Von der Steinzeit ins Internet - Lutz Jäncke - E-Book

Von der Steinzeit ins Internet E-Book

Lutz Jäncke

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Beschreibung

Der renommierte Neurowissenschaftler Lutz Jäncke beschreibt die mögliche Zukunft der Menschen im Zuge der technischen Digitalisierung. Interessant, fundiert, wissenschaftlich und schlichtweg amüsant.Verändert die moderne digitale Technik unser Sozialverhalten, die Kommunikation und die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen?Wie werden wir mit der zunehmenden Informationsflut fertig, die sich über uns ergießt?Hat diese Flut einen Einfluss auf unsere Arbeit und unser privates Leben?Ausgehend von der Prämisse, dass sich der Mensch im Zuge der Evolution zu einem Sozialwesen entwickelt hat, für das die Kommunikation mit den Gruppenmitgliedern von herausragender Bedeutung ist, zeigt Jäncke, wie unter den modernen digitalen Techniken nicht nur unsere Kommunikation, sondern unser gesamtes Sozialverhalten leidet. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes von Informationen überflutet, denen wir gar nicht mehr Herr werden.Die Menge und ständige Verfügbarkeit interessanter und aufmerksamkeitsraubender Nachrichten und Informationen überlastet unser Gehirn. Ist unser Gehirn fähig, sich an die moderne Internetwelt anzupassen? Sind wir bereits jetzt überfordert? Wie wird die Zukunft sich entwickeln? Werden wir die explosionsartige Ausbreitung der digitalen Welt so meistern, dass wir mehr Vorteile gewinnen, als Nachteile erleiden?

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Lutz Jäncke

Von der Steinzeit ins Internet

Der analoge Mensch in der digitalen Welt

Von der Steinzeit ins Internet

Lutz Jäncke

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br., Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Prof. Dr. Lutz Jäncke

Universität Zürich

Psychologisches Institut

Lehrstuhl für Neuropsychologie

Binzmühlestrasse 14/25

8050 Zürich

Schweiz

E-Mail: [email protected]

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Lektorat Psychologie

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3012 Bern

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Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Bearbeitung: Mihrican Özdem, Landau

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Getty Images/melitas

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96150-7)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76150-3)

ISBN 978-3-456-86150-0

http://doi.org/10.1024/86150-000

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Anmerkung:

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|7|Vorwort

Verändert die moderne digitale Technik unser Sozialverhalten und die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen? Wie werden wir mit der zunehmenden Informationsflut fertig, die sich über uns ergießt? Hat diese Flut einen Einfluss auf unsere Arbeit und unser privates Leben? Alle diese Fragen beschäftigen aktuell Medienschaffende, Psychologen und auch Neurowissenschaftler.

Auch dieses Buch widmet sich diesen Fragen. Die Grundlage sind eigene Forschungen und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft, der Verhaltensbiologie und Psychologie. Diese Erkenntnisse nutze ich, um den Menschen als ein Wesen zu verstehen, das sich auf der Basis seiner biologischen Ursprünge zum modernen Menschen entwickelt hat.

Dabei ist mir wichtig, herauszuarbeiten, dass sich der Mensch im Zuge der Evolution zu einem Sozialwesen entwickelt hat, für das die Kommunikation mit den Gruppenmitgliedern von herausragender Bedeutung ist. Für diesen Nachrichtenaustausch haben sich neben der Sprache spezielle nonverbale Fertigkeiten etabliert, mit denen wir Gefühle und Verhaltensabsichten unseren Sozialpartnern mitteilen. In diesem Kontext bildeten sich die Mimik und Gestik als wichtige Kommunikationskanäle aus. Der Informationsaustausch war von Beginn des Menschseins vor allem auf direkten physischen Kontakt ausgerichtet. Nur durch den Sichtkontakt gelingt es uns, alle Informationskanäle mehr oder weniger gleichzeitig zu übermitteln. Die Übereinstimmung oder auch das Nichtübereinstimmen dieser Mitteilungsebenen bieten wichtige Informationen für den Empfänger.

Mit den modernen digitalen Techniken entkoppeln sich zunehmend diese Kanäle und wir präsentieren uns immer häufiger unimodal, also |8|nur sprachlich oder nur mittels der Mimik oder eben nur per Gestik. Damit werden unsere Botschaften unvollständig und immer häufiger missverständlich.

Nicht nur unsere Kommunikation leidet trotz aller technischen Fortschritte in der digitalen Technik, sondern auch unser gesamtes Sozialverhalten. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes von Informationen überflutet, deren wir gar nicht mehr Herr werden. Dadurch wird unser Mitgefühl, aber auch die Sicht über uns selbst in Mitleidenschaft gezogen. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich immer mehr Menschen wie Avatare, also digitale Wesen verhalten. Sie präsentieren sich auf Instagram oder sonstigen Kanälen, indem sie sich verfälscht, also unnatürlich präsentieren. So als ob sie hinter einer virtuellen Maske im virtuellen Raum agieren würden. Auch die Menge und ständige Verfügbarkeit interessanter und aufmerksamkeitsraubender Nachrichten und Informationen überlastet unser Gehirn. Es ist schlichtweg nicht geschaffen, um sich in der Internetwelt wie ein Multitasker zu entfalten.

Sicherlich besteht kein Zweifel daran, dass wir lernfähige Wesen sind und uns an viele Lebensumstände anpassen können. Aber die Frage, die sich stellt, ist: Wie weit geht die Anpassung in der modernen Internetwelt? Können wir uns an alle Veränderungen anpassen oder sind wir bereits jetzt überfordert? Wie wird sich die Zukunft entwickeln? Werden wir die explosionsartige Ausbreitung der digitalen Welt so meistern, dass wir mehr Vorteile gewinnen als Nachteile erleiden? In diesem Buch werde ich aus der Sicht eines Neurowissenschaftlers versuchen, meine Gedanken zu diesen Themen zu formulieren. Mir ist es wichtig, festzuhalten, dass ich mich nicht als Zukunftspessimist sehe. Ich bin selbst von der modernen digitalen Technik fasziniert und arbeite täglich mit ihr. Dennoch sehe ich auch Nachteile, die jetzt schon vorhanden sind, die sich wahrscheinlich in der Zukunft zu schwer überwindbaren Gebirgen auftürmen könnten. Aber es bieten sich auch Lösungsmöglichkeiten an, mit denen wir diese moderne (in vielen Teilen auch faszinierende) Welt meistern können. Ich hoffe, dass zumindest einige Leser meine Gedankengänge nachvollziehen können. Vielleicht gelingt es mir ja, Anstöße für den veränderten, möglicherweise optimalen Umgang mit der faszinierenden digitalen Welt zu bieten.

Dieses Buch ist zwar als Sachbuch geschrieben und ich habe mit wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Quellen gearbeitet. Um die |9|Lesbarkeit zu erhalten, habe ich nur Quellen zitiert, die mir wesentlich oder prägnant erscheinen. Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass auch ein wenig Spaß beim Lesen dieses Buches entsteht. Denn Freude und Neugier sind eng miteinander verzahnt und sind die besten Motoren, um in unserem Gehirn Veränderungen zu bewirken.

Zürich, im November 2020

|11|Einleitung

Der Relax-Sessel

Malcom nahm noch schnell einen Schluck aus der Plastikflasche, die an seinem Sessel in einer speziellen Halterung elegant eingefügt war. Der Saft war kalt und leicht süßlich und erfrischte herrlich. Er wusste zwar nicht, woher der Saft kam, aber er vertraute der Lieferfirma, die täglich über ein Pumpsystem das Reservoir an Getränken auffüllte. Die Kosten dafür wurden wöchentlich von seinem Konto abgebucht. Er brauchte sich darum nicht zu kümmern, denn er hatte einen Dauerauftrag bequem über sein virtuelles Steuersystem eingerichtet. Auch die Nahrungsmittel ließ er sich von dem Lebensmittelhändler über das ausgeklügelte Pumpsystem liefern. Die Speisen waren ebenfalls flüssig oder zumindest breiig, sodass er sie elegant über Röhrchen zu sich nehmen konnte, ohne aufstehen zu müssen. Das war ziemlich bequem und ersparte ihm das Kauen. Viel wichtiger aber war es ihm, dass er bequem in seinem Relax-Sessel sitzen bleiben und sich mit seiner digitalen Welt auseinandersetzen konnte.

Schnell scannte er einige Nachrichten von Online-Diensten, indem er vor allem die Überschriften las. Die Nachrichten wählte er irgendwie nach Zufall aus, glaubte er zumindest. Eigentlich las er nur das, was seine Aufmerksamkeit erhaschte. Politik war meistens weniger interessant, außer wenn es um Kriege, Hinrichtungen, Tumulte, Terrorangriffe oder religiöse Probleme ging. Auch Informationen aus seiner Nachbarschaft fanden gelegentlich den Weg in sein Bewusstsein. Ganz besonders interessierten ihn aber die netten Geschichten von Sternchen, Stars und anderen Berühmtheiten, die er auf den Online-Seiten der Boulevardblätter lesen konnte. Es war doch immer wieder köstlich zu erfahren, in wen sich diese Leute alles verliebten, von wem sie sich trennten und was sie sonst noch |12|anstellten. Gelegentlich machte er noch einen Abstecher auf seine Lieblingspornoseite, die es ihm ermöglichte, mittels neuester virtueller Realitätstechnik lebensechte Empfindungen zu haben.

Die meiste Zeit aber lebte er in Kaukasia, einer virtuellen Welt, in der er alles sein konnte: Held, Opfer oder einfach nur Zuschauer. Es war unglaublich verlockend, in einer Welt zu leben, ohne sich im wahrsten Sinne des Wortes dreckig zu machen, nicht zu erkranken, wunderbare Landschaften zu erleben und interessanten Menschen zu begegnen. Viel wichtiger war für ihn aber, dass er in dieser Welt ein bedeutender und bemerkenswerter Mensch war. Er konnte seine Kleider wählen und der jeweiligen Lebenssituation anpassen, seine Frisur ändern und sich besondere Fähigkeiten durch wenige Kommandos an sein Programm gönnen. Dazu musste er nicht viel machen. Er musste sich nicht bewegen und auch nicht sprechen, er dachte nur daran. Seine virtuelle Welt war mit seinem Gehirn verbunden und er konnte mit seinen Gedanken sein Leben in der virtuellen Welt recht einfach steuern. Es war alles so bequem und wunderbar, sodass er nicht merkte, wenn er seine Notdurft verrichtete, für deren Verarbeitung Relax – der Wunderstuhl, in dem er saß – sorgte. Relax beaufsichtigte auch gelegentliche Schwankungen des Blutdrucks, Zuckerhaushalts und andere Stoffwechselschwankungen und griff automatisch in Form von Medikationen ein, die er über das Pumpsystem mit der Nahrung verabreichte.

So saß Malcom tagaus, tagein in seinem Relax-Stuhl und lebte in seiner virtuellen Welt, bewegte sich nicht, aß Brei, trank undefinierbaren Saft und vergaß zunehmend, dass er eigentlich ein Mensch war, der gehen und mit anderen Menschen sprechen konnte und für sein Leben selbst verantwortlich war. Trotz aller medizinischen Versorgung war Malcom ein bleiches Wesen mit einer schlabbrigen Haut, die sich wie durchsichtiges Pergamentpapier um seine Knochen gewickelt hatte. Er konnte nicht einmal ohne Hilfe aufstehen, geschweige denn stehen. Aber das wollte er auch gar nicht. Er hatte ja keinen Körper, zumindest merkte er das nicht. Er verspürte eigentlich nur Bedürfnisse und vor allem den Wunsch, in der virtuellen Welt etwas zu erleben, ohne sich schmutzig zu machen, zu erkranken, sich zu verletzen oder zu leiden. Ihm waren auch die anderen Wesen in seiner virtuellen Welt eigentlich egal. Sie waren ja austauschbar, eben virtuell und nicht real. Warum sollte er sich um diese Wesen sorgen und Anteil an ihrem virtuellen Leben nehmen? Sie waren doch ersetzbar. Oder war jedes dieser Wesen auch mit dem Gehirn eines anderen Men|13|schen verbunden? Aber diese Frage kam ihm eigentlich nicht in den Sinn, denn er wusste ja gar nicht mehr, ob er ein Mensch war. Er war schließlich ein austauschbares Wesen in einer faszinierenden virtuellen Welt.

Sieht so die Zukunft des Menschen aus? Einige Leser werden sicherlich verwundert sein und diese Darstellung als merkwürdig oder zu konstruiert auffassen. Mag sein, aber solche Szenarien sind bereits in verschiedenen Varianten in der Literatur und im modernen Film beschrieben und dargestellt worden. Offenbar beschäftigt man sich mit solchen Zukunftsideen mit einer gewissen Sorge oder gar mit Amüsement. Scheinbar haben sie ihren festen Platz in unserer Vorstellungswelt. Wie auch immer, der Mensch ist für solche Lebensformen anfällig, denn er ist in hohem Maße bequem. Das Internet und die moderne digitale Technik entwickeln sich rasant schnell und bieten dem Menschen immer mehr Möglichkeiten, sich zu entfalten, zu unterhalten, aber auch Unsinn zu machen. Haben wir die Kraft, uns der Verlockungen des Internets zu erwehren? Ich fürchte, wir werden in nicht allzu ferner Zukunft solche oder ähnliche Lebensumstände erleben. Ansatzweise findet man bereits heute solche Lebensweisen, natürlich nicht mit den technischen Finessen, die oben angedeutet wurden. Aber wo liegen denn die Gefahren verborgen, die uns in ein solches Szenario hineinziehen könnten? Kann man sich davor schützen? Ist es überhaupt sinnvoll, sich davor zu schützen? Oder sind wir Menschen als biologische Wesen für ganz andere Welten konstruiert worden, sodass wir wie ein hilflos auf dem Rücken liegender Käfer den Verlockungen des Internets und der digitalen Welt ausgesetzt sind? Welche Konsequenzen hat dies für unser soziales Leben, die Ausbildung, unsere Gesundheit und vieles mehr? Davon erzählt dieses Buch in den folgenden Kapiteln. Aber so viel vorweg: Der Mensch ist ein biologisches Wesen, das eigentlich für ganz andere Lebensumwelten geschaffen wurde. Das Internet und die digitale Welt ist eine Herausforderung für unser biologisches Verhaltensinventar. Vielleicht ist diese Herausforderung gar die ultimative Herausforderung für das Überleben des Menschen.

Eine kurze Leseanleitung für dieses Buch

Zunächst wollen wir uns die moderne Internetwelt mit ihren technischen Errungenschaften vergegenwärtigen (Kap. 1). Was hat sich verändert und welche digitalen Möglichkeiten eröffnen sich für den modernen Men|14|schen? Dann werden wir in die Biologie des Menschen eintauchen und seine evolutionären Wurzeln genüsslich auf der Zunge zergehen lassen (Kap. 2), um uns anschließend die Frage zu stellen, ob das biologische Wesen Mensch in der digitalen Welt überhaupt Platz finden kann (Kap. 3). Wir werden lernen, dass der moderne Mensch von der technischen Entwicklung und den damit zusammenhängenden Konsequenzen überrollt wird und er eigentlich gar nicht für diese Welt biologisch vorbereitet wurde. In den darauffolgenden Kapiteln 4 bis 9 greife ich einige wichtige psychische Funktionen heraus, die für unsere Verhaltenskontrolle von herausragender Bedeutung sind. Aber genau diese wichtigen Verhaltenselemente erzwingen bei uns Menschen bestimmte Verhaltensmuster, die durch das Internet und die digitalen Medien herausgefordert werden. Ich vermute sogar, dass diese Verhaltensmuster derart tief in uns verankert sind, dass sie zwar unser Leben über mehr als 70.000 Jahre erfolgreich gesteuert haben, aber in der modernen Welt an ihre Grenzen stoßen, ja sogar zum Problem werden. Das ist ungefähr so wie bei den Indianern in Nordamerika, als sie erstmalig durch die weißen Siedler mit Alkohol in Kontakt kamen.1 Oder wie bei den indigenen Völkern in Südamerika, für die Erkältungsviren, Grippe, Pocken oder Masern eine tödliche Gefahr darstellen, da sie aufgrund ihrer langen Isolation keinerlei Abwehrkräfte besitzen. Wir verfügen zwar über Abwehrkräfte, aber wir müssen sie identifizieren, akzeptieren, umsetzen und vor allem perfektionieren. Darauf werde ich dann vor allem in Kapitel 13 eingehen. Kapitel 10 wird sich mit den Problemen beschäftigen, die sich für uns im Zusammenhang mit dem Umgang der vielen Informationen ergeben. Meinungsbeeinflussung, Verlust der Individualität und neue Formen der sozialen Angliederung (z. B. |15|Flashmobs) werden Themen sein, die hier zur Sprache kommen. Kapitel 11 ist quasi ein Fenster in die Zukunft, das meines Erachtens bereits weit geöffnet ist. Wir können nicht nur erahnen, was uns die moderne digitale Welt so alles bescheren wird, wir können es sogar recht deutlich erkennen. Unsere Welt wird sich noch mehr ändern, als wir es heutzutage vermuten. Im darauffolgenden Kapitel 12 beschäftigen wir uns etwas ausführlicher damit, wie unser biologisches Erbe, das uns zu einem „erfolgreichen“ Wesen gemacht hat, mit diesen modernen digitalen Herausforderungen umgehen wird bzw. muss. So düster die Zukunft auch bislang gezeichnet wurde, so interessant könnten aber die Wege aus dieser Falle werden. Solche Wege aus der digitalen Falle werden in Kapitel 13 beschrieben. Kapitel 14 ist eher ein praktisches Kapitel, in dem Tipps zum Umgang mit den modernen Medien und der digitalen Welt formuliert werden. Wie wird die Zukunft aussehen? Wir wissen es nicht, aber wir können Vermutungen darüber anstellen, wie sie aussehen könnte. Natürlich sind solche Zukunftsvisionen immer von dem aktuellen Blickwinkel abhängig, aber wir werden in Kapitel 15 wagen, uns diese anzusehen. Das Abschlusskapitel 16, als Epilog formuliert, ist von den Corona-Ereignissen motiviert. Sie haben uns wieder vor Augen geführt, dass wir bei aller Intelligenz durch mächtige Verhaltensantriebe gesteuert werden, deren wir nur schwer Herr werden können.

So viel zum Ausblick. Begeben wir uns nun auf die Reise in die Welt des Internets und der biologischen Mechanismen, die unser Leben ausmachen.

1

Oft wird behauptet, dass die Ureinwohner Alkohol genetisch bedingt nicht vertrügen. Kritiker sehen diesen „Feuerwasser-Mythos“ als rassistischen Versuch, das Verhalten der Kolonialisten zu entschuldigen. Untersuchungen haben jedoch bewiesen, dass manche Ureinwohner – ebenso wie Ostasiaten, Aborigines sowie Frauen – geringere Mengen eines für den Alkoholabbau wichtigen Enzyms aufweisen und somit bei ihnen das Gefühl der Trunkenheit länger anhält. Studien haben auch gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Alkoholsucht höher ist, wenn bereits die Eltern abhängig waren. Zudem ist eine Sucht umso wahrscheinlicher, je jünger jemand beim ersten Rausch ist. Erschwerend kommt im Fall der Ureinwohner das geschichtliche Trauma hinzu: ein über Jahrhunderte erfahrenes Unrecht, das den Verlust der eigenen Identität nach sich zieht. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Alkohol noch heute vielen dabei hilft, den Schmerz darüber zu betäuben.

|17|1  Die wunderbare Welt des Internets

Einst lebten wir auf dem Land, dann in Städten und von jetzt an im Netz. (Mark Zuckerberg, *1984)*

Das Internet und die moderne Computertechnik haben die Welt nachhaltig verändert. In der gesamten Menschheitsgeschichte hat noch nie eine solch technische und kulturelle Revolution in so kurzer Zeit und innerhalb einer Generation stattgefunden wie in den letzten 10 bis 15 Jahren. Gemäß dem Global Digital Report2 aus dem Jahr 2020 nutzt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung das Internet (4,5 Milliarden Menschen) mit einer jährlichen Steigerung von 7 Prozent. Fast 4 Milliarden Menschen sind häufige Nutzer der sogenannten sozialen Medien3. Auch für dieses Medium werden starke jährliche Steigerungsraten von mehr als 13 Prozent berichtet. Wesentlichen Anteil daran haben vor allem die mobilen Geräte, die 2020 bereits von mehr als 5 Milliarden Menschen genutzt werden. In anderen Worten: Circa 59 Prozent aller Menschen bewegen sich derzeit im Internet und 49 Prozent sind Nutzer sozialer Medien. Fast 70 Prozent sind mittlerweile in Besitz von Mobilgeräten wie Smartphones oder Tablets. Die jährlichen Steigerungsraten lassen vermuten, dass diese Zahlen in den nächsten Jahren weiter nach oben katapultiert werden. Die Welt wird also immer digitaler und wir sind kleine Elemente eines riesigen, weltumspannenden Netzwerks.

Die moderne Computertechnik verändert nahezu alles. Sie hat unsere Art und Häufigkeit der Kommunikation gewandelt und in vielen Fällen sogar massiv verbessert. Wir sind heute in der Lage, mit Menschen in anderen Kontinenten in Sekundenschnelle interaktiv zu kommunizieren. |18|Davon profitieren Wissenschaftler und Geschäftsleute, aber auch Privatpersonen. Ich kann mich noch recht genau an meine Zeit in Boston Anfang der 1990er-Jahre erinnern. Dort verbrachte ich einige Monate als Forschungsassistent am Beth Israel Hospital der Harvard Medical School. Telefonieren war damals sehr teuer, insbesondere Telefongespräche aus den USA nach Deutschland. Außerdem war auch nicht jedes Telefon für solche Interkontinentalgespräche geeignet. Deshalb haben meine Frau und ich uns einmal pro Tag zu einem gemeinsamen Gespräch verabredet und recht kurz alles Notwendige besprochen. Heutzutage sind solche interkontinentalen Gespräche ein Kinderspiel. Mit WhatsApp, E-Mail, Skype, Facetime, SMS oder Telefon kommuniziert man praktisch jederzeit und an jedem Ort mit Partnern auf der ganzen Welt. Mittlerweile finden sich überall Hotspots, sodass man sogar kostenlos oder zumindest günstig Nachrichten austauschen kann. Kurz gesagt, die weltweite Kommunikation ist heutzutage simpel, effizient und günstig.

Aber nicht nur der Informationsaustausch ist revolutioniert worden, sondern auch der Zugriff auf das Wissen der Menschheit. Wikipedia ist nur ein Beispiel. Anfangs noch als merkwürdige und unzuverlässige Informationsquelle verlacht, hat Wikipedia alle bekannten Lexika in Papierform verdrängt. Mittlerweile entwickelt sich Wikipedia zu einem universellen und zuverlässigen Lexikon, in dem die Informationen kontinuierlich angepasst, verbessert und ergänzt werden. Bemerkenswert ist auch, dass dies durch eine weltweit operierende Gemeinde von gemeinnützig tätigen Personen realisiert wird.4

Im Internet findet zudem jede Interessensausprägung ihren Platz. Viele Spezialinformationen finden ihren Weg in diverse Internetkanäle, die das Leben der Menschen bereichern. Man findet auf YouTube Kanäle, die im Fernsehen nie verwirklicht würden, da sich dafür zu wenige Personen interessieren. Individuell zugeschnittene Golfkurse, Tests über die Funktionsfähigkeit von Füllern, Lösungshilfen für Mathematikaufgaben oder Darstellungen verschiedenster historischer Ereignisse sind in großer |19|Zahl vorhanden. Ich habe hier nur einige wenige Beispiele aufgeführt, die andeuten, dass selbst Nischeninteressen befriedigt werden. Das sind durchaus positive Entwicklungen, die für die Menschheit von enormem Vorteil sind.

Die moderne digitale Technik bietet dem Menschen zudem viele bemerkenswerte Möglichkeiten, die noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar waren. Blinde lassen sich Texte von ihren Computern vorlesen. Gehbehinderte haben die Gelegenheit, mit Menschen in aller Welt zu kommunizieren. Mittlerweile sind die digitalen Übersetzungsprogramme (z. B. DeepL oder der Google-Übersetzer) so leistungsfähig, dass selbst professionelle Übersetzer orakeln, dass ihr Beruf bald obsolet sein wird. Es geht sogar so weit, dass darüber diskutiert wird, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, eine Fremdsprache zu lernen. Der Computer und die dazugehörigen Programme werden Übersetzungen ja bald besser und schneller als jeder Mensch bewerkstelligen. Virtuelle Museen und Ansichten interessanter geografischer Regionen könnten bald teure und beschwerliche Reisen an ferne Orte überflüssig machen.

Auch die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit verbringen und uns entspannen, hat sich durch die moderne Technik erheblich verändert. Musik hören, Bücher und Zeitung lesen sind heutzutage ein Kinderspiel, denn im Internet findet sich jede Information. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich als Jugendlicher die öffentliche Bibliothek oft besuchte, um dort Bücher zu lesen. Gelegentlich war ich gezwungen, Bücher zu bestellen, und war froh, wenn sie nach einer Woche endlich geliefert wurden. Ein Buch, aber auch eine Schallplatte waren teilweise rare Objekte, die man hütete wie seinen Augapfel. Wir sammelten Bücher und Schallplatten wie Trophäen in der eigenen Bibliothek. Heute hingegen gibt es E-Books; in Deutschland haben sie mittlerweile einen Anteil an den verkauften Büchern von 6 Prozent mit steigender Tendenz. Besonders auffällig ist die Veränderung des Leseverhaltens bei Zeitungen. Man findet viele Nachrichten (irgendwo) im Internet, sodass der Kauf einer herkömmlichen Zeitung nicht mehr nötig ist, was sich in den dramatisch rückgängigen Verkaufszahlen gedruckter Zeitungen niederschlägt. Dafür ist man nun in der Lage, sich global zu informieren, und ist nicht mehr auf einige wenige Zeitungen angewiesen.5

|20|Ich könnte an dieser Stelle fortfahren, die Errungenschaften und Vorteile des Internets und der modernen Technik zu preisen. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass mit der Einführung des Internets und der digitalen Technik umfassende Umwälzungen in vielen Lebensbereichen stattgefunden haben. Mit dieser technischen Innovation ist ein Modernisierungsschub in vielen Wirtschaftsbereichen ausgelöst worden, der zur Entstehung neuer Wirtschaftszweige geführt hat. Zudem hat sich ein grundlegender Wandel im beruflichen und privaten Kommunikationsverhalten und der Mediennutzung ergeben, der mit vielen positiven Aspekten verbunden ist. Es sind aber auch unangenehme und vielleicht auch gefährliche Konsequenzen mit der modernen digitalen Technik verbunden.

Trotz aller Euphorie, die sich mit dieser technischen Revolution allerorten entfaltet, darf man nicht außer Acht lassen, dass letztlich der Mensch als biologisches Wesen der Akteur in dieser Wunderwelt des Internets ist. Dabei stellt sich die Frage, ob der Mensch überhaupt mit den psychischen Fertigkeiten ausgestattet ist, um in dieser digitalen Welt zu überleben. Wir sind und bleiben biologische Wesen, die sich im Kontext der Evolution entwickelt haben. Hierbei sind wir mit besonderen Fertigkeiten ausgestattet worden, die unser Überleben in einer Welt sichern sollten, die in dieser Form gar nicht mehr existiert. Die Welt wird immer virtueller und der Kontakt mit der Realität verwischt immer mehr. Ich bin im Zweifel, ob wir die moderne digitale Welt wirklich werden meistern können. Ich möchte mich hier nicht als Kulturpessimist bekennen, sondern meine Bedenken im Umgang mit der modernen digitalen Welt diskutieren. Vielleicht bieten sich ja einige Lösungen an, die uns helfen könnten, mit den Herausforderungen der digitalen Welt zurechtzukommen. Ich werde auf die möglichen Lösungen am Ende dieses Buches noch näher eingehen. Bevor ich diese Aspekte bespreche, erlaube ich mir aber, zurückzuschauen und den Menschen als biologisches Wesen im Netz der modernen digitalen Welt zu zeichnen.

*

Verfügbar unter https://gutezitate.com/zitat/199372

2

Zugriff am 5. September 2020 unter https://datareportal.com

3

Der englische Begriff „social media“ für soziale Medien wird auch im Deutschen häufig verwendet.

4

Aber auch Wikipedia ist nicht unproblematisch. Alles hängt davon ab, wer sich bemüßigt fühlt, dort Einträge zu tätigen oder Fehler zu korrigieren. Im Übrigen: Wer definiert, was Fehler sind? Früher war zwar nicht alles besser, aber man konnte sich zumindest auf anerkannte Koryphäen verlassen, die gewissermaßen als Nadelöhr oder Filter für relevante Informationen dienten. Heute kann jede beliebige Person Einträge auf Wikipedia hinzufügen, korrigieren oder löschen.

5

Leider hat dies auch zu finanziellen Problemen bei den Zeitungsverlagen geführt. Journalisten sind teuer und viele Verlage sparen gerade bei diesem Berufskreis.