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Warum wir nicht alle gleich intelligent sind
Inwieweit Intelligenz erblich ist, wird in der Öffentlichkeit immer wieder heftig diskutiert. Aus wissenschaftlicher Sicht steht jedoch fest, dass es genetisch bedingte Unterschiede gibt. Allerdings wird das Potenzial, das jeder Mensch mitbringt, erst wirksam, wenn es in Familie und Schule nach besten Möglichkeiten gefördert wird. In ihrem neuen Buch erklären die renommierten Intelligenzforscher Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer, wie es zu Intelligenz- und Begabungsunterschieden kommt, wie man Intelligenz messen kann, woran man überdurchschnittlich begabte Menschen erkennt und wie man Intelligenz fördert. Sie stellen klar: Intelligenz ist eine individuelle Ressource, die man nur in der Gemeinschaft entwickeln kann. Und: Wir haben Begabte nötiger denn je, hängt der Erfolg unserer Informations- und Wissensgesellschaft doch maßgeblich von ihnen ab.
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Seitenzahl: 357
Elsbeth Stern | Aljoscha Neubauer
INTELLIGENZGroße Unterschiede und ihre Folgen
Deutsche Verlags-Anstalt
1. AuflageCopyright © 2013 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenTypografie und Satz: DVA /Brigitte MüllerGesetzt aus der StoneISBN 978-3-641-08050-1www.dva.de
Für Alissa, Ralph und Tatjana
Inhalt
Vorwort
1 Wozu brauchen wir Intelligenz?
2 Was ist Intelligenz, und wie wird sie gemessen?
3 Woher kommen Intelligenz- und Begabungsunterschiede? Die Frage nach Erbe und Umwelt richtig gestellt
4 Nature via Nurture: Was muss die Umwelt dem Kind bieten, damit sich das genetische Potenzial optimal entwickeln kann?
5 Der Blick ins Gehirn: Wie das intelligente Gehirn aussieht
6 Intelligenz intelligent nutzen: Welche Vorteile haben intelligente Menschen, wenn sie gute Entwicklungsbedingungen haben?
7 Kein Ersatz für Intelligenz: Fleiß, Disziplin, Motivation und Kreativität
8 Begabungsförderung in der Schule:Was wir besser machen können und müssen
Literatur
Abbildungsnachweis
Register
Vorwort
»Es gibt nichts Ungleicheres als die gleiche Behandlung von ungleichen Menschen.«
Thomas Jefferson
Unter Psychologen ist unbestritten, dass die Gauß’sche Glockenkurve die Verteilung der geistigen Begabung am besten abbildet. 70 % der Menschen liegen nicht weit vom Mittelwert entfernt, 15 % zeigen deutlich unterdurchschnittliche und 15 % klar überdurchschnittliche Leistungen in Intelligenztests. Entgegen der immer wieder vorgebrachten Kritik sind Intelligenztests alles andere als Artefakte, die im realen Leben keine Rolle spielen, sondern können Lebenserfolg auf breiter Ebene vorhersagen. Eine hohe Intelligenz ist uneingeschränkt positiv zu bewerten. Unbestritten ist auch, dass überdurchschnittliche Leistungen nicht einfach nur das Ergebnis besserer Umweltbedingungen sind, sondern dass es genetisch bedingte Unterschiede in der geistigen Leistungsfähigkeit gibt. Diese Anlagen können sich aber nur unter förderlichen Umweltbedingungen entfalten. Wer keine entsprechenden Anlagen mitbringt, kann selbst unter optimalen Bedingungen keine Spitzenwerte erreichen.
In der Intelligenzforschung hat man sich sehr ausgiebig mit den Extremen an beiden Enden beschäftigt. Dank umfangreicher Erforschung von geistiger Behinderung wissen wir inzwischen mehr über die Möglichkeiten dieser Menschen und können ihre Lebensbedingungen besser gestalten. Sehr gut untersucht sind auch die sogenannten Hochbegabten, also die 2 % Besten mit einem IQ von 130 oder höher. Wir wissen, dass diese Menschen sehr gute Erfolgschancen in Ausbildung und Beruf haben, und wir wissen auch, dass die angeblich größeren sozialen und lebensweltlichen Probleme dieser Gruppe ein Mythos sind. Hochbegabte unterscheiden sich lediglich in der Intelligenz von ihren etwas weniger begabten Zeitgenossen. Allerdings hat sich die Abgrenzung der Hochbegabten als schwierig und fehleranfällig herausgestellt. Psychologische Tests sind im oberen Bereich ungenauer als im mittleren. So ist es möglich, dass ein als hochbegabt klassifizierter Mensch in Wahrheit nur einen Platz im oberen Viertel einnimmt, während eine Spitzenbegabung übersehen wird, weil die Testsituation nicht optimal war. Tatsächlich wäre eine moderne Wissens- und Informationsgesellschaft aber schlecht beraten, wenn sie ihre Bildungsressourcen bevorzugt auf die oberen 2 % konzentriert. Denn moderne Gesellschaften brauchen einen großen Pool von Menschen, die geistig flexibel und bereit sind, Verantwortung zu tragen und Risiken der Innovation auf sich zu nehmen. Eine überdurchschnittliche Intelligenz ist dafür eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung. Damit überdurchschnittlich intelligente Menschen zum Wohle der Gesellschaft in die Lage versetzt werden, verantwortungsvolle Positionen zu übernehmen, müssen sie die Gelegenheit bekommen, ihre Intelligenz in inhaltliche Kompetenzen zu investieren.
Ein Merkmal von Intelligenz ist die Flexibilität im Denken. Diese bedeutet aber nicht, dass man sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens neu orientieren kann. Auch für intelligente Menschen ist der Erwerb von Kompetenzen ein aufwendiges Unterfangen, das viel Zeit in Anspruch nimmt. Eine zentrale Frage, die sich jede Gesellschaft deshalb stellen muss, ist, wie sie Menschen mit guten geistigen Voraussetzungen erkennt und so fördert, dass sie ab dem Erwachsenenalter verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen können. Nur eine Gesellschaft, die ihre Talente nutzt, kann auf Dauer erfolgreich sein. Intelligenz und Begabung können als ein Startkapital verstanden werden, in das man investieren muss. Sie sind eine individuelle Ressource, die sich nur in der Gemeinschaft entwickeln kann. Die biologischen Voraussetzungen der Intelligenz im Genom und im Gehirn treffen auf Angebote in Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Wie dieses Zusammentreffen für alle optimal aussehen könnte und wodurch es beeinträchtigt werden kann, werden wir in diesem Buch zeigen.
Dass wir trotz der üblichen universitären Belastungen die Zeit gefunden haben, dieses Buch zu schreiben, verdanken wir vor allem unserem funktionierenden wissenschaftlichen Umfeld. Wir konnten jederzeit auf die kompetente Hilfe unserer Mitarbeiter zählen. Stellvertretend seien hier Mathias Benedek, Claudia Boschung, Peter Greutmann, Sylvia Opriessnig und Jürgen Pretsch genannt. Ganz besonderen Dank schulden wir Christiane Naumann von der Deutschen Verlags-Anstalt, die das Buchprojekt von Anfang an begleitet hat und dank ihrer kritisch-konstruktiven Rückmeldung Wesentliches zur Lesbarkeit beigetragen hat.
Graz und Zürich
Aljoscha Neubauer und Elsbeth Stern
1 Wozu brauchen wir Intelligenz?
»Psychologen sind sich inzwischen einig darin, dass Intelligenz das Produkt der Schule ist und gleichzeitig deren wichtigstes Rohmaterial.«
Richard Snow, 1982
Stellen wir uns 60 acht- bis neunjährige Kinder vor, die auf drei Grundschulklassen der dritten Jahrgangsstufe derselben Schule verteilt sind. Jeweils 20 Kinder gehen zusammen in eine Klasse. Die Kinder sollen mathematische Textaufgaben lösen, die sie in der Form noch nicht durchgenommen haben, z. B.:
Beate hat 4 Kekse. Andreas hat 3 Kekse. Wie viele Kekse haben Beate und Andreas zusammen?Welche Voraussetzungen muss ein Kind mit Deutsch als Muttersprache dafür mitbringen? Es muss offensichtlich lesen können und arithmetische Grundoperationen im kleinen Zahlenbereich beherrschen. Wir gehen davon aus, dass alle Kinder in den ersten Schuljahren dazu genügend Gelegenheiten erhalten haben. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass so gut wie alle Kinder im dritten Schuljahr die genannte Aufgabe lösen können (Stern, 1997). Sie müssen sich dazu aus dem ersten Satz die Zahl 4 merken, aus dem zweiten die 3, und nachdem sie die Aufgabenstellung gelesen haben, muss den Kindern klar sein, dass man die beiden addieren muss. Wer bis dahin die Zahlen vergessen hat, die es zusammenzuzählen gilt, liest die Aufgabe einfach noch mal von vorn.
Obwohl diese Aufgabe sehr einfach ist, erfordert sie doch eine ganz bestimmte Kompetenz, nämlich die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, genauer genommen zum deduktiven Denken. Mathematische Textaufgaben gehören zu dem Typ Aufgaben, bei dem es darum geht, aus vorgegebener Information neue zu erschließen, ohne dass weiterer Input von außen erforderlich ist. Alle Angaben, die man zur Lösung der Aufgabe braucht, sind im Text enthalten, der Rest muss im Kopf konstruiert werden. Was genau im Gehirn dabei vor sich geht, kann man zwar nicht beobachten, aber man kann sich anhand von wissenschaftlichen Modellen recht genaue Vorstellungen davon machen. So wissen wir beispielsweise, dass Menschen ein abstraktes Teil-Ganzes-Schema in ihrem Gedächtnis repräsentiert haben, aus dem sie ableiten können, dass man durch das Zusammenfügen kleinerer Mengen eine größere Menge herstellen und umgekehrt größere Mengen in kleinere aufteilen kann. Es gibt Belege dafür, dass schon sehr kleine Kinder über ein solches Schema in ihrem Wissensrepertoire verfügen. Wird dieses Wissen mit den in der Schule erworbenen Kompetenzen im Lesen und Rechnen kombiniert, ist ein Kind imstande, die obige Textaufgabe zu lösen. Allerdings ist eine solche Neukombination von verschiedenen Wissenskomponenten keine Selbstverständlichkeit; sie erfordert eine Art von Intelligenz, wie sie, nach allem was wir wissen, dem Menschen vorbehalten ist. Dennoch würden wir ein achtjähriges Kind, das die oben genannte Textaufgabe lösen kann, nicht als besonders intelligent bezeichnen. Den Begriff Intelligenz verwenden wir im Alltag wie in der Wissenschaft, um die Unterschiede in der geistigen Leistungsfähigkeit von Menschen zu betonen. Mit einer Aufgabe, die fast alle Menschen einer Altersgruppe lösen können, lässt sich Intelligenz in diesem Sinne also nicht unter Beweis stellen.
Ganz anders sieht es bei den beiden folgenden Aufgaben aus:
Maria hat 8 Murmeln. Sie hat 3 Murmeln mehr als Hans. Michael hat 5 Murmeln. Er hat 2 Murmeln weniger als Elisabeth. Wie viele Murmeln haben Hans und Elisabeth zusammen?Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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