anerkannt wurden, konnte er noch auftreten – doch nur in Kirchen. Aber war sein Tanz Gottesdienst? Oder handelte es sich nur um eine Tarnung? Was tat er?

Er hatte für die öffentliche Probe im Kreis von Vertrauten, eine Art Übergaberitual der Choreographie, sein weinrotes Gewand aus Japan angezogen – ein Geschenk seines Zen-Lehrers, das er empfangen hatte, als er nach dem Ende der DDR