Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an - Veneda Mühlenbrink - E-Book

Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an E-Book

Veneda Mühlenbrink

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Beschreibung

Seit die Schriftstellerin Valerie ohne ihre Freundin Irina lebt, ist sie mit der Sinnkrise liiert. Eine neue Liebe lässt auf sich warten, aber immerhin begegnet ihr ein spannender Romanstoff – ausgerechnet im Altersheim. Denn dort trifft Valerie auf Luise. Die ist weit über neunzig, aber hellwach und so jung geblieben wie ihre Gefühle. Und sie hat eine ganze Menge zu erzählen – von vergangenen Zeiten, in denen Frauenliebe frei gelebt und wenige Jahre später politisch verfolgt wurde. Valerie beginnt Luises Leben aufzuzeichnen, während die alte Frau neugierig die Verhältnisse zwischen Valerie und ihren Freundinnen erkundet. So mischen sich die Welten im Tanz durch die Zeit.

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Seitenzahl: 359

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Veneda Mühlenbrink

Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an

Roman

ISBN eBook 978-3-89741-955-1

ISBN Print 978-3-89741-306-1

© 2018 eBook nach der Originalausgabe© 2010 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/TaunusAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Atelier KatarinaS | NLCoverfoto: © »Main dans la main« nool #19756293 | Fotolia

Ulrike Helmer VerlagNeugartenstraße 36c, 65843 Sulzbach/TaunusE-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

In Gedenken an Irmgard

Danke!

Danken möchte ich meiner Familie für

die Unterstützung. Danke an Tina für

die »Kontaktaufnahme‹, und wie immer

Svenja für den Rotstift an passender Stelle.

Mein besonderer Dank gilt meiner Liebe in

Berlin und in meinem Leben. Ohne Dich

wäre aus dieser Geschichte kein Buch entstanden!

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Prolog

Der Schreibtisch im Arbeitszimmer ist über und über mit Notizzetteln bedeckt, eiligst bekritzelt in fast unleserlicher Schrift, es muss immer schnell gehen, wenn es sich um Luise dreht. Bücher über Stadtgeschichte stapeln sich zu einem schiefen Turm, längst hätten sie zurückgebracht werden müssen in die Bibliothek. Ausgedruckte Internetseiten über die Zwanziger Jahre, eine Kurzbiographie über Adele Sandrock liegen unter Kopierpapier. Es ist halb acht abends, seit Stunden sitzt Valerie vor dem PC, ihr Rücken schmerzt. In der Pappschachtel vor dem Drucker liegt eine kalte Pizza Salami mit Champignons und die Flasche Rotwein von gestern steht noch auf dem Fensterbrett.

Hier arbeitet sie am liebsten. Leider gibt es da noch den anderen Schreibtisch, den in ihrem Büro am anderen Ende der Stadt. Am Morgen hat sie sich wie immer beeilt, dorthin zu kommen, nur um möglichst früh wieder heim zu können. In der Nacht hatte es geschneit, Autos mit Sommerreifen waren vor ihr hergeschlittert. Plötzlich bog ein Bestattungswagen in die Straße ein und nahm ihr die Vorfahrt.

Der brauchte wohl neue Kundschaft! Sie stieg kräftig in die Bremsen und unterdrückte ein lautes Fluchen. Durch die halb satinierte Rückscheibe war der Deckel des Sarges sichtbar, geschmückt mit einem Blumenbukett aus gelben Tulpen. Luise liebt die Farbe Gelb, ihren Sarg sollen einmal Sonnenblumen zieren. Und wenn der Himmel noch so düster ist, diese Blume fängt selbst den kleinsten Sonnenstrahl, sagt sie. Valerie blinkte links, an der nächsten Ecke rechts, der Bestattungswagen ließ sie folgen.

Seit Wochen ist sie nicht mehr bei Luise gewesen. Weihnachten waren Luises Verwandte zu Besuch gekommen, Silvester war eine alte Freundin von ihr über Nacht geblieben und Valerie hatte an ihrem Manuskript gearbeitet. Ende Januar rief Luise an und fragte zaghaft: »Wann kommst du mich wieder besuchen? Bist du immer noch böse auf mich?«

Nein, böse konnte sie ihr nie sein, aber enttäuscht und zutiefst verletzt blieb sie dennoch.

Es war Luises Siebenundneunzigster gewesen. Schon zwei Monate davor hatte Luise sie jedes Mal gefragt, ob sie denn auch zu ihrer Feier käme. Schließlich könnte dieser Geburtstag ja nun der letzte sein. Hoffentlich. Dabei hatte sie die Hände gefaltet und nach oben geschaut. Schließlich hatte Valerie ihr den Gefallen getan, einen Strauß gelber Rosen erstanden und an die Tür von Zimmer 217 geklopft. Vertraut erklang Luises »Herein!« nach fast zwei Jahren, in denen sie jeden Donnerstag hier angeklopft hatte; nur an diesem besonderen Tag, ihrem Geburtstag, war es ein Mittwoch gewesen.

Das kleine Zimmer quoll fast über vor Möbeln und Menschen. Mindestens acht Frauen, junge, ältere, aber keine von den Heimbewohnerinnen, redeten gleichzeitig, schenkten Kaffee ein und schoben sich Zuckerkuchen in den Mund. Alle kannten sich, doch keine kannte Valerie.

Wer ist das, fragten die Blicke Luise. »Kommen Sie, hier ist noch Platz, setzen Sie sich.« Eine Frau stand auf, um eine saubere Tasse zu holen.

»Wer hat dich denn eingeladen?«

Valerie glaubte im ersten Moment an einen von Luises Scherzen. Sie umarmte sie zur Gratulation und flüsterte ihr ins Ohr: »Sehr witzig!«

»Luise«, riefen sie, »stell uns die Dame doch mal vor! Woher kennt ihr euch?« Luise schaute zu Valerie, als wäre sie ihr völlig fremd: »Hab ich dich eingeladen?«

Sie meinte es tatsächlich ernst. Wen rufst du dreimal die Woche an? Ihre Telefonnummern sammelt sie in einem Jutebeutel. Die Zettel mit den Zahlen werden seit Jahren immer größer, ihre Augen immer schlechter. Valeries Nummern, Privat, Büro, Handy, stehen auf einem Pappschild, dick und schwarz. Wer schmuggelt regelmäßig eine Flasche Prosecco ins Wilhelminenstift? Wer hat auch schon mal beim Wechseln der Windel geholfen? Mit wem tanzt du am Rollator nach »Jump« von den Pointer Sisters? Wer hat die Schatulle deiner geliebten Mutter mit der wertvollen Holzintarsie wieder repariert, nachdem die Pflegeschülerin sie vom Regal gefegt hatte? Wem hast du erzählt, dass du in deinem Leben nur Frauen liebtest?

Nein, sagte Valerie leise. Sie könne sowieso nicht bleiben, habe leider keine Zeit, habe nur kurz vorbeischauen und gratulieren wollen. Schnell murmelte sie ein Auf Wiedersehen und schloss die Tür hinter sich. Draußen lehnte sie den Kopf gegen die Wand, atmete flach und kämpfte mit der in ihr aufsteigenden Wut. Bis plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter lag. Ildigo, die rumänische Ärztin. Dabei hatte sie sie gar nicht kommen hören.

»Ist dir nicht gut? Was ist los, Valerie, willst du schon wieder gehen? Luise hat sich den ganzen Tag auf deinen Besuch gefreut!«

»Digo, lass mich, ich muss hier raus!« Sie drehte sich um und lief los, ohne Ildigos Reaktion abzuwarten.

Am späteren Abend, es war bereits nach zehn, klingelte das Telefon. Vielleicht war es Renée, die in Alice Springs ahnte, dass es ihrer liebsten Freundin gerade nicht gut ging, was viel zu milde beschrieb, wie elend Valerie sich fühlte.

Ein leises Schluchzen begrüßte sie am anderen Ende der Leitung. »Verzeih mir, bitte vergib mir für das, was ich heute getan habe!« Unter Tränen stammelte Luise die Worte in den Hörer. »Aber was hätte ich denn sagen sollen? Freunde aus Grünau waren da, meine Familie, ich kann ihnen doch nicht sagen, wer du bist, was du für Bücher schreibst, was du über mich schreiben wirst! Verzeih mir, Valerie, bitte! Ich war einfach überfordert.«

»Du hast mir verdammt weh getan, weißt du das?« Valerie konnte nicht länger an sich halten. »Endlich kann ich Emilie verstehen!«

Nie wieder, schwor Luise, nie wieder werde sie Valerie verleugnen. Und sie könnte den Gedanken nicht ertragen, sie vielleicht nie wiederzusehen.

In den letzten sechs Jahren hatte die Greisin mit Gott gehadert. Es sei doch jetzt genug, ein erfülltes Leben, nicht immer fromm gewesen, sicherlich, aber niemals schlecht. Er da oben habe sie womöglich vergessen! Was in seinem Namen solle denn jetzt noch passieren mit sechsundneunzig Jahren? Dann war sie Valerie begegnet und sie hatte zu erzählen begonnen.

Nie hatte es eine Chronologie in ihren Erzählungen gegeben. Die Erinnerungsbruchstücke fügten sich während der Gespräche zusammen und ein einziges Stichwort ließ aus einer Zweiunddreißigjährigen plötzlich wieder eine Siebzehnjährige werden. Stand sie eben noch vor ihrem ausgebombten Elternhaus, so saß sie im nächsten Moment im Zug ins Berlin des Jahres 1929.

Nach mehreren Wochen verzieh ihr Valerie. Es war bereits Mitte Februar, als sie zusammen im Stiftgarten saßen, die Sonne schien, als wollte sie den Kalender Lügen strafen, und Luise streichelte Valeries Hand.

»Wir sitzen hier wie ein verliebtes Pärchen«, sagte Luise und zeichnete mit der Fingerspitze die Adern auf Valeries Handrücken nach. »Jetzt habe ich dir alles von mir erzählt, die Zeitreise ist zu Ende.«

»Meine liebe Seele, deine neue Liebe wird dich finden, nur versteck dich nicht gar zu sehr«, sagte sie ein andermal.

Unter all den Notizen auf ihrem Schreibtisch findet Valerie einen Brief, den ihr Luise vor einiger Zeit geschrieben hatte:

Bei unseren Treffen habe ich wieder in mein Leben zurückgeblickt und für mich erfahren, wie sehr ich eines immer verdrängt habe – Gefühle. Solche offenen Gespräche, wie wir sie führen, sind in meinem Freundeskreis nicht üblich. Ich höre gerade einen Roman von Stendhal. Er erzählt von Menschen, die erfahren, wie viel Leid man der Liebe wegen ertragen kann. Ich hatte immer Angst davor, aber du nicht.

Deine Luise

Das Telefon klingelt.

»Ja, hallo?«

»Spreche ich mit Valerie?«

»Ja.«

»Mein Name ist Okka Reinstahl. Ich bin eine Freundin von Luise und sie hat mich gebeten, Sie anzurufen, wenn es soweit ist. In ihren Unterlagen fand ich Ihre Telefonnummern. Sie müssen ihr sehr wichtig gewesen sein.«

Valerie schluckt. »Was ist passiert?«

»Sie ist vorgestern eingeschlafen, ganz friedlich. Ich dachte, Sie möchten vielleicht morgen zu ihrer Beerdigung kommen. Vielleicht lernen wir uns ja kennen, es würde mich freuen.«

Valerie schluckte. Wie einfach sich solche Dinge sagen ließen. »Ich danke Ihnen, dass Sie mich angerufen haben. Natürlich werde ich kommen.«

Oder besser nicht. Luise hätte ein Problem damit gehabt, schließlich würden dort die ganzen Freunde und Verwandten sein, die in all den Jahren so selten zu Besuch gekommen waren. Vielleicht sollte sie doch erst übermorgen ans Grab gehen, alleine von Luise Abschied nehmen. Einmal sprachen sie über den Tod und Luise hatte ihr gesagt, auf welchem Friedhof sie gerne liegen wollte. Nicht weit entfernt von ihrem Elternhaus. Du kommst doch, wenn es soweit ist? Aber das hatte sie auch zu ihrem Geburtstag gesagt. Nie wieder werde ich dich verleugnen!

Valerie muss plötzlich lächeln. Plötzlich sieht sie wieder den Leichenwagen von heute Morgen vor sich. Das sah Luise ähnlich. Als Letztes hatte sie ihr also eine rollende Einladungskarte zu ihrer eigenen Beerdigung geschickt.

Natürlich wird Valerie morgen Abschied nehmen – mit einer Sonnenblume in der Hand.

1. Kapitel

Die Luft steht wie ein Wams zwischen den Häusern. Das Polo-Shirt klebt Valerie am Rücken. »Sei bitte pünktlich«, sagte Tina am Telefon noch: »Sie mag es nicht, wenn man sie warten lässt.«

Unmöglich, mit dem Auto bei einer Verabredung in diesem verstopften Stadtteil pünktlich zu sein. Restaurierter Altbau, vierstöckig mit ausgebautem Dachboden, Kopfsteinpflaster mit weiß markierten Parkbuchten. Das Altenund Pflegeheim des Stifts besitzt nicht einmal einen eigenen Parkplatz für Besucher. Sie hätte mit der U-Bahn fahren sollen. Auf dem Hof eilt sie vorbei an Blumenbeeten zwischen Rasen und einem Rundweg. Geranien in weißen Plastikschalen. Auf einer Bank sitzt eine Diakonieschwester in ihrer blauen Tracht. Kragen und Haube frisch gestärkt und blütenweiß. Freundlich lächeln die blassen Augen. Von den Balkonen her begleiten Valerie neugierige Blicke. Da kommt Besuch, kann sich wieder eine freuen.

»Ist heute Dienstag?«

Eine Heimbewohnerin versucht die Räder des Rollstuhls vorwärts zu bewegen, es gelingt ihr nur schleppend.

»Nein, tut mir leid, heute ist Donnerstag.« Sie überlegt kurz, warum sie sich für die Antwort entschuldigt hat. Vielleicht, weil sie der alten Dame lieber gesagt hätte, dass heute Dienstag ist. Warum tue ich mir das an, fährt es Valerie durch den Kopf. Als hätte sie nicht genug um die Ohren. In der Eingangshalle riecht es nach Pfefferminztee, billigem Putzmittel und Ammoniak.

Kleiner Fahrstuhl, zweiter Stock, Marienhaus, den Gang hinunter, links, Zimmer 217, stand auf der Notiz von Tina. Ein Zettel hängt an der Tür: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Sie klopft zuerst leise, dann etwas lauter. Die Dame soll ein wenig schwerhörig sein.

»Herein!«

Die Stimme ist allerdings sehr kraftvoll. Zögerlich öffnet Valerie die Tür. Ihr Blick fällt auf eine kleine Sitzecke, zwei Sessel mit rundem Holztisch, darauf die gehäkelte Spitzendecke. Am Fenster steht ein Schreibtisch aus der Gründerzeit, zweifellos nicht ohne das legendäre Geheimfach. Links daneben prangt zu Valeries Verwunderung eine moderne Stereoanlage mit CD-Player.

»Wer ist denn da?«

Ein Mauervorsprung verdeckt Valerie die Sicht. Sie geht ein paar Schritte in den Raum hinein.

»Hallo? Ich bin Valerie, die Freundin von Tina!«

Kerzengerade sitzt eine kleine Gestalt auf dem Bett, die großen kräftigen Hände ineinander gefaltet. Ihr langes grauweißes Haar ist altmodisch zu einem Kranz um ihren Kopf geflochten.

»Kommen Sie näher, damit ich Ihr Gesicht sehen kann.«

Die Bluse gefällt Valerie. Nein, es ist keine Bluse, es ist ein Hemd, weiß mit Stegkragen. Vor der Brust ist der Stoff in kleine Falten gelegt, wie bei einem Frackhemd. Möglicherweise ist das Hemd mehr als fünfzig Jahre alt. Eine dunkelblaue Hose, am Bein schmal zulaufend, dazu beige, geschnürte Schuhe. Sie gibt Valerie die Hand.

»Müggendorf, Luise.«

Sie bleibt sitzen.

»Nehmen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich zu mir.«

Um den Hals trägt sie eine lange Kette, deren Anhänger den Heiligen Christopherus mit einem harmlos wirkenden Puttenengel auf den Schultern zeigt. Fast wirkt sie ein wenig unsicher, wie sie versucht, die Falten im Stoff ihrer Hose glatt zu streichen. Eine Strähne löst sich aus dem Haar. Verärgert schiebt sie das widerspenstige Ding hinters Ohr und diszipliniert es mit tänzelnden Fingerkuppen. Als ehemalige Krankenschwester wird sie ihren Patienten sehr schnell und eindringlich klar gemacht haben, dass sie nicht bei jedem kleinen Zipperlein springt.

Wie soll Valerie dieses erste Gespräch nur beginnen? Wie wird sie das Vertrauen dieser Frau gewinnen können?

»Sie schreiben also Bücher.« Ihre Augen suchen Valeries Hände.

»Ja. Ich arbeite an meinem dritten.« Valerie ist nicht wohl unter der Schärfe dieses Blicks.

»Greifen Sie doch mal hinter sich, bitte!«

Die ersten Worte, die nicht reserviert klingen. Ein Regal mit Büchern, sorgfältig nebeneinander aufgereiht. Manche mögen wohl noch aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts stammen.

»Das kleine Blaue, da rechts vor Ihnen.«

Beim Herausziehen erhascht Valerie einen kurzen Blick auf die Titel der anderen Bücher. Klaus Mann, »Mephisto«. Adele Sandrock, »Geschichten eines Lebens«. Dietrich Bonhoeffer, »Wir hätten schreien müssen«. Hermann Hesse: Gedichtbände, »Demian«.

»Ich möchte, dass Sie ein Gedicht aus dem blauen Buch aussuchen und es mir vorlesen.«

Es ist der Lyrikband von Emilie Belgardt. Eine Erstausgabe.

Luise Müggendorf sagt nichts. Ihre Mundwinkel zucken.

Als wären die Seiten aus feinstem Büttenpapier, nimmt Valerie jedes einzelne Blatt zwischen ihre Fingerspitzen und blättert. Die Gedichte handeln von der ewigen Sehnsucht nach Liebe. Sie beginnt laut vorzulesen.

»In der Dämmerung schmachte ich,

schmecke süß deine Lippen,

kann nicht sein,

will nicht die Nacht, ohne dich,

heißer Atem in meinem Gesicht,

ein Trugschluss, du bist es nicht.«

Für einen kurzen Moment herrscht Stille zwischen den beiden Frauen.

»Dieses Gedicht liebe ich mehr als alle anderen«, sagt die alte Dame leise und reibt an ihrem Amulett.

Ihr Lieblingsgedicht? Valerie kann es kaum glauben. In den Augen der Fremden liest sie die Frage, wie sie das wissen konnte. Im Leben reiht sich Begegnung an Begegnung, und sie führen dich in die Gesellschaft von Menschen, die deine Seele suchen.

»Wovon handeln Ihre Bücher?«

Wie soll sie es formulieren? Diese Frau könnte ihre Großmutter sein! In Luises Jugend war das Wort lesbisch noch abwertend gemeint. Man nannte sie auch schamhaft Invertierte.

»Es geht um Frauen, die Frauen lieben.«

»Leben Sie mit einer Frau zusammen?« Während Luise fragt, schenkt sie Valerie Kaffee ein. »Ich habe dem Pflegepersonal aufgetragen, heute eine Tasse mehr in die Thermoskanne zu füllen. Milch und Zucker?«

»Danke, nein, schwarz. Zurzeit nicht, aber vor einem Jahr noch, na ja, es sind fast zwei Jahre.« Valerie zählt die Monate an ihren Fingern ab.

»Eine wundervolle Vorstellung.« Luise verdreht die Augen.

»Bitte?«

»Entschuldigen Sie, ich meine natürlich die Vorstellung, mit der Frau, die man liebt, zusammenzuleben. Erzählen Sie mir von Ihrer Geliebten.« Sie rückt näher an die Kante des Bettes, beugt sich vor und stützt ihren Kopf auf dem Handrücken ab. »Lieben Sie diese Frau noch? Hat sie Sie verlassen?«

»Ja. Beides.«

»Liebst du diese Frau?«, schrie Irina sie an.

Valerie konnte ihr nicht in die Augen sehen. Soeben hatte sie der Frau, mit der sie seit über acht Jahren jedes Gefühl teilte, gestanden, auf einem Seminar mit einer Kursteilnehmerin ins Bett gegangen zu sein.

»Verschwinde! Ich ertrage dich nicht mehr in meiner Nähe!«

Ihre Hände wedelten in zorniger Abwehr. Dass sie Valerie nicht einmal berührten, machte die Situation nur noch unerträglicher. Wie eine Aussätzige behandelt fühlte sie sich. Jedem Gewaltverbrecher hätte Irina in diesem Augenblick mehr Verständnis geschenkt als ihr. In Valerie stieg Wut auf, eine Wut, die blind um sich biss. »Seit Monaten hast du mich abgewiesen! Du redest nicht mit mir über deine Gefühle, ich …«

Valerie wagte nicht weiterzureden. Irina machte einen Schritt auf sie zu, die Arme nach hinten gestreckt, die Hände zu Fäusten geballt.

»Bist du ein Mann, Valerie?!«

»Was soll das?« Valerie drehte den Kopf zur Seite.

»Sieh mich an!«

Jetzt schrie Irina noch lauter. Und ihr Mund war plötzlich so nah. Ihre Lippen entzündeten in Valerie eine bizarre Lust.

»Sag mir eines: War es nur Sex?«

Sie betonte die Wörter, als würde sie Valerie vor die Füße spucken.

Ich will mit ihr schlafen, jetzt, sofort. Wenn Valerie im letzten Jahr geglaubt hatte, die Leidenschaft zwischen ihnen wäre im Spülbecken ertrunken, mit dem Staubsauger weggesaugt oder mit der Wäsche aufgehängt worden, so stand sie in diesem Streit plötzlich brennend zwischen ihnen. Sie erschien ihr als Chance für einen Neubeginn. Sicherlich war es nur Sex mit dieser Fremden! Ihre Liebe zu Irina hatte dabei keinen Schaden genommen.

»Ja!«

»Dann bist du es nicht wert, dass ich dir verzeihe!«

Also die falsche Antwort. Als gäbe es in solch einer Situation je die richtige. Erst als Irina innerhalb von nur zwei Tagen aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, begriff Valerie, was sie aufs Spiel gesetzt hatte für zwei Stunden Sex, dem so viel Erotik zueigen gewesen war wie einer frisch geputzten Großküche. Acht Jahre gegen 120 Minuten. Eine Weile redete sie sich ein, dass Irina zurückkäme. Sie glaubte, wenn die Zeit ja bekanntlich Wunden heilte, setze sich die Sehnsucht über den Schmerz und die Enttäuschung hinweg. Doch wie in allem, lebte Irina auch in der Liebe konsequent. So, wie sie damals ihren Mann für Valerie verlassen hatte, verließ sie jetzt Valerie wegen eines Seitensprungs. Die Tugend der schnellen Entscheidungskraft erwies sich als äußerst zweischneidig.

Die Balkontür ist weit geöffnet und ein Windzug weht die Gardine ins Zimmer. Ein Gewitter zieht heran, das hoffentlich die erhoffte Abkühlung bringen wird.

»Ich war fünfzehn und im Georgengarten fand ein Sommerfest statt. Ein Wetter, so schwül und heiß wie heute. Es herrschte eine wunderbar ausgelassene Stimmung. Das Elend des Ersten Weltkrieges war für ein paar Stunden vergessen und die Straßenkrawalle zwischen Kommunisten und Freikorps fanden jedenfalls nicht in Hannover statt. Die Leute sonnten sich auf grauen Armeedecken, die sie kunstvoll geflickt hatten. Die Menschen packten ihre Picknickkörbe aus und die Männer führten ihren Kampf nur mit dem Liegestuhl. Unter einer Trauerweide saß eine Gruppe junger Frauen. Bei ihnen war Hanna, meine drei Jahre ältere Schwester. Die Mädchen genossen die Blicke der Studenten mit ihren Burschenschaftskappen. In einem der Pavillons spielte eine Kapelle zum Tanz auf und Hanna benahm sich sehr albern, wie ich damals fand. Nun ja, sie war verliebt.«

In einem Paar alter Augen spiegelt sich die Erinnerung an jene Tage, und für Valerie läuft die Zeit plötzlich rückwärts. Sie lässt sich von Luise Müggendorf an die Hand nehmen, folgt ihr hinaus in die Wärme eines sonnigen Junitages, unter die Trauerweide, dort wo Hanna und ihre Freundinnen über die schüchternen Blicke eines jungen Mannes kicherten, der von seinen Kameraden immer näher zu der Runde der Frauen gedrängt wurde. Endlich fand er den Mut, aus eigener Kraft auf sie zuzugehen, verbeugte sich vor ihr und bat sie zum Tanz. Hanna zögerte nicht, wie es sich für eine junge Dame ziemte, sondern ergriff seine Hand, woraufhin ihre Freundinnen kreischend in die Hände klatschten.

Unweit des Geschehens saß Luise neben ihrem Vater auf einer Decke und lugte über die Seiten ihres Buches hinweg. Als sie ihn wortlos auf die Schulter tippte, schaute er von seiner Lektüre auf.

»Luischen! Deine Schwester ist alt genug und ich vertraue auf die Erziehung deiner Mutter.«

Karl Müggendorf, einziger Sohn einer renommierten Schauspielerin am Königlichen Schauspielhaus in Berlin und eines preußischen Gardeoffiziers, hatte früh den Vater verloren, der im Deutsch-Französischen Krieg gefallen war. So waren es die Frauen der Familie, die ihn geprägt hatten, die preußische Großmutter väterlicherseits, Tante Käthe, Lehrerin an einem humanistischen Internat für höhere Töchter, und natürlich seine Mutter. Schon früh hatte er Theaterstücke von Shakespeare, Molière, Goethe gelesen und verliebte sich bei den Proben in Euripides oder Antigone. Die Leidenschaft für die Bühne verlor er nie, doch er wollte studieren und als Lehrer nach Deutsch-Südwestafrika gehen – eine Mischung der Leidenschaften, die sein Schicksal so nicht zuließ. Die zugige Kellerkammer eines Kolonialwarenhändlers in der Nordstadt von Hannover teilte sich Karl mit Fritz Menge. Gleicher Studiengang, Naturwissenschaften und Deutsch. Beide jungen Männer liebten Henny, die Tochter des Kolonialwarenhändlers. Doch während Fritz ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Hof machte, konzentrierte sich Karl auf das Studium und genoss ihren Anblick nur aus der Ferne. Wenn sie sonntags mit ihren Eltern in die Kirche ging, konnte er sie von der Dachluke aus beobachten. Eine Erkrankung im dritten Semester besiegelte Karls weiteren Weg. Außerstande, seinem Kameraden zu helfen, bat Fritz die Wirtsleute um Hilfe. Seit Tagen litt der Erkrankte wegen einer Mittelohrentzündung an starkem Fieber und fiel vor Schmerzen bisweilen in Ohnmacht. So kam es, dass die achtzehnjährige Henny an seinem Bett saß, Kamilleumschläge und kalte Wadenwickel machte, obwohl es der Mutter gar nicht recht war, dass ihre Tochter allein bei einem Mann auf dem Zimmer war. Immer wieder betrachtete die junge Frau Karls große starke Hände, und wenn sie sich sicher war, dass ihre Eltern im Laden gerade Kunden bedienten, berührte sie zaghaft seine Finger. Es muss wohl in einem dieser Augenblicke gewesen sein, als sie beschloss, dass ein Mann mit solch kräftigen Händen gewiss in der Lage wäre, sie und ihre zukünftigen Kinder zu ernähren.

Nach seiner Genesung musste Karl das Studium abbrechen. Die Krankheit hatte zu Taubheit auf beiden Ohren geführt. Doch er blieb im Hause des Kolonialwarenhändlers und ging bei ihm in die Lehre. Ein Jahr später heiratete er Henny, der erste Sohn wurde geboren und nach dem Tod ihres Vaters übernahm Karl den Laden und sorgte späterhin dafür, dass all seine fünf Söhne studieren konnten. Die vier Mädchen durften zumindest die Töchterschule besuchen. Eine der vier studierte Medizin, und das war eben Hanna.

Luises Blick suchte vergeblich nach ihrer Schwester und dem jungen Mann. »Ihr Verhalten ist einfach unanständig«, wisperte sie leise vor sich hin.

»Dann geh und sieh nach ihr!«

Manchmal fragte sie sich, ob er nicht doch etwas hörte. Ohne noch lange zu überlegen, sprang sie auf und rannte zum Pavillon. Unter all den tanzenden Paaren war keine Hanna, so suchte sie die Schwester abseits der Musik, unter den Bäumen und entdeckte sie mit diesem Burschen im Gras sitzend, an einem der kleinen Seen im Park. Sie hielten sich an den Händen und sein Gesicht kam dem ihren bedenklich nahe.

»Vater sucht dich!«

Erschrocken gab Hanna dem jungen Mann einen Schubs und lief lachend zu Luise hinüber. »Recht so, Schwesterlein, bewahre mich nur vor diesem hübschen Mannsbild!« Sie winkte ihm zu, dass er gehen möge, und warf sich wieder ins Gras. Die Sonne blendete sie. Zwischen ihren Fingern hindurch blickte sie Luise an und schüttelte nur den Kopf.

»Du wirst das nie verstehen.«

»Ach ja, und warum nicht?«

Trotzig stand sie vor ihrer Schwester und faltete die Arme vor der Brust. »Du wirst die Männer nie bezirzen.«

»Und wieso nicht?«

Hanna legte die Hände hinter den Kopf und schaute Luise lange an. »Dir fehlen die Häkchen in den Augen, wenn du Männer anschaust.«

Noch bevor Luise etwas sagen konnte, rannte der Zeitungsjunge an ihr vorbei und schrie aus voller Kehle: »Außenminister ermordet!«

2. Kapitel

Das Telefon klingelt, während Valerie noch an ihrem PC sitzt.

»Hi! Ich bin wieder da!« Renée klingt müde und verschnupft wie jedes Jahr. Der Jetlag steckt ihr noch in den Knochen, außerdem tauscht sie den beginnenden Winter auf der südlichen Erdhalbkugel gegen einen norddeutschen Sommer ein, der auch nicht viel wärmer ist.

»Ich wäre doch mit zum Flughafen gekommen!« Valerie genießt es, ihre Stimme zu hören. Die unzähligen E-Mails ohne jeden Schnörkel in der Schrift, ohne einen einzigen Kreis auf dem I reichten ihr mal wieder. Das Jahr verflog wie im Zeitraffer, und doch an manchen Abenden konnte ein grauer November mit Sprühregen endlos sein. Sie fehlte ihr einfach. Nur ein einziger Abend mit ihr hätte ein ganzes Buch füllen können; nie schwiegen sie, weil ihnen die Worte ausgegangen waren.

»Du kennst doch meine Eltern! Die beanspruchen mich die ersten Tage gern für sich allein.«

Die einzige Tochter für acht Wochen zu Hause. Auch im zwölften Jahr fällt es den Eltern nicht leichter zu akzeptieren, dass sie sich entschieden hat, nicht zurückzukehren. So reist der Zwiespalt zwischen Heimweh, mütterlichen Tränen und dem roten Sand von Alice Springs beständig in Renées Koffer mit, auch wenn keine Gepäckwaage ihm Gewicht zollt. Acht Wochen Lieblingsessen, und wenn die letzten Tage anbrechen, hockt die unausgesprochene Bitte zu bleiben beklemmend in jedem Winkel des Elternhauses.

»Hast du heute Zeit? Ich muss dich sehen.« Renée sagt es, als hätte sie keine Sekunde zu verlieren.

»Du, eigentlich passt mir die ganze Woche nicht.«

Betroffenes Schweigen am anderen Ende.

»Quatsch, natürlich, ich warte schon sehnsüchtig auf dich! Die letzten Tage ohne dich waren eine einzige endlose Minutenzählerei.«

Valerie sagt ihr nie ernsthaft, wie sehr sie sie vermisst. Sie leidet schon genug unter den traurigen Augen ihrer Eltern. Da muss Valerie nicht auch noch wegen ihr losheulen, wie damals, einen Tag vor Renées siebenundzwanzigstem Geburtstag, als sie darauf bestand, mit der besten Freundin allein Mitternacht einzuläuten. Den ganzen Abend kramten sie alte Kamellen aus der Schulzeit hervor.

»Kannst du dich noch an die Klassenfahrt nach IdarOberstein erinnern? Ich allein im Zimmer der Lehrerinnen für eine Nacht!« Renée strahlte.

Die erste Flasche Merlot neigte sich dem Ende, der Aschenbecher quoll über und Valerie verdrehte die Augen. »Ja, der Herbergsvater hatte sich mit den Betten verzählt, und dich traf das Los. Was hätte ich drum gegeben, eine Nacht bei den Lehrerinnen zu schlafen!«

»Ich lag stocksteif im Bett und traute mich nicht die Augen zu öffnen, als sie ihre Nachthemden anzogen.« Die Verklärung in Renées Blick überstieg bei weitem die Wirkung, die der Rotwein haben mochte. »Sie war ein Rasseweib, unsere rotmähnige Deutschlehrerin. Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen.«

»Du hast geblinzelt, du Luder!« Valerie saß im Schneidersitz vor ihrer Freundin und schwelgte wehmütig in ihren Erinnerungen. Da brach Renée in ihr unverwechselbares Lachen aus. Niemand verstand besser als Valerie, wovon sie in jener Nacht geträumt hatte.

Valerie zählte an den Fingern ab. »Wenn du dir mal überlegst, wie hoch der lesbische Anteil in unserer Klasse ausgefallen ist, wage ich zu bezweifeln, dass wir die einzigen an der Schule waren. Rechne dir mal den Prozentsatz aus.«

»Sybille Wendrich-Sprötter.«

»Du hast sie immer noch nicht vergessen, wie?«

»Ich liebte es, wenn sie Gedichte von Hesse zitierte.«

»Und ich habe dich geliebt.«

»Was? Das habe ich nie bemerkt.« Wie in Zeitlupe glitt das Lachen aus ihrem Gesicht.

»Renée? Hallo, das ist lange her.«

Die Freundin schenkte ihr einen langen Blick. »Ich wandere aus, Valerie.«

»Jetzt übertreibst du aber! Wie gesagt, ich bin drüber weg.«

Während Valerie nachschenkte, sah sie plötzlich, wie ernst es ihrer Freundin war. Renées Augen schimmerten glänzend und aus ihrem linken Auge quoll eine Träne.

»Sag, dass es nicht wahr ist.«

»Doch, Valerie. Nach Australien!«

Überzeugend klang es nicht.

Mit der letzten Sekunde des Tages sprang der Zeiger auf zwölf Uhr und Valerie nahm Renée in die Arme, so als wäre es das letzte Mal.

»Alles Gute zum Geburtstag!«

Jetzt heulten sie beide. Trotzig stieß sie Renée von sich.

»Ausgerechnet Australien! Weiter ging es wohl nicht?«

Drei Monate später stieg Renée ins Flugzeug nach Alice Springs.

Valerie wird von Panik befallen. Im Badezimmer stapelt sich die Schmutzwäsche im Korb, Wassernasen tanzen über die Armaturen und auf dem Küchentisch tummeln sich noch die Brötchenkrümel. Kein sauberes Glas im Schrank und das Bett im Schlafzimmer zerwühlt in der Leidenschaft der vergangenen Nacht. Nichts von Dauer. Was ihr jetzt bleibt, sind etwa vierzig Minuten, bis Renée vor der Haustür steht. Mit ein wenig Glück kann sie etwas Zeit gewinnen, weil Renée im dichten Feierabendverkehr auf der Bundesstraße feststeckt, wo um diese Uhrzeit immer Stau ist.

Rechtsverkehr oder Linksverkehr, schreiend gestikulierende Autofahrer verursachen Schweißausbrüche bei Renée. Wieso kann Valerie nicht auf dem Land wohnen? Eine längere Auszeit in Australien täte deren verschollenem Wohlbefinden auch mal wieder gut. Enge Straßen, parkende Autos in zweiter Reihe und ständig rote Ampeln statt roter Erde und vorbeihüpfenden Kängurus. Nach halbstündiger Parkplatzsuche schwebt Renées Finger über dem Klingelschild Mantowiak / Gerstenberg. Sie hat es immer noch nicht ausgewechselt! Zwischen Haustür und Rahmen klemmt ein Ledersack. Die Klingeln in diesem Haus funktionierten schon im letzten Jahr nicht mehr. Treppenreinigung kennt hier auch niemand. Kopfschüttelnd klopft Renée gegen die Wohnungstür. Der weißgetünchte Abschluss, späte Vorkriegszeit, wird schwungvoll aufgerissen. Valerie erscheint im Türrahmen, in der einen Hand einen grauen Staubwedel.

»Du schon?«

»Sag jetzt nicht, du bist noch beim Frühjahrsputz.«

»Verehrteste!«

Die lästige Utensilie fliegt zu Boden. Die beiden Frauen fallen sich in die Arme und keine will so recht wieder loslassen.

»Du siehst noch genau so jung aus wie letztes Jahr, Valerie!«

»Deine Komplimente habe ich wirklich nicht vermisst, gib den Rotwein her.«

Sie nimmt ihr die beiden Flaschen ab und manövriert Renée in die Küche.

»Kannst du vielleicht mal die Heizung anstellen?« Sie steht da in einem dunkelbraunen knöchellangen Ledermantel, schlingt fröstelnd die Arme um sich und sucht das Thermostat hinter dem Vorhang.

»Es ist Sommer, Renée. Wie viel Grad habt ihr denn im Moment in der Wüste?«

Der Korkenzieher arbeitet bereits.

»Tagsüber circa 25 Grad, aber nachts sinken die Temperaturen gegen Null! Wann kommst du mich endlich mal wieder besuchen?«

»Nimm doch bitte die Gläser aus dem Schrank. Bald.«

Renée setzt sich auf den selbstgestrichenen Holzstuhl und wischt mit der flachen Hand über den Tisch.

»Gab es heute Morgen Brötchen?«

»Nein, am Sonntag.«

»Heute ist Freitag!«

Valerie zieht ihren Tabak aus der Tasche. »Hast du Hunger?« Sie kippelt mit dem Stuhl, greift hinter sich und öffnet das Gefrierfach, prall gefüllt mit Pizza – Vierkäse, Magherita, Thun, Spinat, Salami …

»Nein danke, ich hatte heute Mittag Béchamel-Kartoffeln. Lecker.«

»Aha!«

»Sag mal, riecht es hier nach verbranntem Staub?« Genervt stemmt Valerie die Ellenbogen auf den Küchentisch und stützt ihren Kopf in die Hände.

»Können wir bitte das Thema wechseln? Ich habe mich nicht verändert und du dich auch nicht, okay?«

Valerie schenkt den australischen Rotwein ein.

»Auf uns. Möge unsere Freundschaft ewig währen!«

»Und mögen wir niemals die gleiche Frau lieben! Apropos, was machen die Frauen, Valerie? Der Stand im September hieß Corinna.«

Zwei übereinander gekreuzte Finger signalisieren das Ende von Corinna.

»Sie heißt Laura.«

»Lauras gibt es in unserer Generation nicht. Die kamen später, sehr viel später. Wie alt ist sie?«

»Dreiundzwanzig«, antwortet Valerie mit schmalen Lippen und wartet auf Renées Reaktion.

»Ist dir bewusst, dass wir auf die Vierzig zugehen?«

Renée versucht eine Selbstgedrehte. Es klappt nicht. Hat es noch nie.

»Da würde ich Komplexe kriegen.«

»Wie alt war doch gleich deine Verflossene, vierundfünfzig? Da hätte wiederum ich Probleme.« Valerie nimmt ihr das zerknitterte Plättchen samt Tabakkrümeln aus der Hand.

»Kaye war eine wundervolle Frau. Ist sie noch.«

»Woran lag es doch gleich?«

»Sie hat zuviel in ihrem Atelier gearbeitet.«

»Sprich, ihr hattet keinen Sex!«

In den letzten Monaten ihres Zusammenseins kam er tatsächlich immer seltener vor. Die Affäre mit einer Jazzsängerin zeigte Renée, wie sehr sie ihn vermisste.

»Eine Beziehung besteht nicht nur aus Sex.«

»Sagen die, die keinen haben.«

Renée schaut gegen die Glasscheibe, als würde sie die Regentropfen zählen.

»Was ist los, Herzchen?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Meine letzte Beziehung hat in Abschiedstiraden geendet und richtig vergessen konnte ich sie auch lange nicht.«

Die Frauen in Alice Springs sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Aussteigerinnen und gestrandeten Existenzen mit Heimatadressen rund um den Globus. Joan, die Jazzsängerin aus New York, trat in Northy’s Bar auf, Bettina, eine Krankenschwester aus Köln/Bocklemünd, verliebte sich während eines Beinbruches in die Ärztin Claire vom örtlichen Krankenhaus und Renée lernte während des vergangenen Mardi Gras-Festes Rebecca, Masseurin aus Kiel, kennen. Eigentlich für sechs Monate ihrer Ex hinterhergereist, mietete sie ein Zimmer bei Renée in der kleinen Frauenpension.

»Ich dachte, sie bleibt. Die Aborigines sagen: Das Richtige kommt auf dich zu, du musst nur warten können.«

»Dann war sie wohl nicht die Richtige.«

»Noch am Flughafen dachte ich daran, wie es wäre, zurückzukommen. Rebecca sprach von einer gemeinsamen Frauenkneipe in Kiel und ihrem Bestreben, eine moderne Beziehung zu führen. Sie verstand darunter Fremdgehen ohne Konsequenzen. Glaubst du, ich finde irgendwann mein Gegenstück?«

»Klar!«

Aber ganz sicher nicht in Kiel. Valerie hält nichts vom Schicksal und Orakelgefasel, aber bei ihrer Freundin macht sie eine Ausnahme. Einmal legte Renée eine Rune und versprach eine entscheidende Wende in naher Zukunft. Zwei Monate später erfuhr Valerie von der Zusage ihrer ersten Buchveröffentlichung. Vor knapp zwei Jahren, genauer gesagt, nach der Trennung von Irina, verkürzte sie ihren Job im Büro auf zwanzig Stunden, verkaufte ihre großzügige Eigentumswohnung und mietete sich eine kleine Zwei-Zimmer-Bude in der Nordstadt, Rehbockstraße, über einer Tischlerei. Seither schreibt Valerie, nebenbei auch Artikel für Lesbenmagazine, deren Redakteurinnen davon träumen, dass ihr Blatt eines Tages in jedem Kiosk liegt.

»Nächsten Samstag ist Party im Gig. Ich dachte, wir schauen dort mal vorbei.«

Renées Blick verfinstert sich. »Kommen da auch Frauen?«

»Ja, Schatz. Das ist eine Lesbenparty!«

»Ich habe nicht vor, mich in Deutschland zu verlieben.«

»Quatsch, eine kleine Affäre täte dir ganz gut.«

Grinsend spielt Renée mit dem Feuerzeug in ihrer Hand und entflammt es. Erschrocken über die riesige Flamme, lässt sie es fallen.

»Das Ding ist kaputt, Renée!«

Jetzt spielt sie mit den Brotkrumen. »Ein bisschen flirten, wie?«

»Sag ich doch.«

»Wieso haben wir eigentlich nie zusammen …?«

Ohne aufzusehen, dreht Valerie den Stiel des Weinglases zwischen Daumen und Zeigefinger. »Weil du es nicht gemerkt hast, dass ich in dich verliebt war. Und außerdem hätte ich dafür nie unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt.«

Dass Valerie anders empfand als ihre Schulfreundinnen, hatte sie zum ersten Mal in Renées Nähe gespürt. Sie lag heulend im Bett, während ihre Liebste im Schullandheim bei den Lehrerinnen übernachtete, und bekam vor lauter Eifersucht kein Auge zu. Renées extreme Begeisterung für die Wendrich-Sprötter überstieg jedes normale Maß an Schwärmerei für Lehrerinnen. Vor Verzweiflung schrieb Valerie eine Fünf nach der anderen. Ihr Lyrik-Prosa-Workshop diente nur dem Zweck, zu ergründen, warum Renée eine solche Obsession für diese Frau empfand. Nach dem Versuch, sich die Haare mit Henna zu färben, riet ihr Renée trocken, es sei doch besser, wieder Blond zu tragen. Nur Naturrot sähe gut aus. In der zehnten Klasse sackten Renées Leistungen in Deutsch dann frappierend ab. Auf Valeries drängende Fragen hin fing sie an zu heulen und meinte, nur so könnte sie noch ein weiteres Jahr in Wendrich-Sprötters Unterricht verweilen.

Das Schicksal hatte schließlich ein Einsehen und Frau Wendrich-Sprötter ging nach der ersten Hälfte des Schuljahres in Mutterschutz. Das Problem schien damit aus der Welt, doch Renée hielt Briefkontakt und interessierte sich plötzlich für die richtige Ernährung von Neugeborenen. Sie hielt nichts vom Stillen, dabei riskiere eine Frau nur schlaffe Brüste.

»Ich habe die Wendrich-Sprötter gehasst.«

Verdutzt sieht Renée die Freundin mit leicht melancholischem Blick an.

»Wie kommst du denn jetzt auf die?«

»Nur so. Musste ich mal loswerden.«

»Ich habe vor einigen Tagen tatsächlich überlegt, ob ich ihr nicht nach all den Jahren mal wieder schreiben sollte. Ist ja komisch.«

Irgendwann hatte Renée aufgehört zu antworten, und aus dem Abstand von einigen Monaten heraus dann das Gefühl gehabt, sich aufzudrängen. Kurz nachdem sie ausgewandert war, schrieb sie eine letzte Karte.

»Wie alt mag sie jetzt sein?«

»Sechzig?«

»Blödsinn. In der Zehnten war sie gerade mal achtundzwanzig.«

»Und? Rechne doch mal hoch!«

»Dann ist sie heute, warte, so um die Fünfzig.«

»Na prima. Jünger als deine Kaye.«

»Würde mich schon interessieren, wie sie aussieht. Die langen roten Haare …«

»… vielleicht jetzt im Alter kurz und einfach nur noch grau?«

Verständnislos registriert Valerie den verträumten Blick ihrer Freundin. Sie kann nicht glauben, wie sehr diese Frau Renée noch immer beschäftigt.

»Ich habe das Bedürfnis, ihr zu sagen, dass ich lesbisch bin, verstehst du? Sie muss es doch gemerkt haben.«

»Alle kleinen lesbischen Mädchen verlieben sich in ihre Lehrerin, das ist dieselbe alte Geschichte seit Sokrates. Die lieben Pädagoginnen wissen es spätestens seit ›Mädchen in Uniform‹ – dem Original natürlich.«

Der letzte Rest Wein rinnt ihre Kehle hinunter. Leicht beschwipst, füllt Valerie die Gläser nach.

» Ich muss noch fahren, Valerie!«

»Was ist denn in deiner vollgestopften Tasche? Du bleibst gefälligst hier.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappt sich Valerie das Stadtmagazin und schlägt die Seite mit der ›Anhänger-Kupplung‹ auf.

»Ich brauche dringend eine Frau.«

»Für eine Nacht?«

Sich räuspernd fährt Valerie mit dem Finger über die Annoncen.

»Dafür habe ich Laura. Nein, für ein Leben!«

»Herzchen, kann es sein, dass du momentan alles dafür tust, damit dir eine solche Kandidatin nicht über den Weg läuft? Denk dran, du bekommst, was du ausstrahlst.«

Neugierig rutscht Renée mit ihrem Stuhl hinter sie und stützt das Kinn auf ihre Schulter. Valerie atmet ihr Parfüm. Egal was sie trägt, an dieser Frau riecht einfach alles gut.

»Rück mir nicht so auf die Pelle!«

»Wieso? Mach ich dich an?« Ihre Finger tapsen keck über Rückenwirbel.

»Nein, Chérie, die Zeiten sind vorbei. Hier ist eine für dich: Weiblich, 51, junggebliebene Akademikerin.«

»Valerie, bitte!«

»Wir können sie fragen, ob sie Samstag mitkommt.«

»Was soll das jetzt? Ich denke, wir suchen eine für dich. Seit Irina dich verlassen hat, schmetterst du jeden Versuch einer längeren Beziehung zu einer Frau ab.«

Valerie steht auf, geht ein paar Schritte zum Fenster, steckt eine Hand in die Hosentasche, zerwühlt sich mit der anderen die Haare. »Es muss doch einen Grund geben, warum ich sie nicht vergessen kann.«

»Gesteh dir endlich ein, dass sie nicht die Richtige war. Die kommt erst noch und je schneller du das begreifst, um so eher kannst du dich auch neu einlassen. «

Müde reibt Valerie sich die Augen. »Ich gehe ins Bett!«

Es ist spät und Renée trottet ihrer Freundin hinterher.

3. Kapitel

»Chérie! Frühstück!«

Machtvoll kneift Renée die Augen zusammen.

»Wach auf!« Valerie zieht ihr rigoros die Decke weg.

»Oh nein! Ich habe gerade von ihr geträumt!«

»Und? Hast du sie flachgelegt?«

»Valerie, du redest manchmal wie ein Kerl. Seitdem Irina aus deinem Leben verschwunden ist, werde ich das Gefühl nicht los, dass deine sensible Ader verstopft ist.«

Vielleicht hätte sie das Thema nicht anschneiden sollen. Der Morgen lädt nicht dazu ein, die Diskussion um Exfrauen neu zu entfachen. Zwischen Valeries Augenbrauen bilden sich zwei unübersehbare Kerben. »Es lohnt sich nicht mit dem Gefühl.«

Sie ist im Begriff aufzustehen, doch Renée hält sie am Pyjama fest.

»Warum siehst du das so dermaßen negativ? Sei doch dankbar für solche Gefühle. Aus Liebe zu leiden ist eine wahnsinnige Erfahrung, hat Hesse gesagt.«

»Bitte, Renée, erspar mir den Rest!«

»Kannst du es nicht verkraften, dass sie dich verlassen hat oder dass du ihr untreu warst?« Renée folgt ihr ins Bad, entledigt sich ihres T-Shirts und des Slips.

»Dusch nicht so lange, ich hasse kaltes Wasser.«

Aus dem Seitenwinkel bemerkt sie, wie Renée die Arme in die Seite stemmt. »Sieh mal zu, dass du dir eine bessere Wohnung leisten kannst! Demnächst wird ein Bestseller fällig, deine Armut betrübt mich. Hast du schon ein passendes Pseudonym für deinen Hetenroman?«

Mit Zahnbürste im Mund und Schaum auf den Zähnen inspiziert Valerie ihr Spiegelbild. Dieser elende Pickel am Kinn verunstaltet seit Tagen ihr Gesicht.

»Selbscht als Hartz IV-Empfängerin würd’ isch keine Hetenschmonschette schreiben!«

Drüben in der Dusche rauscht das warme Wasser in den Abfluss, während Renée sich gerade mal die Haare wäscht.

»Kannst du nicht zwischendurch abdrehen?«

»Was? Ich versteh dich nicht.«

Zwecklos, noch fünf Minuten länger und der Warmwasseraufbereiter ist leer.

»Wo gehen wir heute Abend hin? Ich dachte an die kleine Kneipe in der Altstadt. Wie heißt sie noch?«

»Wie mein Großvater. Konrad.«

»Ja, genau.«

In aller Seelenruhe beginnt Renée damit, sich die Beine zu rasieren. Valerie lehnt am Waschbecken und betrachtet ihre Silhouette hinter der milchigen Duschkabine. Diese Brüste widersprechen den Gesetzen der Schwerkraft. Ihre ebenfalls, aber nur, weil sie zu klein zum Hängen sind. Was ihr an anatomischer Weiblichkeit fehlt, präsentiert ihr Renée seit dem Ende der Pubertät im Überfluss.

»Reichst du mir mal ein Handtuch?«

»Sag mal, trainierst du?«

Ihr Blick schnellt über den nackten Körper der Freundin.

»Drei Wochen Coober Pedy, Opale schürfen.« Ohne große Anstrengung gibt Renée ein kleines Muskelspiel zum Besten.

»Unsereins fährt höchstens nach Bad Zwischenahn zum Wassertreten.«

»Kannst du mir den Rücken eincremen?«

Jeder Muskel definiert. Sanfte Wogen unter braungebrannter Haut. Würde sie diesen Anblick in einem Roman beschreiben, wäre sie auf dem besten Wege, einen frühen Tod im Sumpf des Trivialen zu sterben.

»Mann, hast du kalte Hände!«

»Ich sehe hier keinen Mann und außerdem war es mir leider nicht möglich, sie unter heißem Wasser zu erwärmen.«

Sanddornöl mit Vitamin E ohne Konservierungsstoffe, in kräftigen Strichen verteilt, um all das eiligst unter die Haut zu bringen.

»Valerie, auch deine Hände können zärtlich sein, oder?«

Renée stützt sich am Badewannenrand ab.

»Du kannst wirklich ganze Armeen beschäftigen.« Mit einem Klaps auf ihren Apfelhintern flüchtet Valerie in die Küche.

Unwirsch sucht Renée das ganze Bad nach Haarschaum ab. Im Frisierschrank stößt sie auf eine Batterie von Medikamenten. Verstört blickt sie auf eine Packung homöopathischer Antidepressiva. Diese Frau ist das reinste Chaos!

»Valerie!«

Der Ruf dringt lediglich bis zur Küchentür. Dahinter dröhnt das Radio. Nur mit einem Handtuch bekleidet, hüpft Renée über den Linoleumboden mit den roten Farbsprenkeln und betritt mit Schwung die Küche. Die Pillenpackung hält sie wie fauligen Müll weit von sich gestreckt.

»Was ist das?«

»Bist du immer noch nicht fertig mit duschen?«

»Warum nimmst du so ein Zeug?«

Zwischen dem zweiten und dritten Löffel Kaffeepulver wirft Valerie ihr einen flüchtigen Blick zu.

»Das Zeug stammt noch aus der Zeit nach Irina.«

»Wir haben immer noch die Zeit nach Irina. Jede neue Frau, die du kennenlernst, spürt, dass du noch nicht frei bist.«

Mit einem Schritt ist Renée hinter ihr und schlingt tröstend die Arme um sie, schmiegt sich an ihren Rücken, der Duft von Sanddorn mit Vitamin E droht Valeries Gehirnwindungen zu benebeln.

»Darf ich mal?« Geschickt rettet sie sich zum Tisch hinüber und rückt die Tassen zurecht. »Es stimmt, ich verkrafte es nicht, dass sie mich verlassen hat. Ich hab das Gefühl, eine Seite von mir fehlt, und zwar die bessere.«

»Halt mich nicht für blöd! Du musstest bei deinem Seitensprung doch damit rechnen. Du hast es in Kauf genommen. Dabei bist du die treueste Seele, die ich kenne. Etwas muss dir gefehlt haben.«

»Wahrscheinlich liebe ich sie immer noch! Verdammt! Und jetzt zieh dir endlich was an!«

Valerie reißt die Tür vom Kühlschrank auf und wirft den Wurstaufschnitt auf den Tisch.

»Igitt! Wie kannst du nur so etwas essen?« Seit Renée in Australien lebt, ist sie Vegetarierin. Die Vorstellung, jemand könnte ihr Kängurufleisch servieren, hat ihr jeden Appetit auf Fleisch verdorben. Schnaubend verlässt sie die Küche und schließt die Tür unter Missachtung der Türklinke. Als sie zurückkehrt, sitzt Valerie über der Tageszeitung.

»Ich frage mich, warum man ein Buch als Fortsetzungsroman in einer renommierten Tageszeitung abdruckt, nur weil die Autorin eine bekannte Moderatorin ist. Wie konnte sie mit diesem Mist überhaupt einen Verlag finden?«

»Ist es normal, dass Schriftstellerinnen grundsätzlich über ihresgleichen herziehen, und zwar je mehr, je erfolgreicher sie ist? Soll das konstruktive Kritik sein?«

Kein Kommentar, weiteres Kopfschütteln über dem Morgenblatt.