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Ist das Hirn vernünftig? Die provozierende Frage stellt der renommierte Hirnforscher und Neuropsychologe Lutz Jäncke aus gutem Grund: Wir alle denken, dass wir als Menschen rationale Entscheidungen treffen. Unser Hirn fungiert dabei als eine Art Supercomputer, mit dessen Hilfe wir streng logisch das Für und Wider abwägen. Doch wir täuschen uns! Je mehr wir über die Funktionsweise jenes Denkorgans erfahren, desto plausibler wird die Frage, wie vernünftig wir denn eigentlich wirklich sind. Lutz Jäncke nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise und zeigt auf verständliche und unterhaltsame Weise, wie unser Hirn unser Denken, Handeln und Fühlen beeinflusst - und dass das manchmal nur am Rande mit Vernunft zu tun hat. Er zeigt uns, dass das Unbewusste tatsächlich existiert und wie es uns beeinflusst, wie wir richtige und falsche Entscheidungen treffen, wie unser Gedächtnis funktioniert und wie fragil es sein kann - aber auch wie robust. Anhand aufschlussreicher Experimente und neuester Forschungsergebnisse, aber auch mit vielen Beispielen aus seiner Praxis als weltbekannter Forscher kann er anschaulich darstellen, welch unglaublich beeindruckendes Denkorgan unser Hirn darstellt - auch wenn es keine reine "Vernunftsmaschine" ist.
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Seitenzahl: 422
Ist das Hirn vernünftig?
Lutz Jäncke
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:
Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Dieter Frey, München; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg;
Lutz Jäncke
Ist das Hirn vernünftig?
Erkenntnisse eines Neuropsychologen
2., unveränderte Auflage
Lutz Jäncke, Prof. Dr. Universität Zürich Psychologisches Institut Lehrstuhl für Neuropsychologie Binzmühlestr. 14/25 8050 Zürich Schweiz [email protected]
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Lektorat: Dr. Susanne Lauri Bearbeitung: Tino Heeg Herstellung: Daniel Berger Druckvorstufe: Claudia Wild, Konstanz Umschlag: Claude Borer, Riehen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín Printed in Czech Republic
Schon als Kind habe ich mich über die vielen Merkwürdigkeiten des menschlichen Verhaltens gewundert. Menschen können Bewunderungswürdiges, aber auch Verabscheuungswürdiges vollbringen. Diese Faszination und Irritation steigerte sich noch während meiner Zeit auf dem Gymnasium. Die vielen Eindrücke, die ich dort über verschiedene Menschen und Kulturen sammelte, machten mir nur klar, dass wir alle sehr unterschiedlich agieren und reagieren. Selbst in dem Klassenverband, dem ich neun Jahre angehörte, änderten sich Meinungen, Ansichten, Interpretationen meiner Klassenkameraden und Klassenkameradinnen ständig – ja, manchmal sogar Persönlichkeitseigenschaften. Im Grunde war der Besuch des Gymnasiums – entgegen meiner Erwartung – für die Entwicklung eines festen Weltbildes und einer klaren Erkenntnis über das menschliche Verhalten eher ungünstig.
Natürlich herrschte bei mir kein totales Chaos im Hinblick auf die Betrachtung des Menschen. Allerdings blieben immer Fragen offen: Wieso gab es den Holocaust? Warum quälen, bekämpfen und betrügen sich Menschen unaufhörlich? Die vielen Kriege der vergangenen 500 Jahre in Europa waren vielfach religiös motiviert oder zumindest durch im Nachhinein merkwürdig anmutende Ereignisse initiiert. Warum war das so, wo doch die Religionen Nächstenliebe predigen? Die berühmten Persönlichkeiten, denen wir im Geschichtsunterricht begegneten, waren bei genauer Betrachtung oft seltsame, ja gelegentlich sogar soziopathisch veranlagte Menschen. Bis heute werden Alexander der Große, Friedrich II. von Preußen oder Napoleon von vielen Menschen verehrt, sie sind historische Ikonen und dienen gelegentlich sogar als nationale Symbole. Bei genauer Betrachtung handelten sie zumindest ansatzweise menschenverachtend, nicht selten brutal, oft hart ihren Untertanen gegenüber und eben kriegerisch, ja aggressiv. Eigentlich keine Eigenschaften, die man als erstrebenswert für eine humanistische Ausbildung erachten würde! Gut, man kann auch – allerdings wenige – friedfertige historische Figuren in den Schulbüchern finden. Ihr Einfluss auf das historische Gesamtbild hatte eigentlich nur eine marginale Bedeutung für die Gesamtsicht.
Auch innerhalb eines Kulturkreises oder Landes, ja sogar innerhalb von recht kleinen sozialen Gruppen existieren teilweise sehr unterschiedliche Ansichten hinsichtlich verschiedenster Sachverhalte. Dies zeigt sich häufig eindrücklich, manchmal sogar verstörend im Hinblick auf politische Meinungen. Vermeintlich vernünftige Menschen bewerten politische Situationen vollkommen unterschiedlich, stehen sich in den Kontroversen gelegentlich offen feindselig gegenüber. Ich erinnere mich noch lebhaft an politische Diskussionen innerhalb des engsten Familienkreises: dort wurde emotional, heftig und außerordentlich kontrovers gestritten. Kurzum, die Heterogenität von Ansichten und Meinungen innerhalb eines Kulturkreises und über die Kulturgrenzen hinweg ist bei uns Menschen enorm und bleibt für mich ein fortdauerndes Faszinosum. Als Neurowissenschaftler glaube ich, zu einem besseren Verständnis der menschlichen Urteile, Ansichten, Neigungen und Wünsche beitragen zu können. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben. Es soll ausdrücklich keine wissenschaftliche Abhandlung sein, sondern Ihnen in verständlicher Sprache die Vielfalt der menschlichen Informationsverarbeitung erklären.
Noch ein Wort zu den Quellen, auf die ich mich stütze: Ich setze mich seit einigen Jahrzehnten intensiv mit dem menschlichen Gehirn auseinander und versuche, Neuroanatomie und Neurophysiologie des menschlichen Gehirns mit unserem Verhalten in Verbindung zu bringen. Dabei habe ich natürlich schon sehr viele Artikel und Bücher rezipiert. In diesem Buch habe ich mein Bestes gegeben, um die wichtige Literatur auch entsprechend zu würdigen, sie hier zu erwähnen und zu zitieren. Notgedrungen musste ich dabei aber auch selektiv vorgehen und konnte einzelne Autoren und Kollegen nicht zitieren. Trotzdem haben diese Wissenschaftler und Forscher natürlich ebenfalls einen großen Anteil an den erstaunlichen Fortschritten der Neurowissenschaften.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Reise durch unser vernünftiges Gehirn.
Zürich, im April 2015
«Das erste, das diese Reuter taten, war, daß sie ihre Pferd einstellten, hernach hatte jeglicher seine sonderbare Arbeit zu verrichten, deren jede lauter Untergang und Verderben anzeigte, denn obzwar etliche anfingen zu metzgen, zu sieden und zu braten, daß es sah, als sollte ein lustig Bankett gehalten werden, so waren hingegen andere, die durchstürmten das Haus unten und oben, ja das heimlich Gemach war nicht sicher, gleichsam ob wäre das gülden Fell von Kolchis darinnen verborgen;…»
«unser Magd ward im Stall dermaßen traktiert, daß sie nicht mehr daraus gehen konnte, welches zwar eine Schand ist zu melden! den Knecht legten sie gebunden auf die Erd, stecketen ihm ein Sperrholz ins Maul, und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in Leib, das nenneten sie ein Schwedischen Trunk, wodurch sie ihn zwangen, eine Partei anderwärts zu führen, allda sie Menschen und Vieh hinwegnahmen, und in unsern Hof brachten, unter welchen mein Knan, mein Meuder und unser Ursele auch waren.»
(Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicius Simplicissimus)1
Diese Szene aus dem Werk von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen beschreibt aus heutiger Sicht eigentlich merkwürdig distanziert eine Szene aus dem Dreißigjährigen Krieg. Dieser Konflikt ist eine unermessliche Katastrophe. Er produziert Menschen im Blutrausch, die sich wie Bestien verhielten. Da wird gemetzelt, niedergeschlagen, vergewaltigt, verbrannt, geschändet, Dörfer und Städte werden niedergebrannt. Ganze Landstriche werden durch die direkten und indirekten Folgen des Krieges verwüstet. Während geschätzt etwa 600000 Landsknechte ihr Leben lassen müssen, sind die Verluste bei der Zivilbevölkerung sogar wesentlich höher. Obwohl die Verlustschätzungen aus heutiger Sicht sehr schwierig sind, kann man davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent der damaligen Zivilbevölkerung (20 Mio. Menschen) im Deutschen Reich ihr Leben ließen – das heißt, dieser Krieg forderte rund vier Millionen zivile Opfer. Kurzum: Im kollektiven Gedächtnis ist dieser Konflikt als eine Katastrophe für die Zivilisation haften geblieben.
In dieser apokalyptischen Zeit reist ein Mann quer durch die Kriegsgebiete, verdingt sich teilweise als Soldat in verschiedenen Armeen, um dann dem Soldatenleben den Rücken zu kehren. Als Adeliger hatte er eine hervorragende Ausbildung genossen, die seine Begabungen förderte. Die Kriegserlebnisse und das Soldatenleben lassen ihn jedoch erkennen, dass er zu etwas anderem berufen ist – nämlich zum Denken. René Descartes, Philosoph und Mathematiker, wird unsere Welt und unser Denken beeinflussen, ja sogar grundlegend verändern. Und das in einer Zeit, in der der Mensch seine dunkle Seite für jedermann und allzeit sichtbar offenbarte. Welch ein Anachronismus!
Der französische Philosoph markiert mit seinen Werken den Beginn einer Epoche, die wir Aufklärung oder das Zeitalter der Vernunft nennen. In dieser Epoche erwächst eine bis heute andauernde Überzeugung, gemäß derer die Vernunft für den Menschen eine herausragende Bedeutung hat. 16372 veröffentlichte er eine Abhandlung, in der er den berühmten Satz «cogito ergo sum» (ich denke, also bin ich) als Kerngedanken seiner Ideen formulierte. In diesem Werk macht Descartes den denkenden Menschen zum Mittelpunkt seiner Betrachtung. Alles was der Mensch weiß, weiß er vor allem durch sein Denken. Descartes ist unter anderem ein empirischer Naturwissenschaftler und – wenn man so will – ein Universalgelehrter. Er beschäftigt sich mit Botanik, Anatomie, Mathematik und Kosmologie. Er ist auch ein Verfechter des Experimentierens und wehrt sich bereits schon zu seiner Zeit gegen die «Sesselphilosophen», die der Überzeugung sind, alle Erkenntnisse könnten sich alleine durch Nachdenken ergeben.3 Denken ist für Descartes Weltsicht zentral, aber das Denken muss auf objektiven Grundlagen beruhen, die man durch Beobachtung und Experimentieren erzielt. Vernünftiges Denken fasst er als eine Methode auf, mit der eine lückenlose und schrittweise Beweisführung zur Erklärung von Sachverhalten möglich ist. Damit ist er ein Anhänger jener, die sich der Suche nach Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen4 verschrieben haben. Decartes’ Denken passt perfekt in die damals sich entwickelnde Naturwissenschaft.5 In diesem Denkgebäude hat alles, was sich nicht kausal ergründen und logisch darstellen lässt, bestenfalls eine zweitrangige Bedeutung.
Damit hebt der Philosoph den menschlichen Geist (res cogitans) aus dem «Sumpf» tierischen Lebens hervor und lässt ihn alles andere überstrahlen. Dieser wunderbare denkende Geist haust im Körper. Der Körper ist Materie und funktioniert wie ein Automat, eine Maschine (res extensa). Diese Maschine ist bewusstlos und verrichtet ihre vorprogrammierte Arbeit. Denken – das ist für Descartes «alles, was derart in uns geschieht, dass wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewusst sind». Und er fährt fort: «Alle unsere Begriffe knüpfen wir an Worte.» Da Tiere nicht sprechen können, verfügen sie demzufolge auch nicht über ein Bewusstsein und funktionieren eigentlich «nur» wie bewusstlose Automaten – ein Gedankengang, der noch heute für viele als Rechtfertigung für Tierquälerei jedweder Art gilt. Descartes argumentiert zudem, dass «Sprache (…) das einzige sichere Anzeichen dafür (ist), dass im Körper ein Geist verborgen ist»6.
Fassen wir Descartes Thesen zusammen: Menschen verfügen über eine Vernunft (Ratio) und einen bewussten Geist. Der Körper ist Materie und funktioniert völlig automatisch und ohne Geist oder Bewusstsein. Tiere sind Automaten und verfügen demzufolge über keine Ratio.
Der Mensch: ein reflektierendes Wesen, das über sich selbst bewusst nachdenkt und kraft seiner Ratio zu logischen und nachvollziehbaren Schlussfolgerungen gelangt. Das ist eine Einsicht, die bis heute unser Denken und vor allem unsere Sicht auf uns selbst beherrscht. Allerdings wird uns allzu oft bewusst, dass wir über Sachverhalte nachdenken, die sich rationalen Erklärungen entziehen. Solche Sachverhalte werden dann oft als unvernünftig abgetan. Leider ist in unserer Denkweise das Adjektiv «unvernünftig» häufig negativ besetzt. Wenn etwas nicht vernünftig ist, dann ist es oft auch vernunftwidrig. Es verschließt sich einer logischen Beweisführung und damit einer verstehbaren Ursache-Wirkungs-Kette. Doch das liegt schlicht daran, dass menschliches Verhalten nicht einfach mathematisch-logisch zu beschreiben ist.
In der Zeit nach Descartes entwickelten seine Ideen eine starke Dynamik, und es ergab sich die eigentlich merkwürdige Situation, dass im Zeitalter der Vernunft viele Menschen fast fanatisch und irrational an die Allgemeingültigkeit der Vernunft glaubten. So kommt es, dass Vernunft eigentlich nie wirklich erschöpfend definiert wurde. In den philosophischen Abhandlungen wird sie oft einfach als gegeben und menschtypisch vorausgesetzt.7
Zudem wird die Vernunft in diesen Schriften und Thesen oft als emotionslos und kalt eingeschätzt. Man denkt «messerscharf» und unbeeinflusst von «störenden» Gefühlen. Dabei hatte Descartes gerade im Hinblick auf die Emotionen eigentlich (wie wir sehen werden) recht moderne Vorstellungen: Für ihn kann die Vernunft (Ratio) die Emotionen kontrollieren, wobei er den Emotionen trotzdem eine wichtige Bedeutung zuschrieb. Für ihn mussten Emotionen durch die Ratio irgendwie «zum Guten» gelenkt werden. Insofern kommt der Vernunft im descartesschen Weltbild eine verhaltenssteuernde Bedeutung zu.
Mit dem Fortschritt der Verhaltens- und Neurowissenschaften wird zunehmend deutlich, dass wir mit einem komplexen Gehirn ausgestattet sind, dass uns auch komplex handeln und denken lässt. Menschliches Verhalten ist vielfältig, es hängt von individuellen Erfahrungen ab und wird durch bewusste und unbewusste Mechanismen gesteuert oder gar determiniert. Kausalketten werden entsprechend beim menschlichen Verhalten oft gar nicht ersichtlich. Auch der Glaube, dass wir als Menschen exklusiv mit Vernunft begabt sind, wird durch moderne neurowissenschaftliche Forschung zunehmend erschüttert.
Die Vernunft ist ein seit vielen Jahrhunderten lebhaft diskutiertes Thema der Philosophie des Geistes sowie der Verhaltens- und Neurowissenschaften. Ich möchte hier nicht die gesamte Philosophiegeschichte aufrollen – mir geht es aber darum, unseren alltäglichen Gebrauch des Begriffs Vernunft klarer zu machen. In der philosophischen Debatte um die Vernunft existieren natürlich auch weiterhin unterschiedliche Standpunkte. Eine gewisse Sonderstellung nimmt die sogenannte objektive Vernunft ein, die von einigen Philosophen postuliert wird und die man als ein die Welt ordnendes Prinzip verstehen muss, das auch den Menschen beeinflussen und steuern kann. Dieses Prinzip wird als kosmologische oder metaphysische Vernunft aufgefasst und ist Teil diverser theologischer Theorien.
Aber ungeachtet der unterschiedlichen philosophischen Strömungen besteht Einigkeit darin, die Vernunft als das herausragende Erkenntnisvermögen aufzufassen, das den Verstand kontrolliert, diesem Grenzen setzt und dessen Beschränkungen erkennt.8 Das Erkenntnisvermögen nährt sich aus der Fähigkeit, universelle Zusammenhänge in der Welt sowie ihre Bedeutung zu erkennen. Der Mensch ist aufgrund dieser Vernunft in der Lage, sein Verhalten zu kontrollieren und danach auszurichten. In anderen Worten: Er ist in der Lage, sein Verhalten durch Vernunft zu steuern.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang jedoch Erkenntnisvermögen, und sind alle Menschen in der Lage, zu den gleichen Schlussfolgerungen zu gelangen? Interessant ist auch die Frage, ob ein und derselbe Mensch immer über das gleiche Erkenntnisvermögen verfügt. Und was bedeutet in diesem Zusammenhang herausragend, und warum soll gerade die Vernunft durch etwas besonders Herausragendes genährt werden?
Diese Definitionen zeigen noch eine starke Orientierung am Menschen und an den ihm zugesprochenen Fähigkeiten. Aber ist es denn tatsächlich so klar, dass Tiere nicht vernünftig sein können? Oder können sie nicht auch in bestimmten Situationen vernünftig handeln? Ich denke, dass dem durchaus so ist, und werde später darauf zurückkommen. Und wenn sie also auch vernünftig handeln können – tun sie dies auf der Grundlage von kognitiven (also geistigen) Entscheidungen? Die gleiche Frage möchte ich aber auch im Zusammenhang mit menschlichem Verhalten stellen: Liegt wirklich jedem vermeintlich vernünftigen Verhalten auch Vernunft und Erkenntnisvermögen zugrunde? Ist es nicht auch möglich, dass Menschen angepasstes (vernünftiges) Verhalten zeigen, ohne dass dieses Verhalten durch ein «herausragendes Erkenntnisvermögen» geleitet wird? Dieses Verhalten könnte vernünftig erscheinen, ohne dass besondere geistige Tätigkeiten es angestoßen hätten.
Neben vielen anderen Aspekten hat sich Descartes auch Gedanken über den Zusammenhang zwischen Leib und Seele gemacht. Die Seele war ihm sehr wichtig (wie wir oben bereits gesehen haben), denn sie ist vernünftig, während das Unvernünftige quasi aus dem Körper kommt. Die Seele und damit die Vernunft betrachtete er dabei als nicht fassbare immateriell-geistige Zustände, eine Auffassung, die der von Aristoteles ähnlich ist. Descartes war aber zutiefst davon überzeugt, dass der immaterielle Geist mit dem materiellen Körper kommunizieren kann und dass der immaterielle Geist ursächlich für das Verhalten ist. Umgekehrt soll aber auch der immaterielle Geist durch den Körper beeinflusst werden können. Aber wie kann Immaterielles mit Materiellem kommunizieren – und dann noch kausal?
Wenn eine Person etwa in eine Flamme greift, so Descartes Idee, dann werden die sensorischen Reize vom materiellen Körper registriert und zum Gehirn weitergeleitet. Diese materiell kodierten Informationen erzeugen dann ein Schmerzerlebnis, also ein geistiges Ereignis. Umgekehrt können aber auch geistige Zustände wie Gedanken und Gefühle ganz bestimmte körperliche Prozesse auslösen. Aber irgendwo und irgendwie muss doch das Immaterielle mit dem Materiellen vereint werden! Wie das genau gehen soll, war auch Descartes unklar, er verfügte zumindest über eine Vorstellung darüber, wo das stattfinden sollte, nämlich in der Zirbeldrüse (Epiphyse). Die Zirbeldrüse ist ein klitzekleines Hirngebiet, das hinten unten am viel größeren Zwischenhirn anliegt.
Abbildung 1: Descartes Vorstellung über den Zusammenhang zwischen Leib und Seele. In A ist seine Vorstellung hinsichtlich der Reizleitung zum Gehirn dargestellt. In A ist die Zirbeldrüse als Oval mit dem Buchstaben F gekennzeichnet. In B ist die Zirbeldrüse als zwiebelförmige Struktur hinter den Augen zu erkennen.
Warum der Philosoph gerade dieses Hirngebiet gewählt hat, ist nicht ganz ersichtlich. Vermutlich stellte er einige Besonderheiten an diesem kleinen Hirngebiet fest: Es ist beispielsweise nicht paarig wie viele andere Hirngebiete angelegt. Descartes wusste auch, dass es eine direkte Verbindung von den Augen zur Zirbeldrüse gibt, und vermutete deshalb, dass die Zirbeldrüse der Hauptsitz des Sehens sei. Gemäß seiner Auffassung war die Zirbeldrüse über ein hydraulisches Röhrensystem mit den Muskeln des Körpers verbunden. So konnte (so seine Interpretation) dieses Hirngebiet mechanisch mit dem Körper kommunizieren. Über die Zirbeldrüse sagte er: «Es gibt eine kleine Drüse im Gehirn, in der die Seele ihre Funktion spezieller ausübt.»
Die theoretische Position, die Descartes damit formulierte, wird als interaktioneller Dualismus bezeichnet. Geist und Körper existieren als separate Einheiten nebeneinander, können sich aber gegenseitig beeinflussen. Obwohl diese Form des Dualismus aus der Sicht moderner neurowissenschaftlicher Forschung nicht mehr haltbar ist, findet sie bis heute Anhänger. Die bekanntesten Vertreter waren der Philosoph Karl Popper und der Nobelpreisträger John Eccles.9 Sie hielten dem wichtigsten Einwand gegen den Dualismus – man wisse nicht, wie der Geist auf den Körper einwirken würde – entgegen, wir wüssten ja eigentlich nicht einmal genau, wie es möglich ist, dass physikalische Objekte auf andere physikalische Objekte einwirken. Allerdings ist es offensichtlich eine Tatsache, so die beiden Wissenschaftler weiter, dass physikalische Objekte sich gegenseitig beeinflussen. Und daraus erkennen wir, dass etwas möglich ist, obwohl wir den Mechanismus nicht kennen. Meines Erachtens eine kühne Argumentation, denn damit kann man praktisch alle Argumente aushebeln – man muss nur davon überzeugt sein, dass etwas offensichtlich ist, dann muss es schon stimmen. Wie wir im weiteren Verlauf dieses Buches noch sehen werden, ist die subjektive Empfindung und Einschätzung meistens kein guter Beleg für die Ergründung der Realität.
Descartes war und ist für die Aufklärung, aber auch für unser heutiges Denken und unsere Sicht auf den Menschen weiterhin von herausragender Bedeutung. Auch wenn viele Menschen nie eine einzige Zeile von Descartes gelesen haben, ist dieser Dualismus fest in unseren Köpfen verankert: Hier der niedere bewusstlose Körper, dort der alles überragende bewusste Geist. Diesen Geist muss man nur schulen, dann wird man ihn nicht nur pflegen, sondern vor allem vervollkommnen. Lerne und du wirst die höchsten Weihen der Bildung und Einsicht erreichen. Aber was soll man lernen oder, anders ausgedrückt, führt jedes Lernen zu einer besseren Einsicht und zu einem geschulten Geist? Auch das Unbewusste ist irgendwie verloren gegangen und wurde erst durch Sigmund Freud und seine psychoanalytischen Theorien wiederbelebt. Allerdings in Form von bedrohlichen, manchmal verlockenden irrationalen Dämonen, die in den Kellern des Unbewussten hausen und sich ihre Wege mehr oder weniger unkontrolliert an die Oberfläche des Bewusstseins bahnen. In dieser psychoanalytischen Welt bleiben diese Dämonen oft im Verborgenen und richten dort ihr Unheil an – in Form von seelischen Erkrankungen. Dass aber das Unbewusste ein wichtiges Element unseres Verhaltens, Denkens und unserer Entscheidungen ist, das zu angepasstem und sinnvollem Verhalten führt, ist den wenigsten von uns geläufig. Wir werden uns im Verlauf dieses Buches mit den teilweise erstaunlichen unbewussten Mechanismen auseinandersetzen, die unser Verhalten bestimmen. Doch bevor wir uns dies genauer anschauen, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das fantastische Organ, das unser Verhalten steuert.
«Wenn unser Gehirn so klein wäre, dass wir es verstehen würden, wären wir so dumm, dass wir es doch nicht verstehen würden.»
(Immanuel Kant)
Für uns alle ist das Gehirn ein faszinierendes Organ. Aus heutiger Sicht ist es unbegreiflich, wie lange es gedauert hat, bis die Menschen die herausragende Bedeutung erfassten. Selbst in den Jahrhunderten vor der Aufklärung, als viele wichtige naturwissenschaftliche Entdeckungen die Menschen faszinierten, war man noch weit davon entfernt, dem Gehirn für die Kontrolle des menschlichen Verhaltens irgendeine wichtige Bedeutung zuzugestehen. Dabei weckt das Organ durchaus schon sehr lange unser Interesse. Die älteste Erwähnung des Wortes «Gehirn» findet sich in den Edwin Smith Papyrus-Rollen, die wahrscheinlich bereits um 1700 v. Chr. erstellt worden sind.10 In diesen Aufzeichnungen sind 48 klinische Fälle beschrieben, darunter 27 dezidierte Beschreibungen von Hirnverletzungen. Doch in der Antike erlischt das Interesse an diesem faszinierenden Organ praktisch wieder. Lediglich in einer kurzen Periode im 3. Jahrhundert v. Chr. führen in Alexandria zwei Gelehrte, Herophilus und Erasistratos, anatomische und physiologische Studien an den Leichen Hingerichteter durch. Leider sind nur Bruchteile ihrer Arbeiten erhalten geblieben, der größte Teil ihrer Schriften fiel dem großen Brand der Bibliothek von Alexandria 47 v. Chr. zum Opfer.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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