Türme und Plätze - Niall Ferguson - E-Book

Türme und Plätze E-Book

Niall Ferguson

0,0
29,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Welt war schon immer vernetzt, sagt der renommierte Historiker Niall Ferguson. In seiner brillanten Analyse der sozialen Netzwerke seit der frühen Neuzeit zeigt er, welche politische und wirtschaftliche Rolle sie in der Weltgeschichte seit jeher spielen. Wir haben uns längst daran gewöhnt, in einer vernetzten Welt zu leben. Was wir oft übersehen: Soziale Netzwerke sind kein Phänomen der Gegenwart. Vielmehr haben Netzwerke aller Arten - die Aktivitäten auf den "Plätzen" - schon über Jahrhunderte hinweg die "Türme" der Herrschaftssysteme und Machtapparate beeinflusst oder gar zum Einsturz gebracht. Spanische Forscher und Eroberer stießen ganze Imperien in den Abgrund. Deutsche Buchdrucker untergruben das päpstliche Religionsmonopol. Spione, Banker, Wissenschaftler oder gar Freimaurer forderten die politischen Machthaber heraus. Niall Ferguson zeigt, dass solche Vernetzungen unterhalb der Machtebene der lang übersehene Schlüssel zum Verständnis der Geschichte sind, analysiert aber auch moderne Netzwerke wie Facebook, Google oder den "IS". Sein Fazit: Hierarchisch organisierte Staaten und Institutionen können sich nur dann dauerhaft halten, wenn sie es schaffen, sich mit den modernen Netzwerken zu arrangieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Wir haben uns daran gewöhnt, dass unsere Geschichte von hierarchischen Strukturen geprägt wurde. Aber was wir oft übersehen: Auch soziale Netzwerke haben ihren Beitrag zur Weltgeschichte geleistet und sind keineswegs nur ein Phänomen der Gegenwart. Netzwerke aller Art – die Aktivitäten auf den »Plätzen« – haben schon seit Jahrhunderten die hierarchischen »Türme« der Herrschaftssysteme und Machtapparate beeinflusst oder gar zum Einsturz gebracht. Spanische Forscher und Eroberer stießen ganze Imperien in den Abgrund. Buchdrucker untergruben das päpstliche Religionsmonopol. Spione, Banker, Wissenschaftler oder Freimaurer forderten die politischen Machthaber heraus. Niall Ferguson zeigt, dass solche Netzwerke – bis hin zu Facebook, Google, »IS« und »Trumpworld« – der lange Zeit übersehene Schlüssel zum Verständnis der Geschichte sind.

»Aufgrund ihres Scharfsinns und ihrer Eleganz wird Fergusons Revision der Geschichte auf Jahre hin nachhallen.«

The Guardian

»Ferguson gelingt es, selbst lange zurückliegende Ereignisse so lebendig und anschaulich zu schildern wie die Abendnachrichten.«

The New York Times

Der Autor

Niall Ferguson, geboren 1964 in Glasgow, ist Senior Fellow der Hoover Institution in Stanford sowie Senior Fellow des Center of European Studies der Harvard University. Er gilt als einer der profiliertesten Historiker der angelsächsischen Welt. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Der Aufstieg des Geldes (2009), Der Westen und der Rest der Welt (2011) und der erste Band seiner Kissinger-Biographie Der Idealist (2016).

Helmut Reuter, geboren 1946 in Pappenheim, übersetzte viele Sachbücher aus verschiedenen Wissensgebieten, darunter Bücher von Michael J. Sandel, David F. Wallace, Richard Feynman, Lawrence Krauss und Michel Onfray.

NIALL FERGUSON

TÜRMEUNDPLÄTZE

NETZWERKE, HIERARCHIEN UND DER KAMPF UM DIE GLOBALE MACHT

Aus dem Englischen von Helmut Reuter

Propyläen

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Square and The Tower bei Allen Lane, an imprint of Penguin Books, London

ISBN: 978-3-8437-1654-3

© 2017 Niall Ferguson

© für die deutschsprachige Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018

Lektorat: Christian Seeger

Covergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

Umschlagabbildung: Metropolitan Museum of Art

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch/ Über den Autor
Titel
Impressum
Zitat
Vorwort: Der vernetzte Historiker
I EINFÜHRUNG: NETZWERKE UND HIERARCHIEN
1 Das Geheimnis der Illuminaten
2 Unser Netzwerk-Zeitalter
3 Netzwerke, überall Netzwerke
4 Wozu Hierarchien?
5 Von sieben Brücken zu sechs Graden
6 Schwache Bindungen und virale Ideen
7 Netzwerk-Varianten
8 Wenn Netzwerke aufeinandertreffen
9 Sieben Einsichten
10 Neues Licht auf die Illuminaten
II HERRSCHER UND ENTDECKER
11 Eine kurze Geschichte der Hierarchie
12 Das erste vernetzte Zeitalter
13 Die Kunst des Verhandelns in der Renaissance
14 Entdecker
15 Pizarro und die Inkas
16 Als Gutenberg auf Luther traf
III BRIEFE UND LOGEN
17 Die wirtschaftlichen Folgen der Reformation
18 Ideenaustausch
19 Netzwerke der Aufklärung
20 Netzwerke der Revolution
IV DIE RESTAURATION DER HIERARCHIE
21 Die Roten und die Schwarzen
22 Von der Menge zur Tyrannei
23 Die wiederhergestellte Ordnung
24 Das Haus Sachsen-Coburg-Gotha
25 Das Haus Rothschild
26 Industrielle Netzwerke
27 Von der Pentarchie zur Hegemonie
V RITTER DER TAFELRUNDE
28 Das Britische Imperium: Ein Lebenslauf
29 Empire
30 Taiping
31 »Die Chinesen müssen verschwinden«
32 Die Südafrikanische Union
33 Apostel
34 Armageddon
BILDTEIL
VI SEUCHEN UND RATTENFÄNGER
35 Grünmantel
36 Die Heimsuchung
37 Das Führerprinzip
38 Der Fall der Goldenen Internationale
39 Cambridge Five
40 Kurze Begegnung
41 Ella in der Erziehungsanstalt
VII BESITZE DEN DSCHUNGEL
42 Der lange Frieden
43 Der General
44 Die Krise der Komplexität
45 Henry Kissingers Netzwerk der Macht
46 Ins Valley
47 Der Fall des sowjetischen Imperiums
48 Der Triumph des Davos-Mannes
49 Wie die Bank von England geknackt wurde
VIII DIE BIBLIOTHEK VON BABEL
50 11. September 2001
51 15. September 2008
52 Der Verwaltungsstaat
53 Web 2.0
54 Auseinanderdriften
55 Revolution per Twitter
56 9. November 2016
IX SCHLUSS: IM ANGESICHT VON CYBERIA
57 Metropolis
58 Netzausfall
59 FANG, BAT und EU
60 Türme und Plätze: Neuauflage
Nachwort: ein Turm und ein Platz: Netzwerke undHierarchien im Siena des 14. Jahrhunderts
ANHANG
Grafische Darstellungen sozialer Netzwerke in der Ära Nixon-Ford
Anmerkungen
Bibliografie
Liste der Abbildungen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

»Wenn ich [mein Schweigen] bräche, würde die Kraft von mir weichen; doch während ich meinen Frieden hielt, hielt ich meinen Feind in einem unsichtbaren Netz.«

— GEORGE MACDONALD

VORWORT: DER VERNETZTE HISTORIKER

Wir leben in einer vernetzten Welt, so wird uns ständig gesagt. Das Wort »Netzwerk«, vor dem Ende des 19. Jahrhunderts kaum verwendet, wird inzwischen sowohl als Verb wie auch als Substantiv überstrapaziert. Für den ehrgeizigen jungen Insider lohnt es sich immer – egal, wie spät es ist –, zur nächsten Party zu gehen, um sein Netzwerk zu pflegen. Schlaf mag ja verlockend sein, doch die Angst, etwas zu verpassen, ist schrecklich. Für den mürrischen alten Außenseiter hat das Wort Netzwerk jedoch eine andere Konnotation. Es wächst der Verdacht, dass die Welt von mächtigen und exklusiven Netzwerken kontrolliert wird: den Bankern, dem Establishment, dem System, den Juden, den Freimaurern, den Illuminaten. Fast alles, was in dieser Hinsicht geschrieben wird, ist Blödsinn. Doch würden sich Verschwörungstheorien kaum so beständig halten, wenn es solche Netzwerke überhaupt nicht gäbe.

Das Problem mit den Verschwörungstheoretikern besteht dar­in, dass sie als beleidigte Außenseiter ausnahmslos falsch verstehen und wiedergeben, wie Netzwerke funktionieren. Insbesondere neigen sie zu der Annahme, dass Elitenetzwerke insgeheim und mühelos formale Machtstrukturen kontrollieren. Meine eigene Forschung – wie auch meine Erfahrung – legt nahe, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil: Informelle Netzwerke stehen für gewöhnlich in einer höchst ambivalenten Beziehung zu etablierten Institutionen – manchmal sogar in einer feindseligen. Demgegenüber neigten professionelle Historiker bis in die jüngste Zeit dazu, die Rolle von Netzwerken zu ignorieren oder zumindest herunterzuspielen. Selbst heute noch bevorzugen sie es, jene Art von Institutionen zu erforschen, die Archive anlegen und bewahren – als würden diejenigen, die keine ordentliche Papierspur hinterlassen, nicht zählen. Meine Forschung und Erfahrung haben mich gelehrt, mich vor der Tyrannei der Archive zu hüten. Die größten Veränderungen in der Geschichte gehen oft auf kaum dokumentierte, informell organisierte Gruppen von Menschen zurück.

Dieses Buch handelt vom ungleichmäßigen Auf und Ab der Geschichte. Es unterscheidet die langen Perioden, in denen das Leben der Menschen von hierarchischen Strukturen beherrscht wurde, von den selteneren, aber dynamischeren Zeiten, in denen Netzwerke im Vorteil waren – zum Teil dank technologischer Neuerungen. Kurz: Wenn Hierarchie auf der Tagesordnung steht, ist man immer nur so mächtig wie die Sprosse, die man auf der organisatorischen Leiter eines Staates, einer Firma oder einer ähnlich vertikal aufgebauten Institution erklommen hat. Sind Netzwerke in der Vorhand, ist man so mächtig wie die Position, die man in einer oder mehreren horizontal strukturierten sozialen Gruppen innehat. Wie wir sehen werden, stellt diese Dichotomie zwischen Hierarchie und Netzwerk eine übermäßige Vereinfachung dar. Dennoch sollen einige persönliche Mitteilungen illustrieren, dass sie als Ausgangspunkt nützlich sein kann.

Als ich im Februar 2016 die erste Version dieses Vorwortes schrieb, nahm ich eines Abends an einer Buchparty teil. Gastgeber war der ehemalige Bürgermeister von New York. Der Autor, dessen Werk zu feiern wir uns versammelt hatten, war ein Kolumnist des Wall Street Journal und ehemaliger Redenschreiber eines Präsidenten. Ich kam auf Einladung des Chefredakteurs von Bloomberg News, den ich kenne, weil wir vor mehr als einem Vierteljahrhundert dasselbe Oxford-College besucht hatten. Auf der Party unterhielt ich mich mit ungefähr zehn Leuten, darunter der Vorsitzende des Council on Foreign Relations, der Vorstandsvorsitzende von Alcoa Inc., einem der größten Industriekonzerne der USA, der für die Kommentarseiten des Journal zuständige Redakteur, ein Moderator von Fox News, ein Mitglied des New Yorker Colony Club mit seiner Gattin und ein junger Redenschreiber, der sich mit den Worten vorstellte, er habe eines meiner Bücher gelesen (was unfehlbar der richtige Weg ist, ein Gespräch mit einem Professor aufzunehmen).

Auf einer Ebene ist offensichtlich, warum ich auf dieser Party war. Die Tatsache, dass ich an mehreren wohlbekannten Universitäten – Oxford, Cambridge, New York, Harvard und Stanford – gearbeitet habe, macht mich automatisch zum Mitglied der Netzwerke ehemaliger Collegemitglieder. Infolge meiner Tätigkeit als Autor und Professor nahm ich auch an einer Reihe von ökonomischen und politischen Netzwerken teil – etwa am Weltwirtschaftsforum und an den Bilderberg-Konferenzen. Ich bin Mitglied in drei Londoner Clubs und in einem New Yorker Club. Derzeit gehöre ich auch den Leitungsgremien von drei Körperschaften an: einer globalen Vermögensverwaltung, eines britischen Thinktanks und eines New Yorker Museums.

Dennoch habe ich, obwohl ich relativ gut vernetzt bin, fast keine Macht. Ein interessanter Aspekt der Party war, dass der ehemalige Bürgermeister in seiner kurzen Begrüßungsansprache die Gelegenheit nutzte und (nicht besonders enthusiastisch) erwähnte, dass er darüber nachdenke, sich als unabhängiger Kandidat für die nächste Präsidentschaft zu bewerben. Doch als britischer Staatsbürger konnte ich nicht einmal bei dieser Wahl abstimmen. Ebenso wenig hätte es die Chancen dieses oder eines anderen Kandidaten erhöht, wenn ich ihn unterstützt hätte. Denn als Akademiker habe ich nach Ansicht der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner absolut keine Verbindung zum wirklichen Leben normaler Menschen. Anders als meine früheren Kollegen in Oxford überprüfe ich keine Erstzulassungen für Studenten. Als ich in Harvard lehrte, konnte ich meinen Studenten gute oder schlechte Noten geben, doch ich hatte letztlich nicht die Macht, selbst den schwächsten unter ihnen an einem Abschluss zu hindern. Und was die Zulassungen zu einem Doktoratsstudium betrifft, hatte ich unter den Fakultätsmitgliedern nur eine Stimme – auch hier keine Macht. Über die Leute, die für meine Beratungsfirma arbeiten, habe ich eine gewisse Macht, doch innerhalb von fünf Jahren habe ich insgesamt nur einen Angestellten gefeuert. Ich bin Vater von vier Kindern, doch mein Einfluss – ganz zu schweigen von Macht – auf drei von ihnen ist minimal. Selbst das jüngste lernt mit seinen fünf Jahren schon, wie es meine Autorität herausfordern kann.

Kurz, ich bin nicht gerade eine hierarchische Person. Ich bin eher der Typ Netzwerker. Als Student genoss ich, dass das Leben an der Uni frei von sozialen Abstufungen war, und insbesondere die Vielfalt von zufällig zusammengewürfelten Kreisen. Ich schloss mich vielen an und ließ mich bei wenigen blicken. Meine beiden schönsten Erfahrungen in Oxford waren meine Teilnahme als Kontrabassist in einem Jazz-Quintett – ein Ensemble, das bis heute stolz darauf ist, keinen Chef zu haben – und die Teilnahme an den Meetings eines kleinen konservativen Debattierclubs namens Canning. Ich entschied mich für die akademische Laufbahn, weil ich in meinen frühen Zwanzigern sehr viel mehr an Freiheit als an Geld interessiert war. Der Anblick meiner in traditionellen vertikalen Managementstrukturen beschäftigten Altersgenossen und ihrer Väter ließ mich schaudern. Angesichts der Oxford-Dozenten, die mich unterrichteten – Mitglieder einer mittelalterlichen Gemeinschaft, Bürger einer altertümlichen Republik der Gelehrsamkeit, souveräne Herrscher in ihrer Bücherwelt –, hatte ich den unwiderstehlichen Drang, ihren gemächlichen Schritten zu folgen. Als sich herausstellte, dass das akademische Leben weniger gut entlohnt wurde, als die Frauen in meinem Leben zu erwarten schienen, bemühte ich mich, Geld zu verdienen, ohne mich der Würdelosigkeit echter Anstellungen zu unterwerfen. Als Journalist zog ich es vor, als freier Mitarbeiter beschäftigt zu werden, meistens in Teilzeit, am liebsten als Kolumnenautor auf Vorschuss. Als ich mich dem Rundfunk zuwandte, schrieb und moderierte ich als unabhängiger Auftragnehmer und baute später meine eigene Produktionsfirma auf. Die Rolle als Unternehmer passte zu meiner Freiheitsliebe, und so habe ich Firmen eher deswegen gegründet, um frei zu bleiben, als um reich zu werden. Am meisten Freude macht es mir, Bücher über Themen zu schreiben, die mich interessieren. Die besten Projekte – die Geschichte der Roth­schild-Banken, die Karriere von Siegmund Warburg, das Leben von Henry Kissinger – kamen über meine Netzwerke zu mir. Erst in jüngster Zeit wurde mir bewusst, dass es auch Bücher über Netzwerke waren.

Einige meiner Altersgenossen strebten nach Reichtum; wenige schafften es ohne eine zumindest kurze Zeit der vertraglichen Knechtschaft, gewöhnlich als Angestellter einer Bank. Andere strebten nach Macht; auch sie stiegen über die Rangleiter der Parteien auf und wundern sich heute über die Entwürdigung, die sie einst erduldeten. Zweifellos gibt es in den frühen Jahren eines akademischen Lebens Demütigungen, doch sie sind nichts im Vergleich dazu, bei Goldman Sachs als Praktikant oder als freiwilliger Wahlhelfer im Fußvolk des unterlegenen Kandidaten einer Oppositionspartei tätig zu sein. In die Hierarchie einzutreten heißt, sich zu erniedrigen, zumindest am Anfang. Doch heute sitzen einige meiner Studienkameraden aus Oxford als Minister oder Vorstandsmitglieder an der Spitze mächtiger Institutionen. Ihre Entscheidungen können die Vergabe von Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar und manchmal sogar das Schicksal ganzer Länder direkt beeinflussen. Die Ehefrau eines Altersgenossen aus Oxford, der in die Politik gegangen ist, beschwerte sich einmal bei ihm über seine langen Arbeitszeiten, fehlendes Privatleben, geringe Entlohnung und seltene Ferien – und auch über die einer Demokratie innewohnende Unsicherheit des Jobs. »Aber die Tatsache, dass ich das alles immer hingenommen habe«, erwiderte er, »beweist doch, wie wunderbar Macht ist.«

Ist sie das wirklich? Ist es heute besser, in einem Netzwerk zu sein, das Einfluss verschafft, als in einer Hierarchie, die Macht verleiht? Was beschreibt Ihre eigene Position besser? Wir alle sind zwangsläufig Mitglieder in mehr als einer hierarchischen Struktur. Wir sind fast alle Bürger von zumindest einem Staat. Sehr viele von uns sind Angestellte von wenigstens einer Firma (und eine überraschend große Zahl der weltweiten Firmen wird immer noch direkt oder indirekt staatlich kontrolliert). In der entwickelten Welt befinden sich die meisten Menschen unter zwanzig Jahren wahrscheinlich in der einen oder anderen Ausbildungseinrichtung; was immer diese Institutionen behaupten mögen – ihre Struktur ist grundlegend hierarchisch. Ein erheblicher Anteil junger Männer und Frauen weltweit – wenn auch ein sehr viel kleinerer als zumeist in den vergangenen vierzig Jahrhunderten – leistet Militärdienst, traditionell die am stärksten hierarchisierte aller Tätigkeiten. Wer jemandem »berichtet«, und sei es nur dem Firmenvorstand, befindet sich in einer Hierarchie. Je mehr Menschen einem berichten, desto weniger Bodenhaftung hat man.

Doch für die meisten von uns ist die Zahl der Netzwerke, denen sie angehören, größer als die Zahl der Hierarchien. Damit meine ich nicht nur, dass wir auf Facebook, Twitter oder in einem der anderen Online-Netzwerke präsent sind, die im letzten Jahrzehnt im Internet aufgetaucht sind. Wir haben Netzwerke von Verwandten (in der westlichen Welt sind heute nur wenige Familien hierarchisch), von Freunden, von Nachbarn, von Gleichgesinnten. Wir sind Ehemalige von Lehrinstituten, wir sind Fans von Fußballvereinen. Wir sind Mitglieder von Clubs und Gesellschaften oder unterstützen Hilfsorganisationen. Selbst unser Engagement in hierarchisch strukturierten Einrichtungen wie Kirchen oder Parteien hat mehr mit Netzwerken zu tun als mit Arbeit, weil es auf freiwilliger Basis geschieht und wir nicht erwarten, finanziell entlohnt zu werden.

Die Welten von Hierarchien und Netzwerken treffen aufeinander und interagieren. In jeder großen Organisation gibt es Netzwerke, die sich erheblich vom offiziellen »Organigramm« unterscheiden. Wird ein Chef von einigen Angestellten der Günstlingswirtschaft bezichtigt, impliziert das, dass informelle Beziehungen Vorrang vor dem formellen Beförderungsgang gewinnen, den die Personalabteilung im 5. Stock steuert. Wenn Angestellte verschiedener Firmen sich nach der Arbeit zu alkoholischen Erfrischungen treffen, begeben sie sich aus dem vertikalen Turm des Unternehmens auf den horizontalen Platz des sozialen Netzwerks. Entscheidend ist: Wenn eine Gruppe von Leuten zusammenkommt, von denen jeder Einzelne Macht in einer jeweils anderen hierarchischen Struktur hat, so kann ihr Networking tiefreichende Folgen haben. In seinen Palliser-Romanen hielt Anthony Trollope den Unterschied zwischen formeller Macht und informellem Einfluss in bemerkenswerter Weise fest, als er viktorianische Politiker porträtierte, die einander im Parlament anprangerten, um dann im Netzwerk der Londoner Clubs, denen sie alle angehörten, privat Vertraulichkeiten auszutauschen. In diesem Buch möchte ich zeigen, dass sich solche Netzwerke fast in der gesamten Menschheitsgeschichte finden lassen und dass sie weit bedeutender sind, als die meisten Geschichtsbücher ihre Leser glauben machen.

Bislang verstanden sich Historiker, wie schon gesagt, nicht besonders gut darauf, Netzwerke der Vergangenheit zu rekonstruieren. Dass sie Netzwerke außer Acht ließen, lag zum Teil daran, dass die herkömmliche historische Forschung sich bei ihrem Quellenmaterial vorwiegend auf Dokumente stützte, die von hierarchischen Strukturen, zum Beispiel Staaten, stammten. Auch Netzwerke hinterlassen Spuren, doch die sind nicht so einfach zu finden. Ich erinnere mich, wie ich als unbedarfter Student im Hamburger Staatsarchiv ankam und zu einem einschüchternden Raum voller Findbücher geleitet wurde – gewaltige ledergebundene, in kaum leserlicher altdeutscher Handschrift geführte Bände, die den Katalog des Archivs bildeten. Diese wiederum führten zu den unzähligen Berichten, Protokollen und Korrespondenzen, die von all den verschiedenen »Depu­ta­tio­nen« der ein wenig antiquierten Bürokratie der Hansestadt stammten. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich die Bücher durchblätterte, die sich auf den Zeitraum bezogen, der mich interessierte, und zu meinem Schrecken keine einzige Seite fand, die etwas irgendwie Interessantes enthielt. Man stelle sich meine tiefe Erleichterung vor, als mir nach einigen Wochen erbärmlichen Elends der Weg in den kleinen, eichenholzgetäfelten Raum gewiesen wurde, der die privaten Papiere des Bankiers Max Warburg beherbergte, dessen Sohn Eric ich durch pures Glück bei einer Teegesellschaft im britischen Konsulat getroffen hatte. Binnen weniger Stunden wurde mir klar, dass Warburgs Korrespondenz mit Mitgliedern seines eigenen Netzwerks mehr Einblick in die Geschichte der deutschen Hyperinflation der frühen 1920er-Jahre (dem von mir gewählten Thema) bot als alle Dokumente im Staatsarchiv zusammen.

Aber wie die meisten Historiker dachte und schrieb ich viele Jahre lang nur beiläufig über Netzwerke. Vor meinem inneren Auge gab es ein verschwommenes Diagramm, das Warburg mit anderen Mitgliedern der deutsch-jüdischen Geschäftselite verknüpfte – aufgrund von Verwandtschaft, Geschäften und »Wahlverwandtschaft«. Doch ich kam nicht auf die Idee, mich eingehend mit diesem Netzwerk zu befassen. Ich gab mich damit zufrieden, mir seine sozialen »Kreise« vorzustellen – ein sehr unzulänglicher Fachbegriff. Und ich fürchte, ich ging nicht viel systematischer vor, als ich ein paar Jahre später anfing, die Geschichte der mit Warburg verquickten Rothschild-Banken zu schreiben. Ich konzentrierte mich zu sehr auf die komplexe Genealogie der Familie mit ihrem äußerst ungewöhnlichen System von Verwandtenehen und zu wenig auf das weiter gespannte Netzwerk von Agenten und Tochterbanken, das ebenso entscheidend dazu beitrug, die Familie zur reichsten in der Welt des 19. Jahrhunderts zu machen. Rückblickend hätte ich jenen Historikern in der Mitte des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit schenken sollen – etwa Lewis Namier oder Ronald Syme –, die als Erste die Prosopo­grafie (kollektive Biografie) entwickelten, nicht zuletzt, um die Rolle der Ideologie als eigenständigem historischen Akteur herunter­zuspielen. Ihren Bemühungen fehlte jedoch die formale Netzwerk­analyse. Zudem trat eine Generation von sozial(istisch)en Historikern an ihre Stelle, die bestrebt waren, auf- und absteigende Klassen als Protagonisten historischen Wandels herauszustellen. Ich hatte gelernt, dass Vilfredo Paretos Eliten – von den »Notabeln« des revolutionären Frankreich bis zu den Honoratioren des wilhelminischen Deutschland – im historischen Prozess generell wichtiger waren als die Klassen von Karl Marx, aber ich hatte nie gelernt, wie man Elite­strukturen analysiert.

Dieses Buch ist ein Versuch, für diese Unterlassungssünden Buße zu tun. Es erzählt die Geschichte des Zusammenspiels von Netzwerken und Hierarchien von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit. Es verknüpft theoretische Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Disziplinen – von der Ökonomie bis zur Soziologie, von der Neurowissenschaft bis zum Organisationsverhalten. Die zentrale These besagt, dass soziale Netzwerke in der Geschichte stets viel bedeutender waren, als die meisten Historiker ihnen zugebilligt haben – und das vor allem in zwei Zeitabschnitten. Die erste »Netzwerk­ära« folgte auf die Einführung der Druckerpresse in Europa am Ende des 15. Jahrhunderts und dauerte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die zweite – unsere Gegenwart – fängt mit den 1970ern an, wobei ich meine, dass die technologische Revolution, die wir mit dem Silicon Valley verbinden, eher die Folge als die Ursache der Krise hierarchischer Institutionen war. Die Zeit dazwischen, vom Ende der 1790er- bis Ende der 1960er-Jahre, erlebte den gegenläufigen Trend: Hierarchische Institutionen gewannen die Kontrolle zurück und zerstörten oder vereinnahmten die Netzwerke. Der Zenith hierarchisch organisierter Macht wurde tatsächlich in der Mitte des 20. Jahrhunderts erreicht – dem Zeitalter totalitärer Regime und des totalen Krieges.

Zu dieser Erkenntnis wäre ich wohl nicht gelangt, hätte ich mich nicht darangemacht, die Biografie eines der begnadetsten Netzwerker der Neuzeit zu schreiben: Henry Kissinger. Als ich das Projekt zur Hälfte geschafft hatte, kam mir eine interessante Hypothese in den Sinn. Verdankte Kissinger Erfolg, Ruhm und Bekanntheit ­vielleicht nicht nur seinem starken Intellekt und enormen Willen, sondern auch seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, ein vielschichtiges Netzwerk von Beziehungen aufzubauen – nicht nur zu Kollegen in den Regierungen von Nixon und Ford, sondern auch zu Personen außerhalb der Regierung: Journalisten, Zeitungseignern, auslän­dischen Botschaftern und Staatschefs, ja sogar zu Hollywood-Pro­duzenten? In diesem Buch trage ich (hoffentlich ohne übertriebene Vereinfachungen) die Forschungsergebnisse anderer Gelehrter zusammen, allesamt hinreichend anerkannt, doch was Kissingers Netzwerk betrifft, biete ich einen, wie ich glaube, originären Ansatz, diese Frage abzuhandeln.

Ein Buch ist selbst Produkt eines Netzwerks. Vor allem möchte ich dem Direktor und den Kollegen der Hoover Institution danken, wo dieses Buch geschrieben wurde, ebenso den Aufsichtsinstanzen und Sponsoren dieser Einrichtung. In einer Zeit, in der geistige Vielfalt die an Universitäten anscheinend am wenigsten geschätzte Vielfalt ist, stellt Hoover eine seltene, wenn nicht einzigartige Bastion der freien Forschung und des unabhängigen Denkens dar. Ich danke auch meinen ehemaligen Kollegen in Harvard, die bei meinen Besuchen am Belfer Center der Kennedy School und am Center for European Studies weiterhin mein Denken bereichern, ebenso meinen neuen Kollegen am Kissinger Center an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies, Johns Hopkins University, sowie am Schwarzman College der Tsinghua University in Peking.

Sarah Wallington und Alice Han boten mir bei meinen Recherchen ebenso unschätzbare Hilfe wie Ravi Jacques und Olivia Ward-­Jackson. Manny Rincon-Cruz und Keoni Correa halfen sehr dabei, die Qualität der Netzwerkgrafiken und -erläuterungen zu verbessern. Überaus hilfreiche Kommentare zu einschlägigen Aufsätzen und Darstellungen erhielt ich von (um nur diejenigen zu nennen, die ihre Gedanken zu Papier brachten) Graham Allison, Pierpaolo Barbieri, Joe Barillari, Tyler Goodspeed, Micki Kaufman, Paul Schmelzing und Emile Simpson. Erste Entwürfe wurden von Freunden, Kollegen und Experten gelesen, deren Rat ich suchte. Diejenigen, die sich die Zeit nahmen, mir Kommentare zu schicken, waren Ruth Ahnert, Teresita Alvarez-Bjelland, Marc Andreessen, Yaneer Bar-Yam, Joe Barillari, Alastair Buchan, Melanie Conroy, Dan Edelstein, Chloe Edmondson, Alan Fournier, Auren Hoffman, Emmanuel Roman, Suzanne Sutherland, Elaine Treharne, Calder Walton und Caroline Winterer. Für den abschließenden Teil des Buches erhielt ich unschätzbare Kommentare von William Burns, Henri de Castries, Mathias Döpfner, John Elkann, Evan Greenberg, John Micklethwait und Robert Rubin. Dafür, dass sie mich an ihren Erkenntnissen teilhaben ließen oder mir erlaubten, aus ihren unveröffentlichten Arbeiten zu zitieren, danke ich außerdem Glenn Carroll, Peter Dolton, Paula Findlen, Francis Fukuyama, Jason Heppler, Matthew Jackson und Franziska Keller. Für ihre Unterstützung bei der Geschichte der Illuminaten schulde ich Lorenza Castella, Reinhard Markner, Olaf Simons und Joe Wäges Dank.

Wie üblich haben Andrew Wylie und seine Kollegen, insbesondere James Pullen, mich und meine Arbeit sehr professionell präsentiert. Und einmal mehr genoss ich das Privileg, dass Simon Winder und Scott Moyers das Lektorat besorgten – sie gehören zu den klügsten Lektoren, die heute in der englischsprachigen Welt arbeiten. Auch meinen Schlussredakteur Mark Handsley, meinen Korrekturleser und Freund aus Virginia, Jim Dickson, sowie meinen Bildrechercheur Fred Courtright sollte ich nicht vergessen.

Schließlich gilt mein Dank meinen Kindern Felix, Freya, Lachlan und Thomas, die sich nie beklagt haben, wenn die Schreibarbeit Vorrang vor der Zeit mit ihnen bekam, und die eine Quelle der Inspiration wie auch des Stolzes und der Freude bleiben. Meine Frau Ayaan hat meinen in jüngster Zeit übertriebenen Gebrauch der Wörter »Netzwerk« und »Hierarchie« in unseren Gesprächen geduldig hingenommen. Sie hat mich mehr über beide Organisationsformen gelehrt, als ihr bewusst ist. Auch ihr danke ich in Liebe.

Ich widme dieses Buch Campbell Ferguson, meinem sehr vermissten Vater.

I

EINFÜHRUNG: NETZWERKE UND HIERARCHIEN

1 DAS GEHEIMNIS DER ILLUMINATEN

Es war einmal vor beinahe zweieinhalb Jahrhunderten, da gab es ein geheimes Netzwerk, das versuchte, die Welt zu verändern. Die Organisation, die zwei Monate vor der Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien in Amerika in Deutschland gegründet wurde, sollte als Illuminatenorden bekannt werden. Ihre Ziele waren erhaben. Tatsächlich war sie von ihrem Gründer ursprünglich Bund der Perfektibilisten genannt worden. Wie ein Ordensmitglied sich an dessen Worte erinnerte, war sie

eine Verbindung, die durch die feinsten und sichersten Mittel den Zweck erlangt, der Tugend und Weisheit in der Welt über Dummheit und Bosheit den Sieg zu verschaffen; eine Vereinigung, die wichtigsten Entdeckungen in allen Fächern der Wissenschaft zu machen, ihre Mitglieder zu edlen, großen Menschen zu bilden, und diesen dann den gewissen Preis ihrer Vervollkommnung auch in dieser Welt zuzusichern, sie gegen Verfolgung, Schicksale und Unterdrückung zu schützen, und dem Despotismus aller Art die Hände zu binden.1

Letztlich zielte der Orden darauf ab, »den Verstand durch die Sonne der Vernunft zu erhellen, welche die Wolken des Aberglaubens und des Vorurteils vertreiben wird«. »Mein Ziel ist es, der Vernunft zum Sieg zu verhelfen«, erklärte der Ordensgründer.2 Die Methoden waren, in einer Hinsicht, erzieherisch. »Alleinige Absicht des Bundes« war seinen Generalstatuten zufolge »Bildung, nicht durch das Mittel der Deklaration, sondern durch Begünstigung und Belohnung der Tugend«.3 Doch die Illuminaten sollten als strikte Geheimgesellschaft operieren. Mitglieder nahmen Decknamen an, die oft griechischen oder römischen Ursprungs waren: Der Gründer war »Bruder Spartacus«. Es gab drei Ränge der Mitgliedschaft – Novize, Minerval* und Illuminatus minor –, doch die niedrigen Ränge erhielten nur einen sehr vagen Einblick in die Ziele und Methoden des Ordens. Man ersann ausgeklügelte Initiationsriten – darunter ein Schwur auf Geheimhaltung, dessen Bruch mit dem grausamsten Tod zu bestrafen war. Jede isolierte Zelle von Initiierten berichtete einem Höhergestellten, dessen wahre Identität sie nicht kannte.

Anfangs war die Zahl der Illuminaten sehr klein. Es gab nur eine Handvoll von Gründungsmitgliedern, die meisten davon Studenten.4 Zwei Jahre nach Gründung des Ordens hatte er gerade mal 25 Mitglieder. Noch im Dezember 1779 waren es nur sechzig. Doch innerhalb weniger Jahre stieg die Mitgliederzahl auf mehr als 1300 an.5 Zu Beginn war der Orden auf Ingolstadt, Eichstätt und Freising beschränkt gewesen; ein paar Mitglieder gab es in München.6 Aber schon Anfang der 1780er-Jahre erstreckte sich das Netzwerk der Illuminaten über einen großen Teil Deutschlands. Zudem hatte sich dem Orden eine eindrucksvolle Liste deutscher Fürsten angeschlossen: Ferdinand, Prinz von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel; Karl, Prinz von Hessen-Kassel; Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-­Altenburg; Karl-August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach;7 dazu Dutzende Adelige wie Franz Dietrich von Ditfurth und der aufsteigende Stern des rheinischen Klerus, Karl Theodor von Dalberg.8 Andere Mitglieder des Ordens dienten vielen der herausragendsten Illuminaten als Berater.9 Auch Intellektuelle wurden Illuminaten, so das Universalgenie Johann Wolfgang Goethe, die Philosophen Johann Gottfried Herder und Friedrich Heinrich ­Jacobi, der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode und der Schweizer Erzieher Johann Heinrich Pestalozzi.10 Obwohl Friedrich Schiller dem Orden nicht beitrat, nahm er ein führendes Mitglied der Illuminaten zum Vorbild für die republikanische Revolutionsfigur Posa in seinem Stück Don Carlos.11 Einflüsse der Illuminaten-Lehre erkannte man auch in Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte (1791).12

Doch im Juni 1784 erließ die bayerische Regierung das erste von drei Edikten, welche die Illuminaten verboten und als »verräterisch und religionsfeindlich« verurteilten.13 Ein Untersuchungsausschuss machte sich daran, die Hochschulen und die staatliche Bürokratie von Mitgliedern zu säubern. Einige flohen aus Bayern. Andere verloren ihre Anstellungen oder wurden ausgewiesen. Mindestens zwei wurden ins Gefängnis gesteckt. Der Gründer selbst fand Zuflucht in Gotha. Faktisch hörten die Illuminaten Ende 1787 auf zu existieren. Doch ihr schlechter Ruf überlebte sie lange. König Friedrich Wilhelm II. von Preußen wurde gewarnt, dass sie in ganz Deutschland weiterhin eine gefährlich subversive Kraft darstellten.

1797 veröffentlichte der berühmte schottische Physiker John Robison die Schrift Proofs of a Conspiracy against All the Religions and Governments of Europe, carried on in the Secret Meetings of the Free Masons, Illuminati, and Reading Societies. Darin behauptete er, »im Verlauf von 50 Jahren [sei] unter dem fadenscheinigen Vorwand, die Welt durch die Fackel der Philosophie aufzuklären und die Wolken zivilen und religiösen Aberglaubens zu zerstreuen«, eine »Vereinigung eifernd und systematisch, bis sie fast unwiderstehlich geworden ist, bestrebt« gewesen, »ALLE RELIGIÖSEN EINRICHTUNGEN AUSZUROTTEN UND ALLE EXISTIERENDEN REGIERUNGEN EUROPAS ZU STÜRZEN«. Höhepunkt der Bemühungen dieser Vereinigung sei, so Robinson, nichts Geringeres als die Französische Revolution gewesen. In seinen Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus, ebenfalls 1797 erschienen, stellte der französische ­Jesuit Augustin de Barruel die gleiche Behauptung auf. »In der Französischen Revolution ist alles, bis auf die entsetzlichsten Verbrechen, vorgesehen, überlegt, kombiniert, beschlossen, vorgeschrieben worden; alles war die Wirkung der tiefsten Verruchtheit.« Die Jakobiner selbst, so Barruel, seien die Erben der Illuminaten. Diese Behauptungen – von Edmund Burke gepriesen14 – fanden rasch ihren Weg in die Vereinigten Staaten, wo sie unter anderem von Timothy Dwight, dem Präsidenten von Yale, aufgegriffen wurden.15 Über große Teile des 19. und 20. Jahrhunderts hinweg spielten die Illuminaten eine unbeabsichtigte Rolle als Urverschwörer bei dem, was Richard Hofstadter einprägsam als »paranoiden Stil« in der amerikanischen Politik bezeichnet hat, dessen Vertreter beständig behaupteten, die Besitz­losen vor einem »heimtückischen, außergewöhnlich effektiven internationalen Verschwörungsnetzwerk« zu bewahren, »das darauf angelegt ist, Akte teuflischster Art zu begehen«.16 Um nur zwei Beispiele zu geben: Die Illuminaten waren Gegenstand in den Schriften der antikommunistischen John Birch Society und im Buch des christlich-konservativen Predigers Pat Robertson New World Order (1991).17

Der Mythos der Illuminaten hat sich bis heute gehalten. Einige der durch den Orden inspirierten Publikationen waren zwar erklärtermaßen Fiktion, insbesondere die in den 1970ern von Robert Shea und Robert Anton Wilson veröffentlichte Illuminatus-Trilogie, Umberto Ecos Roman DasFoucaultsche Pendel (1989), der Film Lara Croft: Tomb Raider (2001) und Dan Browns Thriller Illuminati (2003).18 Schwerer zu erklären ist die verbreitete Überzeugung, die Illuminaten gebe es wirklich und sie seien heute so mächtig, wie ihr Gründer sie gerne gehabt hätte. Es gibt zwar einige Websites, die vorgeben, die Illuminaten zu repräsentieren, doch keine wirkt besonders professionell.19 Nichtsdestoweniger wurde behauptet, mehrere US-Präsidenten seien Mitglieder der Illuminaten gewesen, darunter nicht nur John Adams und Thomas Jefferson,20 sondern auch Barack Obama.21 Eine ziemlich repräsentative Tirade (das Genre ist enorm verbreitet) schildert die Illuminaten als »superreiche Macht­elite mit dem Bestreben, eine Sklavengesellschaft zu schaffen«:

Den Illuminaten gehören alle internationalen Banken, die Ölkonzerne, die mächtigsten Industrie- und Handelsunternehmen; sie unterwandern Politik und Erziehungswesen und stellen die meisten Regierungen – oder kontrollieren ­sie zumindest. Ihnen gehören sogar Hollywood und die Musik­branche (…). Auch das Drogengeschäft wird von den Illuminaten beherrscht (…). Die führenden Präsidentschaftskandidaten werden aus der verborgenen Blutsverwandtschaft der 13 Illuminaten-Familien sorgfältig aus­gewählt (…). Hauptziel ist die Schaffung einer Weltregierung mit ihnen an der Spitze, um die Welt in Sklaverei und Diktatur zu steuern (…). Sie wollen eine »äußere Gefahr« schaffen, eine vorgetäuschte Invasion von Außerirdischen, damit die Länder dieser Welt bereit sind, sich zu EINEM zu vereinigen.

Die Standardversion der Verschwörungstheorie verbindet die Illuminaten mit der Rothschild-Familie, dem Round Table, der Bilderberg-Gruppe und der Trilateralen Kommission – nicht zu vergessen den Hedgefonds-Manager, politischen Sponsor und Philanthropen George Soros.22

Solche Theorien werden von bemerkenswert vielen Menschen geglaubt.23 Knapp über die Hälfte (51 Prozent) von 1000 im Jahre 2011 befragten Amerikanern stimmten der Aussage zu: »Vieles, was in der heutigen Welt geschieht, wird von einer kleinen und verschworenen Personengruppe beschlossen.«24 Ein gutes Viertel einer größeren Stichprobe von 1935 Amerikanern stimmte der Aussage zu: »Die derzeitige Finanzkrise wurde insgeheim von einer kleinen Gruppe von Bankern der Wall Street gesteuert, um die Macht der Federal Reserve und ihre Kontrolle über die Weltwirtschaft zu erweitern.«25 Und fast ein Fünftel (19 Prozent) stimmte zu, dass »der Milliardär George Soros hinter einem verborgenen Plan steht, die amerikanische Regierung zu destabilisieren, die Medien zu kontrollieren und die Welt unter seine Kontrolle zu bringen«.26 Soros selbst wird von populären Verschwörungstheoretikern wie Alex Jones regelmäßig mit den Illuminaten in Verbindung gebracht.27 Das mag verrückt sein, doch diese Verrücktheit zieht mehr als eine Randgruppe an. Die Autoren einer neueren Studie über die Verbreitung von Verschwörungstheorien kamen zu dem Schluss:

Die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung stimmt zumindest einer Verschwörungs[theorie] zu (…). Eine verschwörungstheoretische Sicht auf die Politik ist alles andere als der verirrte Ausdruck von politischem Extremismus oder das Ergebnis grober Fehlinformation, sondern eine verbreitete Tendenz quer durch das gesamte ideologische Spektrum (…). Viele vorherrschende Glaubenssysteme in den USA, seien es die christlichen Narrative über Gott und Satan (…) oder die Narrative der Linken über den Neoliberalismus (…), beziehen sich stark auf die Idee unsichtbarer, absichtsvoller Mächte, die das Zeitgeschehen gestalten.28

Außerdem ist dieses Phänomen nicht auf die USA beschränkt. Zur Zeit des Irakkrieges war ein erheblicher Teil der deutschen Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, die Verantwortung für die Anschläge vom 11. September liege bei »hochgradig miteinander verbundenen, aber auch dezentralen und nicht an ein Territorium gebundenen Netzwerken von Kapitalinteressen, die nicht zwangsläufig das Ergebnis individueller oder kollektiver Absicht sind …«29 Auch in Großbritannien und Österreich scheinen sehr viele Wähler an Verschwörungstheorien zu glauben – selbst an solche, die Forscher sich ausgedacht haben.30 Russische Autoren fühlen sich besonders zu Theorien einer von Amerika angeführten Verschwörung hingezogen,31 doch nichts kommt der muslimischen Welt nahe, wo der »Konspirationismus« seit dem 11. September wuchert.32 Solche Überzeugungen können tragische Folgen haben. Der amerikanische Verschwörungstheoretiker Milton William Cooper wurde erschossen, als er sich seiner Verhaftung wegen Steuerflucht und Schusswaffen-Delikten entziehen wollte. Sein Widerstand gegen die Behörden gründete in der Überzeugung, die Bundesregierung stehe unter der Kontrolle der Illuminaten.33 Globale Statistiken über Terrorismus und seine Motivationen lassen den Schluss zu, dass Muslime, die an eine amerikanisch-zionistische Verschwörung gegen ihre Religion glauben, deutlich eher zur Gewalt greifen als »Truther« – Anhänger der amerikanischen »Wahrheitsbewegung«.

Abb. 1: Die Verschwörung zur Weltbeherrschung.

Die Geschichte der Illuminaten illustriert das zentrale Problem beim Schreiben über soziale Netzwerke, speziell über diejenigen, die bestrebt sind, geheim zu bleiben. Weil das Thema Spinner anzieht, ist es für Berufshistoriker schwer, es ernst zu nehmen. Selbst wer es tut, muss sich mit dem Problem herumschlagen, dass Netzwerke selten leicht zugängliche Archive pflegen. Bayerische Archivare bewahrten Berichte von der Kampagne gegen die Illuminaten auf, darunter authentische Dokumente, die bei Mitgliedern des Ordens beschlagnahmt wurden, doch erst in jüngster Zeit haben Forscher systematisch – und sehr mühsam – die noch erhaltenen Schriftwechsel und Regularien der Illuminaten herausgegeben, die an vielen verschiedenen Orten gefunden wurden, darunter auch die Archive von Freimaurer-Logen.34 Diese Zugangserschwernis erklärt, warum ein bedeutender Oxford-Historiker behauptete, er könne nur über das schreiben, »was über Geheimgesellschaften geglaubt und über sie geschrieben wurde, nicht über Geheimgesellschaften selbst«.35 Doch kein Fall illustriert die historische Bedeutung von Netzwerken besser als der der Illuminaten. An sich waren sie keine bedeutsame Bewegung. Die Französische Revolution haben sie gewiss nicht ver­ursacht – und auch keine wirklichen Unruhen in Bayern. Doch sie gewannen Bedeutung, weil ihr Ruf zu einer Zeit viral verbreitet wurde, als die von der Aufklärung – Ergebnis eines äußerst einfluss­reichen Netzwerks von Intellektuellen – beschleunigte politische Erschütterung beiderseits des Atlantiks ihren revolutionären Höhepunkt erreichte.

In diesem Buch versuche ich, einen Mittelweg zwischen der Hauptströmung der Historiografie, welche die Rolle von Netzwerken tendenziell unterschätzt hat, und den Verschwörungstheore­tikern zu finden, die ihre Rolle gewöhnlich überschätzen. Ich schlage ein neues historisches Narrativ vor, in dem größere Veränderungen – die bis zur Ära der Entdeckungen und zur Reformation, wenn nicht ­weiter zurückreichen – im Wesentlichen als destabilisierende Herausforderungen verstanden werden können, die Netzwerke für die etablierten Hierarchien darstellten. Damit werden auch die selbstgewissen Behauptungen mancher heutiger Kommentatoren infrage gestellt, die durch Netzwerke ausgelöste Störung hierarchischer Ordnung sei per se gutartig. Und es werden die Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts einbezogen, um herauszufinden, wie die von Netzwerken vermittelten revolutionären Energien im Zaum gehalten werden können.

* Der Name bezieht sich auf Minerva, die römische Bezeichnung für die Göttin der Weisheit, Pallas Athene. Das Wahrzeichen der Illuminaten war eine Eule, die auf den Seiten eines aufgeschlagenen Buches sitzende Vertraute der Göttin.

2UNSER NETZWERK-ZEITALTER

Wie es scheint, sind Netzwerke heute überall. In der ersten Woche des Jahres 2017 brachte die New York Times136 Storys, in denen das Wort »Netzwerk« vorkam. Gut ein Drittel der Artikel behandelte TV-Netzwerke, zwölf bezogen sich auf Computer-Netzwerke und zehn auf verschiedene politische Netzwerke. Es gab aber auch Storys über Transport-, Finanz-, Terror- und Gesundheitsnetzwerke sowie über Sozial-, Ausbildungs-, Verbrechens-, Telefon-, Rundfunk-, Strom- und Geheimdienst-Netzwerke. Diese Lektüre bietet einen Blick auf eine Welt, in der, so das gängige Klischee, »alles mit allem verbunden ist«. Manche Netzwerke verknüpfen Aktivisten mitein­ander, andere Mediziner, wieder andere verbinden automatische ­Registrierkassen. Es gibt ein Krebs-Netzwerk, ein Netzwerk von Dschihadisten, ein Orca-Netzwerk. Manche Netzwerke – allzu oft als »weit gespannt«1 bezeichnet – sind international, andere dagegen regional; einige sind ätherisch, andere im Untergrund. Es gibt Netzwerke der Korruption, Tunnel-Netzwerke, Spionagenetzwerke; es gibt sogar ein Netzwerk zur Verabredung von Tennis-Matches. Netzwerk-Hacker attackieren Netzwerk-Verteidiger. Und all das wird überlagert von terrestrischen, Kabel- und Satelliten-Netzwerken.

In Bleak House war der Nebel überall. Heute sind es die Netzwerke, die, in Anlehnung an Dickens, stromauf und stromab zu finden sind. »Die Alternative zum Networking ist Scheitern«, lesen wir in der Harvard Business Review.2 Dasselbe Journal behauptet: »Ein entscheidender Grund, weshalb Frauen in Führungspositionen zurückliegen, besteht darin, dass sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit über ausgedehnte Netzwerke verfügen, die sie als potenzielle Führungskräfte unterstützen und fördern.«3 Ein weiterer HBR-Artikel zeigt, dass »Manager von Investmentfonds höher konzentrierte Wetten auf Unternehmen abschlossen, mit denen sie durch ein Ausbildungsnetzwerk verbunden waren«, und dass diese Investments bessere Renditen* brachten als der Durchschnitt.4 Allerdings würde nicht jeder daraus schließen, dass das Netzwerk der »Kumpel« eine segensreiche Kraft ist, die es wert wäre, von »Mädels« nachgeahmt zu werden.

Im Finanzsektor wurden einige »Experten-Netzwerke« als Kanäle für Insider-Geschäfte oder Zinsmanipulationen enttarnt.5 Auch wurden Netzwerke für die globale Finanzkrise von 2008 verantwortlich gemacht, insbesondere das zunehmend komplexere Netzwerk, das die Banken der Welt in ein System der globalen Übertragung und Ausweitung von Verlusten aus US-Subprime-Hypotheken verwandelte.6 Die von Sandra Navidi in ihrem Buch Superhubs geschilderte Welt mag manchem glanzvoll vorkommen. In ihren Worten sind es auserwählte Wenige – sie benennt nur zwanzig Personen –, »die über das exklusivste und wertvollste Gut verfügen: ein allumspannendes Netzwerk höchstpersönlicher Beziehungen«. Diese Beziehungen werden in einer noch kleineren Zahl von Institutionen geschmiedet und gepflegt: das Massachusetts Institute of Technology, Goldman Sachs, das Weltwirtschaftsforum, drei philanthropische Einrichtungen, darunter die Clinton Global Initiative, und das Four Seasons in New York.7 Doch eine der Kernbotschaften von Donald J. Trumps erfolgreicher Wahlkampagne im Jahr 2016 lautete, dass es sich dabei um die sehr »globalen Sonderinteressen« handle, die hinter dem »gescheiterten und korrupten politischen Establishment« stünden – personifiziert durch Hillary Clinton, die von ihm besiegte Kandidatin.8

Ohne eine Diskussion der Rolle medialer Netzwerke – von Fox News über Facebook zu Twitter, dem vom siegreichen Kandidaten bevorzugten Netzwerk – wird keine Darstellung der US-Präsidentschaftswahl von 2016 vollständig sein.** Zu den vielen Ironien der Wahl gehört, dass Trumps netzwerkgetriebener Wahlkampf einen so großen Teil seines Feuers gegen Clintons Elite-Netzwerk richtete – dem Trump einst selbst angehört hatte, wie Clintons Anwesenheit bei seiner dritten Hochzeit belegte. Wenige Jahre vor der Wahl war ein Gebilde namens »The Trump Network« – 2009 gegründet, um Produkte wie Vitaminergänzungspräparate mit Trumps Segen zu verkaufen – bankrott gegangen. Hätte Trump die Wahl verloren, hätte er Trump TV als Fernsehsender gestartet. Einer der vielen Gründe, weshalb er nicht verlor, lag darin, dass das Netzwerk des russischen Geheimdienstes alles tat, um den Ruf seiner Gegnerin zu schädigen. Dazu nutzte man vor allem die Website WikiLeaks und den Fernsehsender RT. Einem teilweise unklassifizierten Bericht der US-Geheimdienste zufolge »ordnete der russische Präsident Wladimir Putin 2016 eine Einflusskampagne an«, die darauf abzielte, »Ministerin Clinton anzuschwärzen und ihre Wählbarkeit und potenzielle Präsidentschaft zu schädigen«, worin sich Moskaus »klare Bevorzugung« Trumps zeige. Im Juli 2015, so der Bericht, »erhielt der russische Geheimdienst Zugang zu Netzwerken des Democratic National Committee (DNC) und erhielt diesen Zugang bis mindestens Juni 2016 aufrecht«, wobei er systematisch die E-Mails veröffentlichte, die er durch WikiLeaks erhielt. Gleichzeitig »trug Russlands staatlich betriebene Propagandamaschine – bestehend aus dem heimischen Medienapparat, Medien, die auf ein globales Publikum zielten (wie RT und Sputnik), sowie einem Netzwerk quasi-amtlicher Trolle – zu der Einflusskampagne bei, indem sie als Plattform für Botschaften des Kreml an russisches und internationales Publikum diente«.9

Doch Trump gewann noch aus einem anderen Grund: Islamistische Terroristen des sogenannten Islamischen Staates verübten in den zwölf Monaten vor der Wahl mehrere Anschläge, darunter zwei in den USA (in San Bernardino und Orlando). Diese Attacken verstärkten die Attraktivität von Trumps Schwur, »die Unterstützungsnetzwerke für den radikalen Islam in diesem Land aufzudecken, auszuschalten und nach und nach zu beseitigen« und »Irans globales Terrornetzwerk vollständig zu zerlegen«.10

Kurz, wir leben im »Netzwerk-Zeitalter«.11 Joshua Ramo hat es »das Zeitalter der Netzwerk-Macht« genannt.12 Adrienne Lafrance bevorzugt »das Zeitalter der Verflechtung«.13 Parag Khanna schlägt sogar eine neue Wissenschaftsdisziplin – »Konnektografie« – vor, um »die globale Netzwerk-Revolution« zu kartieren.14 Laut Manuel Castells »verweist die Netzwerk-Gesellschaft auf eine qualitative Veränderung der menschlichen Erfahrung«.15 Netzwerke transformieren den öffentlichen Raum und damit die Demokratie selbst.16 Aber zum Besseren oder zum Schlechteren? »Die neue Technologie (…) kommt vor allem den Bürgern zugute«, schreiben Googles Jared ­Cohen und Eric Schmidt. »Nie zuvor waren so viele Menschen in Echtzeit über ein Netzwerk miteinander verbunden«, mit wahrhaft die »Spielregeln ändernden« Implikationen für die Politik überall.17 ­Einer anderen Sicht zufolge gewinnen globale Unternehmen wie Google systematisch »strukturelle Vorherrschaft«, indem sie Netzwerke dazu nutzen, nationale Souveränität und die kollektivistische Politik, die sie ermöglicht, zu untergraben.18

Die gleiche Frage lässt sich auch für die Wirkung von Netzwerken auf das internationale System stellen: zum Besseren oder zum Schlechteren? Für Anne-Marie Slaughter erscheint es sinnvoll, globale Politik durch eine Kombination des traditionellen »Schachbretts« zwischenstaatlicher Diplomatie und des neuen »Geflechts (…) von Netzwerken« neu zu konfigurieren, um die Vorteile des Letzteren (etwa Transparenz, Anpassungsfähigkeit und Skalierbarkeit) zu nutzen.19 Die Staatsfrauen der Zukunft, meint sie, werden »Webakteure [sein], die mit Verbindungsstrategien neben den Regierungen Macht und aktive Führerschaft ausüben«.20 Parag Khanna freut sich auf eine »Welt der Lieferketten«, in der globale Firmen, Megastädte »Aerotropoleis« und »regionale Staatenbünde« sich auf ein end­loses, aber letztlich friedliches »Tauziehen« um ökonomische Vorteile einlassen, das einem »riesigen Multiplayer-Spiel« ähnelt.21 Es erscheint jedoch – nicht nur für Joshua Ramo, sondern auch für seinen Mentor Henry Kissinger – zweifelhaft, dass solche Tendenzen die globale Stabilität stärken werden. Kissinger schreibt:

Die Ausweitung der Kommunikation über Netzwerke im sozialen, finanziellen, industriellen und militärischen Bereich (…) hat die Verwundbarkeiten revolutioniert. Da sie so rasant verlief, dass die meisten Regeln und Regularien (und sogar das technische Verständnis der Regulatoren) hinterherhinken, führte sie in mancher Hinsicht den Naturzustand herbei (…), dessen Überwindung laut Thomas Hobbes der Antrieb dafür war, eine politische Ordnung zu errichten. (…) Dadurch herrschen in den diplomatischen wie strategischen Beziehungen zwischen den »Cybermächten« von vornherein asymmetrische Verhältnisse und eine systeminhärente weltweite Störung (…). Ohne formulierte Regeln für ein internationales Verhalten wird die innere Dynamik des Systems in die Krise führen.22

Wenn der »Erste Cyber-Weltkrieg« bereits begonnen hat, wie manche behaupten, dann ist es ein Krieg zwischen Netzwerken.23

Die beunruhigendste Aussicht bei alledem ist, dass ein einziges globales Netzwerk den Homo sapiens letztlich überflüssig machen und dann auslöschen wird. In seinem Buch Homo Deus behauptet Yuval Harari, das Zeitalter großer, auf Schriftsprache, Geld, Kultur und Ideologie – Produkte von auf Kohlenstoff basierenden menschlichen neuronalen Netzwerken – gegründeter »Netzwerke der Massenkooperation« weiche einer neuen Ära von auf Silizium basierenden Computernetzwerken, die sich auf Algorithmen stützen. In diesem neuen Netzwerk werden wir sehr schnell eine ähnliche Bedeutung für die Algorithmen haben wie Tiere heute für uns. Die Trennung vom Netzwerk wird den Tod des Individuums bedeuten, weil das Netzwerk unsere Gesundheit rund um die Uhr aufrechterhalten wird. Doch die Verbindung mit dem Netzwerk wird am Ende den Tod der Spezies bedeuten: »Die Maßstäbe, die wir selbst entwickelt haben, werden uns dazu verdammen, den Mammuts und den chinesischen Flussdelfinen ins Vergessen zu folgen.«24 Angesichts von Hararis trostlosem Urteil über die Vergangenheit des Menschen würde dies wohl unser gerechter Lohn sein.25

Dieses Buch handelt mehr von der Vergangenheit als von der Zukunft. Oder, um genau zu sein: Dieses Buch will vor allem durch die Erforschung der Vergangenheit etwas über die Zukunft erfahren, anstatt sich auf Fantastereien oder die willkürliche Zukunftsprojektion aktueller Trends einzulassen. Es gibt (nicht zuletzt im Silicon Valley) diejenigen, die bezweifeln, dass sie in Zeiten so rascher technologischer Innovation viel aus der Vergangenheit lernen können.26 Tatsächlich geht ein großer Teil der eben skizzierten Debatte davon aus, dass soziale Netzwerke ein neues Phänomen sind und dass ihre heutige Allgegenwart beispiellos ist. Das ist falsch. Selbst wenn wir ständig über sie reden, ist es in Wahrheit so, dass die meisten von uns nur ein sehr beschränktes Verständnis davon haben, wie Netzwerke funktionieren, und fast nichts darüber wissen, wo sie herkommen. Wir übersehen weitgehend, wie sehr sie in der Natur verbreitet sind, welche Schlüsselrolle sie in unserer Evolution als Spezies gespielt haben und wie sehr sie ein integraler Bestandteil der Geschichte des Menschen gewesen sind. Deshalb neigen wir dazu, die Bedeutung von Netzwerken in der Vergangenheit zu unterschätzen, und nehmen irrigerweise an, die Geschichte könne uns zu diesem Thema nichts lehren.

Selbstverständlich hat es noch nie so große Netzwerke gegeben wie heute. Und auch die Informationsflüsse – oder, wenn man so will, die des Ungemachs – waren niemals so schnell. Doch Größe und Geschwindigkeit sind nicht alles. Wir werden die riesigen, superschnellen Netzwerke unserer Zeit nie verstehen – und vor allem werden wir keine Ahnung haben, ob das Netzwerk-Zeitalter erfreulich emanzipatorisch oder scheußlich anarchisch sein wird –, wenn wir nicht die kleineren, langsameren Netzwerke der Vergangenheit erforschen. Denn auch sie waren allgegenwärtig; und mitunter tatsächlich sehr mächtig.

* Der Gewinn lag bei 21 Prozent, wenn sowohl der Portfolio-Manager als auch der Vorstand dieselbe Universität besucht und mit einer gewissen zeitlichen Überschneidung den gleichen Abschluss hatten – im Vergleich zu 13 Prozent, wenn keine solche Verbindung bestand.

** Als dieses Buch entstand, hatte Donald J. Trump 33,8 Millionen Follower auf Twitter. Er selbst folgt nur 45 Personen oder Institutionen.

3NETZWERKE, ÜBERALL NETZWERKE

In den Worten des Physikers Geoffrey West besteht die natürliche Welt in einem verblüffenden Maß aus »optimierten, raumfüllenden, verzweigten Netzwerken« – vom Kreislaufsystem des Menschen bis zur Ameisenkolonie –, die sich alle entwickelt haben, um über erstaunliche 27 Größenordnungen hinweg Energie und Materie zwischen makroskopischen Speichern und mikroskopischen Orten zu verteilen. Die tierischen Kreislauf-, Atmungs-, Nieren- und Nervensysteme sind allesamt natürliche Netzwerke. Das gilt auch für die Gefäßsysteme von Pflanzen und die vernetzten Mikrotubuli und Mitochondrien in Zellen.1 Das Gehirn von Caenorhabditis elegans (einer Nematodenart) ist das einzige neuronale Netzwerk, das vollständig kartiert worden ist, doch man ist auf gutem Weg, ebenso komplexere Gehirne zu erfassen.2 Von Wurmgehirnen bis zu Nahrungsketten (oder »Nahrungsnetzen«) – die moderne Biologie findet auf allen Ebenen irdischen Lebens Netzwerke.3 Die Sequenzierung des Genoms hat ein »Netzwerk der Genregulation« aufgespürt, in dem »Knoten Gene und Verknüpfungen Reaktionsketten darstellen«.4 Das Delta eines Flusses ist ein Netzwerk, und auch Tumore bilden Netzwerke.

Einige Probleme lassen sich nur durch eine Netzwerk-Analyse lösen. Wissenschaftler, die die massive Algenblüte zu erklären versuchten, welche 1999 die San Francisco Bay heimsuchte, mussten erst das Netzwerk des Meereslebens erkunden, ehe sie die wahre Ursache fanden. Eine ähnliche Kartierung neuronaler Netzwerke war erforderlich, um festzustellen, dass das menschliche Gedächtnis im Hippocampus zu Hause ist.5 Die Geschwindigkeit, mit der eine ­Infektionskrankheit sich ausbreitet, hat ebenso viel mit der Netzwerk-­Struktur der betroffenen Bevölkerung wie mit der Virulenz der Erkrankung selbst zu tun, wie eine Epidemie unter Teenagern in Rockdale County, Georgia, vor zwanzig Jahren deutlich machte.6 Die Existenz von ein paar stark vernetzten Knotenpunkten sorgt dafür, dass die Ausbreitung der Krankheit nach einer Anfangsphase mit geringem Wachstum exponentiell zunimmt.7 Anders gesagt, wenn die »Basisreproduktionszahl« (die anzeigt, wie viele andere Personen durch ein normal infiziertes Individuum neu angesteckt werden) größer ist als 1, dann wird eine Krankheit zur Epidemie; liegt sie darunter, wird die Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach abebben. Doch diese Basisreproduktionszahl wird von der Struktur des angesteckten Netzwerks ebenso stark bestimmt wie durch die natürliche Ansteckungsfähigkeit der Krankheit.8 Netzwerk-Strukturen können auch die Geschwindigkeit und Präzision beeinflussen, mit denen eine Erkrankung diagnostiziert wird.9

Abb. 2: Ein partielles Nahrungsnetz für den »Schottischen Schelf« im Nordwestatlantik. Die Pfeile verlaufen von der Beuteart zur Spezies des Beutegreifers.

In der Vorgeschichte entwickelte Homo sapiens sich als kooperativer Affe mit der einzigartigen Fähigkeit, Netzwerke zu bilden – kollektiv zu kommunizieren und zu handeln –, die uns von allen anderen Tieren unterscheidet. Mit den Worten des Evolutionsbiologen Joseph Henrich sind wir nicht nur weniger behaarte Schimpansen mit einem größeren Gehirn; das Geheimnis unseres Erfolgs als Spezies »liegt (…) in den kollektiven Gehirnen unserer Gemeinschaften«.10 Im Gegensatz zu Schimpansen lernen wir gesellschaftlich – durch Lehren und Teilen. Laut dem Evolutionspsychologen Robin Dunbar entwickelte sich unser größeres, durch einen besser entwickelten Neocortex charakterisiertes Gehirn so, dass es uns in die Lage versetzte, in relativ großen sozialen Gruppen von ungefähr 150 Individuen (bei den Schimpansen sind es etwa 50) zu funktionieren.11 Tatsächlich sollte unsere Spezies eigentlich als Homo dictyus (»Netzwerk-Mensch«) bekannt sein, denn – um die Soziologen Nicholas Christakis und James Fowler zu zitieren – »unser Gehirn scheint geradezu geschaffen für das Leben in sozialen Netzwerken«.12 Der von dem Ethnografen Edwin Hutchins geprägte Begriff lautet »verteilte Kognition«. Unsere frühen Vorfahren waren »zwangsläufig kooperative Jäger und Sammler«, die für Nahrung, Unterschlupf und Wärme voneinander abhängig wurden.13 Es ist wahrscheinlich, dass die Entwicklung gesprochener Sprache wie auch die damit einhergehende Weiterentwicklung der Gehirnkapazität Teil desselben Prozesses waren, der aus affenartigen Praktiken wie der sozialen Körperpflege hervorgegangen ist.14 Das ließe sich auch für Praktiken wie Kunst, Tanz und Rituale sagen.15 Mit den Worten der Historiker William H. McNeill und J. R. McNeill entstand das erste »weltweite Netz« tatsächlich vor etwa 12000 Jahren. Der Mensch mit seinem unvergleichlichen neuronalen Netzwerk war geschaffen, um Netzwerke zu bilden.

Demnach sind soziale Netzwerke die Strukturen, die Menschen von Natur aus bilden, beginnend mit dem Wissen selbst und den vielfältigen Wegen, es mitzuteilen, bis zu den Familienstammbäumen, denen wir zwangsläufig angehören, auch wenn nur wenige von uns über detaillierte genealogische Kenntnisse verfügen. Netzwerke schließen Siedlungsmuster, Migration und Rassenmischung ein, die unsere Spezies über den Erdball verteilt haben, wie auch die un­zähligen Kulte und Verrücktheiten, die wir gedanken- und planlos perio­disch hervorbringen. Wie wir sehen werden, kommen soziale Netzwerke in allen Formen und Größen vor, von exklusiven Geheimgesellschaften bis zu Open-Source-Bewegungen. Manche entstehen spontan und wie von selbst; andere sind systematischer und strukturierter. Eigentlich geht es nur darum, dass – beginnend mit der Erfindung der Schriftsprache – neue Technologien unseren angeborenen, uralten Drang zum Networking erleichtert haben.

Doch es gibt ein Rätsel. Fast die gesamte überlieferte Geschichte hindurch wurden Reichweite und Ausmaß von Netzwerken durch Hierarchien beherrscht. Männer und Frauen waren zumeist in hierarchische Strukturen eingebettet, bei denen die Macht ganz oben in den Händen eines Häuptlings, Lords, Königs oder Kaisers konzentriert war. Demgegenüber war das Netzwerk eines durchschnittlichen Individuums unterentwickelt. Der typische Bauer – und das Wort umreißt grob, was die meisten Menschen während des größten Teils der überlieferten Geschichte waren – hing in einem winzigen Gebilde namens Familie fest, eingebettet in ein kaum größeres Gebilde namens Dorf, welches fast keine Verbindungen zur weiteren Welt hatte. So lebten die meisten Menschen noch vor gerade mal hundert Jahren. Selbst heute sind die Bewohner indischer Dörfer bestenfalls in einem »sozialen Flickenteppich« verbunden, »einer Vereinigung ­kleiner Cliquen, in der jede Clique gerade groß genug ist, um die Ko­operation aller ihrer Mitglieder aufrechtzuerhalten, und wo die ­Cliquen eng miteinander verknüpft sind«.16 Eine Schlüsselrolle in solchen isolierten Gemeinschaften spielen die gemeinhin als Klatsch­basen bekannten, im Mittelpunkt der Verbreitung stehenden Individuen.17

Die Unterdrückung in traditionellen kleinen Netzwerken war so stark, dass mancher es vorzog, sich in vollständige Isolation zurückzuziehen. Robert Burns Song »Naebody« feiert die Selbstgenügsamkeit als eine Art von trotziger Ablösung:

Ich hab mein eigen Weib

Ich werd’s mit niemand teilen

Ich werd kein Hahnrei sein

Werd’ niemand zum Hahnrei machen

Ich hab einen Penny übrig

Den verdanke ich niemandem

Ich hab nichts zu verleihn

Und borge von niemandem

Ich bin Niemandes Herr

Werd’ Niemandes Sklave sein

Ich hab ein verziertes Schwert

Werd’ von niemandem einen Hieb bekommen

Ich werd’ heiter und frei sein

Werd’ um niemanden trauern

Niemand sorgt sich um mich

Ich sorg mich um niemanden.

Vom einsamen Cowboy bis zum Fremden ohne Namen – solche selbstgenügsamen Gestalten sind immer wieder die Helden von Westernfilmen gewesen. Im Film Blood Simple – Eine mörderische Nacht (1984) der Coen-Brüder lebt der Erzähler in einer Welt des zügel­losen, brutalen Individualismus. »Mach schon, beschwer dich«, sagt er. »Erzähl deine Probleme dem Nachbarn, bitte um Hilfe – und schau, wie er abhaut. In Russland haben sie das jetzt so bestimmt, dass jeder jeden unterstützt – jedenfalls theoretisch. Aber wo ich mich auskenne, das ist Texas. Und hier bei uns (…) bist du auf dich allein gestellt.«18

Doch ein solcher grassierender Individualismus ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wie hat es doch der Dichter John Donne in seinen »Devotions upon Emergent Occasions« so unvergesslich ausgedrückt:

Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.

Tatsächlich ist der Mensch ein soziales Tier, und der Misanthrop wird gemieden und meidet andere. Das große Rätsel ist, warum und wie wir, Netzwerker von Natur, so lange Zeit Knechte vertikal strukturierter und starr institutionalisierter Hierarchien geblieben sind.

Abb. 3: Googles N-Gramm der Erscheinungshäufigkeit der Begriffe »Netzwerk« und »Hierarchie« in englischsprachigen Publikationen zwischen 1800 und 2000

Der Begriff »Hierarchie« stammt aus dem Altgriechischen und heißt wörtlich übersetzt »Herrschaft eines Hohepriesters«; er wurde zunächst verwendet, um die himmlischen Ränge der Engel zu beschreiben, und allgemeiner zur Charakterisierung einer geschichteten Ordnung spiritueller oder zeitlicher Herrschaft. Bis ins 16. Jahrhundert hinein bedeutete der Begriff »Netzwerk« dagegen nichts weiter als ein gewebtes Geflecht ineinander verschlungener Fäden. Shakespeare verwendet die Wörter »Netz« und »Gewebe« gelegentlich metaphorisch – Jagos Anschlag auf Othello ist ein »Netz (…), das alle soll umgarnen« –, doch »Netzwerk« selbst taucht in keinem seiner Stücke auf.19 Wissenschaftler des 17. und 18. Jahrhunderts entdeckten, dass es in der Natur Netzwerke gibt – von Spinnennetzen bis zum menschlichen Kreislaufsystem aus Venen und Arterien –, doch erst im 19. Jahrhundert wurde der Begriff zunehmend metaphorisch verwendet, so von Geografen und Ingenieuren, um Wasserwege und Schienennetze zu beschreiben, und von Schriftstellern, um die Beziehungen zwischen Menschen zu charakterisieren. Der Dichter Samuel Taylor Coleridge (1817) sprach von einem »Netz-Werk des Besitzes«, der Historiker Edward Freeman (1876) von einem »Netzwerk feudalen Grundbesitzes«.20 Gleichwohl enthielten in Englisch veröffentlichte Bücher bis etwa 1880 das Wort »Hierarchie« weit häufiger als das Wort »Netzwerk« (siehe Abb.3). Es ist möglich, die politischen und sozialen Beziehungen in Anthony Trollopes Roman Phineas Finn (1869) einer Netzwerk-Analyse zu unterziehen,21 doch das Wort »Netzwerk« taucht in dem Text kein einziges Mal auf. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts begannen »Netzwerke« zu wuchern: zunächst Transport- und Stromnetzwerke, dann Telefon- und TV-Netze, schließlich Computernetzwerke und soziale Online-­Netzwerke. Und erst 1980 wurde das Verb »netzwerken« oder »networking« geprägt, um gezielte, auf die Karriere bezogene Geselligkeit zu bezeichnen.

4WOZU HIERARCHIEN?

Der Tourist, der Venedig besucht, sollte sich einen Nachmittag für ­einen Ausflug zu der hübschen, verschlafenen Insel Torcello reservieren. Dort, in der Basilika Santa Maria Assunta, findet sich eine perfekte Illustration dessen, was wir unter Hierarchie verstehen (siehe Bildteil, Tafel 1): ein aus dem 11. Jahrhundert stammendes Mosaik des Jüngsten Gerichts in fünf übereinander liegenden Bildreihen – mit Christus in der obersten und den Flammen der Hölle in der untersten Reihe.

So ungefähr stellen sich die meisten Leute Hierarchien vor: Als vertikal angeordnete Organisationen, die sich durch zentralisierte und von oben nach unten verlaufende Befehlsstruktur, Kontrolle und Kommunikation auszeichnen. Historisch beginnen sie mit auf der Familie beruhenden Clans und Stämmen, aus denen (oder gegen die) sich kompliziertere und stärker geschichtete Institutionen mit einer formalisierten Aufteilung und Rangordnung von Arbeit entwickelten.1 Zu den vielfältigen Hierarchien, die sich in der Vormoderne ausbreiteten, zählten streng regulierte, auf Handel beruhende Städte und größere, meist monarchisch geführte Staaten, die auf Landwirtschaft gründeten; zentralisierte, als Kirchen bekannte Kulte; staat­liche Armeen und Bürokratien; Gilden, die den Zugang zu handwerklichen Berufen kontrollierten; autonome Körperschaften, die seit der Frühmoderne bestrebt waren, Größen- und Verbundvorteile zu nutzen, indem sie sich bestimmte Markt-Transaktionen aneigneten; akademische Körperschaften wie Universitäten; und als Imperien bekannte riesige, transnationale Staatengebilde.

Die hierarchische Ordnung wurde entscheidend dadurch begünstigt, dass sie die Machtausübung effizienter machte: Zentra­lisierte Kontrolle in den Händen des »großen Mannes« eliminierte (oder verringerte zumindest) zeitraubende Debatten darüber, was zu tun sei, die jederzeit zu mörderischen Konflikten ausarten konnten.2 Dem Philosophen Benoît Dubreuil zufolge war die Delegation rechtlicher und strafender Macht an einen Einzelnen oder eine Elite die optimale Lösung für vorwiegend agrarische Gesellschaften, die es erforderten, dass die Mehrheit der Menschen einfach den Mund hielt und auf den Äckern schuftete.3 Peter Turchin dagegen betont die Rolle der Kriegführung: Veränderungen in der Militärtechnologie hätten die Ausbreitung hierarchisch organisierter Staaten und Armeen erleichtert.4

Auch konnte der Absolutismus eine Quelle des sozialen Zu­sammenhalts sein. »Vom Herzen seiner Kaiserlichen Majestät, des Herrn und Herrschers Alexanders III. und so fort geht dieser unsichtbare Faden, sozusagen das Spinnengespinst«, erklärte der zaristische Polizist Nikiforytsch dem jungen Maxim Gorki um das Jahr 1890. »[Dieser Faden geht] durch sämtliche Herren Minister, durch Seine Hohe Exzellenz den Gouverneur und alle sonstigen Dienstgrade, durch mich und selbst den letzten Soldaten hindurch. Dieser Faden, der alles bindet und umflicht, hält kraft seiner unsichtbaren Festigkeit das Zarenreich (…) zusammen.«5 Gorki musste erleben, dass Stalin diesen unsichtbaren Faden in Stahldrähte sozialer Kontrolle verwandelte, welche weit über die wildesten Träume der Zaren hinausging.

Doch auch der Makel von Autokratien ist augenfällig. Kein Einzelner, wie begabt er auch sei, hat das Format, mit allen Herausforderungen imperialer Herrschaft fertigzuwerden, und fast niemand ist imstande, den korrumpierenden Versuchungen absoluter Macht zu widerstehen. Der hierarchische Staat wurde sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht kritisiert. Seit dem 18. Jahrhundert hat die westliche Welt – wenn auch mit einigen Rückschlägen – ein positiveres Urteil über die Demokratie entwickelt als die politischen Theoretiker der Antike oder der Renaissance, zumindest eine positivere Sicht auf eine Regierung, die durch unabhängige Gerichte und irgendeine Art von Vertretungsorgan kontrolliert wird. Politische Gemeinwesen, die mehr Mitwirkung zulassen, scheinen abgesehen vom Reiz der politischen Freiheit auch mit einer nachhaltigeren wirtschaftlichen Entwicklung einherzugehen.6 Sie können auch besser mit Komplexität umgehen, etwa mit Bevölkerungswachstum und technologischem Fortschritt. Und sie sind weniger anfällig für »Enthauptung«: Wenn ein Einzelner herrscht, kann seine Ermordung das ganze hierarchische System zum Einsturz bringen. Zugleich haben Ökonomen seit Adam Smith dargelegt, dass die spontane Ordnung des freien Marktes per se besser als ein privater Monopolist oder eine allzu mächtige Regierung imstande ist, Ressourcen zu verteilen.

In der geschichtlichen Praxis überließen die meisten autokra­tischen Herrscher dem Markt ein beträchtliches Stück Macht, auch wenn sie seine Aktivitäten regulierten, besteuerten und gelegentlich unterbrachen. In den archetypischen mittelalterlichen oder frühmodernen Städten – wie etwa Siena in der Toskana – steht daher der die säkulare Macht repräsentierende Turm direkt neben dem Platz (tatsächlich überschattet er ihn), auf dem Markttransaktionen und andere Formen öffentlichen Austauschs stattfanden (siehe Bildteil, Tafel 6). Deshalb wäre es ein Fehler, Friedrich Hayek in seiner Vorstellung einer einfachen Dichotomie von Staat und Markt zu folgen. Und zwar nicht nur, weil der Staat den gesetzlichen Rahmen festlegt, in dem der Markt funktioniert, sondern auch, weil Märkte und Bürokratien, wie Max Boisot meinte, ebenso wie Clans oder Lehen selbst der Idealtypus von Netzwerken zum Informationsaustausch seien.7