Solomons Lied - Toni Morrison - E-Book

Solomons Lied E-Book

Toni Morrison

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Beschreibung

«Solomons Lied», in den USA 1977 erschienen, war – nach «Sehr blaue Augen» und «Sula» – Toni Morrisons dritter Roman, in dem sie mit magischer Klugheit und souveräner Phantasie die Familie der Deads heraufbeschwört: die in trister Ehe welkende Ruth, ihren Sohn Milchmann, der sich danach sehnt, fliegen zu lernen, und die Suche nach dem mythischen Familienschatz aufnimmt, begleitet von der zauberkräftigen Heilerin Pilate, verfolgt von ihrer liebeskranken Enkelin Hagar. Eine große Erzählerin zeigt uns hier, daß noch zu dem unbegreiflichsten Geschehen ein verborgener Schlüssel existiert. Wer Toni Morrisons Gestalten einmal begegnet ist, dem bleiben sie für immer Gefährten.

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Toni Morrison

Solomons Lied

Roman

Aus dem Englischen von Angela Praesent

Über dieses Buch

«Solomons Lied», in den USA 1977 erschienen, war – nach «Sehr blaue Augen» und «Sula» – Toni Morrisons dritter Roman, in dem sie mit magischer Klugheit und souveräner Phantasie die Familie der Deads heraufbeschwört: die in trister Ehe welkende Ruth, ihren Sohn Milchmann, der sich danach sehnt, fliegen zu lernen, und die Suche nach dem mythischen Familienschatz aufnimmt, begleitet von der zauberkräftigen Heilerin Pilate, verfolgt von ihrer liebeskranken Enkelin Hagar. Eine große Erzählerin zeigt uns hier, daß noch zu dem unbegreiflichsten Geschehen ein verborgener Schlüssel existiert.

Wer Toni Morrisons Gestalten einmal begegnet ist, dem bleiben sie für immer Gefährten.

Vita

Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied» «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und diverse Essaysammlungen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.

Daddy

Die Väter sollen

sich in die Lüfte schwingen

Und die Kinder sollen

ihre Namen wissen

Erster Teil

1

Der Vertreter der Genossenschaftlichen Lebensversicherung von North Carolina versprach, pünktlich um drei vom Mercy ans andere Ufer des Lake Superior zu fliegen. Zwei Tage, bevor das Ereignis stattfinden sollte, heftete er einen Anschlag an die Tür seines kleinen gelben Hauses:

Um drei Uhr nachmittags am Mittwoch, dem 18.

Februar 1931, werde ich vom Mercy abheben und

auf meinen eigenen Schwingen davonfliegen. Bitte,

vergebt mir. Ich liebe euch alle.

Robert Smith

Vers.-Vertr.

Mr. Smith zog keine solchen Massen an wie Lindbergh vier Jahre zuvor – nicht mehr als vierzig oder fünfzig Personen stellten sich ein –, denn es war bereits elf Uhr am Morgen eben jenes Mittwochs, den er für seinen Flug gewählt hatte, als überhaupt jemand den Anschlag las. Zu dieser Tageszeit und mitten in der Woche sprachen sich Neuigkeiten nur schleppend herum. Die Kinder waren in der Schule, die Männer bei der Arbeit, und die meisten Frauen schnürten ihre Korsetts und machten sich auf den Weg, um zu sehen, was an Schwänzen oder Innereien der Metzger zu vergeben hatte. Nur die Arbeitslosen, die Selbständigen und die Allerjüngsten waren zur Stelle – absichtlich zur Stelle, weil sie davon gehört hatten, oder zufällig zur Stelle, weil sie gerade in eben diesem Augenblick am Uferende der Not Doctor Street vorbeikamen – ein Straßenname, den die Post nicht anerkannte. Auf Stadtplänen war die Straße als Mains Avenue verzeichnet, aber der einzige farbige Doktor der Stadt hatte bis zu seinem Tod in dieser Straße gewohnt, und als er 1896 dort hinzog, begannen seine Patienten, von denen niemand dort oder auch nur in der Nähe wohnte, die Straße Doctor Street zu nennen. Später, als andere Neger dort hinzogen und als die Post ein gebräuchliches Instrument der Nachrichtenübermittlung unter ihnen wurde, kamen Briefe aus Louisiana, Virginia, Alabama und Georgia, die an Bewohner von Häusern in der Doctor Street adressiert waren. Die Postsortierer ließen solche Briefe zurückgehen oder leiteten sie an die Abteilung für unzustellbare Briefe weiter. Dann, 1918, als Farbige zur Armee eingezogen wurden, gaben einige im Rekrutierungsbüro die «Doctor Street» als ihre Adresse an. Auf diese Weise erlangte der Straßenname einen halboffiziellen Status. Doch nicht auf Dauer. Einige Kommunalpolitiker, deren öffentliches Leben in der Hauptsache darin bestand, sich um geeignete Namen und die Erhaltung der städtischen Wahrzeichen zu kümmern, achteten darauf, daß der Name «Doctor Street» nie irgendwo als offizielle Bezeichnung verwendet wurde. Und da sie wußten, daß nur die Bewohner der Southside ihn am Leben erhielten, ließen sie in den Läden, Friseurstuben und Restaurants dieses Stadtteils Bekanntmachungen aushängen, in denen es hieß, daß die Avenue, die in nordsüdlicher Richtung von der Shore Road am See zu der Kreuzung der Fernstraßen 2 und 6 (nach Pennsylvania) führe und zwischen der Rutherford Avenue und dem Broadway sowie parallel zu diesen beiden Straßen verlaufe, stets als Mains Avenue und nicht als Doctor Street bekannt gewesen sei und es immer bleiben werde.

Eine wahrhaft erhellende Bekanntmachung, denn sie wies den Bewohnern der Southside einen Weg, wie sie ihre Erinnerungen lebendig erhalten und dennoch die Kommunalpolitiker zufriedenstellen konnten. Sie nannten die Straße Not Doctor Street und neigten dazu, das Hospital an ihrem nördlichen Ende, eine Einrichtung christlicher Nächstenliebe, No Mercy Hospital zu nennen, denn erst 1931, am Tage nach Mr. Smiths Sprung von der Krankenhauskuppel, wurde es der ersten farbigen werdenden Mutter gestattet, in seinem Innern statt draußen auf seinen Eingangsstufen zu gebären. Die Großzügigkeit des Hospitals dieser bestimmten Frau gegenüber lag nicht darin begründet, daß sie das einzige Kind jenes schwarzen Doktors war – in all den Jahren seines Berufslebens waren ihm nie Belegbetten zugestanden und nur zwei seiner Patienten waren je ins Mercy Hospital aufgenommen worden, beides Weiße. Und überdies war der Doktor 1931 längst tot. Es mußte Mr. Smiths Sprung von dem Dach über ihren Köpfen gewesen sein, was die Leute vom Krankenhaus bewog, die Frau aufzunehmen. Doch wie auch immer, ob die Überzeugung des kleinen Versicherungsvertreters, er könne fliegen, den Ort ihrer Entbindung mitbestimmte oder nicht – den Zeitpunkt beeinflußte sie mit Sicherheit.

Als die Tochter des toten Doktors Mr. Smith so pünktlich, wie er es versprochen hatte, hinter der Kuppel zum Vorschein kommen sah, die weiten blauseidenen Flügel bauschig vor der Brust zusammengerafft, ließ sie ihren bedeckten Henkelkorb fallen. Rotsamtene Rosenblüten ergossen sich daraus. Der Wind blies sie herum, auf, nieder und in kleine Schneehaufen hinein. Ihre halbwüchsigen Töchter liefen gebückt umher und versuchten sie einzufangen, während ihre Mutter sich stöhnend den Unterleib hielt. Die Jagd nach den Rosenblüten fand eine Menge Aufmerksamkeit, nicht aber das Stöhnen der Schwangeren. Jedermann wußte, daß die Mädchen Stunde um Stunde mit dem Markieren, Zuschneiden und Heften des kostbaren Samts zugebracht hatten und daß man im Kaufhaus Gerhardt schnell bei der Hand sein würde, jede beschmutzte Blüte zurückzuweisen.

Eine Weile ging es nett und heiter zu. Die Männer halfen mit bei dem Versuch, die Blüten aufzulesen, ehe der Schnee sie durchweichte – retteten sie vor einem Windstoß oder pflückten sie vorsichtig aus dem Schnee. Und die ganz kleinen Kinder konnten sich nicht entscheiden, ob sie den blau umhüllten Mann auf dem Dach im Auge behalten sollten oder die unten auf der Erde umherwirbelnden roten Tupfen. Sie wurden aus ihrem Dilemma erlöst, als eine Frau plötzlich zu singen anfing. Die Sängerin, hinten in der Menge stehend, war so ärmlich gekleidet, wie die Tochter des Doktors gut gekleidet war. Die letztere trug einen adretten grauen Mantel mit der traditionellen Schleife der Schwangeren in Nabelhöhe, einen schwarzen Glockenhut und ein Paar Damengaloschen mit vier Knöpfen. Die singende Frau trug eine dunkelblaue Strickmütze, tief in die Stirn gezogen. Sie hatte sich statt in einen Wintermantel in eine alte Steppdecke gehüllt. Den Kopf auf die Seite geneigt, die Augen starr auf Mr. Robert Smith gerichtet, sang sie mit kraftvoller Stimme:

Sugarman ist fortgeflogen

Sugarman ließ uns allein

Sugarman saust durch die Luft

Sugarman flog heim

Einige der rund fünfzig dort versammelten Leute stießen sich gegenseitig an und kicherten. Andere hörten zu, als sei es die helfende und erklärende Klaviermusik zu einem Stummfilm. So standen sie eine Weile da, und niemand schrie zu Mr. Smith hinauf, so beschäftigt waren sie alle mit den geringfügigen Ereignissen um sie herum – bis die Krankenhausleute kamen.

Sie hatten von den Fenstern aus zugesehen – anfangs mit milder Neugier, später, als die Menge bis zu den Mauern des Krankenhauses anzuschwellen schien, mit Besorgnis. Sie fragten sich, ob da eine dieser Kundgebungen stattfinde, wie sie die Gruppen gegen Rassendiskriminierung ständig veranstalteten. Doch als sie weder Plakate noch Redner sahen, wagten sie sich in die Kälte hinaus: weißbekittelte Chirurgen, Angestellte der Verwaltungs- und Personalabteilung in schwarzen Jacketts und drei Krankenschwestern in gestärkten Schürzenkleidern.

Der Anblick von Mr. Smith und seinen weiten blauen Flügeln lähmte sie einige Sekunden lang, ebenso der Gesang der Frau und die verstreuten Rosen. Manche von ihnen dachten flüchtig, daß es sich vielleicht um so etwas wie einen Gottesdienst handle. Philadelphia, wo Father Divine regierte, war nicht sehr weit entfernt. Vielleicht waren die jungen Mädchen mit den Blumenkörben zwei seiner Jungfrauen. Aber das Lachen eines Goldzahnmannes brachte sie wieder zu Sinnen. Sie hielten inne in ihren Tagträumereien und kamen schnell zur Sache, gaben Befehle. Ihre Rufe und ihre Geschäftigkeit stifteten große Verwirrung, wo vorher nur einige wenige Männer und ein paar Mädchen, die mit Samtstückchen spielten, und eine singende Frau gewesen waren.

Eine der Krankenschwestern erforschte, in der Hoffnung, mit Tatkraft das Durcheinander entwirren zu können, die Gesichter um sie herum, bis sie eine stämmige Frau entdeckte, die so aussah, als könnte sie, wenn sie nur wollte, die Erde bewegen.

«Sie», sagte sie und bewegte sich auf die stämmige Frau zu. «Sind das Ihre Kinder?»

Die stämmige Frau wandte ihr langsam den Kopf zu und hob die Brauen, als sie so achtlos angesprochen wurde. Als sie dann sah, woher die Stimme kam, senkte sie die Brauen und verschleierte ihre Augen.

«Madam?»

«Schicken Sie eines rüber zur Notaufnahme. Sagen Sie ihm, er soll dem Pförtner sagen, er soll schnell herkommen. Der Junge da kann gehen. Der da.» Sie zeigte auf einen katzenäugigen Jungen von etwa fünf oder sechs Jahren.

Die stämmige Frau ließ ihre Augen am Finger der Krankenschwester entlanggleiten und sah den Jungen an, auf den sie zeigte.

«Gitarre, Ma'am.»

«Was?»

«Gitarre.»

Die Krankenschwester starrte die stämmige Frau an, als hätte sie Walisisch gesprochen. Dann schloß sie den Mund, sah wieder den katzenäugigen Jungen an und verschränkte die Finger, während sie ihre nächsten Worte sehr langsam an ihn richtete.

«Hör zu. Lauf zur Pförtnerloge an der Rückseite des Krankenhauses. An der Tür steht ‹Notaufnahme›. N-O-T-A-U-F-N-A-M-E.Aber der Pförtner sitzt da. Sag ihm, er soll hierherkommen. Doppelt plötzlich. Los jetzt. Los!» Sie löste ihre Finger voneinander und stieß die Handflächen mit schaufelnden Bewegungen in die winterliche Luft.

Ein Mann in braunem Anzug kam auf sie zu, weiße Atemwölkchen ausstoßend. «Feuerwehr ist unterwegs. Gehn Sie rein. Sie friern sich zu Tode.»

Die Schwester nickte.

«Sie ham ein H ausgelassen, Madam», sagte der Junge. Er war neu im Norden und hatte gerade gelernt, daß er Weißen gegenüber den Mund aufmachen konnte. Aber die Schwester war schon davongegangen und rieb sich die Arme wegen der Kälte.

«Granny, sie hat ein H ausgelassen.»

«Und ein ‹bitte›.»

«Glaubst du, er springt?»

«Spinner bringen alles fertig.»

«Wer ist das?»

«Kassiert Versicherungsbeiträge. Spinner.»

«Wer ist die Frau, die da singt?»

«Das ist wirklich das letzte, was es gibt.» Aber sie lächelte, als sie zu der singenden Frau hinsah, und so lauschte der katzenäugige Junge der musikalischen Darbietung mit mindestens ebensoviel Interesse, wie er dem flügelschlagenden Mann auf dem Dach des Krankenhauses widmete.

In der Menge breitete sich jetzt, da die Gesetzeshüter herbeigerufen wurden, eine leichte Nervosität aus. Alle kannten Mr. Smith. Zweimal im Monat kam er an ihre Türen, um einen Dollar und achtundsechzig Cents zu kassieren und auf einem gelben Kärtchen das Datum sowie ihre Wochenraten in Höhe von vierundachtzig Cents zu vermerken. Sie waren immer etwa einen halben Monat im Rückstand und redeten endlos von Vorauszahlungen – nachdem sie zu Beginn erörtert hatten, was er denn überhaupt so bald schon wieder bei ihnen suche.

«Sie schon wieder hier? Möchte meinen, ich wär Sie grad erst losgeworden.»

«Satt hab ich Ihr Gesicht. Richtig satt.»

«Wußt ichs doch. Kaum hab ich zwanzig Cents beisammen, da kommen Sie. Pünktlicher als der Sensenmann. Kennt der Hoover Sie eigentlich?»

Sie zogen ihn auf, beschimpften ihn, ließen ihm durch ihre Kinder sagen, sie seien nicht da oder krank oder nach Pittsburgh gefahren. Aber sie klammerten sich an diese kleinen gelben Karten, als bedeuteten sie etwas – legten sie zärtlich in die Schuhschachtel zu den Mietquittungen, Heiratsurkunden und nicht mehr gültigen Fabrikkennmarken. Mr. Smith lächelte sich durch das alles hindurch, brachte es fertig, die Augen fast die ganze Zeit auf die Schuhe des Kunden gerichtet zu halten. Er trug einen dunklen Straßenanzug bei seiner Arbeit, aber sein Haus war nicht besser als ihre Häuser. Nie hatte er, soweit sie wußten, eine Frau gehabt, und in der Kirche sagte er nichts als ein gelegentliches «Amen». Niemals verprügelte er jemanden, nie wurde er nach Einbruch der Dunkelheit gesehen, also nahmen sie an, er sei wahrscheinlich ein anständiger Mensch. Aber er war eng verbunden mit Krankheit und Tod, auch wenn von beidem nichts zu erkennen war auf dem braunen Bild von dem Gebäude der Genossenschaftlichen Lebensversicherung von North Carolina auf der Rückseite ihrer gelben Karten. Vom Dach des Mercy zu springen, war das Interessanteste, was er je getan hatte. Keiner von ihnen hätte vermutet, daß er das Zeug besaß. Zeigt einem bloß, murmelten sie einander zu, daß man sich nie richtig auskennt in den Menschen.

Die singende Frau wurde leiser und ging, die Melodie vor sich hinsummend, durch die Menge auf die Rosenblüten-Dame zu, die noch immer ihren Bauch umfaßt hielt.

«Solltest dich aufwärmen», wisperte sie ihr zu und berührte sie leicht am Ellbogen. «In der Morgenfrühe ist ein Vögelchen da.»

«Oh», sagte die Rosenblüten-Dame. «Morgen früh?»

«An welchem Morgen sonst?»

«Das kann nicht sein», sagte die Rosenblüten-Dame. «Es ist noch zu früh.»

«Nichts da. Genau rechtzeitig.»

Die Frauen sahen einander tief in die Augen, als ein lauter Schrei von der Menge aufstieg – ein wogendes Oooh. Mr. Smith hatte eine Sekunde lang die Balance verloren und versuchte tapfer, sich an ein hölzernes Gestänge zu klammern, das von der Kuppel emporragte. Sogleich begann die singende Frau wieder:

Sugarman ist fortgeflogen

Sugarman ließ uns allein …

In der Stadt zogen die Feuerwehrleute ihre Mäntel an, aber als sie am Mercy Hospital ankamen, hatte Mr. Smith die Rosenblüten gesehen, die Musik gehört und war in die Luft gesprungen.

 

Am nächsten Tag wurde im Mercy Hospital zum erstenmal ein farbiges Kind geboren. Mr. Smiths blauseidene Flügel mußten ihren Eindruck hinterlassen haben, denn als der kleine Junge mit vier entdeckte, was Mr. Smith vor ihm gelernt hatte – daß nämlich nur Vögel und Flugzeuge fliegen konnten –, verlor er jedes Interesse an sich. Die Gewißheit, ohne jene einzigartige Gabe leben zu müssen, machte ihn traurig und ließ seine Phantasie so beraubt zurück, daß er sogar den Frauen, die seine Mutter nicht haßten, langweilig erschien. Diejenigen, die sie haßten, die ihre Einladungen zum Tee annahmen und auf das große düstere Doktorhaus mit seinen zwölf Zimmern und die grüne Limousine neidisch waren, bezeichneten ihn als «sonderbar». Die anderen, die wußten, daß das Haus weit mehr ein Gefängnis war als ein Palast und daß die Dodge-Limousine nur für sonntägliche Ausfahrten benutzt wurde, bedauerten Ruth Foster und ihre trockenen Töchter und nannten ihren Sohn «tief». Sogar geheimnisvoll.

«Ist er mit einer Glückshaube zur Welt gekommen?»

«Sie hätten sie trocknen und ihm einen Tee davon zu trinken geben sollen. Sonst sieht er eines Tages Geister.»

«Das glauben Sie?»

«Ich nicht, aber das sagen die alten Leute.»

«Na, ein Tiefer jedenfalls ist er. Schaut euch seine Augen an.»

Und sie lösten Klumpen des zu schnell gebackenen Rodonkuchens von ihren Gaumen und schauten dem Jungen noch einmal in die Augen. Er hielt ihren starrenden Blicken nach Kräften stand, bis er nach einem flehenden Blick zu seiner Mutter das Zimmer verlassen durfte.

Es gehörte einige Planung dazu, um, den Rücken vom Summen ihrer Stimmen umspült, aus dem Salon zu gehen, die schwere Doppeltür, die ins Eßzimmer führte, zu öffnen und die Treppe hinaufzuschleichen, an all den Schlafzimmern vorbei, ohne die Aufmerksamkeit von Lena und Corinthians zu erregen, die wie große Babypuppen vor einem Tisch voller roter Samtreste saßen. Seine Schwestern nähten nachmittags Rosen. Leuchtende, leblose Rosen, die monatelang in Körben lagen, bis der SpezialitätenEinkäufer von Gerhardt den Hausmeister Freddie herüberschickte und den Mädchen ausrichten ließ, man könne ein weiteres Gros gebrauchen. Wenn es ihm gelang, an seinen Schwestern vorbeizuschleichen und ihren beiläufigen Bosheiten aus dem Wege zu gehen, kniete er sich in seinem Zimmer ans Fensterbrett und fragte sich immer wieder aufs neue, warum er unten auf der Erde bleiben müsse. Die Stille, die das Doktorhaus dann durchflutete, unterbrochen nur von dem Gemurmel der Kuchen essenden Frauen, war nichts anderes als eben dies: Stille. Sie war nicht friedlich, denn was ihr vorausging und ihr bald ein Ende machen würde, war die Anwesenheit von Macon Dead.

Massig, polternd, zu Ausbrüchen ohne Vorwarnung neigend, hielt Macon jedes Mitglied seiner Familie in einem beklommenen Zustand der Angst. Sein Haß auf seine Frau glitzerte und funkelte in jedem Wort, das er zu ihr sprach. Die Enttäuschung, die er über seine Töchter empfand, rieselte wie Asche auf sie nieder, trübte den Schmelz ihrer Gesichter und erstickte die Fröhlichkeit in ihren Stimmen, die Mädchenstimmen hätten sein müssen. Unter der eisigen Hitze seines Blickes stolperten sie über Türschwellen und ließen den Salzstreuer in die Dotter ihrer pochierten Eier fallen. Die Art und Weise, wie er ihre Anmut, Klugheit und Selbstachtung verstümmelte, war das einzige, was Aufregung in ihr Leben brachte. Ohne die Spannung, ohne das Drama, das er auslöste, hätten sie womöglich nichts mit sich anzufangen gewußt. In seiner Abwesenheit beugten sie die Hälse über blutrote Samtquadrate und warteten begierig auf irgendeinen Wink von ihm, und Ruth, seine Frau, begann jeden Tag wie gelähmt durch die Verachtung ihres Mannes und beschloß ihn angeregt und belebt davon.

Wenn sie hinter ihren Nachmittagsgästen die Tür schloß und das stille Lächeln auf ihren Lippen ersterben ließ, begann sie mit der Zubereitung von Speisen, die ihr Mann ungenießbar fand. Sie legte es nicht darauf an, daß ihre Mahlzeiten Übelkeit erregten; sie wußte einfach nicht, wie sie es anders machen sollte. So merkte sie etwa, daß der Rodonkuchen zu krümelig war, als daß sie ihn ihrem Mann vorsetzen konnte, und entschied sich für ein Renettendessert. Aber das Mahlen von Kalb- und Rindfleisch für einen Hackbraten dauerte so lange, daß sie nicht nur das Schweinefleisch vergaß und sich entschließen mußte, den Braten mit ausgelassenem Speck zu übergießen, sondern auch gar nicht mehr genug Zeit hatte, einen Nachtisch zu machen. Dann begann sie in aller Eile den Tisch zu decken. Wenn sie das weiße Leinentischtuch entfaltete und über den edlen Mahagonitisch wogen ließ, sah sie jedesmal wieder den großen Wasserfleck. Nie deckte sie den Tisch oder ging durch das Speisezimmer, ohne einen Blick darauf zu werfen. So wie es den Leuchtturmwärter immer wieder an sein Fenster zieht, wie er immer wieder hinausblickt aufs Meer, oder wie ein Gefangener unwillkürlich nach der Sonne späht, wenn er zu seinem täglichen Rundgang den Hof betritt, so sah Ruth mehrmals am Tage nach dem Wasserfleck. Sie wußte, daß er da war, immer da sein würde, aber sie mußte sich seines Vorhandenseins vergewissern. Wie der Leuchtturmwärter und der Gefangene betrachtete sie ihn als einen Anhalt, als Orientierungspunkt, als einen beständigen, sichtbaren Gegenstand, der ihr versicherte, daß die Welt noch existierte, daß dies das Leben war und nicht ein Traum. Daß sie irgendwo, tief innen, lebendig war, was sie nur deshalb als wahr anerkannte, weil etwas, das ihr innig vertraut war, da draußen existierte, außerhalb ihrer selbst.

Noch in der Höhle des Schlafs spürte sie, ohne daß sie etwa davon träumte oder daran dachte, seine Gegenwart. Oh, sie sprach endlos mit ihren Töchtern und ihren Gästen darüber, wie er zu entfernen sei – was diesen einzigen Makel auf dem prächtigen Holz verdecken könne: Vaseline, Tabaksaft, Jod, eine Behandlung zunächst mit Sandpapier und anschließend mit Leinöl. Sie hatte es alles versucht. Doch ihr Blick war nährend: der Fleck trat im Laufe der Jahre eher noch deutlicher hervor.

Der wolkige graue Kreis bezeichnete die Stelle, an der die Schale gestanden hatte, die zu Lebzeiten des Doktors tagtäglich mit frischen Blumen gefüllt worden war. Tagtäglich. Und wenn es keine Blumen gab, enthielt sie ein Blätterarrangement, einen Strauß Zweige und Beeren, Kätzchen, Kiefernzweige … Aber immer etwas, was der Tafel am Abend Anmut verlieh.

Für ihren Vater war dies ein Detail, das seine Familie von den Leuten unterschied, unter denen sie wohnten. Für Ruth war es die Summe der liebevollen Eleganz, von der ihre Kindheit, wie sie glaubte, umgeben gewesen war. Als Macon sie heiratete und in das Doktorhaus zog, behielt sie den Brauch, den Tisch zu schmücken, bei. Dann kam die Zeit, in der sie durch die liederlichste Gegend der Stadt zum Strand hinunterwanderte, um Treibholz zu suchen. Sie hatte auf der Frauenseite der Zeitung ein Tischschmuckarrangement aus Treibholz und getrocknetem Tang gesehen. Es war ein feuchter Novembertag, und der Doktor war damals schon gelähmt und lebte von flüssiger Nahrung, die er in seinem Schlafzimmer zu sich nahm. Der Wind hatte ihren Rock rund um die Knöchel gelüftet und war schneidend durch ihre geschnürten Schuhe gedrungen. Sie hatte sich die Füße mit warmem Olivenöl einreiben müssen, als sie zurückkam. Beim Abendessen, bei dem nur sie beide am Tisch saßen, wandte sie sich ihrem Mann zu und fragte ihn, wie ihm der Tischschmuck gefalle. «Die meisten Leute übersehen solche Dinge. Sie sehen es, aber sie sehen nichts Schönes darin. Sie sehen nicht, daß die Natur es schon so vollkommen geschaffen hat, wie es nur sein kann. Sieh es mal von der Seite an. Es ist hübsch, nicht?»

Ihr Mann blickte auf das Stück Treibholz mit seinem Spitzennetz aus gelblichem Tang, und, ohne den Kopf zu bewegen, sagte er: «Dein Huhn ist noch rot am Knochen. Und es gibt anscheinend ein Kartoffelgericht, in das Klumpen gehören. Kartoffelbrei ist das hier jedenfalls nicht.»

Ruth ließ den Tang verfallen, und später, als seine Rippen und Stengel sich als brauner Schorf auf dem Tisch ringelten, entfernte sie die Schale und bürstete den Schorf weg. Aber der Wasserfleck, den die Schale all die Jahre hindurch verdeckt hatte, kam zum Vorschein. Und einmal zum Vorschein gekommen, verhielt er sich, als sei er selbst eine Pflanze, und erblühte zu einer riesigen, samtig grauen Blume, die pulste wie Fieber und seufzte wie Wanderdünen. Aber er konnte auch still sein. Geduldig, geruhsam und still.

Doch angesichts einer Boje blieb einem nichts, als sie zur Kenntnis zu nehmen, sie als Beweis für die vage Ahnung zu betrachten, daß man am Leben bleiben will. Noch eines anderen bedarf man, um von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang zu gelangen: eines Balsams, einer sanften Berührung oder Liebkosung. So erhob sich Ruth aus ihrer arglosen Untüchtigkeit, um gleich nach der Zubereitung des Abendessens und knapp vor der Rückkehr ihres Mannes aus seinem Büro ihren Teil Balsam zu beanspruchen. Es war eine ihrer beiden geheimen Schwächen – diejenige, die mit ihrem Sohn zu tun hatte –, und teilweise kam die Lust, die diese Schwäche ihr bereitete, von dem Zimmer, in dem sie ihr frönte. Ein feuchtes Grün hauste da, erzeugt von dem Immergrün, das sich gegen das Fenster preßte und das Licht filterte. Es war nur ein kleiner Raum, den der Doktor Studierzimmer genannt hatte, und abgesehen von einer Nähmaschine, die zusammen mit einer Schneiderpuppe in einer Ecke stand, gab es darin nur noch einen Schaukelstuhl und einen winzigen Schemel. In diesem Raum saß sie mit ihrem Sohn auf dem Schoß, schaute auf seine geschlossenen Lider und lauschte dem Geräusch seines Saugens. Schaute auf seine Lider weniger aus Mutterfreude als aus dem Bedürfnis, dem Anblick seiner fast bis zum Boden baumelnden Beine auszuweichen.

Bevor ihr Mann am Spätnachmittag sein Büro verschloß und nach Hause kam, rief sie ihren Sohn zu sich. Wenn er in den kleinen Raum trat, knöpfte sie ihre Bluse auf und lächelte. Er war zu jung, um von ihren Brustwarzen eingeschüchtert zu werden, aber er war alt genug, um den faden Geschmack von Muttermilch langweilig zu finden, und so kam er widerstrebend wie zur Erfüllung einer häuslichen Pflicht und legte sich in die Arme seiner Mutter und versuchte, wie er es an jedem Tag seines Lebens wenigstens einmal getan hatte, die dünne, schwach süßliche Milch aus ihrem Fleisch zu saugen, ohne ihr mit seinen Zähnen weh zu tun.

Sie spürte ihn. Seine Zurückhaltung, seine Höflichkeit, seine Gleichgültigkeit – das alles drängte sie zu Phantasien. Sie hatte den deutlichen Eindruck, daß seine Lippen ihr einen Faden von Licht entzogen. Es kam ihr vor, als sei sie ein Zaubergefäß, das Goldfäden absonderte. Wie die Müllerstochter – die da des Nachts in einem Raum voller Stroh saß, entzückt von der geheimen Macht, die Rumpelstilzchen ihr verliehen hatte: goldene Fäden von ihrer ganz persönlichen Spindel rinnen zu sehen. Und dies war die andere Seite ihrer Lust, einer Lust, auf die sie nicht verzichten mochte. Als daher Freddie, der Hausmeister – der gern so tat, als sei er ein Freund der Familie und nicht nur ihr Handlanger und Mieter –, eines Tages noch spät seine Miete zum Doktorhaus brachte und an dem Immergrün vorbei durchs Fenster sah, ging der Schrecken, der Ruth sogleich in den Augen stand, auf die prompte Einsicht zurück, daß sie nicht weniger als die Hälfte dessen verlieren würde, was ihr tägliches Leben ertragbar machte. Freddie indes deutete ihren Blick als schlichte Scham, was ihn jedoch nicht davon abhielt zu grinsen.

«Gnädiger Himmel. Verdammich.»

Er kämpfte mit dem Immergrün um bessere Sicht, von seinem Gelächter mehr behindert als von den Ranken. Ruth sprang so schnell auf, wie sie nur konnte, und bedeckte ihre Brust; ihren Sohn ließ sie zu Boden fallen und bestätigte ihm somit den Verdacht, den er zu hegen begonnen hatte – daß diese Nachmittage sonderbar und unrecht waren.

Bevor Mutter und Sohn noch sprechen, sich auf geziemende Weise neu gruppieren oder auch nur Blicke tauschen konnten, war Freddie schon ums Haus gelaufen, die Verandastufen hinaufgesprungen und rief nach ihnen unter prustendem Gelächter.

«Miss Rufie. Miss Rufie. Wo? Wo treibt ihr euch alle turn?» Er öffnete die Tür zu dem grünen Zimmer, als sei es nun seines.

«Verdammich, Miss Rufie. Wann hab ich 'n das zuletzt gesehn? Weiß nich mal, wann ich das zuletzt gesehn hab. Ich mein, is ja nix Schlimmes dabei. Ich mein, alte Leute schwörn ja drauf. Is nur, Sie wissen ja, man siehts nich viel hier oben …» Aber seine Augen waren auf den Jungen gerichtet. Anerkennende Augen, die eine Komplicenschaft vermittelten, von der sie ausgeschlossen war. Freddie sah an dem Jungen herauf und herunter, registrierte den standhaften, aber verschlossenen Blick und den überraschenden Kontrast zwischen Ruths zitroniger Haut und der schwarzen Haut des Jungen. «Gab drunten im Süden 'ne Menge Weibervolk, die ihre Kinder lang gestillt ham – 'ne Menge. Siehts aber nicht mehr viel. Kannte 'ne Familie – war allerdings nich die hellste, die Mutter – hat ihm Jungen gestillt, bis der so beinah dreizehn war, nehm ich an. Is aber 'n bißchen viel, nich?» Während er so daherschwatzte, rieb er sich die ganze Zeit das Kinn und sah den Jungen an. Schließlich hörte er auf und gluckste vor sich hin. Er hatte die Wendung gefunden, nach der er gesucht hatte. «Ein Milchmann. Das isses, was Sie da ham, Miss Rufie. 'nen natürlichen Milchmann, wenn ich jemals einen gesehn hab. Aufgepaßt, Frauen. Da kommt er. Ha!»

Freddie trug seine Entdeckung nicht nur in die Häuser von Ruths Nachbarschaft, sondern auch zur Southside, wo er wohnte und wo Macon Dead Mietshäuser besaß. Darum blieb Ruth in der Nähe des Hauses und empfing fast zwei Monate keine Nachmittagsgäste, um nicht hören zu müssen, daß man ihrem Sohn einen neuen Namen gegeben hatte – den abzuschütteln er niemals imstande war und der nichts dazu beitrug, beider Beziehung zu seinem Vater zu verbessern.

Macon Dead erfuhr nie, wie es dazu kam – wie sein einziger Sohn einen Spitznamen erwarb, der ihm anhaftete, obwohl er selbst sich weigerte, ihn zu gebrauchen oder ihn anzuerkennen. Es war eine Sache, die ihn nicht wenig beschäftigte, denn die Namensgebung in seiner Familie war immer von etwas umgeben gewesen, was er für monumentale Torheit hielt. Niemand erwähnte ihm gegenüber den Zwischenfall, aus der der Spitzname erwachsen war, denn er war ein Mann, dem man sich nur schwer nähern konnte, ein harter Mann von so kühler Art, daß niemand sich zu einem zwanglosen oder spontanen Gespräch mit ihm ermutigt fühlte. Nur Freddie, der Hausmeister, nahm sich Freiheiten bei Macon Dead heraus, und Freddie war der letzte Mensch auf der Welt, der ihm davon erzählt hätte. So hörte Macon Dead weder davon, noch machte er sich ein Bild von Ruths plötzlichem Schrecken, ihrem ungeschickten Aufspringen aus dem Schaukelstuhl, von dem Sturz des Jungen, den der winzige Schemel gebremst hatte, oder von Freddies belustigter, bewundernder Zusammenfassung der Situation.

Ohne irgendein Detail zu kennen, erriet er jedoch mit der Präzision seines von Haß geschärften Verstands, daß der Name, bei dem er Schulkinder seinen Sohn rufen hörte, der Name, den er den Lumpensammler gebrauchen hörte, als er dem Jungen 3 Cents für ein Bündel alter Kleider auszahlte – erriet er, daß dieser Name nicht rein war. Milchmann. Das klang gewiß nicht nach dem ehrlichen Beruf eines Milchhändlers, und er dachte dabei auch nicht an kalte, blanke Kannen, die glänzend wie wachhabende Offiziere auf der Küchenveranda standen. Es klang schmutzig, intim und schwül. Er wußte, daß der Name, woher er auch immer kam, etwas mit seiner Frau zu tun hatte und wie das Gefühl, das er stets empfand, wenn er an sie dachte, mit Ekel bedeckt war.

Dieser Ekel und das Unbehagen, mit dem er seinen Sohn betrachtete, beeinflußte alles, was er in der Stadt tat. Wenn er sich hätte traurig fühlen können, einfach traurig, es hätte ihm Erleichterung gebracht. Fünfzehn Jahre des Bedauerns über das Ausbleiben eines Sohnes waren in Bitterkeit darüber gemündet, daß er nun endlich unter widerwärtigsten Umständen einen besaß.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sein Kopf voller Haar gewesen war und Ruth entzückend komplizierte Unterwäsche getragen hatte, von der sie zu befreien er sich absichtlich viel Zeit nahm. In der sein Vorspiel einzig darin bestanden hatte, die Verschlüsse und Verschnürungen ihrer Unterwäsche aufzubinden, aufzuhaken, aufzuschnallen, welche die schönste, die zarteste, die weißeste und weichste gewesen sein mußte, die es auf der Welt gab. Mit jeder Öse ihres Korsetts spielte er (und es waren vierzig – zwanzig auf jeder Seite); jedes gerippte Seidenband, das sich blaßblau durch das schneeige Oberteil ihres Mieders schlängelte, schnürte er auf. Er löste nicht nur die blaue Schleife, ganz heraus aus dem Saum zog er es, so daß sie es später mit einer Sicherheitsnadel wieder einfädeln mußte. Die elastischen Bänder, die ihre Achselblätter mit dem Unterrock verbanden, ließ er auf- und zuschnappen, neckte sie und sich selbst mit dem Geräusch der Schnallen und dem Beben seiner Fingerkuppen auf ihren Schultern. Niemals sprachen sie während dieser Entkleidungen. Aber gelegentlich kicherten sie, und wie beim Doktorspiel von Kindern war das Entkleiden natürlich das Allerschönste.

Wenn Ruth nackt war und so feucht und krümelig dalag wie ungebleichter Zucker, beugte er sich hinab, um ihre Schuhe aufzuschnüren. Das war die abschließende Wonne, denn gleich nachdem er ihre Füße entblößt hatte, drang er in sie ein und ejakulierte schnell. Ihr gefiel es so. Ihm auch. Und in fast zwanzig Jahren, während derer er kein Auge auf ihre nackten Füße geworfen hatte, vermißte er allein die Unterwäsche.

Einst hatte er geglaubt, der Anblick ihres Mundes auf den Fingern des Toten werde dasjenige sein, was ihm immer in Erinnerung bleiben würde. Er hatte sich geirrt. Nach und nach erinnerte er sich an immer weniger Details, bis er sie sich schließlich neu ausdenken, ja erfinden mußte, erraten mußte, wie sie ausgesehen haben mochten. Die Vorstellung schwand dahin, die Widerlichkeit niemals. Um seine Wut zu nähren, blieb er auf die Erinnerung an ihre Unterwäsche angewiesen; an jene runden, unschuldigen Korsettösen, die für ihn nun auf immer verloren waren.

Wenn also die Leute seinen Sohn Milchmann riefen und wenn sie die Lider senkte und sich den Schweiß von der Oberlippe tupfte, sobald sie es hörte, dann bestand da eindeutig ein schmutziger Zusammenhang, und es war für Macon Dead nicht von der geringsten Bedeutung, ob jemand ihm die Details mitteilte oder nicht.

Und sie taten es nicht. Niemand war zugleich mutig und interessiert genug, es ihm zu erzählen. Die interessiert genug waren, Lena und Corinthians, die lebenden Beweise für jene Jahre, in denen er seine Frau entkleidet hatte, waren nicht mutig genug. Und die einzige Person, die es gewagt hätte, aber kein Interesse zeigte, war die einzige Person auf der Welt, die er mehr haßte als seine Frau – ungeachtet der Tatsache, daß sie seine Schwester war. Er hatte sich seit der Geburt seines Sohnes nicht mehr herabgelassen, sie zu besuchen, und er hegte nicht die Absicht, ihre Beziehungen nun zu erneuern.

Macon Dead grub in seiner Tasche nach den Schlüsseln und krümmte die Finger um sie, ließ ihre gebündelte Festigkeit besänftigend auf sich wirken. Es waren die Schlüssel zu sämtlichen Türen seiner Häuser (nur vier davon eigentlich Häuser, die übrigen waren in Wirklichkeit Hütten), und von Zeit zu Zeit strich er zärtlich darüber, während er die Not Doctor Street hinunter zu seinem Büro ging. Jedenfalls betrachtete er es als sein Büro, hatte sogar das Wort BÜRO an die Tür malen lassen. Aber die Schaufensterscheibe widersprach ihm. Abblätternde, im Halbkreis angeordnete Goldlettern wiesen sein Geschäftslokal als Sonnys Laden aus. Den Namen des Vorbesitzers abzukratzen war kaum der Mühe wert, da er ihn den Leuten nicht aus den Köpfen kratzen konnte. Sein Ladenbüro wurde nie anders genannt als Sonnys Laden, obwohl sich niemand an jenen Sonny erinnern konnte, der dreißig Jahre zuvor hier vermutlich das eine oder andere betrieben hatte.

Dorthin ging er nun – stolzierte wäre das bessere Wort, denn er besaß einen hohen Hintern und den weit ausholenden Gang eines Athleten – und dachte über Namen nach. Sicher, dachte er, hatten er und seine Schwester irgendeinen Vorfahren, einen geschmeidigen jungen Mann mit onyxfarbener Haut und Beinen, so gerade wie Bambusrohr, der einen wirklichen Namen gehabt hatte. Einen Namen, der ihm bei der Geburt mit Liebe und Ernst verliehen worden war. Einen Namen, der kein Witz war, keine Maske und kein Markenzeichen. Aber wer dieser geschmeidige junge Mann war und von woher seine Bambusbeine ihn wohin getragen hatten, würde man nie erfahren. Nein. Auch nicht seinen Namen. Seine eigenen Eltern hatten, in irgendeiner perversen Anwandlung von Resignation, eingewilligt, einen Namen hinzunehmen, der ihnen von jemandem angetan worden war, dem nichts hätte gleichgültiger sein können. Eingewilligt, ihn hinzunehmen und all ihren Nachkommen weiterzugeben, diesen belastenden Namen, den ein betrunkener Yankee der Unionsarmee in völliger Gedankenlosigkeit hingekritzelt hatte. Buchstäblich ein Schreibfehler, seinem Vater auf einem Stück Papier ausgehändigt, das er an seinen einzigen Sohn weiterreichte, der desgleichen tat und es an seinen Sohn weiterreichte, an Macon Dead, der einen zweiten Macon Dead zeugte, der Ruth Foster (Dead) ehelichte und Magdalene, Lena Dead genannt, und First Corinthians Dead und (als er es am wenigsten erwartete) einen weiteren Macon Dead zeugte, der nun in dem Teil der Welt, auf den es ankam, als Milchmann Dead bekannt war. Und, als sei dies nicht genug, eine Schwester namens Pilate Dead, die ihrem Bruder gegenüber die Umstände oder Einzelheiten dieser törichten Fehlbenennung seines Sohnes nie erwähnen würde, weil die ganze Sache sie ergötzt haben dürfte. Sie kostete sie wohl aus, faltete sie vielleicht gar ebenfalls in ein Messingkästchen und ließ es als Gehänge von ihrem anderen Ohr baumeln.

Als junger Vater hatte er die Sitte unterstützt, die Namen für alle Kinder – mit Ausnahme des ersten männlichen – blindlings der Bibel zu entnehmen. Und auf was immer sein Finger deutete, dabei war er geblieben, denn er wußte um jede Konfiguration bei der Namensgebung seiner Schwester. Wie sein Vater, verwirrt und melancholisch ob des Todes seiner Frau im Kindbett, die Bibel durchgeblättert und, da er nicht ein Wort lesen konnte, eine Gruppe von Buchstaben ausgewählt hatte, die ihm stark und schön erschien; in der er eine ausladende Figur erblickte, die aussah wie ein Baum, der sich hoheitsvoll, aber beschützend über eine Reihe kleinerer Bäume breitete. Wie er die Gruppen von Buchstaben auf ein Stück braunes Papier kopiert hatte – wie es Analphabeten tun –, jeden Schnörkel, Bogen und Balken der Buchstaben kopiert und das Ganze der Hebamme vorgelegt hatte.

«Das ist der Name des Babys.»

«Das willst du als Namen für das Baby?»

«Das will ich als Namen für das Baby. Sag ihn.»

«So kannst du das Baby nicht nennen.»

«Sag ihn.»

«Das ist ein Männername.»

«Sag ihn.»

«Pilate.»

«Was?»

«Pilate. Du hast Pilate aufgeschrieben.»

«Peillot, wie auf den Flußschiffen?»

«Nein. Nich wie das Peillot auf 'nem Flußschiff. Wie 'n Heilandmörder. Kannst kaum 'n schlimmeren Namen finden. Für 'n kleines Mädchen auch noch.»

«Mein Finger hat drauf gedeutet.»

«Na, brauchst mit dem Hirn ja nich folgen. Willst das mutterlose Kind hier doch nich nach dem Mann nennen, der Jesus ermordet hat, oder?»

«Hab Jesus gebeten, daß er meine Frau rettet.»

«Vorsicht, Macon.»

«Hab ihn die ganze Nacht gebeten.»

«Hat dir dein Baby gegeben.»

«Ja. Hat er. Baby namens Pilate.»

«Jesus, Erbarmen.»

«Wo willst du hin mit dem Stück Papier?»

«Wandert hin, wo es herkommt. Gradwegs in dem Teufel sein Feuer.»

«Gibs her. Kommt aus der Bibel. Bleibt in der Bibel.»

Und da blieb es, bis das Mädchen zwölf wurde und es herausnahm, zu einem winzigen Päckchen faltete und in ein Messingkästchen steckte und das ganze Ding an seinem linken Ohrläppchen befestigte. So eigen, wie sie als Zwölfjährige mit ihrem Namen gewesen war – wieviel eigenartiger sie seitdem geworden sein mochte, konnte Macon nur raten. Aber er wußte sicher, daß sie die Namensgebung des dritten Macon Dead mit der gleichen Achtung und Ehrfurcht behandeln würde, mit der sie sich bei der Geburt des Jungen verhalten hatte.

Macon Dead erinnerte sich, daß sie, als sein Sohn geboren wurde, sich mehr für diesen ersten Neffen zu interessieren schien als für ihre eigene Tochter und sogar für die Tochter dieser Tochter. Noch lange nachdem Ruth wieder wohlauf und so gut imstande war, den Haushalt zu führen, wie man es von ihr je erwarten durfte – und da war nicht viel zu erwarten –, kam Pilate weiterhin zu Besuch, mit offenen Schnürbändern, eine Strickmütze tief in die Stirn gezogen, und trug ihr närrisches Ohrgehänge und ihren widerlichen Geruch in die Küche. Seit seinem sechzehnten Jahr hatte er sie nicht mehr gesehen, erst ein Jahr vor der Geburt seines Sohnes war sie in seiner Stadt aufgetaucht. Nun benahm sie sich wie eine Schwägerin, wie eine Tante, pfuschte herum in dem Versuch, Ruth und den Mädchen zur Hand zu gehen, aber da sie von ordentlicher Haushaltsführung weder etwas verstand noch ein Interesse dafür aufbrachte, war sie im Weg. Schließlich setzte sie sich bloß auf einen Stuhl neben die Wiege und sang dem Baby vor. Das war so schlimm nicht, aber woran Macon sich vor allem erinnerte, war der Ausdruck in ihrem Gesicht. Überraschung stand darin und Eifer. Aber in solcher Intensität, daß es ihm Unbehagen bereitete. Oder vielleicht war es mehr als das. Vielleicht war es das Wiedersehen mit ihr, so viele Jahre, nachdem sie sich vor jener Höhle getrennt hatten, und die Erinnerung an seine Wut und ihren Verrat. Wie tief sie seit damals gesunken war. Nicht ein Spur von Schicklichkeit mehr. Einst war sie ihm das Liebste auf der Welt gewesen. Nun war sie verschroben, düster und – schlimmer noch – verschlampt. Ein regelrechter Grund zur Beschämung, wenn er es hinnehmen würde. Aber er nahm es nicht hin.

Schließlich hatte er ihr verboten wiederzukommen, solange sie nicht ein wenig Selbstachtung an den Tag legen konnte. Eine richtige Arbeit finden konnte, statt eine Weinbude zu betreiben.

«Warum kannst du dich nicht kleiden wie eine Frau?» Er stand neben dem Herd. «Was soll die Matrosenmütze da auf deinem Kopf? Hast du keine Strümpfe? Willst du, daß ich mein Gesicht verliere hier in der Stadt?» Er bebte, wenn er daran dachte, daß die Weißen in der Bank – die Männer, die ihm halfen, Häuser zu kaufen und Hypotheken aufzunehmen – herausfinden könnten, daß diese abgerissene illegale Weinpanscherin seine Schwester war. Daß der begüterte Neger, der sein Geschäft so geschickt führte und in dem großen Haus in der Not Doctor Street wohnte, eine Schwester besaß, die eine Tochter, aber keinen Mann hatte, und daß diese Tochter eine Tochter, aber keinen Mann hatte. Ein Haufen Irrer, die Wein brauten und in den Straßen sangen «wie gewöhnliche Straßendirnen! Genau wie gewöhnliche Straßendirnen!»

Pilate hatte dagesessen und ihm zugehört, ihre fragenden Augen auf sein Gesicht gerichtet. Dann sagte sie: «Hab mich um dich auch krank gesorgt, Macon.»

Aufgebracht war er zur Küchentür gegangen. «Mach nur weiter, Pilate. Nur weiter so. Die Wand zwischen mir und dem Bösen ist hauchdünn, und ich versuch, sie nicht zu durchbrechen.»

Pilate stand auf, warf sich ihre Steppdecke um und ging, mit einem letzten liebevollen Blick auf das Baby, zur Küchentür hinaus. Sie kam nie wieder.

Als Macon Dead die Tür seines Büros erreichte, sah er ein paar Schritte entfernt eine untersetzte Frau und zwei kleine Jungen stehen. Macon schloß seine Tür auf, ging zu seinem Schreibtisch hinüber und ließ sich dahinter nieder. Als er sein Rechnungsbuch durchblätterte, trat die untersetzte Frau ein, allein.

«Tag, Mr. Dead, Sir. Bin Mrs. Bains. Wohn drüben in Nummer drei in der Fünfzehnten.»

Macon erinnerte sich – nicht an die Frau, aber an die Umstände in Nummer drei. Die Großmutter oder Tante oder was auch immer seines Mieters war dort eingezogen, und die Miete war seit langem überfällig.

«Ja, Mrs. Bains. Sie haben was für mich?»

«Also – deswegen komm ich, mit Ihnen reden. Wissen ja, Cency hat mich mit den ganzen Babies hängenlassen. Un mein Wohlfahrtsscheck reicht für nich mehr, als 'nen ausgewachsnen Hofhund lebendig zu halten – halblebendig, sollt ich sagen.»

«Ihre Miete beträgt 4 Dollar im Monat, Mrs. Bains. Sind schon zwei Monate im Rückstand.»

«Weiß wohl, Mr. Dead, Sir, aber Babies halten nich durch, ohne was im Bauch.»

Ihre Stimmen waren leise, höflich, nichts deutete auf einen Konflikt hin.

«Halten sie auf der Straße durch, Mrs. Bains? Da sitzen sie nämlich, wenn Sie sich nich was ausdenken, wie Sie mir mein Geld verschaffen.»

«Nee, Sir. Halten nich durch auf der Straße. Wir brauchen beides, schätz ich. Grad so wie Ihre.»

«Dann halten Sie sich mal besser dran, Mrs. Bains. Haben Zeit bis –» er drehte sich zur Wand, um den Kalender zu Rate zu ziehen – «bis kommenden Samstag, Mrs. Bains. Nich Sonntag. Nich Montag. Samstag.»

Wäre sie jünger gewesen und noch voller Saft, das Glitzern in ihren Augen hätte ihre Wangen überströmt. Nun, in dieser Phase ihres Lebens, schimmerte es nur. Sie preßte die Handfläche auf Macon Deads Schreibtisch, beschränkte das Schimmern auf ihre Augen und schob sich vom Stuhl hoch.

«Was bringts Ihnen, Mr. Dead, mich un die Kinder da rauszusetzen?»

«Samstag, Mrs. Bains.»

Gesenkten Kopfes flüsterte Mrs. Bains etwas und ging langsam und schwerfällig aus dem Büro. Als sie die Tür zu Sonnys Laden hinter sich schloß, kamen ihre Enkel aus dem Sonnenlicht in den Schatten, in dem sie stand.

«Was hat er 'n gesagt, Granny?»

Mrs. Bains legte dem größeren Jungen eine Hand aufs Haar und spielte leicht damit, suchte mit den Nägeln gedankenabwesend nach verschorften Stellen.

«Muß nein zu ihr gesagt haben», meinte der andere Junge.

«Müssen wir raus?» Der große Junge schüttelte ihre Finger ab und sah sie von der Seite an. Seine Katzenaugen waren goldene Schlitze.

Mrs. Bains ließ ihre Hand herabfallen. «Ein Nigger im Geschäft is ein schrecklicher Anblick. Ein schrecklicher, schrecklicher Anblick.»

Die beiden Jungen sahen einander an und wieder auf ihre Großmutter. Ihre Lippen waren geöffnet, als hätten sie etwas Bedeutsames vernommen.

Als Mrs. Bains die Tür schloß, wandte Macon Dead sich wieder den Seiten seines Rechnungsbuchs zu, ließ die Fingerspitzen über die Zahlen gleiten und dachte mit dem unbeschäftigten Teil seines Verstands daran, wie er Ruth Fosters Vater zum erstenmal seine Aufwartung gemacht hatte. Nur zwei Schlüssel steckten damals in seiner Tasche, und hätte er Leuten wie der Frau, die eben gegangen war, ihren Willen gelassen, dann hätte er überhaupt keinen Schlüssel besessen. An diesen Schlüsseln lag es, daß er es wagen konnte, in jenen Abschnitt der Not Doctor Street hinüberzugehen (Doctor Street hieß sie damals noch) und sich dem wichtigsten Neger in der Stadt zu nähern. Die Löwenklaue klopfend gegen die Tür fallen zu lassen, sich mit dem Gedanken zu tragen, die Tochter des Doktors zu ehelichen – das war nur möglich, weil jeder Schlüssel für ein Haus stand, das er zu jener Zeit besaß. Ohne jene Schlüssel wäre er bei dem ersten «Ja?» des Doktors abgedriftet. Oder wie frisches Wachs unter der Hitze dieser fahlen Augen zerschmolzen. Statt dessen war er imstande zu sagen, er sei seiner Tochter, Miss Ruth Foster, vorgestellt worden und würde sich glücklich schätzen, wenn der Doktor ihm erlaube, ihr hier und da Gesellschaft zu leisten. Daß seine Absichten ehrenwert seien und er selbst es gewiß verdiene, vom Doktor als ritterlicher Freund seiner Tochter in Erwägung gezogen zu werden, da er, mit fünfundzwanzig, bereits ein farbiger Mann von Besitz sei.

«Ich weiß nichts über Sie», sagte der Doktor, «außer Ihrem Namen, den ich nicht mag, aber ich werde mich über die Wahl meiner Tochter nicht hinwegsetzen.»

In Wirklichkeit wußte der Doktor eine ganze Menge über ihn und war diesem hochgewachsenen jungen Mann dankbarer, als zu zeigen er sich gestattete. Lieb wie ihm sein einziges Kind war, nützlich wie sie sich im Haus seit dem Tod seiner Frau erwies, hatte er doch in letzter Zeit begonnen, sich an ihrer Anhänglichkeit zu stoßen. Ihr steter Strom von Liebe war beunruhigend, und sie hatte die Gesten der Zuneigung, die in ihrer Kindheit so liebenswert gewesen waren, nie abgelegt. Allein schon der Gutenachtkuß war ein Meisterstück an Begriffsstutzigkeit auf ihrer und von Unbehagen auf seiner Seite. Mit sechzehn bestand sie noch immer darauf, daß er abends zu ihr kam, sich auf ihr Bett setzte, ein paar scherzhafte Worte mit ihr tauschte und ihr einen Kuß auf die Lippen drückte. Vielleicht lag es am lauten Schweigen seiner toten Frau, vielleicht an Ruths bestürzender Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Wahrscheinlicher noch lag es an der Ekstase, die in Ruths Gesicht immer aufzuglühen schien, wenn er sich zum Kuß über sie beugte – einer Ekstase, die er als dem Anlaß unangemessen empfand.

Nichts von alldem hatte er natürlich dem jungen Mann dargelegt, der seine Aufwartung machen kam. Worauf zurückzuführen ist, warum Macon Dead noch immer glaubte, die beiden Schlüssel hätten magisch gewirkt.

 

Mitten in seiner Träumerei wurde Macon durch ein rasches Pochen am Fenster unterbrochen. Er blickte auf, sah Freddie zwischen den Goldlettern durchspähen und ermunterte ihn mit einem Nicken einzutreten. Ein Bantamgewicht mit Goldzähnen, war Freddie an der Southside so etwas wie ein Stadtausrufer. Eben dieses rasche Pochen an der Fensterscheibe, dieses goldblitzende Lächeln war seinem inzwischen berühmt gewordenen, an Macon gerichteten Ausruf vorhergegangen: «Mr. Smith is zerplatscht!» Es war für Macon offenkundig, daß Freddie nun von einem weiteren Desaster zu berichten hatte.

«Porter is wieder irr besoffen! Hat sein Schießgewehr!»

«Auf wen hat ers abgesehen?» Macon begann Bücher zuzuklappen und Schubladen zu öffnen. Porter war einer seiner Mieter, und morgen war die Miete fällig.

«Nich auf wen Bestimmtes. Hockt sich bloß ins Mansardenfenster un fängt an, mit 'nem Schießgewehr rumzufuchteln. Sagt, muß sich einen umlegen, eh es morgen is.»

»Heut bei der Arbeit gewesen?»

«Ja. Un seine Tüte gekriegt.»

«Alles versoffen?»

«Nich alles. Hat nur eine Flasche gekriegt, bleibt ihm noch 'ne Handvoll Geld.»

«Wer is so verrückt, ihm Schnaps zu verkaufen?»

Freddie ließ ein paar Goldzähne sehen, sagte aber nichts; also wußte Macon, daß es Pilate gewesen war. Er verschloß alle Schubladen außer einer – die schloß er auf und entnahm ihr eine kleine Kaliber .32.

«Polizei warnt jeden Panscher im Land, und er kriegts trotzdem irgendwie.» Macon spielte die Scharade weiter und tat so, als wüßte er nicht, daß seine Schwester diejenige war, bei der Porter und jedermann – ob Erwachsener, Kind oder Tier – Wein kaufen konnten. Er dachte zum hundertstenmal, daß sie ins Gefängnis gehörte und daß er sie gern dorthin beförden würde, wenn er sicher sein könnte, daß sie nicht über ihn tratschen und ihn schäbig aussehen lassen würde in den Augen des Gesetzes – und der Banken.

«Können Sie umgehn mit dem Ding da, Mr. Dead, Sir?»

«Kann ich.»

«Porter is irr, wenn er besoffen is.»

«Weiß, wie er ist.»

«Wie ham Sie vor, ihn runterzutreiben?»

«Hab nicht vor, ihn runterzutreiben. Ich hab vor, mein Geld einzutreiben. Kann ruhig weitermachen und sterben da oben, wenn er will. Aber wenn er mir nicht meine Miete runterwirft, pust ich ihn aus dem Fenster.»

Freddies Kichern war sanft, aber seine Zähne preßten sich fester zusammen. Als geborener Speichellecker liebte er Klatsch und die Verbreitung von Klatsch. Er war das Ohr, das jede gemurmelte Klage, jedes Schimpfwort vernahm, und er war das Auge, das alles sah: die verstohlenen Liebesblicke, die Kämpfe, die neuen Kleider.

Macon kannte Freddie als Narren und als Lügner, aber als verläßlichen Lügner. Er hatte immer recht, was die Fakten anging, und immer unrecht, was die Motive betraf, aus denen die Fakten entstanden. Wie er nun gerade recht damit hatte, daß Porter über ein Gewehr verfügte, im Mansardenfenster saß und betrunken war. Aber Porter wartete nicht darauf, jemanden – wenn dies bedeutete: irgend jemanden – umzubringen, bevor es morgen wurde. Vielmehr hatte er eine sehr genaue Vorstellung, wen er umbringen wollte – sich selbst. Eine Vorbedingung allerdings gab es, die er laut und deutlich vom Speicher herunterbrüllte. «Ich will ficken! Schickt mir jemand zum Ficken rauf! Hört ihr mich? Schickt mir jemand rauf, ich sags euch, oder ich blas mir das Hirn in die Luft!»

Als Macon und Freddie sich dem Hof näherten, antworteten die Frauen aus dem Logierhaus gerade kreischend auf Porters Bitte.

«Was 'n das für 'n Handel?»

«Erst bring dich um, dann schicken wir dir wen.»

«Muß es 'ne Frau sein?»

«Muß es was Menschliches sein?»

«Muß es was Lebendiges sein?»

«Kanns 'ne Scheibe Leber sein?»

«Leg das Ding hin und werf mir mein gottverdammtes Geld runter!» Macons Stimme drang schneidend durch die Späße der Frauen. «Laß die Dollars da runterflattern, Nigger, dann jag dich in die Luft!»

Porter wandte sich um und zielte mit seinem Gewehr auf Macon.

«Wenn du abdrückst», brüllte Macon, «treff bloß nicht daneben. Wenn du losballerst, sorg bloß dafür, daß ich tot bin, sonst knall ich dir nämlich die Eier in die Gurgel!» Er zog seine eigene Waffe hervor. «Raus jetzt aus dem verfluchten Fenster!»

Porter zauderte nur für eine Sekunde, bevor er den Lauf des Gewehrs auf sich selbst richtete – oder es versuchte. Dessen Länge machte es schwierig; seine Trunkenheit machte es unmöglich. Während er sich abmühte, den richtigen Winkel zu finden, wurde er plötzlich abgelenkt. Er lehnte sein Gewehr an das Fensterbrett, holte seinen Penis heraus und pinkelte den Frauen über die Köpfe, womit er ein panisches Geschrei und Gerenne auslöste, das zu verursachen dem Gewehr nicht gegeben gewesen war. Macon rieb sich am Hinterkopf, während Freddie sich krümmte vor Lachen.

Über eine Stunde lang hielt Porter sie in Schach: indem er sich duckte, schrie, drohte, urinierte und all das mit flehentlichen Bitten um eine Frau durchflocht.

Immer wieder stieß er mit wogenden Schultern grandiose Schluchzer aus, denen neuerliche Aufschreie folgten.

«Ich lieb euch! Lieb euch alle. Seid doch nich so. Frauen ihr. Aufhörn. Seid doch nich so. Seht ihr denn nich, wie ich euch lieb? Sterben würd ich für euch, killen würd ich. Lieben tu ich euch, sag ich. Wenn ich euchs doch sag. O Gott, hab Erbarmen. Was soll ich denn tun? Was in aller Welt soll ich verflucht noch mal tuuun?»

Tränen strömten ihm über das Gesicht, und er wiegte den Gewehrlauf in den Armen, als sei er die Frau, um die er gebettelt, nach der er gesucht hatte, sein Leben lang. «Gib mir Haß, Herr», winselte er. «Haß nehm ich alle Tage. Aber gib mir keine Liebe. Ich vertrag keine Liebe mehr, Herr. Kann sie nicht ertragen. Genau wie Mr. Smith. Konnt sie nich tragen. Is zu schwer. Jesus, du weißts. Weißt alles drüber. Is sie nich schwer? Jesus? Is Liebe nich schwer? Verstehst du nich, Herr? Dein eigner Sohn konnt sie nich tragen. Wenn sie ihn umgebracht hat, was glaubst du, daß sie mir tut? Hm? Hm?» Er wurde wieder wütend.

«Runter jetzt da, Nigger!» Macons Stimme war noch immer laut, aber sie ermüdete allmählich.

«Und du, du Stummelschwanzaffe –» er versuchte auf Macon zu deuten – «bist der Schlimmste. Du hast das Töten nötig. Du hasts wirklich nötig. Weißte warum? Na, ich sag dir warum. Ich weiß warum. Jeder …»

Porter sackte im Fenster zusammen, «jeder weiß warum» murmelnd, und schlief rasch ein. Während er absank, rutschte ihm das Gewehr aus der Hand, ratterte über das Dach hinab und schlug mit lautem Knall auf dem Boden auf. Der Schuß pfiff am Schuh eines Herumstehenden vorbei und riß ein Loch in den Reifen eines abgetakelten Dodge, der auf der Straße geparkt war.

«Geh und hol mir mein Geld», sagte Macon.

«Ich?» fragte Freddie. «Mal angenommen, er …»

«Geh und hol mir mein Geld.»

Porter schnarchte. Den Gewehrschuß und die Leerung seiner Taschen verschlief er wie ein Säugling.

Als Macon aus dem Hof schritt, war die Sonne hinter der Brotfabrik verschwunden. Müde, gereizt, ging er die Fünfzehnte Straße hinunter und schaute nur auf, als er an einem seiner Häuser vorbeikam, dessen Silhouette in der zwischen Zwielicht und Dämmerung vibrierenden Beleuchtung verschwamm. Hier und da verstreut, dehnten seine Häuser sich hinter ihm aus wie hingekauerte Geister mit verhüllten Augen. Er betrachtete sie ungern in diesem Licht. Während des Tages boten sie einen ermutigenden Anblick; nun schienen sie ihm überhaupt nicht zu gehören – ja, er hatte die Empfindung, als wären die Häuser miteinander verbündet, um ihm das Gefühl zu vermitteln, er sei der Außenseiter, der besitzlose, landlose Wanderer. Dieses Gefühl von Einsamkeit bewog ihn dazu, eine Abkürzung zurück zur Not Doctor Street zu wählen, auch wenn ihn diese am Haus seiner Schwester vorbeiführte. In der sich verdichtenden Dunkelheit würde er, da war er sicher, von ihr unbemerkt vorbeigehen können. Er durchquerte einen Hof und folgte einem Zaun, der zur Darling Street führte, wo Pilate in einem schmalen einstöckigen Haus wohnte, dessen Fundament sich mehr aus dem Boden zu erheben als darin zu gründen schien. Sie hatte keine Elektrizität, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen mochte. Auch Gasrechnungen bezahlte sie nicht. Abends beleuchteten sie und ihre Tochter das Haus mit Kerzen und Petroleumlampen; sie kochten und wärmten sich mit Holz und Kohle, pumpten Wasser für die Küche durch ein Rohr vom Brunnen in ein trockenes Spülbecken und lebten ganz so, als sei Fortschritt ein Wort, das bedeutete, ein Stückchen weiter des Wegs zu gehen.

Ihr Haus stand dreißig Meter vom Gehweg entfernt und wurde von vier riesigen Kiefern bewacht, von denen sie die Nadeln gewann, die sie in ihre Matratze steckte. Als er die Kiefern sah, mußte er plötzlich an ihren Mund denken; wie gern sie als Mädchen Kiefernnadeln gekaut und daß sie folglich schon damals gerochen hatte wie ein Wald. Ein Dutzend Jahre lang war sie gleichsam sein Kind gewesen. Sie hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter aus deren Schoß hervorgekämpft, ohne die Hilfe pulsierender Muskeln oder den Druck geschwind strömenden Fruchtwassers. Infolgedessen war ihr Bauch während all der Jahre, die er sie kannte, so glatt und kräftig gewesen wie ihr Rücken, an keiner Stelle von einem Nabel durchbrochen. Das Fehlen eines Nabels war es, was die Leute davon überzeugte, sie sei nicht auf normalen Wegen auf diese Welt gelangt; sei niemals geboren gewesen, geschwommen oder gewachsen an einem warmen, feuchten Ort, durch eine hauchdünne Schnur mit einer verläßlichen Quelle menschlicher Nahrung verbunden. Macon wußte es anders, denn er war dabeigewesen und hatte die Augen der Hebamme gesehen, als die Beine seiner Mutter zusammenfielen. Und auch ihre Schreie gehört, als das Baby, das sie gleichermaßen tot geglaubt hatten, sich Zoll für Zoll mit dem Kopf voraus aus einer leblosen, stummen und gleichgültigen Fleischeshöhle hervorgedrängt hatte, Nabelschnur und Nachgeburt hinter sich herziehend. Aber das übrige war wahr. Als der Lebensstrang des Neugeborenen einmal durchschnitten war, schrumpfte der Stumpf der Nabelschnur, fiel ab, ohne eine Spur zu hinterlassen, die darauf hindeutete, daß er jemals existiert hatte; was er als kleiner Junge, der sein Schwesterchen hütete, nicht seltsamer fand als einen kahlen Kopf. Er war siebzehn Jahre alt, unwiderruflich von ihr getrennt und bereits auf dem Wege, seinem Drang nach Reichtum zu folgen, als er erfuhr, daß es wahrscheinlich keinen zweiten Bauch wie den ihren gab auf der Welt.

Nun, da er sich ihrem Grundstück näherte, vertraute er darauf, daß die Dunkelheit jeden in ihrem Haus daran hindern würde, ihn zu sehen. Er blickte nicht einmal nach links, während er vorbeiging. Aber dann hörte er die Musik. Sie sangen. Alle zusammen. Pilate, Reba und Rebas Tochter, Hagar. Soweit er sah, war niemand auf der Straße; die Leute saßen beim Abendessen, leckten sich die Finger, bliesen in mit Kaffee gefüllte Untertassen und schwatzten zweifellos über Porters Eskapade und Macons furchtlose Begegnung mit dem wilden Mann in der Mansarde. Es gab keine Straßenlaternen in diesem Teil der Stadt; nur der Mond wies einem Fußgänger den Weg. Macon ging weiter, widerstand nach besten Kräften dem Klang der Stimmen, der ihm folgte. Er näherte sich schnell einem Abschnitt der Straße, wohin die Musik nicht dringen konnte, als ihm, wie der Szene auf der Rückseite einer Postkarte, ein Bild dessen vor Augen trat, worauf er zusteuerte – sein eigenes Haus; der schmale, unnachgiebige Rücken seiner Frau; seine Töchter, ausgedörrt von Jahren des Verlangens; sein Sohn, zu dem er nur sprechen konnte, wenn seine Worte einen Befehl oder eine Kritik enthielten. «Hallo, Daddy.» –«Hallo, Sohn, stopf dein Hemd rein.» – «Ich hab einen toten Vogel gefunden, Daddy.» – «Bring solchen Schmutz nicht ins Haus …» Dort gab es keine Musik, und heute abend wünschte er sich ein ganz klein wenig Musik – von dem Menschen, dem er zuerst zugetan gewesen war.

Er kehrte um und ging langsam auf Pilates Haus zu. Sie sangen ein Lied, das Pilate anführte, eine Melodie, die von den beiden anderen aufgegriffen und variiert wurde. Ihr kraftvoller Alt, Rebas durchdringender Sopran als Gegenstimme und die sanfte Stimme des Mädchens, das jetzt ungefähr zehn oder elf sein mußte, zogen ihn an wie einen Teppichstift unter dem Einfluß eines Magneten.

Dem Klang erliegend, trat Macon näher. Er wünschte kein Gespräch, keinen Zeugen, nur zuzuhören und sie vielleicht zu sehen, die drei, die Quelle dieser Musik, die ihn an Felder und wilden Truthahn und Kaliko denken ließ. So leichten Schritts, wie er nur konnte, schlich er an das Seitenfenster heran, in dem das Kerzenlicht am schwächsten flackerte, und spähte hinein. Reba schnitt sich mit einem Küchen- oder Taschenmesser die Zehennägel, den langen Hals fast bis auf die Knie gebeugt. Das Mädchen, Hagar, flocht ihr Haar, während Pilate, deren Gesicht er nicht sehen konnte, weil sie dem Fenster den Rücken zuwandte, etwas in einem Topf rührte. Traubenbrei vielleicht. Macon wußte, es war keine Speise, die sie rührte, denn sie und ihre Töchter aßen wie die Kinder. Wonach immer ihnen der Sinn stand. Nie wurde eine ausgewogene Mahlzeit geplant oder zusammengestellt oder aufgetragen. Und nie gingen sie gemeinsam zu Tisch. Pilate buk vielleicht Hefebrot, und jede von ihnen aß es mit Butter, wenn sie Lust dazu verspürte. Oder es mochten Trauben da sein, vom Weinmachen übriggeblieben, oder tagelang nichts als Pfirsiche. Wenn eine von ihnen eine Gallone Milch kaufte, tranken sie davon, bis nichts mehr da war. Wenn eine andere an eine Kiste Tomaten kam oder an ein Dutzend Maiskolben, aßen sie auch die, bis nichts mehr übrig war. Sie aßen, was sie hatten oder wessen sie habhaft wurden oder wonach sie Verlangen hatten. Die Gewinne aus dem Weinverkauf verdunsteten wie Meerwasser in einer heißen Brise, gingen drauf für Hagars Talmischmuck, für Rebas Geschenke an Männer, für – er wußte nicht was.

Hier am Fenster, verborgen in der Dunkelheit, spürte er, wie die Reizbarkeit des Tages von ihm abfiel, und genoß die mühelose Schönheit der im Kerzenlicht singenden Frauen. Rebas weiches