Der falsche Krieg - Niall Ferguson - E-Book
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Niall Ferguson

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Beschreibung

Welche Faktoren haben 1914 den Zusammenbruch der europäischen Ordnung tatsächlich bewirkt? Wie wäre die Entwicklung verlaufen, wenn Großbritannien nicht in den Krieg eingetreten wäre? Niall Ferguson entwirft ein weitgefasstes Panorama des Krieges, verdeutlicht das komplexe Ursachengeflecht und rückt insbesondere die Kriegsschuldfrage in ein neues Licht. Auch die häufig vorgebrachte These von der »Unvermeidbarkeit« des Ersten Weltkrieges ist so nicht länger haltbar.

Ferguson geht sowohl mit der deutschen als auch mit der britischen Politik jener Zeit scharf ins Gericht: Auf beiden Seiten haben politisches Unvermögen, unverantwortlicher Ehrgeiz, katastrophale Fehleinschätzungen und der skrupellose Bruch internationalen Rechts zur »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« geführt, die Millionen Menschen das Leben kostete und in fataler Weise auf die weitere Geschichte Europas gewirkt hat.

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Niall Ferguson

Der falsche Krieg

Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert

Aus dem Englischen von Klaus Kochmann

Deutsche Verlags-AnstaltStuttgart

Die Originalausgabe erschien 1998unter dem Titel »The Pity of War« bei Allen Lane /The Penguin Press, LondonFür die deutsche Ausgabe wurde der Text leicht gekürzt und überarbeitet

Die Deutsche Bibliothek – CIP-EinheitsaufnahmeFerguson, Niall:

Der falsche Krieg : der Erste Weltkrieg und das

20. Jahrhundert / Niall Ferguson. Aus dem Engl. von Klaus Kochmann. – Text für die dt. Ausg. leicht gekürzt und überarb. – 2. Aufl.

Stuttgart : Deutsche Verlags-Anstalt, 1999

Einheitssacht.: The pity of war <dt.>

ISBN 3-421-05175-52. Auflage 1999

© 1998 Allen Lane

© 1999 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart

für die deutsche Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-11098-7

Inhalt

Einleitung

1 Die Mythen des Militarismus

2 Imperien, Bündnisse und das Vorkriegs-Appeasement

3 Großbritanniens Krieg der Illusionen

4 Waffen und Soldaten

5 Öffentliche Finanzen und nationale Sicherheit

6 Die letzten Tage der Menschheit: 28. Juni bis 4. August 1914

7 Augusttage: Mythos »Kriegsbegeisterung«

8 Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit: Der vergeudete Vorteil

9 Strategie, Taktik und Verluste

10 »Maximales Blutbad zu minimalen Kosten«: Kriegsfinanzierung

11 Der Todesinstinkt: Warum Soldaten kämpften

12 Kapitulation und Gefangennahme

Schluß

Anhang

Bibliographie

Personenregister

BILDTEIL

Einleitung

John Gilmour Ferguson war gerade 16 Jahre alt geworden, als der Erste Weltkrieg1 ausbrach. Der Werbesergeant glaubte ihm – oder wollte ihm glauben –, als er hinsichtlich seines Alters log, aber bevor die Formalitäten des Eintritts in die Armee geregelt werden konnten, tauchte die Mutter des jungen Mannes auf und schleifte ihn nach Haus. Falls der Junge aus dem schottischen Fife in diesem Moment fürchtete, daß er das Kriegsgeschehen nun nicht mehr miterleben werde, sollte sich diese Besorgnis jedoch als ungerechtfertigt herausstellen. Als er sich schließlich im nächsten Jahr den Streitkräften anschließen konnte, war bereits jeder Gedanke daran verschwunden, daß es sich hier um einen kurzen Krieg handeln würde. Nach den üblichen Monaten der Ausbildung schickte man ihn in die Schützengräben als gemeinen Soldaten (Personalnummer S/22933) im 2. Bataillon der Seaforth Highlanders, die zur 26. Brigade in der 9. Division der britischen Expeditionsstreitkräfte gehörten. Er war einer von 557618 Schotten, die während des Ersten Weltkriegs in die britische Armee eintraten. Von diesen verloren mehr als ein Viertel – 26,4 Prozent – ihr Leben. Nur die serbische und die türkische Armee mußten ebenso schwere Verluste hinnehmen.2 Aus meiner Sicht erfreulicherweise gehörte mein Großvater zu den glücklicheren 73,6 Prozent.

Über den Krieg meines Großvaters sind nicht viele Aufzeichnungen erhalten geblieben. Wie die überwältigende Mehrheit der Millionen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg kämpften, veröffentlichte er weder Gedichte noch Kriegserinnerungen. Auch seine Briefe in die Heimat sind nicht mehr vorhanden. Seine Dienstakte bleibt unauffindbar, und die Regimentsakten bieten nur die allerspärlichsten Informationen.3 Neben seinem Rang und seiner Personalnummer besteht das wenige anschauliche Material, über das ich verfüge, aus einer kleinen Schachtel mit einer winzigen Bibel, drei Orden und einigen wenigen Fotos von ihm in Uniform – auf diesen erscheint er als ein sehr versteinert dreinblickender Bursche mit einem Kilt. Der erste Orden, die British Medal, zeigt einen nackten Mann auf dem Rücken eines Pferdes. Hinter dem Reiter befindet sich die Jahreszahl 1914; und an den Nüstern des Rosses ist das traditionell als Kriegsende betrachtete Jahr 1918 verzeichnet. Unter den Hinterhufen des Tieres kann man einen Schädel sehen – der bald zerschmettert werden wird. Die andere Seite der Medaille erinnert lediglich an eine alte Münze. Sie trägt das gramvolle Profil des Königs und die Inschrift:

GEORGIUS V. BRITTONN. REX. ET. IND. IMP

Die Bildersprache der Victory Medal ist ebenfalls klassisch. Vorn sieht man einen geflügelten Engel, der einen Olivenzweig in der rechten Hand trägt und mit der linken winkt. Doch es ist nicht ganz deutlich, ob dieses Wesen die britische Frauenwelt versinnbildlicht, die den Überlebenden daheim willkommen heißt, oder den Todesengel repräsentiert, der zum Abschied grüßt. Die Inschrift auf der anderen Seite lautet (diesmal in englischer Sprache)

DER GROSSE KRIEG FÜR DIE ZIVILISATION 1914 bis 19194

Der dritte Orden, über den mein Großvater verfügte, war ein Eisernes Kreuz – ein Andenken, von einem toten oder gefangengenommenen Deutschen mitgenommen. Ich habe mich oft gefragt, wem diese Auszeichnung gehört haben mag – einem von zwei Millionen deutschen Soldaten, die den Krieg nicht überlebten.

Der Erste Weltkrieg wird heute in Deutschland und in Großbritannien mit anderen Augen gesehen. In Deutschland erscheint er als ein Ereignis, das von seinen eigenen Konsequenzen überschattet wird, und es hat daher seine historische Identität fast vollständig verloren. Und es gibt Anzeichen dafür, daß der Erste Weltkrieg von den deutschen Historikern als der Keim für die Novemberrevolution von 1918, für den Sturz der Weimarer Republik, den Aufstieg des Nationalsozialismus oder die Kriegsverbrechen des Dritten Reichs betrachtet wird.

Zwar handelt dieses Buch genausosehr von Deutschland wie von Großbritannien, und es verdankt tatsächlich vieles deutscher Gelehrtenarbeit, dennoch kommt der britischen Perspektive eine große Bedeutung zu. Es mag sich daher lohnen, dem deutschen Leser die ganz andersartige Bedeutung dieses Krieges für Großbritannien zu erklären, wo er in vielfacher Weise den Zweiten Weltkrieg im öffentlichen Bewußtsein in den Schatten stellt. Ich bezweifle zum Beispiel, ob viele deutsche Historiker behaupten können, sowohl mit ihrer Grundschule als auch mit ihrer Sekundarschule eine Kriegergedenkstätte besucht zu haben, die dem Andenken der Gefallenen des Ersten Weltkriegs gewidmet war. Genauso aber war es mit meiner Schule, der Glasgow Academy, die offiziell kurz nach dem Kriege in ein »lebendes« Kriegsdenkmal verwandelt wurde. Jeden Morgen war das erste, was ich sah, wenn ich mich der Schule näherte, eine blasse Granitplatte, die an der Ecke Great Western Road und Colebrooke Terrace stand, und sie trug die Namen früherer Schüler dieser Schule, die während des Krieges gefallen waren. Eine ähnliche »Ehrenliste« gab es in der zweiten Etage des Hauptgebäudes der Schule, eines höhlenartigen neoklassischen Gebäudes, und über all diesen Namen von Toten in Großbuchstaben befand sich die Inschrift, die ich als das Vaterunser kennenlernen sollte, das wir jeden Morgen gemeinsam murmelten, wenn wir uns versammelten:

SAY NOT THAT THE BRAVE DIE. [Laß nicht zu, daß die Tapferen sterben]5

Ich denke, mein erster ernsthafter historischer Gedanke war ein Einwand gegen jene unbeugsame Aufforderung zur Unterlassung. Aber sie waren doch gestorben. Warum sollte man dies leugnen?

Selbstverständlich sah ich im Fernsehen mehr über den Zweiten Weltkrieg. Aber vielleicht erschien mir gerade aus diesem Grund der Erste Weltkrieg als eine viel ernsthaftere Angelegenheit, noch bevor ich erfuhr, daß im Ersten Weltkrieg mehr als doppelt so viele Briten getötet worden waren als im Zweiten.6

Wie so viele britische Schulkinder meiner Generation wurde ich in einem sehr frühen Alter ( nämlich mit 14 Jahren) in die Dichtung von Wilfred Owen (1893–1918) eingeführt – sein »Dulce et decorum est«, das den »süßen Tod« fürs Vaterland als »alte Lüge« entlarvt, geht mir immer noch schneidend kalt durch den Kopf:

Gas! GAS! Quick boys! (…)

If you could hear, at every jolt, the blood

Come gargling from the froth-corrupted lungs,

Obscene as cancer, bitter as cud

Of vile, incurable sores on innocent tongues, –

My friend, you would not tell with such high zest

To children ardent for some desperat glory,

The old Lie. Dulce et decorum est

Pro patria mori.

[Gas! GAS! Schnell Jungs! (…)

Kommt gurgelnd aus den schaumverdorbenen Lungen;

Obszön wie Krebs, bitter wie Wiedergekäutes

Von abscheulichen Wunden auf unschuldigen Zungen, –

Mein Freund, du würdest nicht reden mit so hoher Begeisterung

zu Kindern, die glühen nach irgendeinem verzweifelten Ruhm,

Die alte Lüge: Dulce et decorum est

Pro patria mori:

– Süß und ehrenhaft ist es

für das Vaterland zu sterben.]

Siegfried Sassoons (1886–1967) »Memoirs of a Fox-Hunting Man« zählte zum Unterrichtsstoff in der fünften oder sechsten Klasse. Ich erinnere mich auch, Robert von Ranke-Graves (1895–1985) »Goodbye to All That« und Ernest Hemingways »Farewell to Arms« [deutsch: »In einem anderen Land«] gelesen zu haben; und ich habe eine recht gute, weil zurückhaltende Fernsehadaption von Vera Brittains »Testament of Youth« gesehen. Am Bildschirm lernte ich auch die Filmversionen von »Im Westen nichts Neues« kennen, meine erste Bekanntschaft mit der Erfahrung der Deutschen. Aber es war »Dulce et decorum est« – mit seiner pädagogischen Botschaft, so unverblümt vom Erstickungstod eines Knaben handelnd –, das mich prägte. Ich fand es seltsam, daß man von uns erwartete, dieses Gedicht am Morgen auswendig zu lernen, um danach die Uniform des Kadettenkorps anzuziehen und am gleichen Nachmittag in dieser Kluft auf dem Schulhof zu paradieren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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