Inspiration statt Resignation (E-Book) - Regula Kyburz-Graber - E-Book

Inspiration statt Resignation (E-Book) E-Book

Regula Kyburz-Graber

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Seit den Anfängen der Umweltbildung und -erziehung wird von Lehrpersonen in Sachen Umweltschutz und Nachhaltigkeit eine stete Wissensvermittlung verlangt. Die jungen Menschen sehen sich individuell in der Pflicht, endlich nachhaltig zu handeln. Aber die Trendwende lässt auf sich warten; die Wirkung von Appellen, Diktat und Erziehungsbestrebungen ist nachweislich vernachlässigbar. Regula Kyburz hat eine reiche Erfahrung mit Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit. Sie beschreibt wirkungsvolle Unterrichtsmethoden und weist Lehrenden wie Lernenden den Weg zur Inspiration statt Resignation.

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Seitenzahl: 175

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Regula Kyburz-Graber

Inspiration statt Resignation

Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit neu denken

 

ISBN Print: 978-3-0355-2711-7

ISBN E-Book: 978-3-0355-2710-0

 

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Düstere Prophezeiungen

Wie Naturschutz-Sprache wirkt

Ein Blick zurück auf Naturschutz und Schule

Die Dramatik in der Sprache der UNO-Gremien

Erste Umweltkonferenz der UNO in Stockholm 1972

Die UNO-Konferenz zur Umwelterziehung in Tiflis 1977

Die Agenda zur nachhaltigen Entwicklung ab 1992

Weltdekade der Bildung für nachhaltige Entwicklung und Weltaktionsprogramm

Immense Erwartungen

Ziele der Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit in der Schweiz

Anfänge der Umweltbildung und Weiterentwicklung zur Bildung für nachhaltige Entwicklung

Der Übergang zur Bildung für nachhaltige Entwicklung

Bildung für nachhaltige Entwicklung im Lehrplan 21

Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Rahmenlehrplänen der Sekundarstufe II

Wie steht es um die Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit in der Schweiz?

Die Forschung zur Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit

Die Anfänge des «Journal of Environmental Education»

Die positivistisch ausgerichtete Forschung zur Umweltbildung

Forschung im deutschsprachigen Raum

Die gesellschaftskritische Forschung im englischen Sprachraum

Aktueller Stand der Forschung zur Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit

Lernen zu Umwelt und Nachhaltigkeit

Lernen, ein kontrollierbarer Vorgang?

Lernen ist mehr als die Aneignung von Wissen

Emotionen beim Lernen

Motivation entsteht durch eigenes Tun

Lernen als sozialer Prozess

Bildung für nachhaltige Entwicklung übergeht die Lernenden

Naturwissenschaftliche Sichtweisen beziehen die Situation der Lernenden nicht ein

Was fürs Lernen über Umwelt und Nachhaltigkeit von Bedeutung ist

Das grosse Dilemma

Die überindividuelle Dimension der Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen

Das grosse Dilemma im Umgang mit Allgemeingütern

Der berühmte Artikel über die Tragödie der Allmende

Wege aus der Übernutzung von Allgemeingütern

Folgerungen für die Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit

Von innovativen nachhaltigen Unternehmen und Projekten lernen

Lernen durch die Arbeit an Fallbeispielen

Was eignet sich als Fallbeispiel für nachhaltige Entwicklung?

Wie ein Start-up eine Nachhaltigkeitsidee umsetzt

Ein Kanton nimmt die Nachhaltigkeit ernst: das Projekt «Antenne Nachhaltige Quartiere»

Ein Traditionsunternehmen macht mit den Nachhaltigkeitszielen ernst

Interdisziplinäre Umsetzung im Unterricht

Ein Fallbeispiel untersuchen

Wahl eines Fallbeispiels

Vorgehen bei der Fallanalyse

Einbettung in den Unterricht

Fachliche Verankerung

Fächerübergreifende Vertiefung

Brückenschlag zum Ausgangspunkt: aus dem Dilemma bei der Nutzung von Allgemeingütern herausfinden

Kritik an der Defizitorientierung

Der Tenor in den offiziellen Dokumenten

Dilemma-Thematik unter kognitiven und emotionalen Aspekten

Das vielschichtige Potenzial einer Fallarbeit

Literaturverzeichnis

Autorin

Vorwort

Es muss ungefähr im Jahr 1960 gewesen sein, als wir vier Geschwister mit meinen Eltern eine Wanderung an der Reuss unternahmen, in der Gegend, wo die Lorze aus dem Zugersee in die Reuss in der Grenzregion der Kantone Aargau und Zürich fliesst. Dort liegt ein schweizweit bekanntes Naturschutzgebiet, das in den 1950er-Jahren noch als Geheimtipp galt. Mein Vater war Biologe, Biologielehrer und im kantonalzürcherischen Naturschutzbund als Vorstandsmitglied aktiv. Wir waren viel unterwegs in Feuchtgebieten, vom Neeracherried über das Pfäffiker-, Ambitzgi-, Kaltbrunnerried und viele mehr. Meistens bereitete mein Vater auf solchen Erkundungsgängen Exkursionen vor, die er dann mit Studierenden von Lehrerseminarien durchführte. Exkursionen waren sein Herzensanliegen und sein Markenzeichen als engagierter Biologielehrer.

Als wir hintereinander auf einem schmalen Pfad durch das Feuchtgebiet stapften, blieb er abrupt stehen. Er hob den Zeigefinger und bedeutete uns, absolut ruhig zu sein. Dann zeigte er auf einen Vogel, der etwa 20 Meter vor uns auf einem Zweig sass. Er war unübersehbar, denn er war gross und trug eine Haube. Gebannt betrachteten wir ihn. Sekundenlang, vielleicht sogar minutenlang. Wir wagten uns nicht zu bewegen. Noch wussten wir nicht, warum wir uns so starr verhalten sollten. Vögel hatten wir schon viele beobachtet, Kiebitze, Bekassine, den grossen Brachvogel. Dass man dabei ruhig sein sollte, wussten wir auch. Aber diesmal lag etwas Besonderes in der Luft, die zu vibrieren schien. Irgendwann breitete der Vogel kurz seine Flügel aus, hob ab und flog davon.

«Nie wieder», sagte mein Vater mit bewegter Stimme. «Nie wieder werdet ihr diesen Vogel in eurem Leben sehen. Es war ein Wiedehopf. Er ist vom Aussterben bedroht, weil sein Lebensraum, grosse Flächen mit lockerem Gebüsch, überall zerstört wurde.»

Die Dramatik, die in der Stimme und der Aussage des Vaters mitschwang, brannte sich mir tief in das Gedächtnis ein. So stark war der Eindruck, dass mir zwei Jahre später, als Zwölfjährige an der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium, das eine der drei Auswahlthemen für den Aufsatz sofort ins Auge sprang: Nie wieder, hiess es da. Unmittelbar war mir klar, worüber ich schreiben wollte.

Viele Jahre später wurde ich selbst in der Umweltbildung aktiv. Ich engagierte mich nach dem Biologiestudium für das neue Thema Ökologie im Unterricht, in Weiterbildungskursen für Lehrer und Lehrerinnen und für die Öffentlichkeit. Ich forschte und lehrte zur Umweltbildung in Schulen und an der Hochschule. Erst durch meine forschende Tätigkeit wurden mir die Augen geöffnet für die fatalistische Sprache im Natur- und später im Umweltschutz. Und ich begann zu realisieren, wie bevormundend viele Fachleute der Umwelterziehung gegenüber Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auftraten. So, als ob sie allein wüssten, wie das gute Leben zu leben sei.

Ich begann die offiziellen Dokumente der UNO und UNESCO zur Umweltbildung und später zur Bildung für nachhaltige Entwicklung unter dem Blickwinkel des Besserwissens und Vorschreibens von Verhaltensweisen neu zu lesen. Und ich stellte auch hier die im Natur- und Umweltschutz verbreitete schwarzmalerische und beschwörende Sprache fest, die für sich in Anspruch nimmt, zu wissen, was in Zukunft gelten soll. Der Schritt zur Festschreibung der Tonalität in Lehrplänen war nicht weit.

Mir geht es nicht darum, besserwisserisch ein neues Dogma in die Welt zu setzen. Vielmehr treibt mich die Frage um, warum wir in der Umweltbildung und in der Bildung für nachhaltige Entwicklung wie auch in den Medien nach 50 Jahren noch immer nicht über den Appell «Jeder Einzelne muss halt umweltbewusst handeln; dann lösen wir die grossen Umweltprobleme» hinausgekommen sind. Warum die Sprache und die Argumentationen über all die Jahrzehnte mehr oder weniger gleichgeblieben sind. Und warum die hohen Erwartungen, dass Umweltbildung der jungen Generation zu einer Trendwende in der Gesellschaft und sogar zu einer Transformation in Richtung Nachhaltigkeit führen würden, nicht erfüllt worden sind. Es scheint ein Treten an Ort zu sein. Das beschäftigt mich als eine Fachperson, die sich seit den Anfängen vor 50 Jahren für die Bildung einsetzt. Angesichts der heute drängenden weltweiten Probleme scheint Bildung im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit auf verlorenem Posten zu sein.

In diesem Buch gehe ich der Frage nach, wie es zu erklären ist, dass die Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung wenig erreicht, ja viele junge Menschen mit dem Thema Umwelt vielleicht überfordert oder gar abgeschreckt haben. Im ersten Teil untersuche ich die Sprache der Naturwissenschaften, die der Umweltbildung und der Bildung für nachhaltige Entwicklung zugrunde liegt. Im zweiten Teil untersuche ich die Sprache im Blick auf das dahinterliegende Lernverständnis; die Befunde kontrastiere ich mit aktuellen Erkenntnissen zum Lernen. Im dritten Teil geht es um die Frage, wie sich die Bildung für Umwelt und Nachhaltigkeit grundsätzlich neu ausrichten kann und wie sie sich umsetzen lässt. Diese Überlegungen führen zu keinem Patentrezept. Patentrezepte sind in der Bildung fehl am Platz. Aber ich hoffe, dass meine Ausführungen die eingefahrenen Blickrichtungen kritisch zu hinterfragen vermögen und neue Energien für Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen in der Bildung wecken können. Für mich persönlich waren und sind es die spannendsten Themen in der Bildung überhaupt.

Düstere Prophezeiungen

Wie Naturschutz-Sprache wirkt

In den 1980er-Jahren führte ich in unserer Wohngemeinde im Rahmen eines Naturschutzeinsatzes, der von den Lehrerinnen und Lehrern organisiert worden war, eine Befragung bei den Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren durch. Zwei Fragen stellte ich ihnen: Was bedeutet für dich Natur? Was bedeutet für dich Umwelt? Sie schrieben ihre Antworten auf ein Blatt Papier, das ich einsammelte. In der Auswertung fiel mir auf, dass meistens kein deutlicher Unterschied zwischen Natur und Umwelt gemacht wurde. Und was aufschreckte: Viele Antworten waren nicht in einer unmittelbaren Erlebnissprache abgefasst, sondern in der Wortwahl von Erwachsenen: «Der Mensch zerstört die Natur», «Die Natur ist nicht mehr so wie früher», «Überall gibt es Umweltzerstörung», «Der Mensch muss der Natur mehr Sorge tragen». Leider war keine Zeit eingeplant, um mit den Kindern im kleinen Kreis darüber zu reden, wie sie zu ihren Aussagen gekommen waren. Ich hätte nachhaken und fragen müssen, welche konkreten Erfahrungen sie mit zerstörter Natur gemacht hatten. Es ist gut möglich, dass sie dann auf herumliegenden Abfall verwiesen hätten. Abfall wird oft mit Natur- und Umweltzerstörung gleichgesetzt. Kinder lernen früh, Abfall richtig zu entsorgen. Darauf ist man in der Schweiz schon zu Beginn des Umweltschutz-Diskurses besonders stolz gewesen.[1] Über die Abfallentsorgung hinaus aber wären den Kindern wohl kaum eigene Beispiele eingefallen. Denn das Erkennen des schleichenden Naturverlusts setzt genaues Hinschauen und eigenes Fragen voraus, gepaart mit Wissen über lokale Veränderungen. Viele Erwachsene könnten vermutlich ebenfalls nicht erklären, woran sie Naturveränderungen in ihrer eigenen Umwelt genau festmachen. Kenntnisse über Naturzerstörung werden meist über Medien vermittelt.[2] Betroffen machte mich bei den Aussagen der Kinder nicht so sehr, dass sie die Zerstörung der Natur beklagten, als vielmehr, dass sie sich wie Erwachsene ausdrückten. Ich deutete das so, dass die Kinder die Erwachsenen über die Naturveränderung klagen hörten, selbst aber keine eigenen Vorstellungen damit verbinden konnten, sondern die Klagen, ohne sie verarbeiten zu können, verinnerlichten.

Wie die Sprachwahl persönliche und gesellschaftliche Auffassungen zur Natur- und Umweltzerstörung prägen, wurde mir einige Jahre später bewusst. Ich stiess ausserhalb der naturwissenschaftlichen Disziplinen auf einen Artikel zur Technikgeschichte. Ein Historiker hatte analysiert, wie es dazu kam, dass der Gewässerschutz in der Schweiz eine pionierhafte und im Vergleich zu anderen Umweltschutzbereichen einmalig starke Position erreichte, die bis heute andauert.[3] Er zeigt auf, wie die drastische Sprache von Fachleuten des Natur- und Gewässerschutzes auf dem Hintergrund der Nachkriegszeit und verstärkt durch Stimmen aus der Sportfischerei die Gesellschaft und Politik zu mobilisieren vermochte. Wachstums- und Fortschrittskritik, wie sie zum Beispiel der Schweizerische Bund für Naturschutz (SBN, heute Pro Natura) bekundete, habe in den 1960er-Jahren in der Bevölkerung breite Resonanz gefunden. Er zitiert aus einem Textabschnitt in der Zeitschrift des SBN, wo es heisst, der Naturschutz werde «immer mehr zu einem Kampf um die Erhaltung eines gesunden Lebensraumes für Menschen, Tiere und Pflanzen». Der «begrenzte Lebensraum» sei bedroht durch eine «übermässige Industrialisierung mit Hilfe von Fremdarbeitern», sie führe «zu einer beschleunigten Verschmutzung von Luft und Wasser, zu einem vermehrten Verbrauch an Land für Überbauungen, zu einem ganz unnötig künstlich geförderten Aufbau einer Massengesellschaft, die eines Tages den schweizerischen Charakter verloren haben wird».[4] Der Gewässerschutz zeitigte in den 1960er-Jahren einen «erstaunlichen Erfolg», wie Gugerli ausführt. Weit verbreitet war damals das Erklärungsmuster, wonach der Erfolg auf die systematische Aufklärung und das dadurch wachsende ökologische Bewusstsein der Gesellschaft zurückzuführen sei. Zudem habe die Belastung der Gewässer eine direkte Verhaltensveränderung der Bevölkerung zur Folge gehabt. Der Historiker aber ist davon nicht überzeugt. Er geht davon aus, dass gesellschaftlich nur relevant sein kann, worüber auch kommuniziert wird. Gugerli stellt in seiner Analyse fest, dass im Wesentlichen die Art der Kommunikation über die Gewässerschutzprobleme zum Erfolg führte. Auffällig daran sei die kriegerisch anmutende Wortwahl, die nicht zuletzt vom damals führenden Gewässerschutzexperten Otto Jaag getroffen wurde. Auch Bilder kamen zum Einsatz. 1961 erschien in der Weltwoche die Berichterstattung über eine Orientierung im Verkehrshaus Luzern mit versammelter Prominenz von Bundesrat, Wissenschaft, chemischer Industrie und anderen. Der Artikel wurde eindringlich untermalt mit einem Totenkopfbild des Künstlers Hans Erni.

Der Erfolg des Gewässerschutzes ist auch deshalb so erstaunlich, weil er riesige finanzielle Verpflichtungen nach sich zog, die bis heute andauern. Die Schweiz setzte 1953 einen Gewässerschutzartikel in der Bundesverfassung und 1957 das erste Gewässerschutzgesetz in Kraft. Dieses war aber vorerst wenig wirkungsvoll. Erst mit der Sicherung von namhaften Bundesbeiträgen für den Bau von Abwasserreinigungsanlagen entfaltete das Gesetz seine Wirkung. 1971 folgte das zweite und 1991 das dritte Gewässerschutzgesetz. Die Schweiz übernahm eine weltweit führende Rolle im Bereich Forschung und Bau von Abwasserreinigungsanlagen.

Ein Blick zurück auf Naturschutz und Schule

Zwischen Naturschutz und Schule entstanden schon vor über hundert Jahren enge Verbindungen. Denn viele engagierte Naturschützer waren hauptberuflich Lehrer.[5] Oder man kann es auch umgekehrt sehen: Manche Lehrer auf der Primar- und Sekundarstufe beschäftigten sich in ihrer Freizeit intensiv mit der Natur und dem Naturschutz und trugen ihre Erkenntnisse in die Schule, der sie eine hohe Verantwortung in der Naturschutzerziehung zuschrieben. Sie nutzten sie als Vehikel für die Verbreitung der Naturschutzanliegen. Die Schule zu nutzen, um gesellschaftliche Anliegen voranzubringen, ist auch heute üblich. Denken wir an die Verkehrserziehung, die Gesundheitserziehung, die Abfallerziehung, das Energiesparen und viele andere gesellschaftliche Erziehungsaufgaben, die immer wieder selbstverständlich der Schule aufgetragen werden in der Hoffnung, dass sie es für die kommende Generation richten könne, wenn die Verantwortlichen in der Gesellschaft es nicht schaffen.

In der Naturschutzfrage lässt sich besonders deutlich erkennen, wie eine gesellschaftliche Aufgabe durch das gutgemeinte Engagement von Lehrpersonen auch Züge annehmen kann, die kritisch hinterfragt werden müssen. In einem Forschungsprojekt zur Geschichte der Umweltbildung im 20. Jahrhundert in der Schweiz konnten wir aufzeigen, wie die Kommunikation in Bildungskreisen manchmal überspitzt, dramatisierend überhöht bis gesinnungsethisch beschwörend war.[6] So äusserte sich Paul Sarasin, einer der ersten Naturschützer und erster Präsident des SBN sowie Gründer des Schweizerischen Nationalparks 1911 in der Schweizerischen Pädagogischen Zeitschrift zur Rolle der Schule für den Naturschutz:

… die Pflanze muss um ihrer selbst willen erhalten werden als ein Naturgeschenk, das nicht ausgerottet werden soll, so wie wir bei Kunstwerken allein an ihre Erhaltung denken und nicht nach dem materiellen Nutzen fragen; die freie Natur ist eine Zierde, nicht eine Züchterei von Fleischtieren, und wer immer nur nach dem Nutzen fragt, ist nicht etwa ein Philosoph, sondern ein Gasterosoph.[7]

Paul Sarasin beschränkte seine Ansicht von der «Belehrung des heranwachsenden Volkes» nicht nur auf Tiere und Pflanzen, sondern schloss auch «die Rettung noch ursprünglicher Menschenstämme vor Ausrottung oder Niedertretung» ein (beide Zitate von Sarasin, S. 31).[8] In den ersten Jahren des Naturschutzes ab 1911 wurde vor allem auf die Gefahren des rücksichtslosen Pflanzensammelns hingewiesen, eine Aktivität übrigens, die wesentlich mit der damals gängigen Erstellung eines Herbars im Biologieunterricht verknüpft war. Die Thematik des Naturschutzes blieb über viele Jahre bestehen. In späteren Jahren wurde daraus vermehrt eine Rhetorik der Natur- und Heimatliebe, die in Kriegsjahren eine besondere Bedeutung erhielt. So schrieb 1940 der Thurgauer Seminardirektor Willi Schohaus über die Erziehung zur Naturverbundenheit:

Menschen ohne Naturverbundenheit sind seelische Kümmerlinge. Es fehlt ihrem Dasein die natürliche Basis, sie sind entwurzelt und heimatlos, weil sie sich der Mitkreatur gegenüber entfremdet haben.[9]

Im Zusammenhang mit dem Schoggitalerverkauf von 1947 rief der Präsident des Schweizerischen Lehrervereins in der SLZ auf:

Überall, wo geistige und kulturelle Güter in Gefahr sind, helfen die Lehrer bei der Abwehr in vorderster Linie mit. An uns liegt es, die Jugend zu diesem Idealismus zu führen.[10]

In den 1950er- und 1960er-Jahren waren es dann vermehrt politische Themen wie die Wasserkraftnutzung und auch die Gewässerverschmutzung, die sich in den Empfehlungen für die Schule spiegelten. Otto Jaag, der Gewässerschutzpionier, empfahl zum Beispiel die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern an Bachentrümpelungsaktionen, um sie durch diese «aktive Bewusstseinsbildung» für den Gewässerschutz zu gewinnen.[11]

Mit dem Naturschutzjahr 1970 nahm die Rhetorik für die Schule nochmals zusätzlich Fahrt auf und kam gelegentlich geradezu beschwörend, Angst einflössend daher:

Das Missachten des nicht vom Menschen Geschaffenen hat dazu geführt, dass wir heute unsere eigenen Lebensgrundlagen vernichten, dass unsere Umwelt – und mit ihr unser Gemüt – in verheerender Art verödet. Der der Natur entfremdete Mensch entfernt sich vom Normalen [sic], Gesunden; er verfällt dem Perversen [sic], Krankhaften. Neurosen und Geisteskrankheiten nehmen überhand.[12]

Ernst Zimmerli war der Begründer des ersten Schweizerischen Zentrums für Umwelterziehung, das er als engagierter Lehrer der Bezirksschule aus eigener Initiative unweit seiner Bezirksschule in Zofingen aufbaute. Der 1970 neu antretende Redaktor der SLZ, Leonhard Jost, schlug sogar apokalyptische Töne an:

Hat Erziehung zum Naturschutz, zum Lebensschutz, zur Ehrfurcht und Verantwortung dem Leben gegenüber noch eine Chance? … Das Getriebe der Welt hat uns alle längst erfasst, zwischen Skylla und Charybdis werden wir ohnmächtig umgetrieben und starren gebannt auf den ansaugenden Strudel und die grässliche Hydra, die uns unausweichlich verschlingen werden. […] Es gilt noch immer das Wort H.G. Wells aus den Zwanziger-Jahren: ‚Die Menschheit befindet sich in einem Wettlauf zwischen Erziehung und Katastrophe.‘ An uns liegt es, die Chancen der Erziehung zu stärken.[13]

Die drastischen Worte von verschiedenen Autoren, die die Geschichte des Natur- und Umweltschutzes prägten, wirken heute in der Zusammenschau stark übertrieben. Aber sie waren bitterernst gemeint. Sie waren als ultimativer Appell an die erziehungsverantwortlichen Lehrer zu verstehen. Die Eltern waren eher weniger Adressaten, was wohl damit zu tun hatte, dass sie in der damaligen Zeit die Zuständigkeit für die Wissensvermittlung mehr oder weniger den Lehrerinnen und Lehrern überliessen. Die Naturschützer sahen in der schulischen Erziehung die bevorzugte Möglichkeit, das Steuer herumzudrehen. Deshalb galten ihre Appelle den Lehrpersonen.

In der Schweiz war das Jahr 1970 nicht nur wegen der Ausrufung zum europäischen Naturschutzjahr für die Wissenschaftswelt bedeutungsvoll, sondern auch, weil erstmals ein wissenschaftliches Symposium zum Zustand der Umwelt stattfand. Hintergrund war eine kleine Anfrage von Nationalrat Jakob Bächtold, wonach an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich die Ökologie zu fördern sei. Das Symposium wurde vom 10. bis 12. November 1970 an der ETH unter dem Titel «Schutz unseres Lebensraumes» ausgerichtet, geleitet von Prof. Dr. Hans Leibundgut, Lehrstuhl für Waldbau. Es versammelten sich Experten aus der Schweiz und einige wenige Spezialisten aus Deutschland. Unter den über 50 Referenten war als einzige Frau Dr. Emilie Lieberherr, Stadträtin von Zürich. Die Teilnahme am Symposium stand auch Studierenden offen. Es nahmen «weit über dreitausend Besucher» am Symposium teil, wie es im Vorwort des Tagungsbandes heisst.[14] Otto Jaag war nicht als Referent eingeladen; sein Nachfolger Werner Stumm leitete das Seminar V «Nutzung und Schutz der Gewässer». Dennoch erhob er seine gewichtige Stimme: Die Abschiedsvorlesung, die Otto Jaag zwei Tage später am ETH-Tag hielt, fand als Schlusskapitel Eingang in den umfangreichen Tagungsband des Symposiums. Der Titel lautete: «Muss die Menschheit wirklich zugrunde gehen?» Otto Jaag zeichnete ein düsteres Bild vom Zustand des Planeten Erde. Nach einer Problemanalyse stellte er fest, dass die Vernunft nicht genüge, die «grauenvolle Entwicklung, in der wir uns befinden, aufzuhalten». Dennoch appellierte er an den «Verstand, um die Menschheit zur Vernunft zu bringen, mit dem Ziel, den praktisch unbeschränkt leistungsfähigen menschlichen Geist auf eine produktivere Bahn zu lenken». Es sei dazu aber

eine völlige Umkehr, ein radikales Umdenken, eine machtvolle, revolutionäre Kraftanstrengung aller verantwortungsbewussten Menschen notwendig. Die unerlässliche Grundlage für eine solche geistige Revolution muss auf einer ethischen Lebensgestaltung orkanartig die Menschheit in ihrer ganzen Tiefe erfassen. Sie muss auf gegenseitige Achtung und gegenseitiges Vertrauen gegründet sein.[15]

Die Dramatik in der Sprache der UNO-Gremien

Erste Umweltkonferenz der UNO in Stockholm 1972

Die weltweite Umweltschutz-Thematik hat einen klaren Anfangspunkt: die UNO-Konferenz in Stockholm im Jahr 1972. Zehn Jahre früher hatte das Buch der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson «The silent spring» –(«Der stumme Frühling») für riesiges Aufsehen gesorgt, zumindest in der biologischen Fachwelt und bei interessierten Bürgerinnen und Bürgern. Rachel Carson belegte im Buch mit zahlreichen Beispielen die Gefahr, die von Pestiziden und anderen Chemikalien für die Umwelt und die Menschen ausging. Sie zeigte anhand der Nahrungsketten auf, wie die Giftstoffe in den Naturkreislauf eingeschleust werden und darin verbleiben, zum Schaden von Menschen, Tieren, Pflanzen und Böden.

1972 wurde das Buch «Grenzen des Wachstums» veröffentlicht, ein Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Der Club of Rome war aus dem Zusammenschluss von wissenschaftlichen Fachleuten aus mehreren Ländern entstanden. Er existiert bis heute; sein Sitz ist in der Schweiz. Für das Buch hatten Donella und Dennis Meadows mit ihrem Mitautor Jørgen Randers durch Systemanalysen und Computersimulationen verschiedene Szenarien der zukünftigen Weltentwicklung erstellt. Aspekte der Analysen waren die Industrialisierung, Rohstoffreserven, das Bevölkerungswachstum, die Unterernährung, die Zerstörung von Lebensraum. Auch dieses Buch rüttelte auf, mehr noch als «The silent spring». Wer das Buch las – und das waren viele in zahlreichen Ländern – war entsetzt über die pessimistische Prognose für die erwähnten Bereiche. Die Welt schien in kürzester Zeit auf einen Kollaps hinzusteuern. Später wurden die Rechnungsmodelle verfeinert und damit die Prognosen relativiert. Dennoch blieb die Grundaussage bestehen, dass die Ressourcen auf dem Planeten Erde begrenzt sind und der von der Menschheit genutzte Lebensraum beschränkt und gefährdet ist.

Die Zeit war 1972 also reif für einen internationalen Austausch und Vereinbarungen zum Umgang mit den grossen Bedrohungen. Die erste Umweltkonferenz wurde im Juni 1972 in Stockholm unter dem Titel «United Nations Conference on the Human Environment» durchgeführt. Zum Abschluss wurde in der Deklaration zur Konferenz festgehalten, dass die Menschheit durch die beschleunigte Entwicklung von Wissenschaft und Technik die Macht erworben habe, die Lebensumstände zu verbessern, gleichzeitig aber auch die Macht, die Umwelt in mannigfacher Art zu transformieren. Diese Entwicklungen erhöhten auf der anderen Seite das Potenzial für die Gefährdung der industrialisierten Länder.