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Toni Morrison

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Beschreibung

Eine Party in einem Mietshaus in der Lenox Avenue, Harlem, 1926: Die schwarzen Bewohner lassen sich mitreißen vom Hoffnungsrhythmus der Zeit, des "Jazz Age". Plötzlich ein Schuß - die sahnefarbene achtzehnjährige Schönheit Dorcas liegt tot in ihrem Blut. Der Mörder: Joe Spur, fünfzig, ihr Geliebter. Kein Wort davon zur Polizei - mehr als den Tod fürchtet man das "weiße" Gesetz. Vielmehr entsteht eine sonderbare Freundschaft zwischen Joes Frau Violet und der Adoptivmutter der Toten, eine Ehe lebt auf ... Ein erstaunlicher Roman über den düsteren Glanz der Leidenschaft.

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Seitenzahl: 345

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Toni Morrison

Jazz

Roman

Aus dem Englischen von Helga Pfetsch

Über dieses Buch

Eine Party in einem Mietshaus in der Lenox Avenue, Harlem, 1926: Die schwarzen Bewohner lassen sich mitreißen vom Hoffnungsrhythmus der Zeit, des «Jazz Age». Plötzlich ein Schuss – die sahnefarbene achtzehnjährige Schönheit Dorcas liegt tot in ihrem Blut. Der Mörder: Joe Spur, fünfzig, ihr Geliebter. Kein Wort davon zur Polizei – mehr als den Tod fürchtet man das «weiße» Gesetz. Vielmehr entsteht eine sonderbare Freundschaft zwischen Joes Frau Violet und der Adoptivmutter der Toten, eine Ehe lebt auf ... Ein erstaunlicher Roman über den düsteren Glanz der Leidenschaft.

 

«Toni Morrison ist die furiose Epikerin des schwarzen Amerika.» Frankfurter Allgemeine Zeitung

Vita

Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied» «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.

Für RW und George

Ich bin der Name des Klangs

und der Klang des Namens.

Ich bin das Zeichen des Buchstaben

und die Bedeutung der Teilung.

«Donner, Vollendetes Denken»

Aus dem Nag Hammadi

PFH, DIE FRAU, die kenne ich. Die hat immer mit einer Schar Vögel in der Lenox Avenue gewohnt. Ihren Mann kenne ich auch. Der ist einer Achtzehnjährigen verfallen, mit so einer tiefen und schaurigen Liebe, die ihn dermaßen traurig und glücklich gemacht hat, daß er sie erschoß, nur damit das Gefühl anhielt. Als die Frau, Violet heißt sie, zur Beerdigung ging, um das Mädchen zu sehen und ihr das totenstarre Gesicht zu zerschneiden, warf man sie erst zu Boden und dann aus der Kirche. Da lief sie durch den ganzen Schnee, und als sie zurück in ihre Wohnung kam, hat sie die Vögel aus dem Käfig geholt und vors Fenster gesetzt – erfriert oder fliegt –, mitsamt dem Papagei, der immer gesagt hat: «Ich liebe dich.»

Der Schnee, durch den sie lief, war so schnell verweht, daß keine Fußspuren blieben, drum hat eine Weile keiner genau gewußt, wo in der Lenox Avenue sie wohnte. Aber wie ich wußten alle, wer sie war, wer sie sein mußte, weil sie wußten, daß ihr Mann Joe Spur der war, der das Mädchen erschossen hatte. Keiner hat ihn je angezeigt, weil niemand so richtig gesehen hat, wie er's tat, und weil die Tante des toten Mädchens ihr Geld keinen hilflosen Anwälten oder sich ins Fäustchen lachenden Polizisten hinwerfen wollte, wo sie doch wußte, daß die Ausgabe auch nichts mehr retten konnte. Außerdem kam ihr zu Ohren, daß der Mann, der ihre Nichte umgebracht hatte, den ganzen Tag heulte, und für ihn und für Violet ist das genauso schlimm wie das Kittchen.

Trotz des Leids, das Violet verursacht hat, fiel ihr Name beim Januartreffen des Frauenclubs Salem als der einer Hilfsbedürftigen, wurde dann aber niedergestimmt, weil jetzt nur noch Beten – nicht Geld – ihr helfen konnte, denn schließlich hatte sie einen mehr oder minder erwerbsfähigen Ehemann (der endlich aufhören sollte, sich zu bejammern), und weil ein Mann und seine Familie in der 134th Street bei einem Brand alles verloren hatten. Der Club entschloß sich, der ausgebrannten Familie zu Hilfe zu kommen, und ließ Violet selbst rausfinden, was los war und wie es in Ordnung gebracht werden konnte.

Fürchterlich dünn ist sie, die Violet; fünfzig, sah aber noch gut aus, als sie da in die Beerdigung geplatzt ist. Man sollte ja meinen, so ein Rausschmiß aus der Kirche, das wäre das Ende – die Schande und alles –, aber so war es nicht. Violet war frech und hübsch genug, um auf die Idee zu kommen, daß sie Joe auch ohne üppige Hüften und Jugendschmelz bestrafen konnte, wenn sie sich ihrerseits einen Freund anlachte und ihn bei sich daheim empfing. Sie dachte, das würde Joes Tränen trocknen und ihr selbst Genugtuung geben. Es hätte wohl auch funktionieren können, nur sind die Kinder von Selbstmördern eben schwer zufriedenzustellen und glauben rasch, daß keiner sie liebt, weil sie sowieso nicht richtig da sind.

Jedenfalls schenkte Joe weder Violet noch ihrem Freund Beachtung. Ob sie dem Freund den Laufpaß gab oder er sie verließ, kann ich nicht sagen. Ihm mag das Gefühl gekommen sein, daß Violets Gaben armselig waren, gemessen an seinem Mitgefühl mit dem verzweifelten Mann im Zimmer nebenan. Ich weiß nur, die Geschichte ging keine zwei Wochen. Violets nächster Plan – sich wieder in ihren Mann zu verlieben – setzte ihr schon zu sehr zu, bevor er überhaupt Hand und Fuß hatte. Ihm seine Taschentücher zu waschen und Essen auf den Tisch zu stellen war das Äußerste, was sie schaffte. Ein vergiftetes Schweigen zog sich durch die Zimmer wie ein riesiges Fischernetz, das nur Violet mit lauten Anschuldigungen zerschnitt. Joes Teilnahmslosigkeit bei Tag und beider qualvolle Nächte müssen sie zermürbt haben. Also beschloß sie, ihre Liebe – oder jedenfalls ihr Interesse – der Achtzehnjährigen zu schenken, deren sahneweiches Gesicht sie aufzuschlitzen versucht hatte, obgleich da nichts weiter ans Licht gekommen wäre als Stroh.

Erst wußte Violet nichts über das Mädchen außer dem Namen, dem Alter und daß man in dem staatlich zugelassenen Friseursalon große Stücke auf sie hielt. Dann begann sie, die restlichen Informationen zusammenzuholen. Vielleicht hat sie geglaubt, so das Rätsel der Liebe lösen zu können? Na dann viel Glück!

Sie fragte alle aus, angefangen mit Malvonne, einer Hausbewohnerin im Stockwerk drüber – die Frau, die ihr Joes Schweinereien entdeckt hatte und deren Wohnung er und das Mädel als Liebesnest benutzten. Von Malvonne erfuhr sie die Adresse des Mädchens und wessen Kind sie war. Von den staatlich zugelassenen Friseusen bekam sie gesteckt, welches Lippenrouge das Mädchen trug, welches Onduliereisen sie bei ihr benutzt hatten (obwohl ich den Verdacht habe, daß das Mädchen ihr Haar gar nicht zu entkrausen brauchte) und welche Band sie am liebsten mochte (Slim Bates' Ebony Keys, die nicht schlecht sind, ausgenommen die Sängerin, die muß Slims Freundin sein, wieso würde er sie sonst seine Band runtermachen lassen). Und als die Friseusen ihr zeigten wie, da probierte Violet sogar die Tanzschritte aus, die das tote Mädchen gekonnt hatte. Wirklich! Als sie die Schritte aufs i-Tüpfelchen raushatte – Knie so und nicht anders –, da empörten sich alle über sie, ihr Exfreund eingeschlossen, und ich versteh auch warum. Es war, als ob man einer alten Taube auf der Straße zuguckt, wie sie an einer Sardinenbrotrinde pickt, die die Katzen liegengelassen haben. Aber Violet war nun mal hartnäckig, und kein dummer Spruch und kein böser Blick konnten sie bremsen. Sie spukte in der Public School 89 herum, um mit Lehrern zu sprechen, die das Mädchen kannten. Und auch in der Junior High 139, denn da war das Mädchen hingegangen, bis sie dann rüber nach Wadleigh tippeln mußte, weil es in ihrem Bezirk keine High-School gab, auf die ein farbiges Mädchen gehen konnte. Und lange belästigte sie die Tante des Mädchens, eine feine Frau, die gelegentlich im Garment District gute Arbeit hatte, bis die Tante ihren Widerstand aufgab und sich sogar auf Violets Besuche zu einem Schwatz über die ungezogene Jugend zu freuen begann. Die Tante zeigte Violet all die Besitztümer des toten Mädchens, und Violet wurde klar (was auch ich schon wußte), daß diese Nichte so dickköpfig wie verschlagen gewesen war.

Besonders einen Gegenstand zeigte ihr die Tante und überließ ihn ihr dann auch für ein paar Wochen, nämlich ein Bild vom Gesicht des toten Mädchens. Ohne Lächeln, aber wenigstens lebendig und sehr dreist. Violet hatte Nerven genug, es daheim in ihrer Stube auf den Kaminsims zu stellen, und beide, sie und Joe, betrachteten es fassungslos.

Es versprach ein mächtig trübseliges Leben zu werden, wo doch die Vögel alle fort waren und die beiden sich den lieben langen Tag lang die Wangen wischten, aber als der Frühling in die Stadt kam, sah Violet ein zweites Mädchen mit vier ondulierten Wellen an beiden Schläfen das Haus betreten, eine Okeh-Platte unterm Arm und eine Portion in Fleischerpapier gewickeltes Siedfleisch in der Hand. Violet bat sie herein, um die Platte zu begutachten, und so fing es mit dem schockierenden Trio in der Lenox Avenue an. Was sich dann allerdings anders entwickelte, war, wer wen erschoß.

Ich bin verrückt nach dieser Stadt.

Tageslicht fällt schräg und scharf ein wie eine Rasierklinge und schneidet die Häuser entzwei. In der oberen Hälfte sehe ich herunterschauende Gesichter, und es ist nicht leicht zu erkennen, was Mensch ist und was die Arbeit von Steinmetzen. Drunter ist Schatten, und dort spielt sich alles Überkandidelte ab: Klarinettenklang und Liebe, Faustkämpfe und die Stimmen bekümmerter Frauen. Eine Stadt wie diese läßt mich beflügelt träumen und tief in die Dinge hineinfühlen. Sie ist hip. Das macht der leuchtende Stahl, der sich über dem Schatten unten wiegt. Wenn ich über grüne, den Fluß säumende Grasstreifen blicke, Kirchtürme hinaufschaue und in die creme- und kupferfarbenen Flure von Mietshäusern sehe, dann bin ich stark. Allein zwar, aber obenauf und unzerstörbar – wie die Stadt selbst im Jahre 1926, als alle Kriege vorbei sind und nie wieder einer kommen wird. Die Leute da unten im Schatten sind glücklich darüber. Endlich, endlich liegt alles vor ihnen. Kluge Köpfe sagen das, und die Leute, die ihnen zuhören und lesen, was sie schreiben, stimmen zu: Hier kommt das Neue. Aufgepaßt. Dahin ist alles Traurige. Und Schaurige. Das, was keiner ändern konnte. Was alle damals und dort waren. Vergiß es. Die Geschichte ist vorbei, hörst du, und alles liegt endlich vor uns. In Hallen und Büros sitzen Leute und denken nach vorn, denken an Bauten und Brücken und schnelltickende Züge darunter. A & P stellt einen Farbigen ein. Frauen mit kräftigen Beinen und rosa Katzenzungen rollen Geld zu grünen Bündeln für später; dann legen sie einander lachend die Arme um. Anwohner stellen Diebe in Gassen zwecks rascher Vergeltung, und wenn einer dumm ist und falsch gestohlen hat, stellen ihn auch die Diebe. Ganoven verteilen Geschenke, tun ihr Bestes, um interessant zu bleiben, und da man um des Kitzels willen auf sie schaut, achten sie auf ihre Kleidung und den Wortlaut ihrer Beleidigungen. Keiner landet gern als Notfall im Harlemer Krankenhaus, aber wenn der Negerchirurg Visite macht, mildert Stolz die Schmerzen. Und obwohl das Haar der ersten ausgebildeten farbigen Krankenschwestern als unschicklich für das offizielle Bellevue-Schwesternhäubchen erklärt wurde, gibt es inzwischen fünfunddreißig – alle hingebungsvoll und hervorragend in ihrem Beruf.

Keiner sagt, daß es hier schön ist; es sagt auch keiner, daß es leicht ist. Eindeutig ist es, und wenn du auf den Stadtplan achtest, der so schön ausgebreitet daliegt, dann kann die Stadt dir nichts anhaben.

Ich bin nicht muskulös, drum kann im Grunde keiner von mir erwarten, daß ich mich selbst verteidige. Aber ich weiß wohl, wie man vorbeugt. Vor allem sorge ich dafür, daß keiner alles weiß, was es über mich zu wissen gibt. Zweitens beobachte ich alles und jeden und versuche, seine Pläne und Gedanken zu enträtseln, lange bevor er selbst es tut. Man muß verstehen, was das bedeutet, es mit einer großen Stadt aufzunehmen: ich bin allen möglichen Arten von Dummheit und Verbrechen ausgesetzt. Und doch ist dies das einzige Leben für mich. Ich mag es, wie die Stadt die Leute glauben macht, sie könnten ungeschoren tun, was sie wollen. Ich sehe sie überall: reiche Weiße und auch unscheinbare drängen sich in neu und wieder neu eingerichteten Villen von schwarzen Frauen, die reicher sind als sie, und beide Parteien freuen sich am Schauspiel der anderen. Ich sehe die Augen schwarzer Juden, randvoll mit Mitleid für alle außer ihnen selbst, über die Lebensmittelstände und die Fesseln leichter Mädchen schweifen, während eine Brise die weißen Federn auf den Helmen der UNIA-Männer bewegt. Ein Farbiger schwebt Saxophon blasend aus dem Himmel herunter, und unter ihm, zwischen zwei Gebäuden, redet ein Mädchen ernst auf einen Mann mit Strohhut ein. Er berührt ihre Lippe, um dort etwas wegzuwischen. Plötzlich ist sie still. Er hebt ihr Kinn. Sie stehen da. Ihr Griff um die Handtasche wird lockerer, und ihr Hals bildet eine hübsche Kurve. Der Mann legt die Hand an die Steinmauer über ihrem Kopf. Daran, wie sich sein Unterkiefer bewegt und wie er den Kopf wendet, sehe ich, daß er eine goldene Zunge hat. Die Sonne kriecht in die Gasse hinter ihnen. Sie ist hübsch anzusehen auf ihrem Weg nach unten.

Tu, was dir paßt in der Stadt, sie ist da, um Hintergrund und Rahmen für dich zu sein, gleich was du tust. Und was sich vor den Häuserzeilen und auf den Grundstücken und Seitenstraßen abspielt, ist all das, was sich Starke ausdenken können und Schwache bewundern werden. Du mußt nur auf das Muster achten, darauf, wie es rechtwinklig für dich ausgebreitet daliegt: umsichtig bedenkend, wo du hingehen willst und was du morgen womöglich brauchst.

Ich habe lange Zeit vielleicht zu sehr in meinen eigenen Gedanken gelebt. Die Leute sagen, ich sollte mehr aus mir herausgehen. Mit anderen zusammenkommen. Ich gebe zu, ich kapsele manches in mir ab, aber wenn man wie ich im Stich gelassen wurde, während dein Liebster eine Verabredung überzieht oder dir verspricht, sich nach dem Abendessen ganz dir zu widmen, aber dann einschläft, kaum daß du zu sprechen begonnen hast – nun, das kann einen schon ungastlich machen, wenn man nicht aufpaßt, und das wäre das letzte, was ich wollte.

Gastlichkeit ist Gold in dieser Stadt; aber man muß schlau sein, um herauszufinden, wie man einladend und zugleich abweisend sein kann. Wann man etwas lieben darf und wann man lieber losläßt. Wenn man das nicht weiß, passiert es am Ende, daß man die Kontrolle verliert oder von außen kontrolliert wird wie in diesem schlimmen Fall letzten Winter. Es wurde gemunkelt, daß bei all dem Amüsement und leichtverdienten Geld etwas Böses durch die Straßen ging und nichts sicher war – nicht einmal die Toten. Beweis: Violets offene Attacke auf den Gegenstand einer Trauerfeier. Kaum drei Tage ins Jahr 1926 hinein. Scharen nachdenklicher Menschen betrachteten die Zeichen (das Wetter, die Lottozahl, ihre Träume) und glaubten, es wäre der Beginn von allerlei Zerstörerischem. Der Skandal wäre eine Botschaft, gesandt, um die Guten zu warnen und die Ungläubigen aufzurütteln. Ich weiß nicht, wer da ehrgeiziger war – die Weltuntergangspropheten oder Violet –, aber es ist eben schwer, den hohen Erwartungen von Abergläubischen gerecht zu werden.

 

Der Waffenstillstand war sieben Jahre alt in jenem Winter, als Violet in die Beerdigung platzte, und die Veteranen auf der Seventh Avenue trugen noch ihre Armeemäntel, weil nichts, was sie bezahlen können, so robust ist und das, womit sie 1919 geprahlt haben, so gut verbirgt. Sieben Jahre später also, am Tag vor Violets Missetat, als der Schnee kommt, da bleibt er liegen, wo er auf die Lexington und auch die Park Avenue fällt, und wartet auf Pferdewagen, die ihn feststampfen, wenn sie Kohle für die Heizkessel liefern, die in den Kellern schon auskühlen. Oben in den großen fünfstöckigen Mietshäusern und den schmalen Holzhäuschen dazwischen klopfen die Menschen beieinander an die Tür, um zu sehen, ob etwas gebraucht wird oder zu haben ist. Ein Stück Seife? Ein wenig Kerosin? Ein bißchen Fett vom Huhn oder Schwein, um die Suppe noch einmal zu verlängern? Wessen Ehemann macht sich fertig, um nachzusehen, ob er einen offenen Laden findet? Ist noch Zeit, Terpentin auf die Liste zu setzen, die die Ehefrauen geschrieben und ihm gegeben haben?

Das Atmen tut weh bei so kaltem Wetter, aber egal, welche Probleme sich daraus ergeben, in der Stadt vom Winter umfangen zu sein, sie nehmen sie in Kauf, denn es wiegt alles auf, in der Lenox Avenue zu leben, sicher vor den Weißen und dem, was sie aushecken mögen; wo die Trottoirs, ob schneebedeckt oder nicht, breiter sind als die Hauptstraßen der Städtchen, in denen sie geboren wurden, und ganz normale Leute sich an eine Haltestelle stellen können, in die Straßenbahn einsteigen, dem Mann einen Nickel geben und hinfahren, wo es ihnen gefällt, obwohl es ihnen nicht gefällt, viel herumzufahren, denn alles, was sie brauchen, ist an Ort und Stelle: die Kirche, der Laden, das Tanzfest, die Frauen, die Männer, der Briefkasten (aber keine High-School), das Möbelgeschäft, Zeitungsverkäufer auf der Straße, die Kneipen mit Schwarzbrand (aber keine Bank), die Friseursalons, die Barbiere, die Bumslokale, die Eiswagen, die Lumpensammler, die Billardhallen, die Lebensmittelmärkte, die Lottoannahme und alle erdenklichen Clubs, Organisationen, Gruppen, Orden, Vereinigungen, Gesellschaften, Bruderschaften, Schwesternschaften oder Verbindungen. Diese Pfade sind natürlich ausgetreten, und es gibt auch Wege, die sind schlüpfrig von den Ausflügen von Mitgliedern einer Gruppe auf das Gebiet einer anderen, weil man denkt, daß es dort etwas Kurioses oder Aufregendes zu sehen gibt. Irgend etwas Schillerndes, Knisterndes, Erschreckendes. Wo man den Korken knallen lassen und den kalten Glasmund gleich an den eigenen legen kann. Wo man Gefahr finden oder selbst eine darstellen kann; wo man kämpfen kann bis zum Umfallen und das Messer anlächeln, wenn es sein Ziel verfehlt oder auch nicht. Da wird dir ganz wunderbar zumute, nur vom Zusehen. Und ebenso wunderbar ist es zu wissen, daß daheim im eigenen Haus die Ehefrauen Listen erstellen für die Männer, die auf dem Markt draußen herumstöbern, und daß Bettlaken, die im Schneetreiben unmöglich im Freien aufzuhängen sind, Küchen schmücken wie Vorhänge die Sonntagsschulaufführungen der Abyssinian Church.

Die Jungen sind hier nicht so jung, und es gibt praktisch kein mittleres Lebensalter. Sechzig Jahre, oder auch nur vierzig, ist das höchste, was jemand sich aufbürden lassen mag. Wenn sie die erreichen oder gar steinalt werden, sitzen sie da und betrachten die Vorgänge wie ein samstägliches Kinoprogramm, drei Filme für einen Fünfer. Ansonsten sind sie im Nu dabei, sich in die Angelegenheiten von Leuten einzumischen, an deren Namen sie sich nicht einmal erinnern können und deren Angelegenheiten sie nichts angehen. Nur um sich reden zu hören und um des Vergnügens willen, die kummervollen Gesichter der Zuhörer zu beobachten. Ich kenne ein paar Ausnahmen. Einige Alte, die Kinder nicht schon deshalb geschlagen haben, weil sie sich dazu anboten; die ihre Kraft für den Fall aufsparten, daß sie für etwas Wichtiges gebraucht würde. Für ein letztes Liebeswerben voller Lächeln und kleiner Geschenke. Oder die hingebungsvolle Pflege eines alten Freundes, der ohne sie vielleicht nicht überlebt hätte. Manchmal beschränkten sie sich darauf, dafür zu sorgen, daß der Mensch, mit dem sie ihr langes Leben teilten, fröhliche Gesellschaft hatte und alles Notwendige für die Nacht.

Aber droben in der Lenox, in Violet und Joe Spurs Wohnung, gleichen die Zimmer den leeren, mit Stoff zugedeckten Vogelkäfigen. Und das Gesicht eines toten Mädchens ist etwas Notwendiges für die Nacht geworden. Abwechselnd schlagen sie die Bettdecke zurück, stehen von der durchgelegenen Matratze auf und schleichen auf Zehenspitzen über das kalte Linoleum in die Stube, um zu betrachten, was wie das einzig Lebendige im Hause wirkt: das Photo eines dreisten, nicht lächelnden Mädchens, das vom Kaminsims herunterschaut. Wenn der Zehenspitzenschleicher Joe Spur ist, den die Einsamkeit von der Seite seiner Frau vertreibt, dann starrt ihn das Gesicht ohne Hoffnung oder Bedauern an, und es ist das Fehlen jeden Vorwurfs, das ihn aus dem Schlaf weckt, hungrig nach ihrer Gesellschaft. Kein Finger deutet. Ihre Lippen ziehen sich nicht abschätzig herab. Ihr Gesicht ist ruhig, edel und lieb. Aber wenn Violet die Zehenspitzenschleicherin ist, dann ist das Photo nichts davon. Dann sieht das Gesicht des Mädchens gierig, hochmütig und sehr faul aus. Das Sahneschicht-auf-dem-Milcheimer-Gesicht von einer, die nie für etwas arbeiten wird; einer, die mitgehen läßt, was auf fremden Toilettentischen liegt, und nicht verlegen ist, wenn es entdeckt wird. Es ist das Gesicht einer Heimlichtuerin, die sich an deine Spüle schleicht, um die Gabel abzuwaschen, die du ihr neben den Teller gelegt hast. Ein nach innen gewandtes Gesicht – es sieht nur sich selbst. Du bist da, sagt es, weil ich dich ansehe.

Zwei- oder dreimal in der Nacht sagt einer, während sie sich abwechselnd das Bild anschauen gehen, ihren Namen. Dorcas? Dorcas. Die dunklen Zimmer werden dunkler, in der Stube braucht es ein angestrichenes Streichholz, damit man das Gesicht erkennt. Daneben sind das Eßzimmer, zwei Schlafzimmer, die Küche – alle gehen auf den Innenhof hinaus, so daß den Fenstern der Wohnung das Mond- oder Laternenlicht verwehrt bleibt. Im Bad ist das beste Licht, weil es neben der Küche nach draußen vorkragt und die Nachmittagssonne einfängt. Violet und Joe haben ihre Möbel auf eine Art angeordnet, die einen vielleicht nicht gerade an die Zimmer im Modern Homemaker erinnert, aber den Gewohnheiten des Körpers entspricht, dem, wie man sich ohne irgendwo anzustoßen von einem Zimmer ins andere bewegt, und dem, was man möchte, wenn man sich setzt. Manche Leute stellen ja einen Tisch oder Stuhl in eine Ecke, wo er zwar hübsch aussieht, aber kein Mensch je hingehen, geschweige denn sich setzen würde. Das hat Violet in ihrer Wohnung nicht so gemacht. Alles steht da, wo man es gern hätte oder es brauchen und benützen kann. Drum gibt es etwa im Eßzimmer keinen Eßtisch mit Stühlen wie in einem Bestattungsinstitut. Sondern es stehen große tiefe Sessel am Fenster und ein Kartentisch mit Drachenbäumen, Jade- und Doktorpflanzen drauf, bis sie Leute zum Kartenspiel einladen oder zu zweit Mau-Mau spielen wollen. Die Küche ist geräumig genug, daß vier Leute dort essen können oder eine Kundin genug Platz für die Beine hat, während Violet ihr das Haar richtet. Das Zimmer nach vorn, also die Stube, ist auch nicht damit verschwendet, daß sie auf einen würdigen Hochzeitsempfang wartet. Dort stehen Vogelkäfige und Spiegel, in denen die Vögel sich anschauen können, nur sind natürlich keine Vögel mehr drin, weil Violet sie ja an dem Tag freigelassen hat, als sie mit dem Messer zu Dorcas' Beerdigung ging. Jetzt stehen nur leere Käfige herum, und die einsamen Spiegel erwidern ihren Blick. Sonst gibt es noch ein Sofa, ein paar geschnitzte Holzstühle mit kleinen Tischchen daneben, damit man die Kaffeetasse oder ein Schälchen Eis vor sich abstellen oder, wenn man Zeitung lesen will, es gut tun kann, ohne die Kniffe falsch zu falten. Auf dem Kaminsims lagen früher Muscheln und Steine in schönen Farben, aber das ist jetzt alles weg, und nur das Bild von Dorcas Manfred steht in einem Silberrahmen dort und weckt sie die liebe lange Nacht.

Nach solch unruhigen Nächten verschlafen sie morgens, und Violet muß sich beeilen, um das Essen vorzubereiten, bevor sie sich für ihre Runde fertigmacht. Da sie zwar ein Händchen dafür hat, aber keine richtige Ausbildung und keine Arbeitserlaubnis, kann Violet ohnehin nur fünfundzwanzig oder fünfzig Cents verlangen, aber seit der Geschichte bei Dorcas' Beerdigung haben viele Stammkunden einen Grund gefunden, sich das Haar selbst zu entkrausen oder sich von einer ihrer Töchter die Eisen erhitzen zu lassen. Früher brauchten Violet und Joe Spur das Taschengeld vom Frisieren nicht, aber jetzt, wo Joe ganze Arbeitstage ausläßt, trägt Violet mehr und mehr ihr Handwerkszeug und ihr Können in überhitzte Wohnungen von Frauen, die erst mittags aufwachen, sich Gin in den Tee schütten und sich nicht darum scheren, was sie getan hat. Diese Frauen brauchen immer jemanden, der ihnen das Haar richtet, und manchmal verdunkelt Mitleid ihre glänzenden Augen, und sie geben ihr einen ganzen Dollar Trinkgeld.

«Du mußt was essen», sagt eine zu ihr. «Oder willst du so dünn werden wie deine Brennschere?»

«Halt den Mund», sagt Violet.

«Ich mein es ernst», sagt die Frau. Sie ist noch schläfrig und stützt die Wange in die linke Hand, während sie sich mit der rechten das Ohr hält. «Die Männer verschleißen dich zu einem scharfen Stückchen Knorpel, wenn du sie läßt.»

«Die Frauen», antwortet Violet. «Die Frauen verschleißen mich. Mich hat kein Mann je verschlissen. Diese hungrigen kleinen Mädchen, die Frau spielen, die sind's. Geben sich nicht mit gleichaltrigen Jungs zufrieden, nein, sie wollen einen, der alt genug ist, ihr Vater zu sein. Laufen powackelnd rum, mit Lippenstift, durchsichtigen Strümpfen, Kleider bis hoch zur Na-du-weißt-schon ...»

«Das ist mein Ohr, Mädel! Willst du das auch entkrausen?»

«Verzeihung. Tut mir leid. Wahnsinnig leid.» Und Violet unterbricht, um sich zu schneuzen und mit dem Handrücken Tränen abzuwischen.

«Ach was, zum Teufel», seufzt die Frau und nutzt die Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden. «Jetzt tischst du mir bestimmt gleich so eine gräßliche Geschichte auf, daß ein junges Mädel dich ins Unglück gestürzt hat und ihn keine Schuld trifft, weil er ja nur die Straße runtergelaufen ist und an nichts Böses gedacht hat, und da hat sich diese kleine Möse an ihn gehängt und ihn in ihr Bett gezerrt. Spar dir die Puste. Die brauchst du noch auf dem Sterbebett.»

«Ich brauch sie aber jetzt.» Violet probiert den Brennkamm. Er sengt einen langen braunen Finger in die Zeitung.

«Ist er ausgezogen? Wohnt er bei ihr?»

«Nein. Wir sind noch zusammen. Sie ist tot.»

«Tot? Was willst du dann noch?»

«Er denkt dauernd an sie. Hat nichts als sie im Kopf. Arbeitet nicht. Schläft nicht. Trauert Tag und Nacht ...»

«Oh», sagt die Frau. Sie klopft die Asche von ihrer Zigarette, zupft die Spitze ab und legt die Kippe sorgfältig in den Aschenbecher. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und drückt mit zwei Fingern den Rand ihres Ohres. «Dann sieht's bös aus», sagt sie und gähnt. «Ganz schön bös. Mit der Liebe von Toten kannst du nicht mithalten. Ziehst immer den kürzeren.»

Violet stimmt zu, so muß es wohl sein; nicht nur verliert sie Joe an ein totes Mädchen, am Ende verliebt sie sich selbst noch in sie. Wenn sie nicht gerade versucht, Joe zu demütigen, bewundert sie das Haar der Toten; wenn sie Joe nicht gerade mit immer neuen Flüchen überhäuft, führt sie flüsternd Gespräche mit der Leiche in ihrem Kopf; wenn sie sich nicht gerade wegen seiner Appetitlosigkeit, seiner Schlaflosigkeit sorgt, überlegt sie, welche Farbe Dorcas' Augen wohl hatten. Ihre Tante hat gesagt braun; die Friseusen meinten schwarz, aber Violet hat noch nie einen so hellhäutigen Menschen mit kohlschwarzen Augen gesehen. Eins ist schon mal sicher. Die Haarspitzen hätten gestutzt gehört. Dem Photo und auch Violets Erinnerungen vom Sarg nach hätten dem Mädchen die Spitzen gestutzt gehört. So langes Haar spaltet sich leicht. Ein halber Zentimeter abgeschnitten hätte schon Wunder gewirkt, Dorcas. Dorcas.

Violet verläßt das Haus der schläfrigen Frau. Der Schneematsch am Rinnstein gefriert wieder, und obwohl sie noch sieben eisige Querstraßen weiter muß, ist sie dankbar, daß die Kundin, die zum Haarerichten zu ihr in die Küche kommt, erst für drei Uhr angemeldet ist und vorher noch Zeit für ein wenig Hausarbeit bleibt. Für irgendeine Angelegenheit, die erledigt werden muß, weil es unmöglich ist, nichts zu tun zu haben, keine laufenden Besorgungen, keine Liste von Aufgaben. Sie würde vielleicht die Hände ringen oder zittern, wenn sie nicht an irgend etwas Hand anlegen kann und danach schon gleich die nächste Hausarbeit wartet. Sie macht Feuer im Herd, damit die Küche warm wird. Und während sie den Kragen eines weißen Hemds einsprengt, ist sie mit den Gedanken schon unten am Bett, wo der vom Rahmen abgebrochene Pfosten so stark zersplittert ist, daß man ihn nicht einfach wieder annageln kann. Als die Kundin kommt und Violet der alten Frau die Haare einschäumt und bei passenden Pausen im Strom von deren vertraulichen Mitteilungen «Barmherziger» murmelt, befestigt sie schon die Schnur neu, die die Herdklappe in der Angel hält, und übt die monatliche Bitte um drei weitere Tage Aufschub an den Mieteneintreiber. Sie glaubt, sie sehnt sich nach einer Ruhepause, nach einem sorglosen Nachmittag, an dem sie plötzlich beschließen kann, ins Kino zu gehen, oder einfach nur zwischen den Vogelkäfigen sitzen und den Kindern beim Spiel im Schnee zuhören.

Dieser Gedanke an Ruhe ist verlockend für sie, aber ich glaube nicht, daß sie ihr behagen würde. Sie sind alle so, diese Frauen. Warten auf den Frieden, auf die Zeit, die mit nichts anderem gefüllt zu werden braucht als ihrem eigenen Gedankenfluß. Aber sie würde ihnen nicht behagen. Sie sind geschäftig und denken darüber nach, wie sie noch geschäftiger werden können, denn so eine Zeit mit nichts Dringendem zu tun würde sie umwerfen. Keine Wiesen voller Schlüsselblumen werden diese Lücke füllen und auch keine Vormittage frei von Fliegen und Hitze, wenn das Licht noch scheu ist. Nein. Keineswegs. Sie füllen sich Kopf und Hände mit Seife und Reparaturen und scharfen Auseinandersetzungen, denn was auf sie wartet in so einem plötzlichen Augenblick der Muße, ist die durchsickernde Wut. Rotglühend. Dick und schwerflüssig. Aufmerksam und wählerisch darin, was sie auf ihrem Weg zu begraben gedenkt. Oder es nistet sich flugs und von der Seite unter der Brust ein Kummer ein, und sie wissen nicht woher. Eine Nachbarin bringt die Rolle Garn zurück, die sie geborgt hat, und nicht nur den Faden, sondern dazu eine besonders lange Nadel, und beide stehen einen Augenblick lang in der Tür, während die Borgerin der Leiherin ein witziges Gespräch wiederholt, das sie mit der Frau ein Stockwerk tiefer geführt hat; es ist wirklich lustig, und sie lachen – die eine laut, wobei sie sich die Stirn hält, die andere so sehr, daß ihr der Bauch weh tut. Die Leiherin schließt die Tür, hebt später, noch immer lächelnd, den Aufschlag ihres Pullovers an die Augen, um die Spuren des Gelächters abzuwischen, und läßt sich dann jäh auf die Sofalehne sinken, denn die Tränen kommen so schnell, daß sie zwei Hände braucht, um sie aufzufangen.

Also feuchtet Violet die Kragen und Manschetten an. Schäumt dann von ganzem Herzen diese paar Gramm graues Haar ein, das weich und interessant ist wie das eines Babys.

Anders als das Babyhaar, das ihre Großmutter eingeseift und gestreichelt und dann vierzig Jahre in Erinnerung behalten hat. Das Haar des kleinen Jungen, das ihm seinen Namen gab. Vielleicht ist Violet deshalb Friseuse – wegen all der Jahre, in denen sie Geschichten von Baltimore lauschte, die ihre zur Rettung herbeigeeilte Großmutter True Belle erzählte. Die Jahre mit Miss Vera Louise in dem vornehmen Steinhaus in der Edison Street, wo das Bettzeug mit blauem Garn bestickt war und es nichts anderes zu tun gab, als den blonden Knaben großzuziehen und zu bewundern, der dann weglief und ihnen sein sorgsam geliebtes Haar entzog.

Die Leute waren wütend, als Violet in die Beerdigung platzte, aber ich kann nicht glauben, daß sie überrascht waren. Lang, lang vorher, lange bevor Joe das Mädchen zu Gesicht bekam, setzte Violet sich mitten auf der Straße hin. Sie stolperte nicht und wurde auch nicht gestoßen : sie setzte sich einfach hin. Nach ein paar Minuten näherten sich ihr zwei Männer und eine Frau, aber sie konnte nicht ausmachen warum oder was sie sagten. Jemand versuchte ihr Wasser zu trinken zu geben, aber sie stieß es fort. Ein Polizist kniete sich vor sie, und sie drehte sich zur Seite und hielt sich die Augen zu. Er hätte sie abgeführt, wenn die zusammenlaufende Menge nicht gemurmelt hätte: «Ach, sie ist müde. Laß sie ausruhen.» Sie trugen sie zu den nächsten Stufen. Langsam berappelte sie sich, klopfte sich den Staub von den Kleidern und kam eine Stunde zu spät zu ihrem Termin, was die trägen Huren freute, die sich nie mit etwas beeilten außer der Liebe.

Soviel ich weiß, geschah so etwas wie dieser Zusammenbruch auf der Straße nie wieder – aber auch wenn es totgeschwiegen wird: das Baby hat sie tatsächlich zu stehlen versucht, obwohl ihr das keiner beweisen kann. Bekannt ist nur dies: Die Damen Dumfrey – Mutter und Tochter – waren nicht zu Hause, als Violet ankam. Entweder hatten sie das Datum verwechselt oder beschlossen, in einen zugelassenen Salon zu gehen – wohl nur zum Waschen, denn so eine gründliche Haarwäsche läßt sich am Waschbecken im Badezimmer einfach nicht bewerkstelligen. Die Friseusen haben das raus, das muß man ihnen lassen: Du lehnst dich zurück, statt dich vornüberzubeugen; du brauchst dir kein Handtuch auf die Augen zu drücken, um das Seifenwasser abzuhalten, weil es in so einem richtigen Frisiersalon am Hinterkopf runter ins Waschbecken fließt. Deshalb gehen auch Stammkunden manchmal heimlich in den Salon, nur wegen dem Vergnügen an einer bequemen Haarwäsche, selbst wenn die ausgebildete Friseuse nicht so geschickt ist wie Violet.

Zwei Frisuren in einer Wohnung zu machen war ein Glücksfall, und Violet freute sich auf den Termin um elf. Als keiner die Tür öffnete, wartete sie, weil sie dachte, die beiden wären vielleicht auf dem Markt aufgehalten worden. Nach einer Weile probierte sie es noch mal mit Klingeln und beugte sich dann über das Betongeländer, um eine Frau, die nebenan das Haus verließ, zu fragen, ob sie wüßte, wo die Damen Dumfrey wären. Die Frau schüttelte den Kopf, kam aber rüber, um Violet zu helfen, zu den Fenstern hochzuschauen und sich Gedanken zu machen.

«Die lassen die Jalousien oben, wenn sie daheim sind», sagte sie. «Und runter, wenn sie weg sind. Sollte eigentlich genau umgekehrt sein.»

«Vielleicht wollen sie raussehen, wenn sie daheim sind», sagte Violet.

«Was denn sehen?» fragte die Frau. Sie war auf der Stelle verärgert.

«Tageslicht», sagte Violet. «Wollen vielleicht das Tageslicht reinlassen.»

«Dann brauchen sie nur zurück nach Memphis ziehen, wenn's ihnen ums Tageslicht geht.»

«Memphis? Ich dachte, sie wären hier geboren.»

«Das wollen die einem weismachen. Stimmt aber nicht. Nicht mal in Memphis. Cottown. Ein Ort, von dem kein Mensch je gehört hat.»

«Isses die Möglichkeit», sagte Violet. Sie war sehr überrascht, weil die Damen Dumfrey anmutige, weltläufige Ladys waren, deren Vater in der 136th Street ein Geschäft besaß und die selbst angenehm saubere Arbeit verrichteten: eine kontrollierte die Eintrittskarten im Lafayette; die andere arbeitete im Kontor.

«Sie wollen nicht, daß es sich rumspricht», meinte die Frau.

«Warum?» fragte Violet.

«Eingebildet, darum. Kommt davon, wenn man den ganzen Tag mit Geld umgeht. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Wie Leute, die beruflich mit Geld umgehen, hochnäsig werden? Wie wenn es ihnen gehören würde statt uns?» Sie sog die Luft durch die Zähne beim Blick auf die zugezogenen Fenster. «Tageslicht, von wegen.»

«Jedenfalls richte ich ihnen immer dienstags das Haar, und heut ist doch Dienstag, oder?»

«Den ganzen Tag lang.»

«Wo sie wohl sein mögen?»

Die Frau schob eine Hand unter den Rock, um ihren Strumpf neu zu knoten. «Irgendwo unterwegs, und versuchen so zu tun, wie wenn sie nicht aus Cottown wären.»

«Und wo sind Sie her?» Violet war beeindruckt von der Fähigkeit der Frau, ihren Strumpf einhändig zu befestigen.

«Cottown. Kenn die beiden seit Urzeiten. Kaum sind sie hier, tut die ganze Familie, wie wenn sie mich ihr Lebtag nie gesehen hätte. Kommt davon, wenn man mit Geld umgeht statt mit dem Kehrbesen, und zu dem sollt ich jetzt lieber zurück, bevor ich diese vermaledeite Arbeit verliere. Ach Herrjesus.» Sie seufzte schwer. «Hängen Sie doch einen Zettel hin. Glauben Sie nur nicht, daß ich denen erzähle, daß Sie da waren. Wir reden nicht miteinander, wenn's nicht sein muß.» Sie knöpfte sich den Mantel zu und machte dann mit der Hand eine Tu-doch-was-dir-paßt-Geste, als Violet sagte, sie würde noch ein bißchen warten.

Violet setzte sich auf die breite Treppe und verstaute ihre Tasche mit Brennscheren, Öl und Shampoo hinter ihren Unterschenkeln.

Als sie das Baby in den Armen hielt, zupfte sie ihm die Decke um die Wangen gegen den bedrohlichen Wind, der zu kalt war für sein honigsüßes butterfarbenes Gesichtchen. Sein großäugiger, ausdrucksloser Blick brachte sie zum Lächeln. Behagen breitete sich in ihrem Magen aus, und eine Art hüpfendes, springendes Licht fuhr ihr durch die Adern.

Joe wird begeistert sein, dachte sie. Begeistert. Und rasch rasten ihre Gedanken voraus in ihr Schlafzimmer und zu dem, was sie darin als Kinderbettchen benutzen konnte, bis sie ein richtiges beschafft hatte. Babyseife war schon in dem Musterkoffer, also konnte sie ihn gleich in der Küche baden. Ihn? War es ein Er? Violet hob den Kopf zum Himmel und lachte in Erwartung des Augenblicks, wenn sie heimkam und nachsehen konnte. Das Lachen – ungebärdig und laut – war Beweis des Diebstahls für die einen, für andere machte es ihn unglaubhaft. Würde eine Diebin, die klammheimlich ein Kind stahl, an einer Ecke kaum hundert Meter von dem Weidenkinderwagen entfernt, aus dem sie es genommen hatte, so auf sich aufmerksam machen? Würde eine brave Unschuldige ein Kind, auf das sie nur kurz aufpassen sollte, während seine ältere Schwester zurück ins Haus lief, spazierentragen und so lachen?

Die Schwester stand brüllend vor dem Haus und versammelte Nachbarn und Passanten um sich, während sie suchend das Trottoir hinauf- und hinabschaute und dabei schrie: «Philly! Philly ist weg! Sie hat Philly gestohlen!» Sie hielt die Hände um den Kinderwagengriff geklammert, fest entschlossen, nicht dorthin zu laufen, wo ihre Blicke hinfielen, als ob der Wagen, leer bis auf die Schallplatte, die sie hineingeworfen hatte – um derentwillen sie zurück ins Haus geeilt war und die jetzt auf dem Kopfkissen lag, wo vorher ihr Brüderchen gelegen hatte –, als ob dieser Wagen sonst auch noch verschwinden würde.

«Wer sie?» fragte jemand. «Wer hat ihn gestohlen?»

«Eine Frau! Ich war bloß eine Minute weg. Nicht mal eine! Ich hab sie gefragt ...ich hab gesagt . . .und sie hat gesagt, gern . . . !»

«Du hast ein leibhaftiges Kind einer Fremden überlassen, um eine Schallplatte zu holen?» Der Abscheu in der Stimme des Mannes trieb dem Mädchen Tränen in die Augen. «Hoffentlich reißt dich deine Mutter in Stücke.»

Meinungsstreit und Debatten flammten in der Menge auf wie angeriebene Streichhölzer.

«Nicht so viel Verstand wie eine Mücke.»

«Wer hat dich bloß so falsch erzogen?»

«Polizei sollte man holen.»

«Wieso?»

«Die können zumindest suchen.»

«Schau doch nur, wegen was sie das Kind stehengelassen hat!»

«Wegen was denn?»

«Dem ‹Posaunen-Blues›.»

«Barmherziger.»

«Der wird die Mama schon was posaunen, wenn sie heimkommt.»

Das kleine Häufchen Leute, immer wütender über die dumme, verantwortungslose Schwester, über die Polizei, über die Schallplatte, die dort lag, wo ein Baby hätte sein sollen, sie hatten die Kindsentführerin fast vergessen, als ein Mann am Rinnstein sagte: «Ist sie das?» Er deutete auf Violet an der Ecke, und just als sich alle in die Richtung drehten, in die sein Finger zeigte, warf Violet, gekitzelt von kommenden Entdekkerfreuden, den Kopf zurück und lachte laut heraus.

Der Beweis ihrer Unschuld in Gestalt der Tasche mit Frisierutensilien lag noch auf der Treppe, auf der Violet gewartet hatte.

«Würd ich denn meine Tasche mit dem Handwerkszeug, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene, liegenlassen, wenn ich dein Baby stehlen wollte? Du glaubst wohl, ich spinne?» Violets Augen, zusammengekniffen und rauchend vor Wut, blickten die Schwester durchdringend an. «Da hätt ich doch alles mitgenommen! Mitsamt dem Kinderwagen, wenn ich das gewollt hätte!»

Das schien den meisten in der Menge wahr und einleuchtend, besonders denen, die der Schwester die Schuld gaben. Die Frau hatte ihre Tasche stehengelassen und trug bloß das Baby ein wenig herum, während die ältere Schwester – zu dumm, um richtig auf ein Kind aufzupassen – zurück ins Haus lief wegen einer Platte, die sie einer Freundin vorspielen wollte. Und wer weiß, was sonst noch im Kopf eines Mädchens vorging, das zu blöd war, ein schlafendes Baby zu hüten.

Einer Minderheit schien es unwahrscheinlich und ziemlich verdächtig. Warum sollte sie so weit weggehen, wenn sie das Baby nur wiegen, mit ihm spielen wollte? Warum ging sie nicht ganz normal vor dem Haus auf und ab? Und was für ein Lachen war das? Was für ein Lachen! Wenn sie so lachen konnte, war sie nicht nur imstande, ihre Tasche zu vergessen, sondern die ganze Welt.

Die gescholtene Schwester brachte Baby, Kinderwagen und «Posaunen-Blues» wieder die Treppe hinauf.

Die triumphierende und zornige Violet schnappte ihre Tasche und sagte: «Das letzte Mal, daß ich jemand hier einen Gefallen tu. Paßt doch selbst auf eure blöden Babys auf!» Und so dachte sie auch hinfort und immer danach; sie behielt den Vorfall als einen unverschämten Vorwurf in Erinnerung. Das behelfsmäßige Kinderbettchen, die Babyseife verschwanden aus ihren Gedanken. Die Erinnerung an das Licht jedoch, das durch ihre Adern gehüpft war, kehrte hin und wieder zurück, und gelegentlich, wenn an einem bedeckten Tag gewisse Ecken im Zimmer dem Lampenlicht widerstanden, wenn die roten Bohnen im Topf ewig nicht gar zu werden schienen, stellte sie sich eine Helligkeit vor, die man in den Armen tragen konnte. Und verteilen, falls nötig, an Orte so dunkel wie ein Brunnengrund.

Joe erfuhr nie etwas von Violets öffentlich gewordener Verrücktheit. Stuck, Gistan und andere Freunde erzählten einander von den Vorfällen, konnten sich aber nicht überwinden, mehr zu ihm zu sagen als: «Wie geht's denn Violet? Gut, ja?» Doch ihre privaten Knackse waren ihm bekannt.

Ich nenne sie Knackse, weil sie das waren. Keine offenen Löcher oder Brüche, sondern dunkle Risse im Halbkugellicht des Tages. Sie wacht morgens auf und sieht mit vollendeter

 

Klarheit eine Reihe von deutlich erhellten kleinen Szenen. In jeder findet etwas anderes statt: Essensdinge, Arbeitsdinge; Kundinnen und Bekannte werden getroffen, Häuser betreten. Aber sie sieht sich nicht selbst diese Dinge tun. Sie sieht, daß sie getan werden. Das Halbkugellicht erhellt und badet jede Szene, und man sollte annehmen, daß dort am Ende des Bogens, wo das Licht aufhört, ein solider Untergrund ist. In Wahrheit aber gibt es keinen Untergrund, sondern Durchgänge, Spalten, über die man die ganze Zeit steigt. Doch auch das Halbkugellicht ist unvollkommen. Genau betrachtet, ist es voller Nähte, schlecht verklebter Sprünge und Schwachstellen, hinter denen alles sein kann. Alles Erdenkliche. Manchmal, wenn Violet nicht aufpaßt, stolpert sie in diese Sprünge, wie damals, als sie, statt die linke Ferse nach vorn zu setzen, nach hinten trat und die Beine anwinkelte, um sich auf die Straße zu setzen.