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Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs prägte eine zunehmend freiheitliche Weltordnung das politische Geschehen und ermöglichte eine Ära wachsenden globalen Wohlstands und abnehmender internationaler Konflikte. Zum ersten Mal seit dieser letzten Kriegsgeneration erschüttert uns eine neue globale Realität, die nicht mehr durch feste Grenzen, klare nationale Interessen und gesicherte Handelspolitik definiert ist. Der renommierte Geschichtsprofessor Niall Ferguson und der einflussreiche Politikberater Fareed Zakaria loten aus, wer die eigentlichen Nutznießer der Globalisierung sind und zeichnen zwei grundverschiedene Szenarien – eine aufschlussreiche und zukunftsweisende Debatte.
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Seitenzahl: 90
Nagel & Kimche E-Book
Ist die freiheitliche Weltordnung am Ende?
Ein Streitgespräch
Niall Ferguson versus Fareed Zakaria
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und mit einem Vorwort von Ivan Krastev
Inhalt
DieMunk-Debatten
EinBriefvonPeterMunk
Vorwort • IvanKrastev
Vorgesprächemit demModerator RudyardGriffiths
DieDebatte: »IstdiefreiheitlicheWeltordnungamEnde?«
ProNiallFerguson ContraFareedZakaria
Anhang
DieTeilnehmerderDebatte
DieVorgespräche • Quellen
Dank
DerÜbersetzer
Fußnoten
DieMunk-Debatten
Die Munk-Debatten sind eines der wichtigsten politischen Ereignisse Kanadas. Sie werden halbjährlich durchgeführt und bieten Vordenkern ein internationales Forum zur Erörterung wichtiger politischer Themen. Sie werden in Toronto vor einem Live-Publikum durchgeführt und von nationalen und internationalen Medien dargestellt. Zu den Teilnehmern der jüngsten Munk-Debatten gehören Anne Applebaum, Louise Arbour, Tony Blair, Alain de Botton, Daniel Cohn-Bendit, Alan Dershowitz, Mia Farrow, Niall Ferguson, William Frist, Newt Gingrich, Malcolm Gladwell, Michael Hayden, Christopher Hitchens, Josef Joffe, Robert Kagan, Garry Kasparov, Henry Kissinger, Charles Krauthammer, Paul Krugman, Lord Nigel Lawson, Stephen Lewis, George Monbiot, Vali Nasr, Camille Paglia, George Papandreou, Samantha Power, Vladimir Pozner, Anne-Marie Slaughter, Hernando de Soto, Bret Stephens, Justin Trudeau, Amos Yadlin und Fareed Zakaria u. a. …
Die Munk-Debatten sind ein Projekt der Aurea Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung, die 2006 von Peter und Melanie Munk zur Förderung der Politikwissenschaften und der politischen Diskussion gegründet wurde. Weitere Informationen finden Sie auf der Website www.munkdebates.com.
EinBriefvonPeterMunk
Meine Frau Melanie und ich sind zutiefst dankbar dafür, wie schnell die Munk-Debatten seit der ersten Veranstaltung die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewonnen haben. Seit der ersten Debatte im Mai 2008 waren wir Gastgeber einiger der aufregendsten politischen Diskussionen in Kanada und weltweit. Mit ihrer globalen Ausrichtung haben die Munk-Debatten eine breite Palette von Themen erörtert, wie zum Beispiel humanitäre Hilfe, die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe, die Gefahr des Klimawandels, die Auswirkungen der Religion auf Geopolitik, den Aufstieg Chinas und den Niedergang Europas. Einige der bedeutendsten Vordenker und Akteure der Welt haben aus diesen spannenden Themen ihre geistigen und moralischen Funken geschlagen, von Henry Kissinger und Tony Blair über Christopher Hitchens und Paul Krugman bis zu Peter Mandelson und Fareed Zakaria.
Die Themen, die in den Munk-Debatten verhandelt wurden, haben nicht nur das öffentliche Bewusstsein geschärft, sondern auch vielen von uns geholfen, die Globalisierung besser zu verstehen und mögliche Ängste abzubauen. Es ist so einfach, Nabelschau zu betreiben, nationalistisch zu denken und alles Fremde abzulehnen, und so schwer, sich dem Unbekannten zu stellen. Die Globalisierung ist für viele eine abstrakte Angelegenheit. Diese Debatten sollen uns helfen, mit der sich rasant verändernden Welt vertrauter zu werden und am globalen Dialog um Themen teilzunehmen, die unsere gemeinsame Zukunft bestimmen werden.
Ich muss Ihnen nicht sagen, wie lang die Liste der Problemstellungen ist. Klimawandel, Armut, Völkermord und die brüchige Weltfinanzordnung sind nur einige der Fragen, die den Menschen heute beschäftigen müssen. Mit Sorge beobachten ich und die Direktoren der Aurea Foundation, dass die Qualität der öffentlichen Diskussion eher abzunehmen scheint, je zahlreicher und dringlicher die Probleme werden. Als Diskussionsort für globale Schlüsselfragen sind die Munk-Debatten nicht nur ein Forum für die Überlegungen und Ansichten bedeutender Vordenker, sondern sie entzünden das Interesse der Öffentlichkeit, sie schaffen Wissen und geben uns Mittel an die Hand, die großen Probleme unserer Zeit anzugehen.
Ich habe gelernt, dass wir im Angesicht von Herausforderungen oftmals über uns hinauswachsen, und vielleicht haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Teilnehmer dieser Debatten fordern nicht nur einander heraus, sondern sie fordern auch uns auf, klar und vernünftig über die wichtigen Probleme nachzudenken, vor denen unsere Welt heute steht.
Peter Munk (1927 – 2018)
Gründer der Aurea Foundation / Toronto, Ontario
Vorwort • IvanKrastev
Ist schon morgen?
Am 10. Dezember 1948, ganz unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs, verabschiedeten die Vertreter der Weltgemeinschaft die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Von den damals 58 Mitgliedern der Vereinten Nationen stimmten 48 dafür, acht enthielten sich (die Sowjetunion und ihre europäischen Verbündeten sowie Südafrika und Saudi-Arabien) und zwei nahmen nicht an der Abstimmung teil.
Seinerzeit war die Welt sehr viel weniger freiheitlich als heute, und die Idee der Menschenrechte fand in der Öffentlichkeit wenig Anklang. Doch würde die Menschenrechtserklärung bei den Vereinten Nationen heute noch einmal zur Abstimmung kommen, würde sich wohl niemand wundern, wenn sie nicht verabschiedet würde.
Warum hat die Verbreitung freiheitlicher Werte eine zunehmende Ablehnung der freiheitlichen Weltordnung bewirkt? Handelt es sich um einen vorübergehenden Rückschlag, oder hat die Geschichte eine andere Richtung eingeschlagen?
Im April 2017, knapp siebzig Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, trafen sich an der University of Toronto zwei namhafte Vordenker, um im Rahmen der Munk-Debatten darüber zu diskutieren, ob die freiheitliche Weltordnung am Ende ist.
Der Historiker Niall Ferguson beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja, und er nennt dafür zwei Gründe. Erstens sei der eigentliche Nutznießer der freiheitlichen Weltordnung das kommunistische China, alles andere als ein Verfechter und Vorbild der freiheitlichen Grundordnung. China habe die von den Vereinigten Staaten angeführte Globalisierung genutzt, um seine wirtschaftliche und politische Macht auszubauen und dabei sein autoritäres System beibehalten. Und zweitens habe die freiheitliche Weltordnung die westliche Mittelschicht ausgehöhlt, die mehr als ein halbes Jahrhundert lang die zentrale Säule dieser Ordnung gewesen sei. Freihandel und Globalisierung hätten zwar auf der Südhalbkugel den Aufstieg der Mittelschicht befördert, doch im Westen die Deindustrialisierung und die Erosion der Mittelschicht zur Folge gehabt. Nach Ansicht von Ferguson war die freiheitliche Ordnung nie mehr als eine Übereinkunft der Elite zur Förderung der Globalisierung, und der Aufstieg des Populismus in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, der seinen vorläufigen Höhepunkt im Brexit und der Wahl von Donald Trump gefunden habe, sei der beste Beleg dafür, dass sich die »Normalbürger« im Westen heute als Opfer und nicht als Nutznießer der freiheitlichen Weltordnung begriffen. Da die freiheitliche Weltordnung heute nicht mehr Synonym der amerikanischen Vorherrschaft ist, hat sie nach Ansicht von Ferguson ausgedient.
Der Journalist Fareed Zakaria widerspricht Ferguson entschieden. Die freiheitliche Weltordnung stecke zwar in einer Krise, doch trotz ihrer Schwächen gehe es uns mit ihr besser als ohne sie. Ihr Erfolg im Kampf gegen Gewalt und Armut in aller Welt zeige, dass es keine sinnvolle Alternative gebe. In der Robustheit, die die Europäische Union angesichts des britischen Ausscheidens aus der Union unter Beweis stelle, sieht er einen Beleg dafür, dass sich »der Bogen der Geschichte langsam neigt und alle möglichen Haken schlägt«, dass er sich jedoch insgesamt »in Richtung immer größerer Freiheit« bewegt. Seiner Ansicht nach müsse die Weltordnung nicht neu erfunden, sondern lediglich ausgeweitet und einer Generalüberholung unterzogen werden.
Am Ende der Debatte fand das mehrheitlich junge und liberale Publikum in Toronto Zakarias Argumente einleuchtender als die von Ferguson. Doch in anderen Städten der Welt, die bis heute von Gewalt und Armut geprägt sind, wären die Menschen vermutlich weniger leicht zu überzeugen gewesen, dass die Welt immer freiheitlicher wird.
Die freiheitliche Weltordnung, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegs entwickelte, zeichnete sich durch vier Grundannahmen aus, die bis vor kurzem keiner der großen Akteure hinterfragte. Erstens galt Freihandel als begrüßenswert und die internationale wirtschaftliche Verflechtung als Garant der Sicherheit; zweitens sah man es als selbstverständlich an, dass Menschen Rechte haben, ganz einfach weil sie Menschen sind; drittens galt die Demokratie als charakteristisches Merkmal unserer modernen Welt, genau wie Flugreisen und Internet; und viertens ging man davon aus, dass die bestehenden internationalen Institutionen einen funktionierenden Rahmen für die friedliche Beilegung von wirtschaftlichen und politischen Konflikten boten. Heute stellen immer mehr Vertreter der Politik und der öffentlichen Debatten im Westen und anderswo diese vier Annahmen in Frage. War die freiheitliche Weltordnung im Jahr 1948 der normative Horizont, ist ihre Vorherrschaft inzwischen umstritten.
Doch trotz aller Anfechtungen ist keine Alternative für die freiheitliche Ordnung in Sicht. Während Ferguson und Zakaria darüber streiten, ob die freiheitliche Weltordnung am Ende ist, behaupten ihre Kritiker außerhalb der freien Welt, dass es sie nie gegeben hat. In ihren Augen ist die freiheitliche Weltordnung lediglich der ultimative Ausdruck westlicher Heuchelei.
Die Ära unmittelbar nach dem Kalten Krieg war eine Zeit der politischen Missionare. Francis Fukuyama sprach vom »Ende der Geschichte«, und westliche Institutionen galten als das einzig denkbare Vorbild, das der Rest der Welt nachahmen müsse. Doch das Russland Putins, die Türkei Erdoğans oder der Iran verweigerten sich dieser Nachahmung einer Weltordnung, die für sie nichts als purer Schein war. Diese Länder werfen dem Westen vor, ihnen sein gesellschaftliches und politisches Modell als Norm aufzwingen zu wollen, das Gerede von freiheitlichen Werten als Deckmäntelchen für seinen Machtanspruch zu missbrauchen und fehlende Freiheitlichkeit nur dann zu kritisieren, wenn es seinen wirtschaftlichen und militärischen Interessen entspricht.
Gerade Russland bezichtigt westliche Politiker bei jeder sich bietenden Gelegenheit der Heuchelei: Sie predigten in hohem Ton moralische Werte und seien in Wirklichkeit von geopolitischen Eigeninteressen getrieben. In der Moskauer Lesart ist die freiheitliche Weltordnung nichts anderes als ein Herrschaftsinstrument der Vereinigten Staaten. Die universellen menschlichen Werte seien demnach nichts anderes als eine Fassade für westliche Partikularinteressen. Vor allem die Vereinigten Staaten verkauften die Ausweitung ihres Einflussbereichs als Siegeszug der Freiheit. Die im Westen gefeierten demokratischen Revolutionen seien nichts anderes als vom Westen unterstützte Staatsstreiche. Nicht freiheitliche Staaten wie Russland oder China widersetzen sich der Vorherrschaft des Westens vor allem, indem sie die Regeln der freiheitlichen Ordnung untergraben; richtungsweisende Alternativen bieten sie hingegen nicht an. Mehr noch, wenn es in ihrem Interesse ist, gerieren sie sich gern als Hüter internationaler Institutionen und globaler Interessen, etwa wenn Russland und China das Klimaabkommen von Paris, die Welthandelsorganisation oder den Migrationspakt der Vereinten Nationen unterstützen, weil die Vereinigten Staaten sie in Frage stellen oder entsprechende Vereinbarungen aufkündigen.
Mit ihrem Vorwurf, der Westen betreibe Heuchelei, untergraben diese Staaten die freiheitliche Weltordnung, bieten jedoch keine alternative richtungsweisende Ordnung an, wie dies während des Kalten Kriegs der Fall war. Stattdessen torpedieren sie eine auf Werten basierende Außenpolitik.
Währenddessen sind auch im Westen populistische Kräfte auf dem Vormarsch, die die freiheitlichen Normen in Frage stellen, allen voran die Trump-Regierung, die den Einsatz für die freiheitliche Ordnung als Schwachpunkt des Landes ausgemacht hat. Die Vereinigten Staaten, einst Vorkämpfer der freiheitlichen Ordnung, scheinen heute fest entschlossen zu sein, ihre Macht zu erhalten, indem sie genau die Werte verraten, auf denen ihre Macht gründet; Ausdruck und Rechtfertigung dieser Politik ist der Slogan »America First«. Die internationale Politik definieren sie im Gegenzug als Nullsummenspiel. Dieses radikal veränderte internationale Umfeld ist vor allem für die Europäische Union eine Bedrohung.
Die Europäische Union als Kloster
Das Überleben der Europäischen Union ist zu einem Testfall für den Fortbestand der freiheitlichen Ordnung geworden. Nach Ansicht von Ferguson ist die freiheitliche Weltordnung am Ende, und die Europäische Union steht vor ihrem Zerfall. Zakaria sieht indes im erfolgreichen Widerstand der Europäischen Union gegen Brexit und Trump den besten Beleg dafür, dass die freiheitliche Weltordnung im Gegenteil quicklebendig ist.