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Wolfgang Schmidbauer

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«Jetzt kaufen, später bezahlen ...» – inzwischen leben wir in den reichen Industrieländern alle nach dieser Devise. Wir verprassen die Ressourcen, von denen die folgenden Generationen leben müssen. Und wir wissen, wenn wir es wissen wollen, genau, was wir tun. Und tun es trotzdem. Warum? Wolfgang Schmidbauer untersucht die Frage nach den Gründen dieser Verblendung mit dem Instrumentarium der Psychologie des Unbewußten. Die Freiheit zu grenzenlosem Komfort muß, das wissen wir alle, eingeschränkt werden. Das wird nicht möglich sein, ohne Disziplinierung unserer Gier nach mehr, mehr, mehr. Die Konsumgesellschaft hat nur dann eine Überlebenschance, wenn die Bedeutung sozialer Disziplin neu erkannt und mit politischer Macht verstärkt wird. Ein eindringlicher Appell gegen Selbstbetrug und für kritische Reflexion

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Wolfgang Schmidbauer

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Die seelischen Folgen der Konsumgesellschaft

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Über dieses Buch

«Jetzt kaufen, später bezahlen ...» – inzwischen leben wir in den reichen Industrieländern alle nach dieser Devise. Wir verprassen die Ressourcen, von denen die folgenden Generationen leben müssen. Und wir wissen, wenn wir es wissen wollen, genau, was wir tun. Und tun es trotzdem. Warum? Wolfgang Schmidbauer untersucht die Frage nach den Gründen dieser Verblendung mit dem Instrumentarium der Psychologie des Unbewußten. Die Freiheit zu grenzenlosem Komfort muß, das wissen wir alle, eingeschränkt werden. Das wird nicht möglich sein, ohne Disziplinierung unserer Gier nach mehr, mehr, mehr. Die Konsumgesellschaft hat nur dann eine Überlebenschance, wenn die Bedeutung sozialer Disziplin neu erkannt und mit politischer Macht verstärkt wird.

Über Wolfgang Schmidbauer

Wolfgang Schmidbauer, geb. 1941 in München, studierte Psychologie und promovierte 1968 über «Mythos und Psychologie». Tätigkeit als freier Schriftsteller in Deutschland und Italien. Ausbildung zum Psychoanalytiker. Gründung eines Instituts für ‹Analytische Gruppendynamik›. 1985 Gastprofessor für Psychoanalyse an der Gesamthochschule Kassel; Psychotherapeut und Lehranalytiker in München.

Weitere Veröffentlichungen:

«Alles oder nichts», «Weniger ist manchmal mehr», «Helfen als Beruf», «Hilflose Helfer», «Du verstehst mich nicht», «Kein Glück mit Männern».

Inhaltsübersicht

EinleitungFortschritt und RückschrittDer Utopiewandel in der Gegenwart: Vom Überfluß zur DifferenzierungRegression und Disziplin in der (post)modernen GesellschaftDisziplinierungszusammenbrücheErster Teil: Die neue Barbarei1 Der Fortschritt des Konsums und der Rückschritt in die Barbarei2 Das Trojanische Pferd3 Intelligenz und Politik4 Die Welt der AnimateureZweiter Teil: Zweifel am Fortschritt5 Die Idee des Fortschritts6 Die Entwicklung der Werkzeuge7 Ein Faschismus der Waren8 Der gute Mensch – ein Anachronismus?Dritter Teil: Zur Psychologie der Regression9 Progression und Regression10 Bequeme Heilungen?11 Trauerarbeit12 Die narzißtische Dimension13 Spaltungserscheinungen14 Die optimale Versagung15 Die Faszination der Opferrolle16 Der Mißbrauch des Mißbrauchs17 Jugend, Regression und GewaltSchlußPersonenregisterSachregisterBibliografie von Wolfgang Schmidbauer

Einleitung

Fortschritt und Rückschritt

Seit langem haben mich die Mechanismen beschäftigt, die verhindern, daß seelische Entwicklungen sozusagen rückwärts verlaufen. Sie zu verstehen schien mir ein Schlüssel zu Fragen nach dem Gegensatz von Trieb und Vernunft, von Geist und Seele, von Pflicht und Neigung. Im Umgang mit depressiven Reaktionen fällt immer wieder auf, wie unendlich schwierig es für Menschen ist, sich auf einem Niveau seelisch zu organisieren, das einem idealisierten Lebensentwurf nicht mehr entspricht. Viele können sich nicht des Möglichen freuen, wenn es mißlingt, das Unmögliche zu erreichen.

Die Frage nach dem narzißtisch «besetzten» Ideal, von dem nicht abgewichen werden kann, gehört in die Zeit nach dem «Zusammenbruch» von 1945, als ich vier Jahre alt war. Mein Leben als Kind bestimmte eine diffuse Angst vor dem, was ich mir als Atomkrieg vorstellte – daß sozusagen die Welt weg ist.[*] Atombomben sind entdeckt und in Massen produziert. Sie warten. Es gibt keine Hoffnung, daß sie wieder aus der Welt verschwinden. Dinge erscheinen damit mächtiger als Menschen und ihre Institutionen. Den Bomben folgten Warenwelten, die in der Konsumgesellschaft unsere Identität weitgehend bestimmen. Im Zusammentreffen von Auschwitz und Hiroschima erschien die Unfehlbarkeit der Dinge in einem Augenblick wie eine Erlösung, als die Fehlbarkeit und Verführbarkeit der Menschen kulminierte.

Hitler ist das Symbol einer Selbstzerstörung, die in einem Kulturvolk um sich greifen und sich durchsetzen kann. Alle vaterländischen Ideale erscheinen nutzlos nach solchen Dimensionen des Mißbrauchs. Keine religiöse Konfession, kein philosophisches Ethos, keine künstlerische Schule hat sich im Dritten Reich als unantastbar erwiesen. Glaubwürdig blieben einzelne, als Gruppe nur die Opfer. Siegreich waren die Sachen, denn sie hatten niemals den Anspruch gestellt, wertvoller zu sein als das Geld, das sie kosteten, stabiler als die Stoffe, aus denen sie bestanden. Unmerklich ersetzten die Warenwerte die bisherigen Wertsysteme. Sie sind aus sinnlichen und geistigen Elementen gemischt, sie betonen die Wahlfreiheit, tragen aber die tradierten Formen des Zusammenhalts der Gesellschaft nicht mehr. Entscheidende moralische Erfahrungen und prägende Rituale meiner Jugend enthielt beispielsweise die Auseinandersetzung mit Fahrrad, Moped, mit dem ersten Auto.[*] Eine allgemeine Wirkung solcher Veränderungen scheint mir der Zerfall von verbindlichen Strukturen für Regression und für Disziplin. Der Motor als Initiation in die sexuelle Reife stimuliert regressive und progressive Qualitäten zugleich. Er behindert den Abbau von Größenphantasien und sadistischen Motiven, indem er Kontrolle über eine Maschine verspricht, die stärker ist als der eigene Körper.

Das Gleichgewicht von Disziplin und Regression[*] wird inzwischen nicht mehr durch gesellschaftliche Werte reguliert. Wir können uns sowenig darauf verlassen, daß sich eine wissenschaftlich besser begründete Position durchsetzt, wie darauf, daß das von den Kritikern gelobte Buch mehr Käufer findet als das von ihnen ignorierte. Gegenwärtig funktioniert die Machtelite in den Konsumgesellschaften als Anhängsel von Warenidentitäten. Selbstbeschränkung wird kaum ernsthaft diskutiert – selbst nicht (oder vor allem nicht) in Gestalt «leicht» einzuführender Regelungen wie autofreier Wochenenden oder eines fernsehfreien Tages pro Woche.

Die Atombombe hat die Zukunft der Menschheit verdüstert, aber doch noch die Illusion gestützt, wir könnten entscheiden, ob sie verwendet wird oder nicht. Die Atomkraftwerke sind gebaut, ihr Müll ist in der Welt, wir können weder entscheiden, ihn nicht zu erzeugen, noch wissen wir, wo er unschädlich gelagert werden kann. Das ist nur ein Beispiel für viele ähnliche Situationen. Gifte sickern in tiefere Erdschichten, Nuklearabfälle rosten auf dem Grund des Eismeers. Optimisten verfügen, daß ihre Leiche in flüssigem Stickstoff konserviert wird, weil sie der Zukunft zutrauen, sie werde ein Interesse daran haben, sie wiederzubeleben. Pessimisten vermuten, daß die Zukunft allenfalls ein Interesse haben wird, die Energieversorgung der Kühlapparatur für sinnvollere Zwecke zu verwenden.

Der Fortschrittsglaube war die zentrale Utopie der Aufklärung. Die gegenwärtigen Utopieverluste begleiten den Zusammenbruch der marxistisch begründeten Gesellschaftsformen. Inzwischen haben sich auch die einst sozialistischen Länder zum Konsumismus bekehrt. Fortschritt hat seitdem nichts mehr mit einer geistigen Position zu tun. Seine global durchsetzungskräftigste Variante ist das Begehren nach immer besseren Waren, die uns immer mehr körperliche und geistige Anstrengung abnehmen. Dieser Fortschrittsglaube ist an Vermehrung orientiert. Wachstum und Wohlstand sind fast identisch. Der Konsumismus setzt auf die menschliche Neigung zu Regression: Die Waren versprechen immer mehr Bequemlichkeit. Gleichzeitig fordert die Produktion dieser Waren höchste Disziplin, um die verführerischen Verbesserungen zu entwerfen und zu vermarkten. Die Gesellschaft spaltet sich. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer; die Produzenten raffinierter, die Konsumenten primitiver; die Tüchtigen fleißiger, die Untüchtigen fauler.

Der Utopiewandel in der Gegenwart: Vom Überfluß zur Differenzierung

Regressive Phänomene im Sinn der Entwicklung hinter einen bereits erreichten Stand der Differenzierung haben heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen besorgniserregende Ausmaße angenommen: Die Abiturienten machen mehr Rechtschreibfehler, die Straßenkriminalität nimmt in fast allen Großstädten zu, Korruption grassiert in Ländern, die einst hochmütig auf die Bakschischwirtschaft des Orients blickten. Wo der Utopiewandel am dramatischsten abläuft, in den einst sozialistischen Ländern, sind die Folgen besonders gravierend. Ganze Kontinente scheinen ins Chaos zu versinken; Regionen sind unzugänglicher, Stammesfehden blutiger als vor hundert Jahren.

Ich verstehe unter Disziplin die Orientierung an der Realität und den Versuch, einen gegenwärtigen Zustand der Differenzierung aufrechtzuerhalten. Dabei geht es auf intellektuellem Gebiet um Unterscheidungen von Illusion und Wahrheit, von Nachricht und Meinung, von empirischem Beweis und theoretischer Spekulation. Disziplin im menschlichen Zusammenleben enthält die Orientierung an Grundsätzen wie dem staatlichen Gewaltmonopol oder der Meinungsfreiheit, auch der schlichten Höflichkeit im Zusammenleben. Regression hingegen gibt erreichte Differenzierungen preis. Unerwünschte Folgen der eigenen, gegenwärtig verabsolutierten Wünsche werden ausgeblendet. «Jetzt haben, später zahlen» erweitert den amerikanischen Slogan «Buy now, pay later», mit dem die Kundenbanken für ihre Kredite warben. Sofortige Befriedigung wird zunehmend nicht nur im Einkauf gewünscht, sondern auch von den Eltern, den Liebespartnern, den Politikern. Man darf sich an denen, die Schuld für eigene Frustrationen tragen, wieder rächen. Die Unterschiede zwischen Wunschdenken und Realität, zwischen kriminell und erlaubt, zwischen Ursache und Folge verschwimmen.

«Das habe ich nicht gewollt», sagt der regredierte Käufer, wenn seine Schulden ihn auffressen, der Autofahrer, wenn er im Geschwindigkeitsrausch aus der Kurve flog, der Kunde, wenn der Ladendiebstahl einmal nicht mehr gutging. Getrennte Ehepartner sagen es, wenn sie plötzlich merken, wie einsam sie sind, und ganze Städte, wenn sie feststellen, daß sie weder den Stau der Verkehrsberuhigung ertragen noch weitere Schnellstraßen bauen können.

Die alten Utopien stützten sich auf Vermehrung – der Güter, der Menschen, des Wissens, der Technik. Diese Utopien sind an eine Grenze gestoßen, die so schmerzlich ist, daß sie von den meisten Meinungsträgern verleugnet oder beschönigt wird. Die ökologischen Utopien sind gegenwärtig eher pessimistisch und asketisch. Für den Einsichtigen macht sie das glaubwürdig, für den Zweifler unattraktiv. Eine Stadt, in der nur Fahrräder und Solarmobile unterwegs sind, kann so schön wie Venedig ohne Motorboote werden. Im Glashaus eines Nullenergiehauses in Schweden reifen im Februar die Feigen. Die neuen Utopien müssen Utopien der Differenzierung sein: nicht Vermehrung, sondern Entwicklung und subtile Vielfalt sind ihre Ziele. Nicht weil Verzicht kein erfreuliches Argument für konsumverwöhnte Wähler ist, sollte die Ökologiebewegung ihre asketischen Positionen überdenken, sondern weil Askese in der Tat nur die eine Seite der ökologischen Utopie erfassen kann.

Regression und Disziplin in der (post)modernen Gesellschaft

Es wirkt überstürzt, unter zwei Begriffen wie Regression und Disziplin die beunruhigenden Veränderungen der postmodernen, posttotalitären, postwohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften zu betrachten, sozialer Gebilde, die eben erst entstehen und in denen oft verzweifelte Versuche unternommen werden, das Neue mit den alten Begriffen zu verstehen, weil es eigene Begriffe noch nicht gefunden hat. Mit einem Wort wie «Risikogesellschaft» hat Ulrich Beck[*] versucht, diese Spannung auszudrücken. Eines der von ihm dargestellten Risiken liegt darin, daß wir mit sozialen Instrumenten, die sich bisher in der Industriegesellschaft bewährt haben, die neuen Gefahren nicht in den Griff bekommen. Sie überfordern nicht nur das politische System, sondern auch tradierte geistige und emotionale Orientierungen.

Die biblische Metapher vom neuen Wein sagt, daß dieser in einen neuen Schlauch muß, weil der alte spröde geworden ist und den gärenden Kräften nicht standhält. Sie geht immerhin davon aus, daß das Prinzip der Aufbewahrung richtig ist; nur seine Qualität muß verbessert werden. Auf solche Lösungen können wir nicht mehr bauen. Was die Menschheit geschaffen hat, sprengt die gesellschaftlichen Formen, in denen es entstand.

Beck erläutert die Unfähigkeit der bestehenden Institutionen, mit wirtschaftlichen und ökologischen Risiken fertig zu werden. Ich beziehe mich auf ein psychologisches Risiko[*], das ähnliche Qualitäten hat. Diese Seite der Entwicklung rückt jedem Menschen näher, daher ist es auch schwerer, den notwendigen Abstand zu gewinnen, um urteilen zu können. Zwischen den Polen von Regression und Disziplin bewegt sich unser Alltagsverhalten, die Gestalt unserer Liebesbeziehungen und der Kontaktaufnahme zu unseren Kindern. Persönliches und Politisches vermischen sich. Das heißt auch, daß eine Diskussion solcher Begriffe universalistisch ist. Sie wird in einer Welt wissenschaftlicher Spezialisten zum Anachronismus oder zur Futurologie. Anthropologie, Ethnologie, Soziologie, Ökonomie und Ökologie, Psychologie und Psychoanalyse, Kunstwissenschaft und Pädagogik ergeben jeweils andere Perspektiven auf die Konflikte von Regression und Disziplin, von Illusion und Wirklichkeit, von kurzfristigem Lustgewinn und langfristiger Zerstörung. Sie alle sind berechtigt und sinnvoll, können aber auf einem wünschenswert hohen Niveau der unterschiedlichen Disziplinen kaum von einem einzelnen verfolgt werden.

Die Psychoanalyse vermag viel Wissenswertes zu der brennenden Frage beizusteuern, wie es geschehen kann, daß Menschen um die schädlichen, selbst lebensgefährlichen Qualitäten ihres Handelns wissen und doch darin fortfahren. Sie wird uns sagen, welche Lösungsversuche in dieser Situation wahrscheinlich nicht funktionieren. Auch Vorschläge für eine andere Politik kann sie machen, an denen freilich manche Unbequemlichkeit stört und die gewiß Versuchungen wecken, die belastende Einsicht wieder zu verdrängen. Die Erkenntnis des Heraufziehens einer Katastrophe führt bei denen, die sie nicht verleugnen, zu Anstrengungen, die regressiven Neigungen durch moralische Drohungen zu bändigen. Ein solches Vorgehen bietet selbst regressive Möglichkeiten. Der Prediger kann jedesmal, wenn er am Sinn der Mahnung zweifelt, sie mit noch lauterer Stimme wiederholen. So verschleiert er sich und anderen die Lage der Dinge.

Ein Beispiel sind typische Reaktionen auf den jährlichen und jährlich gleich trostlosen Waldschadensbericht. Immer wird in der Presse kommentiert, alle Beteuerungen seien sinnlos, solange nicht jeder einzelne, zum Beispiel durch Verzicht auf das Autofahren, seinen Beitrag leiste. Diese Forderung liegt im Interesse der Autohersteller. Die Industrie will ihre Fahrzeuge verkaufen. Meinungsproduzenten, die ihr weder Steine in den Weg legen noch die Gefahren der Entwicklung gänzlich verleugnen, verbrämen diese Situation dadurch, daß sie versuchen, das Autofahren und das Nicht-Autofahren gleichzeitig zu ermutigen. Möglichst viele Bürger sollen sich ein solches Vehikel anschaffen und es nicht nutzen.[*]

Diese Gleichzeitigkeit von Konsum und Verzicht ist in einer Nische der Gesellschaft bereits kostspielige Realität: Die weit überwiegende Mehrzahl der Arzneimittel wird produziert und dann nicht eingenommen. Nach einer Untersuchung der Hamburger Ersatzkassen werden in Deutschland jährlich so viele Arzneimittel verordnet oder verkauft, daß auf jeden Bundesbürger, ob Säugling oder Greis, täglich 1250 Tabletten, Pillen oder Kapseln kommen. In Hamburg sind im Jahr 1993 dreizehn Tonnen Medikamente weggeworfen worden.[*]

Wenn das Autofahren durch strikte Regelungen erschwert wird, ist es realistisch, von einer Bevölkerungsmehrheit Verzicht zu erwarten; dadurch wird aber der Erwerb eines Autos unattraktiver, eine Situation, welche die Vernunft geböte, die aber das politische Interesse am Machterhalt verwirft. In dieser Raubbaupolitik bringt, wer in kürzester Zeit die meisten Ressourcen verpulvert, die meisten Menschen auf seine Seite.[*] Diese politische Form dominiert heute international. Sie führt zu einer wachsenden Zahl von ökologischen und sozialen Katastrophen. Der Zusammenhang zwischen ihr und diesen Katastrophen ist zwar rational zwingend, aber emotional noch nicht unentrinnbar.

Auch innerhalb der intellektuellen Zirkel ist das Bewußtsein über die langfristig gefährliche Regressionsförderung, die in zahllosen Dingen und Dienstleistungen der Moderne steckt, nur wenig entwickelt. Die Eliten sind heute auch Konsumeliten, Champagner und Seidenhemden gehören zum Haushalt der Kulturkritik.[*]

Die Neigung, das Unerfreuliche, Bedrohliche abzuspalten, es aus dem Bewußtsein zu verlieren oder wenigstens bedeutungslos erscheinen zu lassen, ist bekannt und wird doch als unerklärlich ausgegeben. Das trotz seiner Lösung aufrechterhaltene Rätsel der Umweltpsychologie ist die Gleichzeitigkeit von Wissen und Nicht-Handeln, von Wahrnehmung und Verleugnung der Konsequenzen. Diese Abwehrmechanismen werden durch die Verwissenschaftlichung ergänzt, die vielfach ihre ernsthaften Qualitäten verloren hat und zu einer Sonderform der Rationalisierung wird. Wenn in einem Gremium klar ist, daß es nicht ohne Unbequemlichkeit weitergehen kann, erhebt sich eine Stimme und fordert mehr Forschung. Wir bräuchten einen Großversuch (wie seinerzeit bei der Diskussion über das Tempolimit auf der Autobahn). Unsere Unkenntnis sei beklagenswert. Wir dürften nichts tun, ehe nicht dieser oder jener Antrag auf Forschungsgelder genehmigt sei.

Illusionen, die unser Überleben gefährden, scheinen einem ähnlichen Muster zu folgen wie die von so vielen Dichtern gefeierte Idealisierung[*] des Sexualpartners, der «alles für mich ist» und auf diese Weise den kritischen Intellekt und die Realitätsprüfung an den Rand drängt. Ohne die Illusionsfähigkeit von Erwachsenen wäre die Menschheit zum Aussterben verurteilt. Die Hoffnung der Eltern, von Kindern vor allem Freude und nicht Schmerz zu ernten, ist selbst ein kindlicher Traum von heilen, guten Weltanfängen. Wir brauchen eine irrationale Überzeugung, daß es schon gutgehen wird, um Elternschaft zu riskieren. Die Fähigkeit, dort der Vernunft zuwiderzuhandeln, wo es um Fortpflanzung geht, ist auch ein Motor dafür, daß wir technische Neuerungen und wirtschaftliche Prinzipien in die Welt setzen, die uns ähnlich zerstören, wie es verwöhnte, ungezogene Kinder tun können. Auch von diesen haben die Eltern ja einmal geglaubt, sie würden sie glücklicher machen.

Die Furcht, ob es morgen genügend Nahrung gibt, ist in den zivilisierten Ländern gebannt. An ihre Stelle tritt als Ausdruck der Abwehr übermächtiger Ängste ein diffuses Unbehagen, das mit den Katastrophenmeldungen zusammenhängt. «Es ist kein Zufall», sagt Hans Peter Dreitzel, «daß in der psychotherapeutischen Literatur immer wieder Depression, die Unfähigkeit zu fühlen, und Narzißmus, die Unfähigkeit, sich hinzugeben, als die häufigsten psychischen Störungen in den Industriegesellschaften genannt werden. Wenn auf dieses abgestumpfte emotionale Sensorium eine akute Bedrohung trifft, braucht die depressiv-narzißtische Haltung nur verstärkt zu werden, um die Angst zu vermeiden.»[*]

Die Unfaßbarkeit der Bedrohungen – zum Beispiel unsichtbare Dioxine oder atomare Falloutpartikel nach der Explosion des Reaktors in Tschernobyl – und die Unverhältnismäßigkeit ihrer Reichweite angesichts der eigenen Freiheitsräume stumpfen ebenso ab wie das tägliche Katastrophenspektakel in den Medien. In diesem Zusammenhang greift Dreitzel die Thesen des amerikanischen Neoanalytikers Ralph White auf. Dieser beschrieb den Abwehrmechanismus der selektiven Unaufmerksamkeit, eines geistigen Ausblendens und emotionalen Nicht-Spürens, das sich auf vier aktuelle Bereiche richtet: die Gefahr des Krieges mit nuklearen Waffen, die Mängel in unserer Umweltbeziehung, die Menschlichkeit unserer Feinde und die eigenen Schuldgefühle.

Disziplinierungszusammenbrüche

An die Stelle der Treue zu dem einmal gewählten inneren Gesetz tritt eine hektische Bereitschaft, mit vielfältigen moralischen Begründungen wechselnde eigene Bedürfnisse zu rechtfertigen. Deshalb wird viel von Moral geredet. Da sich ein Empfinden moralischer Überlegenheit im Alltag vorwiegend durch die Freuden des Klatsches herstellen läßt, ist die Produktion solcher Eitelkeiten eine zentrale Funktion der Massenmedien. In diesen Orgien der Dünkelhaftigkeit schwindet die Bereitschaft, mit den ambivalenten Grundsituationen unseres Lebens diszipliniert und realistisch umzugehen. Sie werden aufgespalten; mit wechselnden Beteuerungen wird dann versucht, den Kuchen zu haben und ihn zu essen.

Die Forderung, es müßten mehr Werte vermittelt, Tugenden verstärkt eingeprägt werden, ist naiv. Heute behelligen uns moralische Urteile fast überall. Was wir essen, ob wir rauchen, wie wir uns in einer Schwangerschaft verhalten, wohin wir unseren Müll werfen und aus welchem Holz unsere Frühstücksbrettchen sind, wird alles zur ethischen Frage. «Ist der Softie endgültig out? Soll man seine Kollegen auch mal anschreien dürfen? Müssen Hundebesitzer gezwungen werden, die Scheiße selbst wegzutragen? Rufen Sie an! Sagen Sie uns Ihre Meinung! Das Bewertungskarussell dreht sich während der Talk-Show und im Small talk, in der Mittagspause und beim Fernsehabend. Da gibt es kein Entrinnen. Brauchen wir tatsächlich mehr Moral?»[*]

Gabriela Simon sieht die Problematik in der kurzen Verfalldauer aller Werte – heute wird der gesunde Egoismus gepriesen, morgen steht die häßliche Selbstsucht am Pranger. Aber vermutlich geht es um Kipperscheinungen, wenn Spaltungen nicht aufrechterhalten werden können. Das Patentmittel der Gegenwart ist das Gift der Zukunft: Heroin wurde als Medikament gegen die Opiatsucht eingeführt. Es scheint der Fortschrittsgesellschaft konstitutionell unmöglich, ihre regressiven Risiken einzuschätzen. Jeder hätte das wissen können, keiner hat es wissen wollen, und der nachträgliche Vorwurf ist so universell wie der anfängliche Überschwang.

Einige Einzelbeispiele für den Zusammenbruch[*] der disziplinierenden Strukturen:

1. Nach einer Studie des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen aus dem Jahr 1993 sind 1,4 Millionen Westdeutsche arzneimittelsüchtig.[*] Betroffen sind vor allem Ältere, die nicht schlafen können; die Mittel beseitigen zunächst die Schlaflosigkeit und lindern die Unruhe. Die Abhängigkeit drückt sich dann darin aus, daß die Patienten extrem unruhig werden, wenn sie das Mittel nicht mehr bekommen.

Die Suchtpotenz der Benzodiazepine ist seit vielen Jahren bekannt. Im kleinen spiegelt sich hier die Allianz zwischen Machtinteressen und Konsuminteressen. Der Politiker fürchtet, Stimmen zu verlieren, wenn er unbequeme, aber langfristig bessere Entscheidungen durchsetzen will; der Arzt fürchtet, Patienten zu verlieren. So reicht der Blick von Bevölkerungsmehrheiten nicht über die nächste Unlustvermeidung hinaus.

2. In den Vereinigten Staaten müssen Gynäkologen hohe Versicherungsprämien zahlen, um das Risiko abzudecken, daß sie für einen Schaden des Kindes durch Sauerstoffmangel während der Geburt haftbar gemacht werden. Diese Versicherung kostet in Gebieten mit hohem Prozeßrisiko, wie Chicago oder New York, 240000 Mark pro Jahr. Der relativen Höhe dieser Summe entspricht ziemlich genau die relative Zahl von Kaiserschnitten in diesen Regionen. Je mehr der Gynäkologe einen Prozeß wegen eines Kunstfehlers fürchten muß, desto öfter vermindert er das Risiko einer normalen Geburt durch das Risiko eines Kaiserschnitts.

Die operative Technik im Zweifelsfall anzuwenden, hat für die Frauen Nachteile, für die Ärzte aber Vorteile. Sie läßt sich besser kontrollieren als eine natürliche Geburt, und sie läßt sich höher in Rechnung stellen, um die Versicherungsprämie zu bezahlen.

3. Während des Jugoslawienkrieges beklagt sich in der Vorweihnachtszeit 1993 ein deutscher Politiker: Wer sich auf Diplomatie verlasse, statt militärisch einzugreifen, verurteile tausend, ja hunderttausend Frauen und Kinder zum Hungertod, während er selbst satt und zufrieden seine Weihnachtslieder singe. So fördert er Wunschdenken bei Kämpfern, die Friedenspläne sabotieren, weil sie auf ausländische Hilfe rechnen. Er verleugnet, daß eine militärische Intervention ebenfalls zu Elend und Blutvergießen führt.

Erster Teil Die neue Barbarei

1 Der Fortschritt des Konsums und der Rückschritt in die Barbarei

Wir hatten uns an ein Bild des Fortschritts gewöhnt, das wir heute zögernd und widerwillig als Illusion durchschauen. Es gab rückständige und entwickelte Gebiete. Wir zweifelten vielleicht daran, ob unsere Hoffnungen auf die Entwicklung dieser rückständigen Zonen berechtigt seien und nicht die Bevölkerungsexplosion solche Schritte wieder aufheben würde. Aber wir dachten nicht ernsthaft darüber nach, daß auch in bereits entwickelten Ländern, unter Ordnungen, die einen Schritt vor den unsrigen zu stehen schienen, noch einmal Nationalismus und Religionskriege ganze Landstriche verwüsten würden. Ähnlich überrascht uns die Gewalt gegen Fremde im eigenen Land; sie weckt Erinnerungen an eine Vergangenheit, die viele überwunden glaubten.

Im Grunde hätten wir es besser wissen können. Die Geschichte ist reich an Beispielen solcher Rückentwicklungen. Wenn wir sie eine Generation lang nicht in unseren eigenen Grenzen hatten, heißt das nicht, daß es sie nicht mehr gibt. Dennoch scheinen die gegenwärtigen Auflösungserscheinungen eine neuartige Qualität zu haben. Diese hängt damit zusammen, daß in großen, über die politische Dynamik ganzer Kontinente entscheidenden Staaten Rückentwicklungen unübersehbar sind: Der Lebensstandard und die wirtschaftliche Produktivität sinken, die Kriminalität steigt, Politscharlatane, denen man nach den Erfahrungen mit Stalin, Hitler oder Mussolini jede Anwartschaft auf ein Massenpublikum abgesprochen hätte, gewinnen demokratische Mehrheiten.

Die Dampfmaschine und das Dynamit multiplizieren unsere Kraft, aber diese Kraft ist keineswegs der gleichen Vernunft unterworfen, wie sie für die Konstruktion solcher Neuerungen aufgewendet wurde. Enttäuschung und Ratlosigkeit sind deshalb heute bei allen nachdenklichen Menschen groß. Sie können nicht mehr verleugnen, daß die Hoffnungen auf einen geistigen und moralischen Fortschritt der Menschheit unerfüllt geblieben sind, während die technisch-materiellen Fortschritte sich aus einem Segen in eine Drohung verwandeln. Einem Geschöpf, das stets von Regressionen bedroht bleibt und die höchsten Leistungen der Ingenieurskunst in den Dienst primitiver Rachsucht stellen kann, gäbe man doch lieber nur einen Prügel in die Hand, nicht die Kontrolle über Plutoniumfabriken.[*]

Daher ist zu fragen, was wir tun können, um diesen Regressionen Einhalt zu gebieten und so Materialien zu einer neuen Utopie zu finden, die bescheidener sein mag als die vergangenen, aber deshalb Aussichten hat, nicht in ihr Gegenteil umzuschlagen. Ein erster Schritt zu dieser neuen Bescheidenheit[*] ist die Einsicht, daß unsere menschliche Intelligenz vor allem dazu benützt werden muß, ihre eigene Schwäche zu erkennen. Ihr gegenüber scheint unser intellektuelles Potential für Selbstüberschätzung unbegrenzt, mit ihm auch die Neigung, aus der hundertmal erwiesenen Unfähigkeit der Einsicht, sich gegen die Gier zu behaupten, keine anderen Folgerungen zu ziehen, als den hunderteinten Versuch mit denselben Mitteln zu wagen.

Thomas Hobbes hat festgestellt, daß die menschlichen Leidenschaften gewöhnlich mächtiger sind als die Vernunft. Die Produkte des menschlichen Geistes sind meist wenig mehr als «Kundschafter und Spione der Wünsche».[*] Während Hobbes annimmt, daß nur Gewalt die Leidenschaften zügeln kann, und der Gerechtigkeit und Sicherheit halber die allgemeine, das heißt die Staatsgewalt fordert, ist es gegenwärtig geboten, nicht mehr nur den Menschen in seiner Bedrohung für den anderen Menschen durch staatliche Macht zu zügeln, sondern auch den Menschen als Bedrohung der Natur. Die kollektive und individuelle Abhängigkeit von einem Konsumniveau, das mit den natürlichen Regenerationsprozessen des Planeten Erde auf Dauer unvereinbar ist, kann letztlich nur durch ebensolche Formen staatlicher Gewalt eingedämmt werden.

Nachdem die destruktive Qualität seines Mißbrauchs unabweisbar deutlich geworden ist und ein Abhängiger Gefahr läuft, seine Ehefrau oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wird er versprechen, ja schwören, nie wieder rückfällig zu werden, obwohl er diesen Schwur bereits viele Male gebrochen hat. Dieses wiederholt gebrochene Versprechen wird geglaubt, weil es einer Illusion dient, die attraktiver ist als ein kritischer Blick auf die Wirklichkeit. Auf einem ähnlichen Mechanismus beruht die Anziehungskraft von Politikern, die einen Kometenschweif gebrochener Versprechungen hinter sich herziehen.

Eine Lösung von der Sucht gelingt nur, wenn sie ernstgenommen wird als dauernde Gefahr, mit der es sich besser leben läßt, wenn sie jeden Tag erkannt und ihr verderblicher Einfluß eingeschränkt wird. Der Süchtige verleugnet die Grenzen seiner narzißtischen Expansion und gerät in einen schwer auflösbaren Teufelskreis: Die Sofortbetäubung seiner Unlustspannungen steigert die Angstbereitschaft und schwächt die Toleranz für Versagungen. Erst im Erleben der eigenen Todesgefahr finden Süchtige die Möglichkeit, diesen Größenwahn zu durchschauen. Diese Einsicht wird ihnen erschwert, weil es zur herrschenden Kultur gehört, solche Grenzen zu verleugnen. Der Glaube, man könnte über seine Verhältnisse leben und keinen Preis dafür bezahlen, ist die zentrale Illusion der Konsumwelten.

Die ausbeutende und/oder «helfende» Beschäftigung mit anderen Kulturen ist inzwischen zu einer jener grandiosen Unternehmungen geworden, deren erstes Beispiel der Turmbau zu Babel ist. Es gibt kein Ziel mehr, aber die Anstrengungen werden gesteigert. Ehe es uns nicht gelingt, ökologische Stabilität in unserem eigenen Haus herzustellen, ist jeder Export eingefärbt und getrübt von den destruktiven Mechanismen, die wir eingeführt haben. Es ist ungeheuer schwer, unter diesen Umständen zu helfen. Blinde Tätigkeit nach unseren eigenen Wertvorstellungen scheint genauso problematisch wie Untätigkeit angesichts des millionenfachen Elends. Die unreflektiert als humanitär gepriesene Aktion rettet zehn Hungernde, die hundert Hungernde zeugen, welche dann in ihrer verzweifelten Suche nach Nahrung die Lebensgrundlagen für Tausende zerstören.

Indem sich die Industrieländer als Geber aufspielen, können sie vor sich selbst verbergen, daß sie Parasiten sind. Die armen Länder hingegen fordern Betäubungsmittel für den Schmerz über den Verlust ihrer kulturellen Autonomie. Überall herrscht gegenwärtig eine Armutsphantasie, die nach den zerstörerischen Gütern der zum Untergang verurteilten Reichen streben läßt. Wie Moskitos an einem anämischen Opfer bohren die Petroleumkonzerne und die Wasserwerke ihre Saugrohre tiefer ein. Anders als das Insekt besitzen sie die geistigen Voraussetzungen, die Absurdität ihrer Strategie zu erkennen. Dennoch ändern sie diese nicht, solange sie nicht durch äußeren Zwang dazu gebracht werden. Von selbst wird dieser Parasitismus erst dann aufhören, wenn das Opfer kein Blut mehr hat.

Die Konsumgüterentwicklung enthält verschlüsselte, längst selbstverständlich gewordene Regressionen. Sie zu erkennen und zu kritisieren kostet Mühe und wirkt seltsam deplaziert. Vor dem Gericht des Komfortschritts ist die Beweislast umgekehrt. Rechtfertigen muß sich, wer eine destruktive Ware anzweifelt, denn diese kann sich allein durch ihren Verkauf legitimieren. Obwohl es seit 1930 möglich war, problemlos und zu günstigen Preisen mechanische Armbanduhren zu bauen, ist diese Methode der Zeitmessung durch die Massenproduktion von Quarzuhren verdrängt worden, deren Batterien die Umwelt mit einer in ihrer Summierung enormen Menge an Quecksilber und anderen Giften belasten. Daß es zu solchen Entwicklungen kommt, demonstriert die Unfähigkeit unserer Institutionen, mit den Bedingungen der Konsumgesellschaft umzugehen.[*]

Eine Kultur ohne sozusagen eingebaute, bereits in den alltäglichsten Netzwerken und Handgriffen verankerte Regressionen können wir uns kaum vorstellen. Jeder könnte nur soviel Energie verbrauchen, wie er selbst mit umweltverträglichen Mitteln produziert. Wer den Strom erschöpft hat, den sein Anteil an der kommunalen Solaranlage spendet, muß auf ein Fahrrad steigen und den Rest selbst erzeugen. Die schweißtreibende Muskelarbeit in den Fitneßzentren ist so kostbar, daß an jedem Trainingsgerät ein Dynamo hängt, der die erzeugte Kraft in speicherbare Energie verwandelt. Wo immer möglich, werden sinnliche Verhältnisse hergestellt. Wer Wasser braucht, soll es in einem Gefäß tragen müssen. Nichts Unersetzliches darf einfach dasein und fließen, weder elektrischer Strom noch Wasser.

Die Gefahr der Maschine liegt in der Multiplikation der Gier. Sie erstarrt, weil die Maschine – anders als ein lebendes Wesen – zu konstanter Kraftentfaltung fähig ist und daher die Illusion der Unsterblichkeit fördert, die ein zentraler Inhalt regressiver Phantasien ist. Nicht durch Zufall ist der Traum vom Perpetuum mobile in den vergangenen Jahrhunderten so wichtig geworden. Während unser Leben in parabolischer Bahn steigt und fällt, gaukelt die Maschine vor, ein einmal erreichtes Niveau für immer halten zu können. Diese Illusion fesselt den Menschen so, daß er viele Zerstörungen in Kauf nimmt. Gerät sie ins Wanken, hilft ihm die Maschine wieder: Sie verspricht eine wachsende Kraft, wo die Schwäche wächst, und kündigt an, sie könne ausgleichen, was unausweichlich ist: Verfall und Tod.

Das Streben, den Tod zu besiegen, bindet an ihn. Zur natürlichen Gier, zu Hunger und Liebe, tritt als gefährliche Neuerung die Angstgier, die sich auf den Verlust des mit Maschinenhilfe erreichten Energieniveaus bezieht. Der Komfort kann auch da nicht aufgegeben werden (erinnern wir uns an den ursprünglichen Wortsinn: Trost, Trost über die eigene Sterblichkeit), wo er destruktiv geworden ist. Er wird im Gegenteil gesteigert. Sehend, daß unsere von Vier- und Sechszylindermotoren angetriebenen Kraftwagen die Landschaft zerstören und im Stau steckenbleiben, kaufen wir trotzig den Zwölfzylinder. Einmal noch vor dem Untergang muß dieses Fahrgefühl gekostet werden. Wo einst die Arche vor der Sintflut rettete, werden wir in der Flut unserer Archen ersticken.

Wenn wir diesen Exkurs auf die Gier unterbrechen und die gesellschaftlichen Regressionserscheinungen erneut betrachten, finden wir einen Zusammenhang: Die Rückfälle in Barbarei hängen damit zusammen, daß sich eine Einstellung ausbreitet, in der frühere Einschränkungen plötzlich unerträglich scheinen. Der allgemeine Anspruch an eine bequeme, reine Welt scheint ebenso gewachsen wie die Enttäuschungswut und die Rachewünsche, wenn sie nicht zuhanden ist. So bauen gesellschaftliche Gruppen Phantasien der Benachteiligung aus. Sie sind Opfer, sie werden bedroht, sie sind übervorteilt worden, daher ist es ihr gutes Recht, sich durch den Einsatz von Gewalt zu wehren.

Die Schwelle, gewalttätig zu werden, wird dabei nicht immer durch eine dem Bewußtsein zugängliche Absicht, zu rauben und zu plündern, überschritten. Aber diese Bedrohung liegt in der Luft: Die zum Feindbild gemachten anderen, die Fremden nehmen einem die Arbeitsplätze weg, verzehren parasitär, was besser bei der eigenen Gruppe untergebracht wäre, wollen einen berauben und ausrotten. Es ist sozusagen eine sauer gewordene Gier, ein Gefühl, bedroht und im Hintertreffen zu sein, welches Aggressionen motiviert. Schon vor vielen Jahren haben sich Regressionen in eine von Haß und Blutrache bestimmte Welt in Nordirland oder im Libanon vollzogen. Die Dynamik ist meist ähnlich: Die Bereitschaft, ein gewisses Maß an gegenseitiger Beschädigung und Einschränkung zu ertragen, nimmt ab. Eine Seite definiert sich als Opfer und macht auf die Gegenseite den Eindruck, sie wolle nicht nur Ausgleich, sondern Rache, die schadlos macht. Daher droht die Gegenseite zurück, will keinen Fingerbreit nachgeben, um keinen Preis auch nur über Unrecht verhandeln, das früher immerhin als Möglichkeit zugestanden wurde.

Das Ideal wird nun plötzlich eine genaue räumliche Trennung zwischen bisher in einem Zustand erträglicher Feindseligkeit gemischten Gruppen. Auch in friedlicher Vergangenheit war nicht damit zu rechnen, daß eine kroatische Familie den serbischen Schwiegersohn mit Freude empfing oder ein griechisches Mädchen auf Zypern in die schönen Augen eines türkischen Mannes blicken durfte. Aber es herrschte eine Bereitschaft, Versagungen zu ertragen, die unweigerlichen Ärgernisse einer kulturellen Durchmischung in Kauf zu nehmen, weil sich so das größere Übel vermeiden ließ.

Wir können gesellschaftliche Bewegungen nicht durch psychologische Mechanismen erklären. Aber die Psychologie kann helfen, ihre Dynamik besser zu verstehen und in Teilabschnitten auch Lösungen zu entwickeln. Ein zentraler Mechanismus des Konsums spielt eine wesentliche Rolle, um die Schwelle für kollektive Regressionen abzusenken. Es gibt, so suggeriert die Werbung an traditioneller Moral, kritischer Pädagogik oder intellektueller Aufklärung vorbei, den Genuß ohne Reue, das perfekte Gute für jeden, der die richtige (Kauf-)Entscheidung trifft.

Raucher sind jung und gesund, Autos haben freie Straßen, Wohnungen sind warm und hell, Medikamente heilsam, Operationen erfolgreich. Unsere Entscheidungen sind einfach: Wir müssen zwischen dem Guten wählen, das uns zusteht, und das Böse bekämpfen, welches uns hindern will, es zu haben. Nach ebendiesem Prinzip funktioniert die Dramaturgie der populären Musik und die der Kriminal- und Familienserien.

Es gehört zur Dogmatik der Werbung, uns den Eindruck zu vermitteln und ihn mit tausend kleinen Botschaften zu verfestigen, daß wir die Möglichkeit, aber auch die Aufgabe haben, eine reine, ungetrübte, uneingeschränkte Befriedigung zu finden. Diese Haltung wird durch eine riesige Medienmacht im Dienst der Konsumgüterproduktion verstärkt, die praktisch den einzigen gesellschaftlichen Bereich darstellt, in dem noch ungebrochen von Fortschritten die Rede sein kann. Es gibt in der Tat immer komfortablere Autos, Fernseher, Computer, Waschmaschinen, Fotoapparate, Mikrowellengrills, Kücheneinrichtungen, Gartengeräte, Motorräder, Badezimmer. Was uns da von frühester Jugend an eingetrichtert wird, bereitet schlecht auf die existentiellen Notwendigkeiten der Realitätsbewältigung vor, in denen wir meist gerade nicht die Wahl zwischen Lust und Frust haben, sondern die Wahl zwischen einer produktiven und einer destruktiven Unlust.