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15 Inseln. 15 Geschichten. Italien ganz verstehen Italienische Inseln sind nicht nur traumhafte Urlaubsorte mit Sandstränden, Klippen, Altstadtgassen und Eisläden, sondern auch Orte, die reich an jahrtausendealter Geschichte sind – und an heutigen Gegensätzen und Konflikten. Stefan Ulrich lädt zu einer Entdeckungsreise ein, bei der jede der bekannten oder unbekannten Inseln stellvertretend für eine historische Epoche des Landes steht. Daneben ist mit jeder der Inseln ein ganz aktuelles Thema verbunden. So macht Ulrich die Auswirkungen der Geschichte auf die Gegenwart deutlich, auf Mentalität und Küche, Politik, Wirtschaft und Tourismus. - Eine Recherche rund um den italienischen Stiefel, eine Reise durch die Jahrtausende und eine Tour d'Horizon durch das Italien von heute - Über Küche und Keller, Italianità, Meeresschutz, Mafia, Migration und die Zukunft Italiens - Von den Phöniziern und Römern über Araber und Spanier bis in die Gegenwart - Mit vielen Reiseanregungen und Tipps
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Seitenzahl: 454
Über Küche und Keller, Italianità, Meeresschutz, Mafia, Migration und die Zukunft Italiens
Italienische Inseln sind nicht nur traum-hafte Urlaubsorte mit Sandstränden, Klippen, Altstadtgassen und Eisläden, sondern auch Orte, die reich an jahrtausendealter Geschichte sind – und an heutigen Gegensätzen und Konflikten. Stefan Ulrich lädt zu einer Entdeckungsreise ein, bei der jede der bekannten und unbekannten Inseln stellvertretend für eine historische Epoche des Landes steht. Zugleich ist mit jeder der Inseln ein ganz aktuelles Thema verbunden. So macht Ulrich die Auswirkungen der Geschichte auf die Gegenwart deutlich, auf Mentalität und Kultur, Politik, Wirtschaft und Tourismus.
Stefan Ulrich
Ganz Italien in 15 Inselgeschichten
»Aufbrechen ist
wie noch einmal geboren werden.«
Nicolas Bouvier
Himmel und Hölle, Luftschloss und Alptraum – Inseln lösen widersprüchliche Assoziationen aus, vielleicht macht sie das so faszinierend. Sie bedienen, wie die Gärten, unsere Sehnsucht nach Einheit und Ursprung, nach dem verlorenen Paradies. In der ägyptischen Mythologie wächst ein Hügel aus dem Urgewässer empor, auf dem der Gott Atum mit der Erschaffung der Welt beginnt. Die alten Griechen siedeln ihre verstorbenen Helden im Elysion an, einer Insel der Seligen weit im Westen, auf der ewiger Frühling herrscht. Platon beschreibt Atlantis als blühenden Archipel. Auf der Isla del Sol im Titicacasee erschafft der Sonnengott Inti den ersten Inka. Thomas Morus beschreibt die Insel Utopia als ideale Republik.[1] Paul Gauguin sucht und malt auf Tahiti seinen Garten Eden. Darüber berichtet er einem Malerfreund: Die »glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben«.[2] Heute bewirbt die Reisebranche ihre Trauminseln, die mal, wie Bali und Bora Bora, in exotischer Ferne liegen, mal, wie Sylt und Capri, in unserer Nähe.
Zugleich sind Inseln Orte des Schreckens. Odysseus, der berühmteste aller Seereisenden, besucht einige von ihnen.[3] Auf Sizilien verschlingt der Zyklop Polyphem ein halbes Dutzend seiner Gefährten, andernorts zerschmettern die menschenfressenden Laistrygonen seine Schiffe. Auch die betörend singenden Sirenen – sie sollen auf den Fels-Eilanden Li Galli vor der italienischen Amalfi-Küste hausen – sind monströse Geschöpfe, die ihm nach dem Leben trachten. Die Teufelsinsel vor der Küste Französisch-Guayanas in Südamerika wurde für Zehntausende Sträflinge, die Frankreich dorthin verschleppte, zum Grab.[4] Die berühmte Toteninsel des symbolistischen Malers Arnold Böcklin bietet einen melancholisch-unheimlichen Anblick, eine Endstation Hoffnung. Der Literatur-Nobelpreisträger William Golding wiederum setzt in seinem anti-rousseauschen Roman »Herr der Fliegen«[5] eine Gruppe von Jungen auf einer Südseeinsel aus und schildert ihr Versinken in der Barbarei.
Inseln sind – wie Theaterbühnen, wie Bücher – abgeschlossene Räume. Sie verdichten das Leben und dienen als Orte, an denen die Fantasie ihre Dramen aufführen kann. Sie stehen für sich allein, wie das Ich im Meer der anderen, wie die Erde im Kosmos. Sie tauchen am Horizont auf, stacheln Entdeckergeist und Abenteuerlust an. Zugleich bedienen sie das Bedürfnis nach Rückzug, Geborgenheit und Selbstfindung, nach Übersichtlichkeit in einer hyper-komplex gewordenen Welt. Die Aussteiger-Insel verheißt mit ihrer sinnennahen Einfachheit die Rückabwicklung einer entfremdenden Zivilisation. Gavin Francis fragt in seinem Buch »Inseln«: »Liegt hier der ewige Reiz von Robinson Crusoe? Dass wir alle danach dürsten, uns in der Einsamkeit zu definieren? Dass wir davon träumen, endlich Schiffbrüchige zu sein?«[6]
Inseln sind Verheißung, sei es von Glück oder von Verderben. Sie tauchen vor uns auf und rufen uns zu: Finde es heraus! Es ist schwer, ihnen zu widerstehen, zumal uns niemand so fest an unser Alltagsleben bindet wie die Gefährten den Odysseus an den Mast seines Schiffes.
Am Ende der Recherchereise durch Italien für mein Buch »Und wieder Azzurro«[7] kam ich in der Hafenstadt Trapani an der Westspitze Siziliens an. Meine Fahrt war zu Ende. Ich blickte aufs Meer und sah drei Silhouetten auf dem Wasser treiben: die Egadischen Inseln. Ihr Sog war stark. Doch mir blieb keine Zeit mehr, ihm nachzugeben. Als ich mich, widerwillig, vom Anblick der Silhouetten löste, kam mir der Gedanke, ein Buch über die italienischen Inseln zu schreiben. Erst war es nur ein Wunsch, der sich allmählich zum Konzept verdichtete. Die Fahrt durch die Welt der italienischen Inseln, der großen und kleinen, bekannten und unbekannten, sollte zugleich eine Reise durch die italienische Geschichte werden. Jede Insel sollte für eine andere Epoche stehen, von der Antike bis zur jüngsten Vergangenheit. Stefan Ulrich Meyer, mein Lektor und Mit-Italien-Liebhaber, regte an, die Gegenwart miteinzubeziehen, sodass jede Insel auch für ein wichtiges Thema des heutigen Italiens steht. 15 Inseln, sagten wir uns, seien eine gute Zahl, um der Komplexität dieses Landes gerecht zu werden, ohne ins Lexikalische abzudriften.
Nun ging es an die Auswahl. Zu Italien gehören, kleinere Fels- und Laguneneilande mitgerechnet, ungefähr 800 Inseln. Davon sind zwischen 70 und 80 dauerhaft bewohnt.[8] Die Zahlen überraschten mich. Ich hatte mit viel weniger gerechnet. Für dieses Buch beschränkte ich mich auf die bewohnten Inseln im Meer, der – umstrittenen – Worterklärung folgend, wonach der lateinische Begriff insula von in salo stammt, im salzigen Meer. Inseln in Seen und Flüssen ließ ich weg, obwohl es da sehr interessante Kandidatinnen gegeben hätte. Die Tiber-Insel in Rom etwa oder die Isola Bella im Lago Maggiore. Wichtig war mir, dass alle hier beschriebenen Inseln von den Leserinnen und Lesern auch bereist werden können, was in einem Fall zwar schwierig, aber nicht unmöglich ist.
Die Recherchereisen brachten manche Überraschung, besonders im Winterhalbjahr. Einige Inseln waren da eher per Flugzeug denn per Schiff erreichbar. Manchmal fielen Fähren wegen heftiger Winde kurzfristig aus. Bisweilen war es schwer, Ansprechpartner oder offene Lokale zu finden, weil sich in der kalten Jahreszeit viele Insulaner aufs Festland davongemacht hatten. In den tumultuösen Frühlings- und Sommermonaten wiederum hatte ich, etwa auf Capri, Skrupel, die Leute von ihrer Arbeit abzuhalten.
Ich habe auf den Inseln liebenswerte, interessante und eigenwillige Italienerinnen und Italiener kennengelernt, die mir bereitwillig von ihrer Geschichte und ihren heutigen Sorgen erzählten. So durfte ich mit dem Besitzer eines legendären Cafés auf Capri frühstücken, mit einem Fischer die blauen Killerkrabben in der Lagune von Venedig aufspüren, mit einer Anti-Mafia-Aktivistin durch die Geschichte der Cosa Nostra auf Sizilien spazieren und mir von einer eleganten Geschäftsfrau erklären lassen, warum sie sich in eine abgelegene italienische Gefängnisinsel verliebt hat, während mir ein schwungvoll-betagter Herr bei einem fürstlichen Fischessen erläuterte, weshalb er, und nur er, der rechtmäßige König von Tavolara ist.
Ich habe – für mich – neue Inseln wie das wilde Pantelleria entdeckt und an mir bekannten, wie dem lieblichen Elba, neue Seiten kennengelernt. Und ich habe intensiver denn je erfahren, wie unglaublich vielfältig, spannend und überraschend die italienische Geschichte und Gegenwart ist. Einen Eindruck von dieser Vielfalt, der Schönheit und dem Charme des Landes möchte dieses Buch vermitteln – und vielleicht die eine Leserin und den anderen Leser anregen, selbst auf Entdeckungsreise zu den italienischen Inseln zu gehen.
Der König trägt Sneaker. Er hat es eilig. Winkend läuft er am Hafen entlang und auf die Mole hinaus. Die letzten 30 Meter sprintet er. Da Pünktlichkeit die Höflichkeit der Monarchen ist, möchte Antonio Bertoleoni offensichtlich besonders zuvorkommend sein. Dann steht er vor mir, ein drahtiger kleiner Mann in hellgrauer Hose, hellblauem Hemd und beiger Windjacke. Keine Spur außer Atem. Sein tief gebräuntes, von Lachfalten überzogenes Gesicht strahlt mich an. »Guten Morgen«, sagt der 90-Jährige und schüttelt mir die Hand. »Ich bin Tonino, der König von Tavolara.«
»Er ist ein sehr demokratischer König«, beschwichtigt sein Sohn Giuseppe. »Etwa so wie Charles III. in England. Total konstitutionell.«
Der Kronprinz, in einen alten Trainingsanzug gewandet, will seinem Vater in die Barke helfen, doch der wehrt lässig ab, hüpft wie ein Zaunkönig hinein in den weiß und blau lackierten Holzkutter, schlüpft in die Kajüte und stellt sich ans Steuer. Souverän lenkt er das Boot aus dem Hafen von Porto San Paolo hinaus, einem sehr kleinen Ort an der Nordostküste Sardiniens.
Das Boot gleitet übers transparente Wasser, das, je nach Untergrund, blauschwarz, kobaltblau oder türkis leuchtet. Die Farben schwimmen ineinander, kleine, flache Inseln aus rotbraunem Granit ziehen vorbei. Der Norden Sardiniens ist berühmt für diese rund geschliffenen Granitfelsen, die wie von Titanenhand in die Buchten und Golfe hineingestreut sind. Es ist ein windarmer, milder Tag Mitte November, die Morgensonne verzehrt die letzten Wolken der Nacht. Nur ein kleiner Westwind lässt die Meeresoberfläche erschauern wie eine Schlangenhaut. Unbeirrt tuckert das Boot auf Tavolara zu, ein lang gezogener, fast senkrecht aus dem Meer aufsteigender Wall aus Kalk und Dolomit. Einen der Gebirgsblöcke des Trentinos scheint es durch eine Laune der Erdgeschichte hierher vor die Küste Sardiniens verschlagen zu haben. Die unteren zwei Drittel des Berges sind mit immergrünem mediterranem Niederwald überzogen, darüber erhebt sich der nackte Fels. Zu Sardinien hin reckt sich eine flache Landzunge, als wolle sie der Hauptinsel die Hand schütteln. Dort, zwischen weißgrauen Sandstränden, Dünen, Pinien und Macchia stehen ein paar Häuser, Stege ragen ins Wasser hinaus.
Während sich das Schiff der Insel nähert, ziehen die Mythen Tavolaras herauf. Und wo es um mediterrane Mythen geht, ist Homer. Wer durch die italienische Inselwelt reist, wird ihm immer wieder begegnen, seinem Helden Odysseus und den Göttern des Olymps, von Poseidon, dem Herrn des Meeres, bis hin zu Äolus, dem Beherrscher der Winde. Das lang gestreckte Tavolara, so heißt es, sei einst ein Schiff gewesen, auf dem die Phäaken, ein Seefahrervolk, Odysseus in seine Heimat Ithaka zurückgebracht hätten. Doch Odysseus war im Olymp, dem Götterhimmel, umstritten. Einer seiner Feinde, Poseidon, verwandelte das Schiff der Phäaken daher auf seiner Rückfahrt von Ithaka in einen Felsen. Und sieht Tavolara, dieser Fels vor der sardischen Küste, nicht tatsächlich aus wie ein Schiff?
Jahrtausende später ist Tavolara nicht mehr als ein Seeräubernest, in dem sich nordafrikanische Korsaren verstecken, um die Küsten Sardiniens heimzusuchen, Schiffe zu überfallen, Dörfer zu plündern, Menschen zu verschleppen. Anfang des 19. Jahrhunderts dann, die Küsten sind inzwischen sicherer, irrt Giuseppe Bertoleoni in der Inselwelt zwischen Korsika und Sardinien umher. Seine Vorfahren stammen aus Genua, zogen von dort nach Korsika. Er selbst kommt 1778 auf La Maddalena auf die Welt, der Hauptinsel des gleichnamigen Archipels vor der Nordküste Sardiniens. Er wird ein tüchtiger Seemann, verdient seinen Lebensunterhalt mit Schmuggel und dem Transport von Bausteinen und Kalk, die für den Ausbau der nordsardischen Häfen gebraucht werden. Er heiratet, bekommt viele Kinder und sucht etwas Land, auf dem er und die Seinen leben können. So nimmt er die unbewohnte Insel Santa Maria am Rande des Archipels in Besitz. Als seine junge Schwägerin Witwe wird, nimmt er sich ihrer als Zweitfrau an und bekommt mit ihr weitere Kinder.
Die beiden Schwestern scheinen mit dieser Lösung einverstanden zu sein, zumal sich Giuseppe um beide Familien kümmert. Auch verheimlicht er seine doppelte Beziehung keineswegs. Das ruft die Justiz auf den Plan, die wegen Bigamie gegen ihn vorgehen will. Um dem Gefängnis zu entgehen, beschließt Giuseppe, sein Familienleben auf zwei Inseln aufzuteilen. Von seinem Handel mit Steinen und Kalk her ist ihm die Dolomit-Insel Tavolara vertraut. Und da sie zu dieser Zeit unbewohnt ist, von wilden Ziegen mit angeblich goldenen Zähnen einmal abgesehen, nimmt er die fünf Quadratkilometer kleine Insel kurzerhand in Besitz und zieht mit einer der Schwestern und den gemeinsamen Kindern dorthin. Der andere Teil der Familie bleibt auf Santa Maria. Giuseppe pendelt fortan. Wobei bis heute ungeklärt ist, ob er seine Ehefrau oder deren Schwester mit nach Tavolara genommen hat.
Die Bertoleoni richten sich auf der flachen Landzunge ein, die zur sardischen Küste zeigt. Sie bauen ein Haus, fangen die Ziegen ein und züchten sie, legen Gemüsegärten an und fangen Fisch für den eigenen Tisch. Und sie wären wohl längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht eines Tages im Jahr 1836 Karl Albert von Savoyen, der König von Sardinien-Piemont, auf Tavolara gelandet wäre, um eine abenteuerliche Geschichte voller italienischem Erfindungsreichtum in Gang zu setzen.[9]
Unser Boot hat einige flache Inseln und Granitfelsen passiert und Tavolara erreicht. Präzise und sanft steuert König Tonino das Schiff an einen der Stege. Der Kronprinz springt von Bord, um es zu vertäuen. Der König marschiert auf ein flaches Gebäude mit geräumiger Veranda zu. »Re di Tavolara« steht in großen roten Buchstaben über dem Eingang. Daneben prangt das Wappen des Reiches. Ein gelber Stern auf rotem Schild unter einer goldenen Krone. Die meisten Tische und Stühle von der Terrasse sind schon verräumt, ein paar Familienmitglieder und Angestellte wienern die Küchengeräte und machen das Restaurant winterfertig. Die Saison ist zu Ende. Bis zum Frühjahr wird nur noch eine Nichte des Königs auf der Insel hausen. Doch bei gutem Wetter kommen Tonino und sein Sohn eigentlich jeden Tag herüber. Warum? Der König deutet hinaus auf das glitzernde Meer, auf die blauschwarzen Schatten der Inseln am Horizont und den weit gespannten Himmel. »Deshalb!«, sagt er nachsichtig lächelnd.
Dann setzt er sich mit dem Rücken zum Meer an einen Holztisch, lässt dem Gast den Platz mit der Aussicht. Er bringt Espresso und Wasser, schenkt ein. Und erzählt, wie sein Ur-Urgroßvater König wurde.
Da sehr viele Varianten dieser Geschichte im Umlauf sind und sie mancher Autor kräftig ausgeschmückt hat, schickt Tonino Bertoleoni eine Bemerkung voraus: »Die Geschichte, wie ich sie dir jetzt erzähle, ist zu 100 Prozent wahr. Und wenn ich, der König von Tavolara, das sage …«
Er blickt durch mich hindurch, als schaue er geradewegs in die Vergangenheit. »Es war kein Zufall, wie viele behaupten, dass Karl Albert von Savoyen auf unsere Insel kam. Der König von Piemont-Sardinien wusste schon, wer die Bertoleoni waren. Denn wir waren bereits damals eine bedeutende Familie. So war einer der Brüder Giuseppe Bertoleonis Offizier in der Marine der Savoyer, ein anderer diente ihnen als Konsul. Carlo Alberto hatte also schon an seinem Hof in Turin davon gehört, dass Giuseppe ganz allein mit seiner Frau und den Kindern auf einer einsamen Insel vor Sardinien lebte. Das machte ihn neugierig. Da er nun diesen Teil seines Reiches bereiste, wollte er ihn auf der Insel besuchen.«
Tonino Bertoleoni hört ein Plätschern im Meer, springt auf und blickt hinaus. Er deutet auf einen Kormoran, der einen großen Fisch im Schnabel hat. Der Fisch zappelt, der Kormoran klatscht ihn ins Wasser und zerrt ihn heraus. Immer wieder. Gebannt beobachtet der alte Mann den Kampf. Dabei erzählt er, dass früher hier um Tavolara zweitausend Kormorane gelebt hätten. Davon seien nur wenige übrig. Es gebe nicht mehr genug Nahrung. Die Fischgründe seien rücksichtslos ausgebeutet worden. Nur Delfine gebe es noch genug. »Sie kennen mich, und wenn ich unterwegs bin, schwimmen sie unter meinem Boot hindurch.«
Inzwischen ist der Kormoran mit seiner Beute verschwunden. Tonino nimmt den Faden seiner Geschichte wieder auf. »König Carlo Alberto landete samt seinem Gefolge auf La Maddalena und fragte nach Giuseppe Bertoleoni. Die Leute sagten ihm, er lebe auf Tavolara. Doch als der König dort anlegte, erfuhr er von einem Ziegenhirten, Giuseppe sei auf Santa Maria, bei seiner Zweitfamilie. Unverrichteter Dinge fuhr Carlo Alberto in den nahen Hafen von Olbia weiter. Als Giuseppe nach Tavolara zurückkehrte, erfuhr er, dass der König ihn suche. Sofort machte er sich nach Olbia auf. Dort stellte er sich auf der königlichen Yacht vor.«
Tonino Bertoleoni schaut mir ernst in die Augen. »Was nun passierte, klingt wie ein Märchen. Aber es ist die Wirklichkeit.«
Der König habe Giuseppe brüderlich aufgenommen. Gemeinsam seien die beiden durch Olbia spaziert, den Corso entlanggebummelt und hätten die romanische Kirche San Simplicio besucht. »Dann fuhren sie nach Tavolara, um die wilden Ziegen mit den goldenen Zähnen zu jagen.« Während der Partie habe Giuseppe halb im Scherz gesagt: »Sie sind der König von Piemont-Sardinien. Und ich bin der König von Tavolara.«
Carlo Alberto, ergriffen von der Schönheit der Insel und dem erfolgreichen Jagdausflug, habe erwidert: »Dann schenke ich Ihnen hiermit Tavolara als Königreich.« Dann habe er Giuseppe, als Zeichen der Freundschaft, eine goldene Uhr überreicht.
Tonino Bertoleoni hat sich in Begeisterung geredet. Nun lehnt er sich zurück, sagt: »Das war der Moment, als das Königreich Tavolara geschaffen wurde.«
Dann fordert mich der alte Mann auf, ihn zum Friedhof der Könige zu begleiten. In kleinen, schnellen Schritten eilt er über einen Pfad durch die Macchia. Und erzählt immer weiter. »Giuseppe vererbte sein Inselkönigreich an Paolo, seinen ältesten Sohn. Doch die Behörden auf Sardinien wollten ihn nicht als Herren der Insel anerkennen.«
In seiner Verzweiflung sagte Paolo zu seiner Frau: »Weißt du, was ich machen werde? Ich fahre nach Turin, um den König zu treffen.« Das war damals eine weite Reise. Im Palast hörte ihn Carlo Alberto an und sagte: »Signor Bertoleoni, wir kümmern uns um Ihren Fall. Sie werden nicht mehr behelligt werden.«
Ein Strahlen geht über Tonino Bertoleonis Gesicht, als er das erzählt. »Paolo kehrte nach Tavolara zurück. Und dort feierten sie ein großes Fest.«
Bei diesen Worten fallen mir die Geschichten von Asterix und Obelix ein, bei denen jedes Abenteuer unweigerlich mit einem Festmahl des ganzen Dorfes endet. Doch nun haben wir den Friedhof der Könige erreicht. Er liegt einsam in der Macchia. Eine Mauer umgürtet das Gräberfeld, zwei entrindete, verwitterte Baumstämme formen am Eingang ein Kreuz. Ansonsten sieht der nackte Hof mit seinen lehmfarbenen Grabmonumenten wie ein vergessenes Stück Nordafrika aus. Der alte Mann läuft zwischen den Gräbern seiner Vorfahren herum und stellt die Chrysanthemen-Kübel wieder auf, die der Wind umgeworfen hat. Im größten, von einer Krone gezierten Sarkophag ruht »Paolo I Bertoleoni, Re di Tavolara«, wie auf einer Marmorplatte steht. Und wo liegt Giuseppe, der Gründer der Dynastie? Tonino Bertoleoni zuckt die Achseln. Schweigt. Später werde ich lesen, dass die Wirren der Geschichte Giuseppes Leichnam in einem Massengrab auf La Maddalena landen ließen.
Als wir wieder auf der Veranda ankommen, haben Toninos Leute ein paar Tische zusammengeschoben. Eine bunte Runde findet sich ein. Der König, ein paar Kellnerinnen und Kellner, eine Cousine, zwei junge Männer, die für das Marine-Schutzgebiet um Tavolara arbeiten, und der Gast aus Deutschland. Nun wird es wirklich wie bei Asterix und Obelix. Schüsseln und Platten mit Spaghetti im Muschel-Sugo und Fritto misto werden aufgetischt. Dazu ein eiskalter Vermentino. Wir trinken auf das Königreich Tavolara. Toninos Cousine, eine vergnügte jüngere Frau mit dunklem Lockenkopf, erzählt, wie sehr sie es genieße, jetzt im Winter allein mit ihrem Hund auf Tavolara zu leben, und dass ihr dabei kein bisschen langweilig werde. Schließlich schaue mittags meist der König vorbei. »Ich empfinde es als Privileg, Toninos Erzählungen beim Essen zuhören zu dürfen.«
Und wie er erzählt. Etwa von der britischen Königin Viktoria. Die Legende will es, dass die Queen mit ihrem Schiff »Vulcan« in die Gewässer um Tavolara gefahren sei, um die Herrscherfamilie des kleinsten Königreichs der Welt kennenzulernen. Doch das kann Tonino Bertoleoni nicht bestätigen. Nein, die Queen sei nicht hierhergekommen. Aber sie habe sich sehr wohl für Tavolara interessiert. In ihrem Londoner Buckingham-Palast habe sie Fotos aller regierenden Häuser der Welt aufgehängt. Da die »Vulcan« seinerzeit in den sardischen Gewässern unterwegs gewesen sei, habe sie dem Kapitän befohlen, nach Tavolara zu fahren und die Familie Bertoleoni zu fotografieren. »Die ›Vulcan‹ ankerte also vor unserer Insel«, erzählt Tonino, während ihm der Kronprinz einen Teller mit Spaghetti füllt. Damals sei Carlo König von Tavolara gewesen, »der Sohn von Paolo, mein Opa«. Die Familie Bertoleoni sei mit einem Beiboot auf die »Vulcan« gebracht und fotografiert worden. Seitdem hänge das Foto im Buckingham-Palast mit der Beschriftung: »Das kleinste Reich der Welt. Insel Tavolara.«
Womöglich schaue ich in diesem Moment etwas ungläubig von meinem Teller mit den knusprig frittierten Meeresfrüchten auf. Mein Gastgeber merkt das sofort, ihm entgeht ohnehin nichts. »Du glaubst das nicht?«, fragt er mit schelmischem Lächeln. »Dann geh mal in den Gastraum und schau dir das Bild an, das dort über dem Kamin hängt.«
Ich gehe in die dunkle, mit Holzbrettern getäfelte Stube. Über dem Kamin hängen mehrere ehrwürdige sepiafarbene Fotografien. Das Bild im Zentrum zeigt eine neunköpfige Familie, die auf den Deckplanken eines Schiffes positioniert worden ist. Die Herren mit ihren schneidigen Schnurrbärten tragen Dreiteiler, die Damen bodenlange Röcke, Rüschenblusen und mit Stoffblumen verzierte Hüte. Ihre Gesichter sind ernst, der Ausdruck schwankt zwischen Stolz und Unbehagen. Ich gehe wieder hinaus. »Hast du es gesehen?«, fragt König Tonino.
Ich nicke. »Und das hängt wirklich im Buckingham-Palast?«
»Wenn ich es doch sage!«
Die beiden Männer von der Area Marina Protetta Tavolara, dem Meeresschutzgebiet rund um die Insel, erzählen von ihrer Arbeit. Heute sind sie mit ihrem Hartgummiboot samt Außenborder unterwegs, um die im Meer verteilten Temperaturmesser abzulesen. »30 Grad Wassertemperatur hatten wir im Sommer«, sagt einer der Männer. »Und zwar nicht in den Buchten und an den Stränden, sondern draußen auf hoher See! Und jetzt, im November, sind es immer noch 21 Grad. Das ist nicht normal. Das bringt die Natur durcheinander.«
Das Gespräch dreht sich um den Klimawandel, ein Thema, das in Italien alle beschäftigt, die in oder mit der Natur arbeiten, ganz unabhängig von ihrer politischen Einstellung: Bergbauern, Fischer, Muschelzüchter, Winzer, Biologen. Und König Tonino, der die Veränderungen bald ein Jahrhundert lang beobachten konnte. Doch jetzt lenkt er das Gespräch wieder auf die Familiengeschichte, erzählt, wie sich seine Vorfahren auf der Insel behaupteten, sich vermehrten, Häuser auf der landwärts und der seewärts gelegenen Halbinsel errichteten, in den Bergwäldern jagten, die Schaf- und Ziegenzucht ausweiteten und Kalköfen anlegten, um aus den Felsen des Berges den begehrten Baustoff zu brennen.
Tonino hat die Zeit noch erlebt, als der Kalk der Familie einen gewissen Wohlstand verschaffte. Sogar eine Dorfschule gab es hier, als er ein Junge war. Das Leben sei paradiesisch gewesen inmitten der Großfamilie, mit seinen Geschwistern und Cousins habe er den Inselberg erforscht und im Meer Oktopusse gefangen. Jugendträume eines alten Mannes? Oder war Tavolara damals wirklich ein Paradies, jedenfalls für die Kinder, die noch nicht in den Kalköfen schuften mussten? Dann kamen der Faschismus und der Zweite Weltkrieg, was das Inselleben zunächst wenig berührte. Doch eines Tages, im Mai 1943, war Tonino gerade mit seinem Fischerboot vor Tavolara unterwegs. Plötzlich hörte er ein Grollen hinter dem Inselberg aufziehen. »Es klang wie ein Erdbeben oder der Ausbruch eines Vulkans. Und wurde immer lauter.« Dann tauchten die Flugzeuge am Himmel über dem Berg auf. Schwere, kompakte Propellermaschinen. »Ich flüchtete an Land und versteckte mich«, erzählt Tonino. Doch die Piloten der Alliierten hatten es nicht auf Tavolara abgesehen, sondern auf Olbia. Sie warfen ihre Bombenlast am 14. Mai über dem Rathaus und der Altstadt ab.
Tavolara blieb vom Krieg verschont, jedoch nicht vom Wandel der Zeiten. Es kam zu Streitigkeiten in der Familie, viele zogen weg, große Teile der Insel wurden verkauft. Als sich die Kalkproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr lohnte, schrumpfte die Einwohnerzahl.
König Tonino wird mir später Reste der Kalköfen auf der Insel zeigen. Einen hat er zu seinem Sommerhaus umgebaut. Kurz dahinter beginnt ein weitläufiger Stützpunkt der Nato. Eine für Unbefugte gesperrte Straße führt zu hohen Antennen, die der Kommunikation mit den U-Booten im Mittelmeer dienen. Eine reiche Familie vom Festland besitzt einen anderen Teil Tavolaras. Den Bertoleoni ist nur noch ein Bruchstück geblieben. Das Restaurant, der Friedhof, einige Strände, Dünen, verwilderte Gärten, die Macchia. Und die Geschichte, in der nicht zuletzt Touristen eine wichtige Rolle spielen.
Als die Kalköfen auf Tavolara erloschen und die wirtschaftliche Zukunft der Insel wegzufallen drohte, vollzog sich ganz in der Nähe eine märchenhafte Entwicklung. Nördlich von Olbia erstreckt sich ein besonders schönes Stück sardischer Küste, mit tief eingeschnittenen Buchten, Granitfelsen, Stränden an kristallklarem Wasser in allen Blau- und Grüntönen und von der Macchia überwucherten Bergen im Hinterland, Monti di Mola genannt. Wie fast ganz Sardinien befand sich auch dieser nahezu unbewohnte und als wertlos geltende Teil der Insel in einem Dornröschenschlaf. Allenfalls ein paar Schäfer trieben sich hier herum. Die Moderne mit ihren typischen Erscheinungen wie dem Massentourismus schien an Sardinien vorbeizuziehen wie ein Kreuzfahrtschiff am Horizont. Doch dann kam Anfang der 1960er Jahre ein arabischer Prinz und verliebte sich in die schlafende Schöne. Er küsste sie wach – und aus den Monti di Mola wurde die Costa Smeralda.
Tatsächlich war es nicht ganz so romantisch, jedoch kaum weniger wundersam. Karim Aga Khan IV., Imam und damit religiöses Oberhaupt der Ismailiten, gründete 1962 mit Geschäftsfreunden ein Konsortium, das sie »Costa Smeralda« tauften. Sie erkannten das touristische Potenzial des Küstenstreifens der Monti di Mola, kauften das Land den verdutzten Sarden für wenig Geld ab und begannen, eine touristische Traumwelt aufzubauen, mit Yachthäfen, Luxushotels, Ferienwohnungen und den dazugehörigen Restaurants, Nachtclubs und Golfplätzen. Epizentrum der Costa Smeralda wurde ein Ort namens Porto Cervo, den rasch der Jetset für sich entdeckte. Das scheinbar wertlose Schäferland war zu einem der mondänsten Reiseziele der Welt geworden.
Der König von Tavolara bedauert das nicht. »Zum Glück ist Aga Khan gekommen und hat Sardinien entdeckt«, sagt er. »So kamen die Touristen erst an die Costa Smeralda, dann nach ganz Sardinien und schließlich auch zu uns nach Tavolara. Wir haben den Wandel geschafft.«
Wobei sich Toninos Insel nicht mit der Costa Smeralda vergleichen lässt. Hier auf Tavolara sieht es fast noch so aus wie auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos im Lokal. Es gibt keine modernen Häuser, keine Hotels, nur ein paar Zimmer vermietet die Familie an Individualisten. Dank der Nato und des Meeresschutzgebiets ist die Insel fast unbebaut geblieben. Auf dem Berg leben immer noch die wilden Ziegen, deren Zähne von den Kräutern, die sie fressen, goldfarben geworden sein sollen. Was Tonino allerdings bestreitet. Er meint, die Ziegen hätten genetisch solche Zähne. Dank der Beschränkungen für die Fischerei erholen sich die Fischbestände ein wenig. Und jetzt, im Winterhalbjahr, wirkt Tavolara fast wie ein vergessenes Paradies.
Im Sommer aber wird es voll. Dann bringen die Bertoleoni mit einem Boots-Shuttle-Service die Urlauber von Porto San Paolo hierher. Viele andere landen mit ihren Yachten und Schlauchbooten. Die im Winter einsamen Strände füllen sich, und im Ristorante da Tonino Re di Tavolara arbeiten sie vom Morgen bis tief in die Nacht, genauso wie im benachbarten Ristorante La Corona, das einer Schwester des Königs gehört und von einer anderen Familie bewirtschaftet wird.
König Tonino und Prinz Giuseppe lassen keine Münzen prägen, Briefmarken drucken und Kühlschrankmagneten verkaufen. Sie tischen lieber Polpette di pesce,[10]Spaghetti vongole e bottarga – bottarga ist ein in der Sonne getrockneter, gesalzener Fischrogen –, Langusten-Linguine und gegrillte Goldbrasse auf, gefolgt von einem Pecorino sardo[11] und Seadas. Das sind in Olivenöl frittierte Teigtaschen aus Grieß, Schmalz und Frischkäse, die mit Honig und geriebenen Zitronenschalen serviert werden. Dazu erzählen einem die Royals wundersame Dinge über ihre Insel.
Etwa das Märchen vom gezähmten Kormoran. Unlängst habe er einen der schwarz-metallisch glänzenden Vögel im Meer beobachtet, ein noch junges Tier, aus Mangel an Fischen so geschwächt, dass es nicht mehr tauchen und jagen konnte und apathisch auf der Wasseroberfläche dümpelte, sagt Tonino. Er holte aus der Küche einen Eimer mit kleinen Fischen, ging auf den Steg hinaus und warf sie dem Kormoran zu. »Nach drei Tagen hatte ich ihn so weit, dass ich ihn nur noch vom Strand aus rufen musste. Schon schwamm er ans Ufer und lief auf mich zu. Inzwischen kommt er drei, vier Mal am Tag. Wenn er satt ist, macht er einen eleganten Tauchsprung, als wolle er sich verabschieden, und schwimmt davon. Er weiß, dass ich ihm das Leben gerettet habe.«
Ich kann es mir nicht verkneifen, heimlich auf dem Handy nachzuschauen, ob man Kormorane zähmen kann. Es sei »mühsam«, ist dort zu lesen, dauere »sieben bis acht Monate«. Ich muss über die Fantasie und Fabulierkunst meines Gastgebers schmunzeln.
Während wir noch über dem Nachtisch auf der Veranda sitzen, steht der König plötzlich auf und eilt an den Strand. »Vieni! Vieni!«,[12] ruft er. Ein schlanker, dunkler Schatten huscht übers mittagsglitzernde Wasser, gleitet an Land, schüttelt sich und watschelt auf seinen Schwimmflossenfüßen eilig auf den alten Mann zu. Sein Sohn reicht ihm eine gelbe Plastikschüssel mit Sardellen. »Vieni! Vieni!«, ruft der König immer wieder und winkt mit der rechten Hand. Das Tier richtet sich auf, die Brust herausgestreckt, die schwarzgrün schimmernden Flügel schlagend, den Hals nach oben reckend, schnappt einen Fisch aus der Hand des Alten, hält ihn quer im Schnabel, dreht ihn längs und schluckt ihn mit einem raschen Schlenkern seines Halses. Schon ist der nächste Happen an der Reihe. Zehn, 15, vielleicht noch mehr Fische verschlingt der Kormoran. Dann watschelt er zurück ins Wasser und verabschiedet sich, wie es der König erzählt hat, mit einem galanten Tauchsprung.
Tonino Bertoleoni kommt zurück an unseren Tisch, glücklich, fragt: »Hast du es gesehen?«
»Wie heißt denn der Kormoran?«
Der Alte überlegt kurz. Dann schüttelt er sich vor Lachen. »Vieni! Vieni!«, heißt er.
Nun höre ich auch seine weiteren Geschichten mit größerem Glauben an. Etwa die vom Kraken, der unter einem Stein am Ende des Steges lebt. Einer seiner Angestellten, ein Mann, der immer einen Hut trägt, habe ihn entdeckt und mit Fischresten aus der Küche gefüttert. Immer, wenn der Mann mit Hut auf dem Steg erscheine, komme der Krake. Gehe jemand anderes auf den Steg hinaus, bleibe er unter seinem Felsen. »Sie sind so intelligent, die Kraken«, sagt Bertoleoni.
Einmal sei der Mann mit Hut ohne Fisch erschienen, einfach so, um nach dem Tier Ausschau zu halten. Da sei der Krake an die Oberfläche geschwommen und habe mit einem Fangarm gewunken, um sein Futter zu erbitten. Ob er mir das vorführen könne, frage ich. Der König schüttelt den Kopf. Der Mann mit dem Hut sei nur im Sommer hier.
Vielleicht ist es nun Zeit, etwas Wermut in die süffigen Erzählungen des Königs zu kippen. Nicht alles, was Tonino Bertoleoni über die Geschichte Tavolaras erzählt hat, ist unumstritten. Als ich ihn frage, wo denn das Pergament sei, das die Schenkung der Insel durch den König von Sardinien-Piemont verbriefe, blickt er abwesend aufs Meer, als verstehe er schlecht – wobei er sonst ausgezeichnet hört. Als ich die Frage wiederhole, antwortet er: »Bah! Das ist eine komplizierte Geschichte.« Ohne sie dann erzählen zu wollen. »Nur so viel: Die Urkunde gibt es.«
Eine Frau aus der Bertoleoni-Sippe wollte es genau wissen. Alfredina Papurello, Jahrgang 1931, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit auf Tavolara. Später wurde sie Geografie-Professorin an der Universität Sassari. Nach Tavolara kehrte sie immer wieder zurück, die Insel faszinierte sie ein Leben lang. Doch als Naturwissenschaftlerin störten sie die Übertreibungen und Erfindungen, die im Umlauf sind. In der Geschichte »über die Könige und Königinnen von Tavolara werden Wahrheit und Fantasie vermischt«, kritisierte sie einmal. So kam sie auf die Idee, ein Buch über die Insel zu schreiben, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Es heißt »Tavolara. Signora del Mare«[13] und handelt von Geografie, Pflanzen, Tieren und Menschen auf Tavolara, insbesondere aber von der Geschichte der Familie Bertoleoni.
Leider kann ich Alfredina Papurello nicht mehr befragen, da sie inzwischen verstorben ist. So kann sie nur noch durch ihr Buch sprechen. Darin erklärt sie, die Ziegen mit den goldenen Zähnen seien ursprünglich Haustiere gewesen, die verwildert seien. Die Farbe ihrer Zähne rühre tatsächlich von ihrer speziellen Pflanzennahrung her. Und dass sich die Tierwelt auf der Insel und im umliegenden Meer nach dem Raubbau der vorangegangenen Jahrzehnte dank des Meeresschutzgebietes und auch der Nato-Station erhole.
Sie schreibt, Tavolara sei schon vor 5000 Jahren von Menschen bewohnt worden, wie Knochenfunde aus den Grotten belegten. Und dass man hier schon zur Zeit des alten Roms Kalkstein abgebaut habe. Vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts sei Tavolara ein »Unterschlupf der Barbareschi« gewesen. Das Wort barbaresco bedeutet im Italienischen einerseits barbarisch, andererseits Berber. Als barbareschi werden auf Sardinien und in anderen Gegenden Italiens muslimische Seeleute verschiedener Herkunft bezeichnet, die von ihren Basen an der nordafrikanischen Küste aus Schiffe und ganze Landstriche des christlichen Europas überfielen. Zudem, schreibt Alfredina Papurello, sei Tavolara wegen der Untiefen und Felsen ringsherum eine »Insel der Schiffbrüchigen« gewesen. Die Reste Hunderter Boote lägen bis heute hier auf Grund. Ihre Vorfahren hätten die angespülten Leichen beerdigt. Sie erzählt, wie sich schließlich Paolo Bertoleoni und dessen Nachkommen auf der Insel einrichteten, einen Teil rodeten, Getreide, Kartoffeln, Wein, Johannisbrot- und Obstbäume anpflanzten, Brunnen gruben, Häuser und Kalköfen bauten. Es klingt, als habe sich hier die Entwicklungsgeschichte des Menschen vom Nomaden- und Hirtentum zur Sesshaftigkeit noch einmal in kurzer Zeit wiederholt.
Während ich über die Insel wandere, sehe ich all die Frauen und Männer vor mir, die hier schufteten, um sich zu ernähren und ihren Kindern vielleicht ein angenehmeres Leben zu ermöglichen. Das gelang. Die Bertoleoni warben sogar noch Dutzende Menschen aus Sardinien an, um auf Tavolara an den Kalköfen, als Ziegenhirten oder Köhler zu arbeiten. Doch die Naturwissenschaftlerin erzählt nicht nur vom Aufschwung, sondern auch von der Zerstörung. »Wie viel Macchia, wie viele Bäume sind verschwunden«, um Kalk zu brennen, klagt sie. Der Abbau der Steine habe den Berg erodieren lassen und die Küsten dem Meer preisgegeben. »Dieses Gemetzel hielt jahrzehntelang an und geschah unter den gleichgültigen Blicken der Eigentümer der Brennöfen, die auch die Herren der Insel waren. Sie verstanden nicht, was da geschah.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Öfen allmählich ausgegangen. Das Kalkbrennen lohnte sich nicht mehr. Die Bertoleoni begnügten sich wieder mit dem Ziegenhüten, ihren Gärten, dem Fischfang und dem Verkauf von Calamari. Dann kamen die ersten Touristen, für die die Familie Schilfhütten und ein erstes Lokal bauten.
Alfredina Papurello erinnert sich mit einer gewissen Wehmut der alten Zeiten. Das hält sie nicht davon ab, den Mythen auf den Grund zu gehen und historische Reiseberichte auszuwerten. Danach waren die Anfänge des Königreichs eher bescheiden. Als Erster berichtet der französische Schriftsteller Antoine Claude Pasquin Valéry, der 1834 die Gegend bereiste, der König von Sardinien habe einem Hirten »in gewisser Weise« Tavolara geschenkt. »Die Untertanen dieses Hirtenkönigs und Königshirten sind seine Schafe und die Bergziegen.« So sei das Märchen vom König von Tavolara entstanden, schreibt Papurello.
Einige Jahre später schreibt der renommierte Sardinien-Forscher Alberto Ferrero Della Marmora, Giuseppe Bertoleoni sei von Carlo Alberto scherzhaft als »König« der Insel bezeichnet worden. Seither nähmen die Bertoleoni diesen Titel in Anspruch. Alfredina Papurello leitet daraus ab, die ganze Geschichte sei ein Witz gewesen. Spätere Reisende hätten sie ausgeschmückt, und die Presse habe sie dann im 19. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet. Unzählige Artikel seien damals über Tavolara erschienen. Schließlich hätten ihre Vorfahren, die Bertoleoni, selbst an ihr Königreich geglaubt.
Vergegenwärtigt man sich die Situation in der damaligen Zeit, ist das nicht so erstaunlich. Schließlich gab es auf der Insel weder Polizei noch andere Behörden, denen die Bertoleoni, eigensinnige, unabhängige Leute, hätten Rechenschaft ablegen müssen. Sie fühlten sich nicht nur als Eigentümer der Insel, sondern auch als deren Souveräne. So ließ Giuseppes Sohn Paolo von seiner Mutter eine Flagge nähen. Und so sind seine Nachkommen noch heute überzeugt, der König von Sardinien-Piemont habe Paolo eine Urkunde ausgestellt, die ihn als Souverän von Tavolara auszeichnete. Alfredina Papurello meint dazu trocken: »Von diesem Dokument, das ich seit Jahren suche, habe ich keine Spur gefunden.«
Pergament hin oder her – der Familiensaga tat das keinen Abbruch. Nach dem Tod Paolos proklamierte er dessen Sohn Carlo zum König. Auf Carlo folgte wieder ein Paolo und dann Tonino, der heutige König. Mit ihm war Alfredina Papurello befreundet. Da ihr Urteil daher nicht objektiv sein könne, schreibt sie, komme er in ihrem Buch nicht weiter vor. Zudem folge sie dem Prinzip: »Die Wahrheit über die Dinge und die Menschen erkennt man erst, wenn alle tot sind, die sie erlebt haben.«
Tonino Bertoleoni aber ist quicklebendig. Da ich seine Wegweisungen für meinen Inselspaziergang nicht genau befolge, läuft er mir mit seinen kleinen, schnellen Schritten hinterher. Als der Weg steil aufwärtsgeht, holt er mich ein. Er begleitet mich bis zur nächsten Abbiegung, dann eilt er wieder zurück. Vieni-Vieni will bald Futter.
Am Spätnachmittag steht Tonino wieder am Steuer seines Kutters und fährt zwischen Granitfelsen hindurch Richtung Porto San Paolo. Eine tief stehende Sonne lässt das Meer kupferfarben schimmern. Kein anderes Boot ist zu sehen. So einsam muss es auch damals gewesen sein, als sein Urahn Giuseppe mit Kalk und Schmugglerware zwischen Tavolara und Sardinien hin- und herfuhr. Tonino springt an Land und verabschiedet sich rasch. Er ist müde. Am nächsten Morgen muss er wieder früh aufbrechen, um in seinem Reich nach dem Rechten zu sehen.
Das Mittelmeer ist ein Meer der Mythen, voller sagenhafter Gestalten und Abenteuer. Auf ihm segelte Odysseus auf der Suche nach seiner Heimat Ithaka. Aeneas überquerte es von Troja aus, um nach langem Herumirren Rom zu gründen. Auf den Inseln tummelten sich Götter wie Äolus und Ungeheuer wie die Sirenen. Noch im 19. Jahrhundert lebte auf einem kleinen Eiland zwischen Korsika und Sardinien eine Gestalt, die diesem Mythenreich zu entstammen scheint. Ein Seefahrer, Krieger, Abenteurer und Eroberer, verwundet und gestählt zugleich in zahlreichen Schlachten, charismatisch, stolz, den Tod verachtend und seiner Mission bis zum Ende treu. Überlebensgroß wie ein Findling auf einer Ebene steht er nun in der Geschichte, und in Italien, für das er sein Leben lang kämpfte, sind unzählige Straßen, Plätze, Schulen und sogar ein Flugzeugträger nach ihm benannt. Wobei es in Süditalien auch wachsende Kritik an ihm gibt.
Der »Held der beiden Welten«, wie Giuseppe Garibaldi wegen seiner revolutionären Abenteuer in Europa und Lateinamerika genannt wird, verbrachte die letzten 26 Jahre seines Lebens – 1856 bis 1882 – auf einer wilden, nahezu unbewohnten Insel des Maddalena-Archipels. Hier fand er Ruhe zwischen seinen Feldzügen, hier verwirklichte er für sich persönlich das, was er auch für alle Italiener erstrebte: ein freies, einfaches, tätiges Leben im Einklang mit der Natur. Er verbrachte seine Tage, umgeben von Familie und Freunden, lesend, schreibend, fischend und jagend, baute Wein an und züchtete Rinder, sang Arien und schöpfte Kraft, um immer wieder wie der Blitz auf dem Festland einzuschlagen und die Einigung Italiens mit Feuer und Schwert ein weiteres Stück voranzutreiben.
Die Berichte, die ich über Garibaldis Insel Caprera gelesen habe, etwa das Buch[14] seiner Tochter Clelia, klingen nach Paradies und Utopia, nach einer Insel der beinahe Seligen. Je mehr ich las, desto neugieriger wurde ich, die 16 Quadratkilometer kleine Dolomit-Insel kennenzulernen und Garibaldi näherzukommen. Wenn es dazu noch eines Anstoßes bedurfte, so gab ihn König Tonino von Tavolara, als er erzählte, sein Vorfahre Paolo sei mit Garibaldi befreundet gewesen. Beide hätten sich auf ihren Inseln mehrfach besucht und seien zusammen auf die Jagd gegangen. Auch wenn Garibaldi eigentlich kein Monarchist, sondern Republikaner war.
Also fahre ich mit einem tomatenroten Fiat 500 von Porto San Paolo zuerst nach Palau, einem Hafenort im Norden Sardiniens, in der Nachbarschaft der Costa Smeralda. Die Küste ist hier besonders zerklüftet, voller tiefer Buchten, vorgelagerter Inseln und bizarrer Felsen aus hellbraunem bis rosafarbenem Granit, wie dem berühmten Bärenfelsen, der dem Tier verblüffend ähnlichsieht.
1793 wurde diese Gegend Schauplatz eines Gefechts. Die Revolutionsstreitkräfte der erst wenige Jahre alten Französischen Republik versuchten, dem Königreich Sardinien-Piemont das Maddalena-Archipel zu entreißen, um es als Brückenkopf für eine Invasion Sardiniens zu nutzen. Sie griffen mit einer Flotte aus 22 Schiffen an. Mit dabei war ein junger korsischer Offizier, der später noch eine Rolle spielen wird: Napoleon Bonaparte. Ihm gelang es, die Insel Santo Stefano zu besetzen und die Hauptinsel des Archipels, La Maddalena, unter Feuer zu nehmen. Die sardischen und piemontesischen Verteidiger brachten im Gegenzug ihre Kanonen bei Palau in Stellung. Von dort beschossen sie die französischen Schiffe und beschädigten sie schwer. Der Versuch der Franzosen, die Insel Caprera zu erobern, scheiterte. Schließlich meuterten die Matrosen, und die Franzosen mussten sich geschlagen nach Korsika zurückziehen.
Heute befehden einander hier Italiener und Franzosen allenfalls noch wegen der besten Ankerplätze im Sommerurlaub. Palau hat sich dem Tourismus hingegeben, ist mit mäßig schönen Appartementhäusern zugebaut und eine eher sterile Ferienidylle, die im Winterhalbjahr überdimensioniert erscheint. Doch schon kurz nach dem Ablegen taucht die Fähre ein in das Inselgewirr des Archipels, durchquert ein glattes Meer in allen Blau- und Türkistönen, die eine Südseeatmosphäre hervorzaubern, und legt bald danach in dem schmucken Hauptort La Maddalena mit seinen übereinandergestaffelten gelben, orange- und rosafarbenen Häusern an. Hier ist sogar im Winter einiges los, die Leute sitzen vor den Cafés in der Sonne oder erstehen direkt auf den Fischkuttern im Hafen Meerbarben, Miesmuscheln und Tintenfische.
Im Südwesten der Hauptinsel fahre ich über einen Damm nach Caprera. Die Straße windet sich zur Casa Garibaldi hinauf durch Macchia und dichtgrüne Pinienwälder, die das grelle Sonnenlicht dämpfen. Eine mit Kopfsteinen gepflasterte Auffahrt führt an Palmen und Ginsterbüschen entlang zu einem Ensemble, das an eine südamerikanische Hazienda erinnert. Flache, weiß gekalkten, mit Ziegeln gedeckte Häuser umschließen drei Seiten eines üppig begrünten Hofes. Die vierte Seite ist unbebaut und geht in einen Olivenhain über. In der Mitte des Hofes wächst eine riesige Pinie, deren krakenartig ausgreifende Äste gestützt werden müssen, damit sie nicht unter ihrem eigenen Gewicht zu Boden brechen. Giuseppe Garibaldi hat sie am 16. Februar 1867 selbst gepflanzt, am Geburtstag seiner Tochter Clelia. Diese schreibt in ihrem Erinnerungsbuch, die Pinie sei nicht nach oben, sondern zur Seite gewachsen, weil sich die im Hof lebenden Hühner immer auf ihre noch jungen Äste gesetzt hätten.
Hier also lebte L’Eroe, Der Held, wie Garibaldi in Italien genannt wird. In dem anrührenden Museum, das in dem ehemaligen Bauernhof untergebracht ist, kommen die Italienerinnen und Italiener ihrem Einiger näher als irgendwo sonst. Sie betrachten den Pferde- und Rinderstall, die Tränken für die Esel, Schweine, Hühner und Kaninchen, die er im Hof hielt, die Vorratsräume und die Casa Bianca, das Weiße Haus, in dem er selbst lebte. Und sie mögen das alles – von Garibaldi selbst und seinen Leuten bodenständig, schlicht und geschmackvoll erbaut – vergleichen mit den Palästen ihrer Fürsten, Päpste und Politiker vor und nach der Einigung. Mit dem Prunk des königlichen Palastes in Turin, des Dogenpalastes in Venedig, des Quirinals- und des Vatikanpalastes in Rom oder des Schlosses von Caserta oder mit den heutigen Zentren der Macht in Rom, den Palästen Montecitorio, Madama und Colonna. Dabei könnte ihnen der Gedanke kommen: Wer hat mehr für die Einheit und Freiheit des modernen Italiens geleistet als Giuseppe Garibaldi? Und dabei bescheidener gelebt?
Wenn Garibaldi bis heute viele Menschen fasziniert, nicht nur Italiener, dann liegt es auch, wie bei Napoleon, an der unglaublichen Spannbreite dieser Figur. Garibaldi verkörperte in manchen Momenten einen Helden der antiken Mythologie, zum Typus des Kriegers verdichtet, entschlossen, den Tod verachtend, ewigen Ruhm einer zeitlichen Bequemlichkeit vorziehend. Zugleich war er, wie Napoleon, ein Mann der Moderne, ja seiner Zeit voraus. Garibaldi strebte in einem Europa der vielen Fürsten und der absolutistischen Restauration nach einem demokratischen Nationalstaat. Er zeigte sich offen für die soziale Frage, den Sozialismus und für die Idee eines geeinten Europas. Anders als Napoleon blieb er auch im Erfolg mit beiden Beinen auf dem Boden. Nach seinen Siegen zog er sich, ähnlich wie der altrömische Diktator Lucius Quinctius Cincinnatus, auf sein Landgut zurück. Vielleicht hatte Garibaldi das Glück, dass sich ihm die Mächtigen in Turin und später in Rom oft und hart widersetzten, während sich die Mächtigen in Paris Napoleon unterwarfen. Vielleicht hatte Garibaldi daher nicht die Möglichkeit, größentrunken zu werden. Vielleicht ruhte er aber auch einfach mehr in sich selbst als der kongeniale Korse.
An einer Hauswand in Garibaldis Bauernhof ist eine Marmortafel angebracht. Der Literatur-Nobelpreisträger Giosuè Carducci lässt darauf Dante zu Vergil sagen: »Nie haben wir eine noblere Gestalt erschaffen als den Helden.« Mit dem Helden ist natürlich Garibaldi gemeint.
»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«, sagt Galilei in Bertolt Brechts Theaterstück »Leben des Galilei«. Italien war wohl ein unglückliches Land, als Garibaldi 1807 in Nizza geboren wurde und heranwuchs. Es war zerrissen und von fremden Mächten beherrscht. Seine Heimatstadt gehörte damals zwar zum Königreich Sardinien-Piemont, stand aber unter französischer Besatzung. Um Nord- und Mittelitalien zankten sich die Franzosen mit den Österreichern. Die Erfolge des französischen Kaisers Napoleon währten dabei nur kurz. Bald fielen seine italienischen Eroberungen an die alten Machthaber zurück. Die Habsburger nahmen sich wieder den größten Teil Oberitaliens. In Rom und dem umliegenden Mittelitalien herrschten die Päpste über den Kirchenstaat. Und in Süditalien regierten spanische Bourbonen von Neapel aus über ein »Königreich beider Sizilien«. Italien als politische und kulturelle Einheit blieb ein Traum, der sich aus der ruhmreichen Geschichte des alten Roms speiste. Die Gegenwart bedeutete, wie in den vielen Jahrhunderten davor, Fremdherrschaft.
Nicht alle Italiener fanden sich damit ab. Männer wie der Genueser Giuseppe Mazzini kämpften für die Einigung Italiens als demokratische Republik. Der junge Garibaldi, ein Matrose, kam mit diesen Kreisen und ihren Ideen in Berührung. Er beteiligte sich 1834 an einem Aufstand im Piemont, wurde zum Tode verurteilt und floh nach Südamerika. Dort bewies er, dass seine Leidenschaft für Freiheit und Revolution mehr als eine jugendliche Laune und nicht auf Italien beschränkt war. Er kämpfte in Brasilien und Uruguay und traf die große Liebe seines Lebens, Ana Maria de Ribeiro, genannt Anita, eine leidenschaftliche junge Frau von heroischem Charakter, die womöglich noch rebellischer war als er selbst. Mit ihr bekam er in wenigen Jahren vier Kinder. 1848 kehrte Garibaldi mit ihnen und Anita nach Italien zurück. Seine Mission: die Revolution. Sein Schauplatz: Rom.
Dort beteiligte sich Garibaldi 1849 am Aufstand gegen Papst Pius IX. und an der Ausrufung der Römischen Republik, deren Armeechef er wurde. Zunächst erfolgreich verteidigte er die Stadt gegen ein französisches Heer, das zugunsten des Papstes intervenierte. Doch schließlich wurde die Republik von der Übermacht der Franzosen niedergeworfen. Garibaldi, Anita und Tausende Mitstreiter machten sich auf eine abenteuerliche Flucht über den Apennin. Der in Italien lebende englische Schriftsteller Tim Parks hat sie in seinem packenden Buch »Der Weg des Helden«[15] nachvollzogen.
Bei Ravenna starb die schwangere Anita an Erschöpfung und an der Malaria. Garibaldi floh über die Toskana nach Ligurien, wurde verhaftet und wieder freigelassen, musste Italien verlassen. Auf dem Weg ins Exil gelangte er erstmals auf das Maddalena-Archipel. Dann zog er über Gibraltar nach Marokko, Liverpool und schließlich New York weiter. Von dort aus reiste er als Schiffskapitän um die Welt, in die Karibik, nach Peru, China, auf die Philippinen, nach Australien und schließlich zurück in die USA. Dann war genügend Zeit vergangen, um nach Europa zurückzukehren.
1856 kaufte sich Garibaldi mithilfe von Freunden die Hälfte der Insel Caprera. Sie war damals nur von einigen Hirten und einem englischen Ehepaar bewohnt. Später erwarb er noch die andere Hälfte. Endlich hatte er einen festen Platz für sich und seine Kinder. Er lebte erst in einem Zelt, errichtete dann ein Häuschen und baute nach und nach mithilfe seiner Kinder, von Freunden und einigen Angestellten ein Landgut auf. So begeistert wie in die Freiheitskämpfe stürzte er sich nun in die Landwirtschaft. Bei allem packte er selbst mit an. Er rodete und jätete, pflanzte Pinien, Reben und einen Orangenhain, hielt Rinder, Schafe, Ziegen und Hühner, nähte selbst seine Kleider und baute ein komfortableres Wohnhaus für die Familie, die Casa Bianca. Sie ist mit Terracotta-Böden und Holzbalkendecken ausgestattet und bietet einen herrlichen Blick auf die Hügel und Felsen von Caprera, das Meer und die anderen Inseln bis hinüber zu den Bergen Korsikas.
Doch Garibaldi kapselte sich keineswegs von der Welt ab. Er empfing ständig Besucher aus Italien, England und anderen Ländern, hielt Kontakt zu revolutionären Bewegungen in aller Welt, ließ sich täglich zahlreiche Zeitungen kommen – er las neben italienischen auch französische, spanische und englischsprachige –, schrieb und diktierte seinem Sekretär unzählige Briefe und versuchte, die Einigung Italiens mit allen Mitteln voranzutreiben.
Es muss sehr lebhaft hergegangen sein an den Abenden, wenn alle an einem großen Holztisch in der Casa Bianca zusammensaßen, diskutierten und die schlichten Speisen aßen, die Garibaldi liebte: Saubohnen mit Pecorino, Gemüsesuppe mit Pesto, selbst gefangenen Fisch, selbst angebaute Oliven und Tomaten oder auch mal ein auf dem Kohlefeuer gegrilltes Zicklein. Adelige Besucher saßen Seite an Seite mit den Angestellten und mussten sich wie diese selbst bedienen. Garibaldi hasste alles Prätentiöse, er wollte die Teilung der Welt in Herren und Knechte überwinden.
Seine Freiheitsliebe galt auch den Tieren. Als man im Haus ein zahmes Zicklein anbinden wollte, damit es nicht draußen bei den anderen Tieren verwilderte, sagte er: »Lasst es frei! Ich will keine Sklaven!« Und als seine Tochter Clelia einen aus dem Nest gefallenen Spatzen zähmte, bestand er darauf, dass dessen Käfig immer offen blieb. In den besten Zeiten war Caprera ein Tierreservat, Pferde, Mulis, Schafe, Ziegen und Hunde liefen frei umher. Drei Esel benannte er nach seinen Lieblingsfeinden: Pius IX., Napoleon III. und Oudinot. So hieß der Oberbefehlshaber der französischen Truppen, die 1849 die Römische Republik niederwarfen. Einen vierten Esel nannte der antiklerikal eingestellte Garibaldi Unbefleckte Empfängnis. Später gründete Il Generale, wie er gern genannt wurde, die erste Tierschutzorganisation Italiens.
Man darf sich das Leben auf Caprera in der Anfangszeit als heitere Landidylle vorstellen. Wer heute durch das Gut geht, die Windmühle bewundert, die Vitrinen in der Casa Bianca mit Garibaldis Rothemd und seinem Poncho betrachtet oder sich auf ein Mäuerchen unter die Zypresse im Hof setzt, der erlebt die gelassene Heiterkeit, die dieser Ort ausstrahlt. Gerne würde ich eine Zeitreise in die frühen 1860er Jahre machen, um als unsichtbarer Gast an Garibaldis grober Holztafel zu sitzen und zu lauschen, wie er seinem Sohn Menotti, seiner Tochter Teresa, den Enkeln, seinem Sekretär Giovanni Basso und den Arbeitern des Landguts von seinen Irrfahrten über die Weltmeere und seinen Kämpfen für die Freiheit erzählt. Danach geht Teresa ans Klavier, um ihren Vater zu begleiten, der patriotische Lieder schmettert. Und zugleich Pläne für seinen nächsten Feldzug auf dem Festland schmiedet.
Während ich an einem Novembermorgen als einziger Besucher durch das Gelände um das Gut streife, tritt ein Mann auf mich zu. »Enzo«, stellt er sich vor, »Enzo Massidda«. Von der Kassiererin an der Pforte hat er gehört, dass ich über Caprera und Garibaldi schreiben möchte. »Der General liebte Südamerika so sehr«, sagt er. »Deswegen hat er sein Landgut im Stil einer Hazienda erbaut.« Dann bestätigt mir Enzo, Garibaldi sei trotz all seiner Weltkenntnis und Bildung ein einfacher Mann geblieben, »der im Poncho herumlief, auch wenn er in Rom bei den Politikern und beim König aufgetreten ist«. Auf seiner Farm habe er so gut gewirtschaftet, dass er die Überschüsse nach La Maddalena verkaufen konnte.
Enzo zeigt mir die Schiffe des Generals, die gut erhalten sind, darunter ein Ruderboot für 14 Männer, das Garibaldi in ein Segelboot umgebaut hatte, um es mit nur zwei Mann benutzen zu können. Trotz aller Liebe zur Landwirtschaft ist der Eigentümer von Caprera nicht wirklich sesshaft geblieben. Das Schicksal Italiens bedrängte ihn zu sehr, um nur das Leben auf seiner Insel zu genießen. Es erboste ihn, dass die Österreicher, der Papst und die Bourbonen in Neapel noch immer den größten Teil des Landes beherrschten. Immer wieder brach er daher auf zu neuen Kämpfen, auch gegen den Willen des Königs von Sardinien-Piemont Carlo Alberto oder dessen Sohn und Nachfolger Vittorio Emanuele II sowie deren Regierungen. Die Mächtigen in Turin fürchteten, ein zu forsches Vorgehen könnte die Franzosen als Schutzmacht des Papstes auf den Plan rufen, wie es 1849 beim Kampf um Rom bereits geschehen war. Auch scheint ihr Interesse, sich das rückständige Süditalien einzuverleiben, gedämpft gewesen zu sein. Ihr Verhältnis zu Garibaldi war ambivalent. Mal nutzten sie ihn als Vorkämpfer für die Ausdehnung ihrer Macht, mal sahen sie in ihm einen Unruhestifter, den es in die Schranken zu weisen galt.
Garibaldi selbst war Demokrat und Republikaner, kein Monarchist. Er erkannte jedoch, dass er nicht alles sofort haben konnte, ein geeintes Italien und die Republik. Also opferte er die Republik und kämpfte dafür, das Land unter der Herrschaft der Savoyer in Turin zu vereinen. Die Niederlage von Rom hatte ihm gezeigt, dass er mit seinen Freiwilligenverbänden nicht dauerhaft gegen straff organisierte staatliche Heere wie die der Franzosen, Österreicher oder Neapolitaner bestehen konnte. Vielmehr brauchte auch er selbst ein solches Heer, und das hatten die Savoyer. Realpolitik würde man das heute nennen. In seinen Memoiren schrieb er: »Obwohl ich ein geborener Revolutionär bin, habe ich mich, wenn erforderlich, der Disziplin unterworfen, die für einen guten Ausgang jeder Unternehmung nötig ist. Seit ich mich davon überzeugt habe, dass Italien mit Vittorio Emanuele marschieren muss, um sich von der Fremdherrschaft zu überzeugen, halte ich es für meine Pflicht, mich um jeden Preis seinen Befehlen zu unterwerfen, auch wenn ich dafür mein republikanisches Gewissen zum Schweigen bringen muss.«[16]
Das brachte den General in scharfen Konflikt mit republikanischen, antiklerikal Kräften wie Giuseppe Mazzini. Andererseits brauchten sowohl die Republikaner als auch der König Garibaldi, um etwas in der italienischen Frage zu bewegen. Denn keiner konnte die Massen so begeistern wie der Mann auf Caprera mit seiner Heldengeschichte.
1859 kommen die Dinge ins Rollen. Österreich zieht, zum Kampf provoziert, in den Krieg gegen Sardinien-Piemont, das von Frankreich unterstützt wird. König Vittorio Emanuele ernennt Garibaldi zum Generalmajor. Anders als noch 1849 in Rom führt er nun reguläre Truppen ins Gefecht. Er verzichtet auf sein rotes Hemd, trägt Uniform. Nach zahlreichen Schlachten, in denen er wiederum Mut und taktisches Geschick beweist, kommt es zum Waffenstillstand. Österreich muss die Lombardei an Sardinien-Piemont abtreten, behält aber Venetien. Die Presse in ganz Europa berichtet von den neuen Heldentaten Garibaldis. Doch dessen größtes und ruhmreichstes Abenteuer steht noch bevor. Der Zug der Tausend, der Italiens Geschichte nachhaltig prägen wird.
Während der General, frustriert von der Zögerlichkeit in Turin, wieder auf Caprera weilt, brechen 1860 in Sizilien Aufstände aus. Ferdinando II, der Herrscher des maroden, rückständigen Königreichs beider Sizilien, ist gerade gestorben, sein Sohn und Nachfolger Francesco II gilt als frömmelnd und entscheidungsschwach. Dennoch schickt sich das neapolitanische Heer an, die Revolten blutig niederzuschlagen. Die Aufständischen hoffen, der Nationalheld Garibaldi werde ihnen mit einem Expeditionskorps aus Freiwilligen zu Hilfe eilen. Doch dieser zögert. Denn Vittorio Emanuele II, der König in Turin, und dessen Ministerpräsident Camillo Benso von Cavour verweigern ihm die Unterstützung. Schließlich bricht Garibaldi Anfang Mai doch von Genua nach Sizilien auf, mit einer abenteuerlich zusammengewürfelten, bunt gekleideten und miserabel bewaffneten Truppe aus Studenten, Anwälten, Ärzten, Seeleuten, Handwerkern und Bauern, darunter auch viele Jugendliche und sogar Kinder. Der General selbst trägt seine berühmte camicia rossa, das Rothemd, und darüber einen Poncho. Er ist mit Säbel, Dolch und Pistole bewaffnet. Friederike Hausmann schreibt in ihrer Garibaldi-Biografie über die Expedition der Mille, der Tausend: »Garibaldi kam auf seinem Wege so häufig der schiere Zufall zu Hilfe und seine Feinde machten so banale Fehler, dass es schwerfällt, nicht die ›unsichtbare Hand des Weltgeistes‹ als Erklärung zu bemühen.«[17]
Die Tausend landen in Marsala auf Sizilien und müssen sich den zahlenmäßig haushoch überlegenen Truppen Neapels stellen. Doch Garibaldis Männer – es sind nahezu alles Männer – werden von ihrem patriotischen Geist und ihrem charismatischen Anführer beflügelt. »Qui si fa l’Italia o si muore!«, gibt Garibaldi als Losung aus. »Hier erschaffen wir Italien oder wir sterben.«
Garibaldis Todesmut und seine Taktik, nie zurückzuweichen und auch einen überlegenen Feind ständig unter Druck zu setzen, führen zu ersten Siegen. Dadurch strömen ihm immer mehr Freiwillige zu. Bald darauf erobert er, unterstützt von einem Volksaufstand, Palermo von den Bourbonen. Dabei stürzt er sich selbst, hoch zu Ross, mitten ins Gefecht. Sein Erfolg gegen eine Übermacht wirkt auf die Zeitgenossen wie ein Wunder und fasziniert ganz Europa. Victor Hugo vergleicht ihn mit einem der Helden Homers. Friedrich Engels rühmt Garibaldis Sizilien-Feldzug in der »New York Daily Tribune« als »eine der erstaunlichsten militärischen Leistungen des Jahrhunderts«.[18]