Jewel & Blade, Band 1: Die Wächter von Knightsbridge (Knisternde New-Adult-Romantasy von der SPIEGEL-Bestseller-Autorin von "Silver & Poison") - Anne Lück - E-Book

Jewel & Blade, Band 1: Die Wächter von Knightsbridge (Knisternde New-Adult-Romantasy von der SPIEGEL-Bestseller-Autorin von "Silver & Poison") E-Book

Anne Lück

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Beschreibung

Schmiede dein Schicksal! Gold, Silber, Kupfer: Harper hat ihr besonderes Gespür für Metall nie hinterfragt. Bis der geheimnisvolle Archer mit einem uralten Ring an der Hand in ihrer Goldschmiede auftaucht. Als Harper den Schmuck berührt, sieht sie plötzlich eine verstörende Szene vor sich: den Tod des legendären König Artus. Harper hat tausend Fragen. Die Suche nach Antworten führt sie zu einer elitären Londoner Geheimgesellschaft – und in eine Liebesgeschichte, die ihr Schicksal für immer verändern wird. Band 1 der packenden New-Adult-Romantasy-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anne Lück Entdecke die "Silver & Poison"-Reihe von Anne Lück: Silver & Poison, Band 1: Das Elixier der Lügen Silver & Poison, Band 2: Die Essenz der Erinnerung

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Seitenzahl: 536

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

Copyright © 2024 by Anne Lück © 2024 Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Lektorat: Tamara Reisinger (www.tamara-reisinger.de) Cover- & Farbschnittdesign: Alexander Kopainski unter der Verwendung lizensierter 3D-Blätter von Carel Jordaan Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51247-8

ravensburger.com/service

Für Laura.Danke für die immer wieder inspirierenden und buchproblemlösenden Spaziergänge!

Prolog

Als Thomas Gray an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam, spürte er direkt, dass irgendetwas anders war.

Er war müde von der langen Schicht im Restaurant, von den Gesprächen mit hochnäsigen Kunden und angespannten Kollegen und hatte eigentlich vorgehabt, sich nur noch vor dem Fernseher zu entspannen.

Aber kaum hatte er den ersten Schritt über die Schwelle seiner kleinen Wohnung gemacht, war da so ein Gefühl in seiner Brust. Ein Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Thomas blieb im Gang stehen, und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, umfing ihn Dunkelheit. Sein Herz schlug mit einem Mal wild in seiner Brust, die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf, während er in die Stille hineinlauschte. Aber obwohl er auch nach mehreren Sekunden nichts hörte, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass jemand hier war.

Er lebte bereits seit ein paar Jahren allein, seit er damals das Haus seiner Eltern verlassen hatte. Hier in Margate hatte er noch kaum Freunde, die ihn besuchten, seine Familie war zu weit weg, um spontan vorbeizuschauen. Seine Wohnung war klein und spärlich eingerichtet, und das Haus machte auch nicht besonders viel her. Niemand würde hier einbrechen, denn bei Thomas gab es nichts zu holen.

Nichts, außer …

Plötzlich lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Er löste sich aus seiner Erstarrung und eilte mit großen Schritten ins Schlafzimmer, wo er zu dem kleinen Nachtschrank stürzte und die oberste Schublade aufriss. Erleichterung flutete ihn, als ihm dort ein goldenes Glänzen entgegenkam. Das Schmuckstück, das wertvolle Erbstück seiner Familie. Es war noch da.

Thomas atmete geräuschvoll aus und war versucht, sein seltsames Gefühl der Überarbeitung zuzuschreiben.

Doch da hörte er ein Geräusch hinter sich. Nur ganz kurz, ganz leise, sodass man es fast direkt wieder vergessen könnte. Im nächsten Moment spürte Thomas einen stechenden Schmerz in der Brust, von dem aus sich Wärme in seinem Körper ausbreitete.

Überrascht ließ Thomas den Blick nach unten wandern. Sah auf das glänzende Metall herunter, das aus seiner Brust ragte. Ein Messer, stellte er fest. Ihm ragte ein langes, blutbeflecktes Messer aus der Brust.

Jemand hatte es ihm von hinten durch den Körper gerammt.

Thomas spürte keinen Schmerz, aber seine Sicht verschleierte sich. Er taumelte, seine Beine gaben unter ihm nach, und dann stürzte er zu Boden. Nicht einmal den Teppich seines Schlafzimmers konnte er fühlen. Eigentlich spürte Thomas gar nichts mehr, außer der sich weiter ausbreitenden Wärme in seinem Oberkörper.

Nur noch verschwommen nahm er die Gestalt wahr, die hinter ihm gestanden hatte. Er konnte nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Nur dass sie groß und schlank war und dass sie noch immer das Messer hielt, das ihm eben noch in der Brust gesteckt hatte.

Lautlos machte sie einen Schritt über ihn hinweg, zu dem noch immer offen stehenden Nachttisch, und nahm das glänzende Schmuckstück an sich.

»Es tut mir leid«, flüsterte die Gestalt, deren Stimme er nur noch wie durch einen Wasserfall wahrnahm. »Aber es war nötig, dass du stirbst, Thomas Gray.«

Er verstand den Sinn hinter den Worten nicht – und das würde er auch nie tun.

Denn nur eine Sekunde später kippte Thomas’ Kopf zur Seite, die Welt versank endgültig in Dunkelheit, und er starb auf dem blutdurchtränkten Teppich in seinem Schlafzimmer.

Kapitel 1

Die Lions Bar am Alberts Dock war so voll, dass die Hintergrundmusik über das summende Stimmengewirr um uns herum kaum noch zu hören war. Als ich den Kopf von der Cocktailkarte hob, die ich eigentlich schon auswendig konnte, beugte meine beste Freundin Willow sich halb über den wackeligen Tisch zwischen uns, eine steile Falte zwischen den Brauen.

»Haben die ihre Preise etwa schon wieder angehoben?«

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, während ich mit den Schultern zuckte. »Sie können es sich offensichtlich leisten.«

Willow schnaubte und sah sich zwischen den Menschen um. Ich konnte in ihrem Gesicht genau ablesen, was sie dachte, und das nicht nur, weil ich sie seit meiner jüngsten Kindheit kannte. Willow war ein offenes Buch, sie konnte ihre Gefühle nur schwer verbergen. Das war schon immer so gewesen. Und jetzt, in diesem Moment, wünschte sie sich genau wie ich diese Zeiten ein wenig zurück. Wir waren schon als Jugendliche ständig hier gewesen, hatten Milchshakes getrunken und über Mitschüler gelästert. Damals war die Lions Bar noch nicht so von Touristen überrannt gewesen, und wir hatten immer einen Platz am Fenster bekommen, mit Blick über das Wasser. Aber das war nicht das Einzige, was ich an dieser Zeit vermisste.

»Ich nehme einfach noch ein Bier«, knurrte Willow und winkte dem Kellner, ehe der wieder von der Menschenmasse verschluckt wurde.

Wahrscheinlich würde es wie beim letzten Bier mindestens eine halbe Stunde dauern, bis es da war.

Ich ließ den Finger über den Rand der kleinen Gläser gleiten, aus denen wir vorhin Shots getrunken hatten, und spürte ein leichtes Rumpeln in meinem Magen. »Wie lange gehen deine Semesterferien eigentlich noch?«

»Zwei Wochen.« Sie lehnte sich auf ihre Arme und beobachtete mich über den Tisch hinweg skeptisch. »Und dass du so fragst, bedeutet wahrscheinlich, dass du nicht mit mir zurück nach Cambridge kommst?«

Um der Antwort noch eine Weile zu entgehen, leerte ich den letzten Schluck meines Bieres. Die wohlige Wärme des Alkohols und der vielen Menschen hier drinnen hatte mich bereits eine Weile umfangen. Ich war müde, und bis eben hatte ich mich auch sehr zufrieden gefühlt. Das tat ich immer, solange ich nicht damit konfrontiert wurde, dass ich irgendwann über meine Zukunft nachdenken musste.

Willow wartete geduldig, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch die kurzen braunen Haare. Als sie das letzte Mal auf Heimaturlaub in Liverpool gewesen war, waren ihre Locken noch bis weit über die Schultern gefallen, jetzt gingen sie ihr gerade einmal bis kurz unter die Ohren. Ich fragte mich unwillkürlich, wie sehr sie sich noch verändern würde, während sie so weit weg von mir studierte. Ob sie beim nächsten Besuch ein Tattoo haben würde? Oder ein Nasenpiercing? In meinem Magen regten sich Gefühle, die eine seltsame Mischung aus Neid und Sehnsucht nach der Zeit waren, als wir beide noch Kreideblumen in unserem Innenhof gemalt hatten.

»Nein«, sagte ich langsam und gerade laut genug, dass sie mich gut verstehen konnte. »Ich komme nicht wieder mit nach Cambridge.«

Kurz konnte ich so etwas wie Enttäuschung in ihrem Gesicht aufblitzen sehen, dann zuckte Willow mit den Schultern und stützte das Gesicht auf die Hände. »Gar nicht mehr?«

»Ich weiß nicht.« Ein unangenehmes Kribbeln wanderte über meine Wirbelsäule.

Willow war seit ein paar Wochen wieder in Liverpool, und wir hatten es bis jetzt vermieden, über dieses Thema zu sprechen. Aber mir war klar gewesen, dass es aufkommen würde, wenn wir uns in unserer Lieblingsbar betranken. Ich hatte versucht, mich darauf vorzubereiten, hatte versucht, eine Antwort zu finden, aber jetzt konnte ich nur tief seufzen und sie entschuldigend ansehen. »Wärst du sehr wütend auf mich, wenn ich nicht wieder nach Cambridge komme?«

Willow wirkte eine Sekunde überrascht, dann wurden ihre Gesichtszüge weich. Sie beugte sich über den Tisch und griff nach meinen Händen. Mit warmen Fingern strich sie über die vielen Goldringe an meinen, während sie den Kopf schüttelte. »Komm schon, Harper. Wann war ich jemals wütend auf dich? So richtig wütend? Ich kann mich nicht an ein einziges Mal erinnern. Unsere Freundschaft ist wie aus einem kitschigen Rom-Com-Buch. Wenn du dein Studium endgültig hinschmeißen willst, bin ich sicher die Letzte, die dich aufhalten wird. Dessen kannst du dir sicher sein. Ich mache mir nur Sorgen, dass du es aus den falschen Gründen machst.«

Ich spürte, wie meine Augenbrauen zusammenwanderten. Aber bevor ich nachfragen konnte, trat der Kellner an unseren Tisch.

»Zwei Bier«, bestellte Willow sofort mit einem breiten Grinsen. »Wir brauchen was für die Seele.«

»Damit kann ich auf jeden Fall dienen.« Der Mann lächelte und stellte die Shots, die er auf seinem Tablett getragen hatte, vor uns. »Von den Herren da drüben.« Er deutete auf eine Feiergruppe ein paar Tische weiter, die sofort die Arme in die Luft rissen und uns lachend und pfeifend winkten.

Ich presste die Lippen zusammen, um das Schmunzeln zu unterdrücken.

»Wie nett.« Willow nahm sofort ihr Gläschen und prostete den Männern zu. Sie waren sicher so um die Mitte zwanzig. Alle nicht ganz mein Typ, außer einem, der ganz außen saß und mir mit beinahe schüchternem Lächeln entgegensah und grüßend sein Bier hob.

Ich prostete ihm ebenfalls zu, dann kippten Willow und ich den Schnaps runter.

»Das Bier kommt gleich«, meinte der Kellner, bevor er sich wieder in die Menschenmenge stürzte.

»Die wollen bestimmt, dass wir mal rüberschauen.« Willow wackelte mit den Augenbrauen.

Ich drehte mich wieder zu ihr. »Hattest du nicht eine Freundin?«

»Das hast du falsch verstanden. Ich habe in der Uni eine Frau gedatet, aber das war nicht wirklich etwas Ernstes. Wir haben uns vor den Semesterferien darauf geeinigt, dass wir uns nichts schulden.« Sie nickte vergnügt zu dem anderen Tisch rüber. »Und ein paar von den Männern sind echt heiß, oder nicht?«

Ich musterte meine beste Freundin durchdringend. Eigentlich war sie nicht der Typ dafür, sich in belanglose Affären zu stürzen, deshalb ging ich davon aus, dass ihre Freundin wohl allein entschieden hatte, dass sie nicht zusammen sein sollten. Da Willow aber offensichtlich nicht darüber reden wollte, tat ich ihr den Gefallen und ließ das Thema unter den Tisch fallen.

»Okay, gehen wir rüber«, sagte ich deshalb. Als ihre Augen aufblitzten, schob ich hinterher: »Aber erst sagst du mir, was du damit meintest, was du gerade gesagt hast. Dass du Angst hast, dass ich aus den falschen Gründen mein Studium abbreche – was wären das denn für Gründe?«

Ihre Lippen kräuselten sich. »Na ja«, meinte sie gedehnt. Dann seufzte sie so tief, dass mir wieder etwas flau im Magen wurde. »Du hast damals, vor einem Jahr, alles aufgegeben. Und ich verstehe wirklich, warum du es getan hast. Du wolltest nach dem Unfall deiner Schwester für deine Familie da sein. Für deine Mum. Für das Geschäft eurer Familie. Das war großartig von dir, Harp.«

Wieder schloss sie die Hände um meine, und ich konnte nichts dagegen tun, dass die Erinnerungen auf mich einstürmten. Der Anruf, den ich damals im Wohnheim bekommen hatte – während ich mit Willow einen Schnulzenfilm geschaut und Karamellpopcorn gegessen hatte. Gott, ich konnte das Zeug seitdem nicht einmal mehr riechen. Es erinnerte mich viel zu sehr an diesen schrecklichen Augenblick.

»Aber Danica geht es gut«, fügte Willow eindringlich an. »Mittlerweile kommt sie mit ihrer neuen Situation klar. Deiner Mum geht es gut. Eurem Geschäft geht es auch gut. Die Wogen haben sich längst geglättet, aber du bist noch hier. Ich mache mir Sorgen, dass du für andere nicht mehr weitermachst.«

Ich öffnete den Mund, bekam aber erst mal kein Wort heraus, also schüttelte ich nur schwach den Kopf. Als der Kellner mit unserem Bier kam, klammerte ich mich an das kalte Glas, um irgendwie Halt zu haben. »Das ist es nicht«, sagte ich nach ein paar Sekunden. »Nicht nur. Klar, ich habe deshalb alles auf Pause gestellt. Aber die Zeit in der Goldschmiede hat mich wieder daran erinnert, dass es eigentlich das ist, was mir Spaß macht. Der Schmuck, den ich mache, und die Arbeiten für die Kunden. Ich liebe das.«

»Klar, du hast als Kind schon selbst gemachte Ohrringe getragen. Die Libellenkette, die du mir in der Sechsten gemacht hast, habe ich immer noch.« Willow strahlte, und aus irgendeinem Grund wirkte sie beinahe erleichtert. »Also ist das jetzt dein Plan? Einfach die Schmiede deiner Mutter übernehmen?«

»Das will Mum nicht.« Ich zuckte etwas genervt mit den Schultern. »Sie will, dass ich studiere und etwas Ordentliches mache. Ich weiß, dass ich alt genug bin, um das selbst zu entscheiden, aber vielleicht hat sie auch recht damit. Vermutlich brauche ich einfach nur einen Plan B. Aber zu dem Englischstudium zurückzukehren, fühlt sich nicht länger richtig an. Keine Ahnung, was ich stattdessen machen soll … Ich hatte die Hoffnung, dass ich das noch etwas rausschieben kann.«

Willow nickte verständnisvoll. »Es kann nicht jeder das Glück haben, sofort zu wissen, was er mit seinem restlichen Leben machen will.«

So wie sie, die schon in der Grundschule jeden Tag lauthals verkündet hatte, dass sie einmal Lehrerin werden würde.

Ich lächelte ehrlich, während ich mich an die guten Seiten unseres gemeinsamen Studiums erinnerte. Dass ich mit Willow hatte zusammenwohnen können, die Studentenpartys, ein paar der Vorlesungen hatte ich auch interessant gefunden. Vielleicht wäre es doch gar nicht so schlecht, wieder zu studieren – wenn ich irgendwann wusste, was ich eigentlich wollte. Wenn ich bereit war, wieder in die Realität zurückzukehren.

Ich griff nach meinem Bierglas und grinste meine beste Freundin an. »Na los, lass uns mal sehen, was die Jungs da drüben so Nettes zu erzählen haben.« Ich deutete zu dem Nachbartisch, und einer der Männer rief sofort zu uns rüber: »Ja. Kommt, wir haben noch genug Platz auf unserer Bank!«

Willow grinste. »Da sie alle Fußballshirts tragen, kann ich mir die Themen schon vorstellen. Aber hey, lassen wir uns doch überraschen.« Sie hakte sich bei mir ein, als wir rübergingen und uns zu den Männern auf die Bank quetschten.

Ich genoss es, den Abend mit meiner besten Freundin verbringen zu können, ohne weiter an die Zukunft zu denken. Ich genoss die Gespräche um mich herum und das süße Lächeln des schüchternen Typen, der mir nach ein paar Minuten von seinem Studium in Medizintechnik erzählte und dabei ganz leuchtende Augen bekam. Irgendwann wurde die Musik lauter gedreht, und wir begannen zu tanzen, und ich konnte wieder wirklich alles loslassen.

Es tat gut.

Willow und ich gingen erst ein paar Stunden später nach der sicher fünften Runde Shots und dem vierten Bier. Ich fühlte mich gut, auch wenn wir uns ein wenig aneinanderklammern mussten, um einigermaßen unbeschadet nach Hause zu kommen. Das hielt uns aber nicht davon ab, die ganze Zeit zu lachen.

»Gott, das Dock ist so schön«, sagte Willow irgendwann, während wir am Wasser entlanggingen. »Eins der wenigen Dinge, die ich an Liverpool vermisse. Abgesehen von dir natürlich.« Sie knuffte mich grinsend in die Seite, und ich musste lachen.

»Na, das hoffe ich doch.«

Willow lehnte ihre Schulter gegen meine, während wir über das Kopfsteinpflaster tanzten. »Wir waren lange nicht mehr im Boot deines Vaters«, kommentierte sie. »Liegt es hier noch am Albert Dock?«

»Klar«, brummte ich und konzentrierte mich auf den Weg, weil wir beide schon gefährlich schwankten. »Wenn es nicht jemand geklaut hat. Aber was soll man schon mit so einem alten Kahn?«

»Und noch dazu einem Kahn, der so mit Graffiti verschandelt ist?« Willow kicherte in ihre Faust.

Graffiti, die wir platziert hatten. Selbst jetzt, so viele Jahre später, konnte ich mich noch an die Wut in meinem Bauch erinnern, mit der ich die Wände verschandelt hatte. Mittlerweile konnte ich nur schwach darüber lächeln. »Es ist also auf jeden Fall noch da.« Als ich mich zu den Booten im Wasser umdrehte, bemerkte ich im Augenwinkel eine Bewegung aus der Richtung, aus der wir gekommen waren. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber als ich genauer hinsah, war da niemand. Vermutlich hatte ich mich doch getäuscht.

»Mhmm«, machte Willow neben mir zustimmend. Sie hatte die Augen geschlossen.

Ich lachte und stupste sie an. »Hey, nicht einschlafen. Allein kriege ich dich nicht nach Hause. Und ehrlich gesagt glaube ich, dass ich mich selbst auch nicht allein nach Hause kriege. Ich bin mir sicher, dass das Dock angefangen hat, sich zu drehen.«

Willow gab ein Grunzen von sich, öffnete aber glücklicherweise wieder die Augen. Aneinandergelehnt torkelten wir weiter. Mein Nacken prickelte noch immer, aber jedes Mal, wenn ich den Weg zurückblickte, war die Straße leer. Mein alkoholvernebeltes Hirn spielte mir offenbar Streiche.

Die kühle Nachtluft wehte mir um die Nase und ließ meinen Kopf wieder etwas klarer werden. Sobald wir das Dock hinter uns gelassen hatten, konnte ich mich wieder auf die vielen kleinen Läden konzentrieren, die rechts und links von uns an der Straße lagen. Und schließlich auf die Ladenfläche, über der in glänzenden Buchstaben »Bells Goldschmiede« stand.

Wir torkelten kichernd auf den Eingang daneben zu und schafften es nach ein paar Sekunden, einen unserer Schlüssel ins Schloss zu kriegen und in den Hausflur zu stolpern.

»Schhh«, machte Willow, obwohl sie viel lauter dabei war, die Treppe nach oben zu gehen, weil sie sich an dem klappernden Geländer festhielt. »Meine Mum bringt mich um, wenn sie uns hört.«

»Martha bringt dich nicht um. Sie macht dir höchstens eine deftige Suppe, damit du nach deinem Kater schnell wieder auf die Beine kommst«, sagte ich belustigt.

Im ersten Stock lehnte Willow sich an die Wohnungstür ihrer Familie und warf mir über die Schulter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Zu dir und deiner Schwester ist sie so. Zu mir ganz sicher nicht.«

Ich klopfte ihr auf den Rücken, als ich an ihr vorbei zur nächsten Treppe ging. »Morgen Kaffee?«

»Aber nicht vor Mittag«, murmelte Willow, ohne mich anzusehen, und verschwand schon im Wohnungsflur.

Ich grinste, dann machte ich mich daran, die nächsten Stufen zu erklimmen. Zum Glück vertrug ich Alkohol besser als meine beste Freundin. Als ich in den Flur unserer Wohnung trat, war mein Blickfeld schon wieder fest, und mir ging es gut genug, um mich auf leisen Sohlen in mein Zimmer zu schleichen. Meine Mum war gerade zwar nicht da, da sie unsere Grandma in Ibworth besuchte, weit weg von der Zivilisation und jeglichem Empfangsbalken auf dem Handy. Aber meine Schwester Danica schlief bestimmt schon tief. Und ihre Gardinenpredigten waren für eine Sechzehnjährige um einiges schlimmer als die unserer Mutter.

Als ich das Zimmer betrat, hob unser Hund Reginald, der in dem Körbchen an meinem Fußende lag, nur kurz müde den Kopf, bevor er sich wieder zusammenrollte.

Ich grinste und ging ins Bad, um mir die Zähne zu putzen und in meinen Pyjama zu schlüpfen. Aber kaum hatte ich in meinem Zimmer das Licht gelöscht, kam mir das Gespräch mit Willow wieder in den Sinn. Ich setzte mich auf die Bettkante und starrte die Lichterketten an, die ich um mein Bettende geschlungen hatte, und dachte an das Gespräch mit meiner Mum. Daran, wie sie gesagt hatte, dass Goldschmieden ihr Traum war und ich mich davon nicht beeinflussen lassen solle. Dass ich meinen eigenen Weg gehen solle, auch wenn sie wusste, dass es mir in den Fingern kribbelte, mit dem Goldschmieden weiterzumachen. Einfach stundenlang in der Werkstatt im hinteren Bereich unseres Ladens zu sitzen und Schmuck zu machen. Ich war damals wirklich wegen meiner Schwester zurückgekommen, aber ich war nicht so unglücklich darüber gewesen, wie Willow befürchtet hatte.

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und versuchte, die Gedanken wieder loszuwerden, die Gedanken an meine Zukunft, aber es funktionierte nicht. Ich war schon wieder zu nüchtern. Und noch dazu war ich mir ziemlich sicher, dass gerade irgendetwas aus dem Erdgeschoss nach mir rief.

Die goldenen Ohrringe vielleicht, die ich am Nachmittag angefangen hatte.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Kurz nach zwei. Viel zu spät, um noch einmal in die Schmiede zu gehen. Aber wen kümmerte es schon? Ich konnte gerade sowieso nicht schlafen.

Als ich aufstand und in meine Strickjacke und meine Slipper schlüpfte, hob Reginald wieder den Kopf und wirkte beinahe etwas vorwurfsvoll. Er war so alt, dass die Haare an seinem Schnauzer schon komplett grau waren.

»Ich komme bald wieder«, flüsterte ich, auch wenn er das wahrscheinlich nicht verstand. Aber als ich auf den Flur zuging, hörte ich direkt sein Tapsen hinter mir und drehte mich wieder um. Er sah mich mit großen Augen an, die keine Widerrede zuließen.

Mein Herz war zu weich für dieses Tier.

»Okay«, murmelte ich und hob ihn hoch, damit er mit seinen alten Knochen die Treppe nicht mehr selbst gehen musste. »Aber kein Gebell, hast du verstanden?«

Und während ich nach unten ging, stieg wieder das warme Kribbeln in meinem Inneren auf, das ich immer fühlte, wenn ich in die Schmiede trat.

Kapitel 2

Reggie bellte. Es war das raue Geräusch eines alten, hustenden Mannes, der sein Leben lang viel zu viele Zigaretten geraucht hatte.

Ich schreckte so heftig auf, dass ich die Werkzeuge, die auf dem Werktisch unter mir gelegen hatten, zu Boden fegte. Mein Herz hämmerte von innen gegen meine Rippen, und ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Neben mir flackerte ein Licht, und als ich mich ihm panisch zuwandte, erkannte ich darin die alte Arbeitslampe, die schon seit Monaten einen Wackelkontakt hatte. Unsere Werkstatt. Ich war in unserer Werkstatt.

Mein stoßweiser Atem beruhigte sich nur langsam, als ich mit einer Hand meinen schmerzenden Nacken massierte und versuchte, die Situation zu verstehen. Offensichtlich war ich bei der Arbeit eingeschlafen. Der Schmuck lag auf der dunklen Unterlage, mit der ich die Arbeitsfläche abgedeckt hatte: zwei filigrane Schmetterlingsohrringe aus goldenem Draht, verziert mit winzigen Steinen. Es war mir noch nie passiert, dass ich einfach am Tisch eingeschlafen war, und das war nicht das Einzige, was mir Kopfzerbrechen bereitete.

Was hatte ich da gerade geträumt?

Die Erinnerung verblasste bereits, vor meinem inneren Auge waren nur noch Schatten, Dunkelheit und dann ein grelles, aufflackerndes Licht, das beinahe an Feuer erinnert hatte. Ich seufzte tief und rieb mir die Augen. Mein Handy, das neben mir auf dem Tisch lag, zeigte bereits kurz nach vier Uhr. Es war also mitten in der Nacht, beinahe schon morgens. Ich lauschte, aber das Haus lag in vollkommener Stille, wie es zu erwarten gewesen war. Abgesehen von dem erneuten Bellhusten hinter mir.

Ich drehte mich schwerfällig auf meinem Schreibtischstuhl um. Bis auf das flackernde Licht war die kleine Werkstatt unserer Familie in Dunkelheit getaucht. Nur ein schwacher Schein beleuchtete die Werkzeuge, die fein säuberlich an der Wand hingen, und auch die, die sich auf der Werkbank und nun auch auf dem Boden verteilten, als wäre ein Sturm darübergefegt. Neben dem zweiten Arbeitsplatz, an dem sonst meine Mutter saß, gab es hier nur noch eine Vitrine für den fertigen Schmuck, die Tür zum Materiallager und einen kleinen, runden Teppich in der Mitte des Raumes, auf dem Reggie saß. Als ich ihn anblickte, schnippte sein Schwanz von der einen zur anderen Seite, der klägliche Versuch eines Wedelns. Der Hund war älter als das Haus, unter dessen Dach wir uns befanden, und das war ihm nicht nur an den drahtigen Haaren anzusehen, die seine vorher schwarze Schnauze in den letzten Jahren grau gefärbt hatten.

»Kumpel, wir hatten darüber gesprochen«, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen. »Wenn du hier hinten schlafen willst, während ich arbeite, gibt es kein Gebell. Sollte ich hier einen Herzinfarkt kriegen, werde ich stundenlang nicht gefunden.«

Schnipp. Reggies Schwanz wechselte wieder die Seite. Er hechelte schwerfällig, und seine angegrauten Ohren zuckten.

Ein erneutes Seufzen stieg in mir nach oben. »Schon verstanden. Du brauchst eine Gassirunde.«

Ich drehte mich zu dem Fenster um, das direkt hinter meinem Arbeitstisch lag und zum Innenhof hinauszeigte. Es war so stockdunkel draußen, dass ich nur meine eigene Spiegelung darin sehen konnte. Meine rotblonden Haare waren zerzaust, und ich hatte Striemen in meinem totenblassen Gesicht. Wenn jemand mich so sah, würde er mich wahrscheinlich für untot halten. Andererseits war es mitten in der Nacht, der Laden war abgeschlossen, und im Hausflur war sicher auch niemand mehr unterwegs. Also, wer sollte mich schon sehen?

Ich erhob mich ächzend, weil mein Fuß in der unbequemen Haltung eingeschlafen war, und Reggie legte den Kopf schief. Beinahe, als wollte er mich fragen: Na, wer von uns ist jetzt alt?

»Du. Du bist der alte Mann. Und jetzt lass die Blicke, sonst kannst du allein sehen, wie du die Tür zum Hof aufbekommst.« Ich griff nach der Taschenlampe, die an der Wand hing, klemmte sie mir zwischen die Zähne, Reggie unter den Arm, und öffnete die Tür, um ihn die drei Stufen nach oben zu tragen.

An die Werkstatt war ein dunkler Flur angeschlossen. Die Tür zum Ladenbereich unserer Familiengoldschmiede stand offen, und das Licht des Mondes und der Straßenlaternen beleuchtete den hellen Holzboden. Die Schatten der auf die Glastür geklebten Buchstaben wurden ebenfalls auf das Holz geworfen: Bells Goldschmiede stand dort, verschnörkelt und lang gezogen.

Reginald hechelte unter meinem Arm etwas heftiger, und ich beeilte mich, ihn im Flur wieder abzusetzen. Kaum berührten seine Pfoten den Boden, tippelte er auch schon los. Ich folgte ihm den schmalen Gang entlang zu der Hintertür, die unsere Goldschmiede mit dem Hausflur verband. Dort wartete Reggie geduldig, bis ich ihm aufgemacht hatte, nur um dann schnurstracks weiterzutippeln, am Aufzug vorbei und zum Hinterausgang, der zum Innenhof führte.

Ob Danica sich wunderte, dass ich nicht nach Hause gekommen war? Ging sie davon aus, dass ich mit Willow länger weg war? Oder vermutete sie, dass ich danach noch in der Werkstatt versackt war? Das hatte ich im letzten Jahr – nach ihrem Unfall – schließlich oft getan, vor allem wenn meine Mum nicht da gewesen war. Noch vor zwei Tagen hatte Danica mich deshalb zur Schnecke gemacht, weil sie der Meinung war, dass ich zu viel arbeitete. Himmel, selbst meine Mutter war der Meinung gewesen, dass wir einfach einmal zwei Wochen geschlossen haben konnten, während sie unsere Grandma besuchte. Aber ich hatte mich direkt dagegen gewehrt. Nicht nur, weil wir das Geld sicher ganz gut gebrauchen konnten … Ich liebte es auch, hier zu sein. An Schmuck zu arbeiten, ihn zu formen, zu reparieren, schöner zu machen. Ich hatte es schon als Kind geliebt, meiner Mutter dabei zuzusehen, und sobald ich die Werkzeuge selber hatte halten können, hatte ich sie auch schon angefleht, mir alles beizubringen.

Was sie auch getan hatte. Trotzdem wollte sie nicht, dass ich meine Zukunft und mein ganzes Leben hier verbrachte. Erst recht nicht nachts. Meine Mutter hätte wahrscheinlich einen Anfall bekommen, wenn sie gewusst hätte, dass ich so spät noch in der Goldschmiede war.

Ein frischer Wind umspielte meine Beine, als ich die Tür öffnete. Reggie kam sofort in Bewegung, humpelte nach draußen, den gepflasterten Weg hinunter, und dann verschluckte ihn die Dunkelheit der Nacht. Der Innenhof war groß, und zwischen dem Fahrradhäuschen, den vielen Gartenmöbeln und den rechts und links angelegten Büschen konnte Reggie leicht verschwinden.

»Nicht so schnell, alter Mann«, zischte ich, schlang die Arme um meinen Oberkörper und eilte ihm nach.

Obwohl es bereits Juni war und wir mehr und mehr sonnige Tage bekamen, lag Liverpool doch direkt am Meer, und die kühle Küstenluft machte die Nächte ungemütlich. Aber es war nicht nur das, was mich frösteln ließ. In der Stille unseres dunklen Hofes waren meine Gedanken wieder zu dem Traum gewandert, der mir immer noch in den Knochen saß. Vor allem dieses beklemmende, ungute Gefühl ließ mich einfach nicht los, egal, wie sehr ich versuchte, es abzuschütteln.

Ich knipste die Taschenlampe an, um die Büsche vor mir auszuleuchten. »Reggie? Wo steckst du schon wieder?«

Die Antwort war ein Rascheln und ein zufriedenes Grunzen, das irgendwo aus der linken Hälfte unseres Gartens kam. Einer unserer Nachbarn hatte den Rasen frisch getrimmt, aber an die Rosenbüsche meiner Mutter traute sich in deren Abwesenheit niemand heran. Sie waren das Heiligtum des Hofes, das wusste im Haus jeder, und Reggie musste jetzt irgendwo zwischen ihnen nach dem perfekten Ort für sein Geschäft suchen.

Hoffentlich beeilte er sich bei seinem Toilettengang, damit ich endlich ins Bett konnte. Allmählich kroch mir die Müdigkeit doch wie Blei in die Beine.

Ungeduldig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere und wieder zurück, damit die Kälte nicht an ihnen heraufkriechen konnte. Als ich gerade darüber fluchen wollte, dass ich mir nicht zumindest noch eine Jacke übergeworfen hatte, hörte ich plötzlich ein Geräusch.

Zuerst dachte ich, dass es Reggie war, der von seiner Pieselmission zurückkam. Dann aber wurde mir klar, dass das Geräusch nicht aus dem Hof kam, sondern aus dem Haus hinter mir. Überrascht blickte ich über meine Schulter zur offen stehenden Tür.

Ich konnte den Gang von meiner Position aus gut sehen, aber er war nach wie vor dunkel, und in den Schatten war keine Bewegung auszumachen. Ich lauschte weiter, und erst nach ein paar Sekunden erkannte ich das Geräusch als ein … Rütteln? Jemand schien an der Tür zu rütteln. Einmal, zweimal, dann gab es eine Pause, und dann war das Rütteln wieder da.

Ein Anwohner, der seinen Schlüssel vergessen hatte? Oder ihn nicht ins Schloss bekam, weil es so dunkel war und er … na ja, um diese Uhrzeit vielleicht betrunken?

Ich sah zurück zum Hof, aber Reggie war anscheinend noch nicht fertig. Deshalb machte ich kehrt und lief in den Hausflur. Ich wühlte in meiner Hosentasche und bekam den Schlüssel in die Finger. Wenn die Tür abgeschlossen war, konnte ich den armen Tropf, wer auch immer es war, wenigstens hier reinlassen. Wahrscheinlich einer der Studenten aus der WG über uns. Die waren um diese Uhrzeit eigentlich meistens noch wach.

Während ich auf die Tür im Hausflur zuging, legte sich allerdings ein merkwürdiges Gefühl über mich. Erst konnte ich nicht so richtig ausmachen, was genau es war – doch nur wenige Schritte vor Ende des Ganges verstand ich es. Die Eingangstür bewegte sich nicht. Das Rütteln war noch zu hören, aber es wirkte ferner und kam von links.

Das hieß, dass jemand an der Tür der Goldschmiede rüttelte.

Meine Muskeln spannten sich an, und eine Gänsehaut kribbelte über meinen Rücken. Bilder von unserem Laden voller Glasscherben tauchten vor meinem Auge auf. Gott, der Traum vorhin machte mich schon paranoid, wahrscheinlich hatte sich nur jemand in der Tür vertan, aber ich konnte die Nervosität in mir nicht wegschieben.

»Reggie«, zischte ich in Richtung Hof, aber viel zu leise, als dass er mich hätte hören können. Und selbst wenn, hätte er seinen Toilettengang sicher nicht unterbrochen, um mir zu Hilfe zu eilen. Er war einfach nicht zum Helden geboren.

Also knipste ich die Taschenlampe aus, schlich zur Tür der Schmiede und dann durch den Gang dahinter. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während ich mich dem Rütteln näherte. Als ich endlich an den Toiletten vorbei war, sah ich bereits die Schatten, die die Laternen auf den Boden unserer Ladenfläche warfen. Neben der Schrift, die vorher schon da gewesen war, waren nun auch die Schemen eines großen Menschen zu erkennen. Ein großer Mensch, der an unserer Tür stand und an ihr rüttelte.

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Sollte ich die Polizei rufen? Die Alarmanlage auslösen? Aber wenn es wirklich nur ein Betrunkener war, der sich in der Tür geirrt hatte, konnte das unangenehm werden. Ich musste zumindest einen Blick riskieren.

Also drückte ich mich an die Wand im Flur und lugte ganz vorsichtig um die Ecke in die Ladenfläche.

Es war ein Mann, der vor unserem Laden stand, zumindest der Statur nach. Er hatte immer noch eine Hand auf der Klinke. Gerade drückte er sie noch einmal hinunter, und es sah aus, als würde er mit irgendetwas im Schloss herumfummeln. War das wirklich nur ein Betrunkener oder versuchte er ernsthaft, hier einzubrechen?

Mein Hals fühlte sich trocken an, und mein Herz machte einen unangenehmen Hüpfer. Bis auf die tief gezogene Kapuze seines Pullovers war wirklich nichts an ihm zu erkennen. Sein Gesicht lag komplett im Schatten.

Dann legte er plötzlich eine Hand auf das Glas. Erst eine Sekunde später merkte ich, dass er gerade versuchte, in den Laden zu schauen, und zog so schnell wie möglich den Kopf zurück. Wahrscheinlich konnte er mich durch die Dunkelheit hier drinnen sowieso nicht sehen, aber mir war bereits die Angst so tief in die Glieder gefahren, dass ich nicht mehr richtig denken konnte.

Was sollte ich bloß tun? Doch die Polizei rufen? Oder konnte ich ihn irgendwie anderweitig verscheuchen?

Mein Blick fiel auf den Lichtschalter auf der anderen Seite des Flures. Ob das reichen würde?

Just in diesem Moment entschied sich Reggie, seine Pinkelpause zu beenden. Er kam über den Flur getapst, schüttelte sich kurz und blickte dann zu mir auf, als hätte er gerade erst gemerkt, dass ich da war. Sein Schwanz schnippte wieder fröhlich in die andere Richtung. Was für ein Wachhund.

Das Rütteln auf der anderen Seite des Ladens setzte wieder ein, offensichtlich hatte unser Einbrecher noch nicht aufgegeben. Leider schienen die Geräusche jetzt auch bei Reggies alten Ohren angekommen zu sein, denn sie stellten sich auf. Er knurrte. Und dann schoss er, schneller als ich es ihm zugetraut hätte, um die Ecke in den Laden hinein. Sein hustendes Bellen erfüllte sofort den Raum.

Ich war ziemlich sicher, dass der Opahund meiner Familie nicht ausreichen würde, um einen echten Einbrecher zu verscheuchen. Dafür war er wirklich zu wenig angsteinflößend und zu langsam. Aber in Kombination mit dem Licht würde es vielleicht ausreichen. Also stürzte ich nach vorn und betätigte den Schalter, und sofort war die Ladenfläche unserer Schmiede hell erleuchtet.

Wie immer funkelte das Deckenlicht in den vielen mit Ringen und Ketten gefüllten Vitrinen und erzeugte einen Regenbogen aus glänzenden Lichtern. Ich wartete drei Herzschläge lang, dann machte ich einen Schritt um die Ecke.

Reggie stand an der gläsernen Eingangstür und bellte immer noch. Aber ich stellte mit Erleichterung fest, dass dahinter niemand mehr zu sehen war. Die Straße vor der Schmiede war leer.

»Fuck«, murmelte ich und durchquerte den Raum, um den bellenden Reggie vom Boden aufzuheben. Er zitterte in meinem Arm wie Espenlaub, und ich rechnete ihm hoch an, dass er trotzdem todesmutig versucht hatte, den Laden zu verteidigen.

Selbst mein Atem ging immer noch stoßweise, und mein Herz hatte sich längst nicht beruhigt.

Zur Sicherheit überprüfte ich noch einmal die Tür, die nach wie vor verschlossen war. Dann erst ging ich mit wackeligen Beinen zurück in den Flur und löschte das Licht wieder. Ein paar Sekunden blieb ich noch stehen und drückte Reggie, der immer noch Knurrlaute von sich gab, an meine Brust. Ich lauschte, falls der Typ vielleicht doch noch zurückkam, aber als nichts passierte, ging ich zum Hausflur.

Selbst wenn er es noch einmal versuchte – unsere Alarmanlage würde ihn aufhalten. Das redete ich mir zumindest ein, während ich alle Lichter löschte und Türen schloss, ehe ich die Treppe hinaufstieg. Reggie schien sich auf meinem Arm langsam zu beruhigen, aber ich konnte das erst, als sich die Tür unserer Wohnung hinter mir geschlossen hatte. Ich lehnte mich gegen das Holz und atmete lang und tief durch, bevor ich Reggie absetzte. Ihm war der Vorfall im Laden gar nicht mehr anzusehen, denn er tapste sofort in Richtung Wohnzimmer, wo er sich im Dunkeln wahrscheinlich in seinem Körbchen zusammenrollte.

Ich wusste nicht, warum, aber meine Nervosität trieb mich in den hinteren Bereich unserer Wohnung, wo ich so leise wie möglich die Tür zum Zimmer meiner Schwester öffnete. Wie erwartet lag Danica im Bett, die Decke hob und senkte sich sanft. Ihr Rollstuhl stand schief daneben, was ein Zeichen dafür war, dass sie sich selbst ins Bett umgesetzt hatte. Gerade war eigentlich Mums beste Freundin und Willows Mum Martha jeden Abend bei uns, um Essen zu machen und Danica zu helfen. Darauf hatte Mum bestanden – trotz Danicas Einwand, dass sie mit sechzehn Jahren keinen Babysitter mehr brauchte. Meine Schwester hasste es, wenn andere sich zu viel um sie kümmerten. Seit sie im Rollstuhl saß, hielten ihr alle Leute ständig die Türen auf, und meistens ging ihr das gehörig auf die Nerven. Offenbar glaubte niemand, dass sie in der Lage war, noch irgendetwas selbst zu tun. Dabei hatte meine Schwester sich bereits an ihre neue Lebenssituation gewöhnt, als der Rest der Familie – Mum und ich – noch unter Schock standen. Selbst jetzt, als meine Gedanken die Erinnerung nur streiften, gefror mir das Blut in den Adern.

Schnell verdrängte ich die Gedanken wieder. Danica ging es gut. Sie war in Sicherheit. Hier oben würde niemand einbrechen, und im Laden war die Alarmanlage. Es gab also keinen Grund, mir Sorgen zu machen.

So leise wie möglich schloss ich die Tür und schlich in mein eigenes Zimmer rüber. Die Tür ließ ich einen Spalt offen, falls Reggie nachts in mein Zimmer kommen wollte. Dann schaltete ich wie jeden Abend die Lichterketten über meinem Bett an und kuschelte mich unter die Decke. Mein Herz hatte sich inzwischen fast vollständig beruhigt, und noch während ich mich in die Kissen sinken ließ, traten die Gedanken an den Fasteinbrecher und Danicas Unfall in den Hintergrund.

Kapitel 3

»Du siehst beschissen aus.« Meine Schwester Danica grinste breit, als ich in die Küche trat. Sie hatte sich hübsch gemacht, wie immer. Ihre Haare, die etwas tiefer rot waren als meine, waren zu einem ordentlichen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter auf die Brust fiel. Sie trug ein Kleid, das ihre schmale Figur betonte, war leicht geschminkt, und an den Fingern saßen geschwungene Goldringe. An jedem Finger einer – alle von mir gemacht. Gegen sie stank ich in meiner alten Jeans und dem ausgewaschenen T-Shirt ziemlich ab, und das nicht nur, weil ich einen wahnsinnigen Kater und bestimmt Augenringe bis zu den Knien hatte.

»Vielen Dank auch«, murmelte ich sarkastisch.

Es war irgendwann am Vormittag, ich hatte nicht auf die Uhr gesehen, als ich aufgestanden war. Aber wahrscheinlich war es schon beinahe Mittag, denn Willows Mutter Martha stand bereits am Herd. Sie schenkte mir ein Lächeln. »Na, hattet ihr zwei einen guten Abend?«

Ich ließ mich an den Tisch fallen. Obwohl Willow und ich beide volljährig waren und uns sicher nicht mehr rechtfertigen mussten, wollte ich ihr auch nicht auf die Nase binden, wie sehr wir uns abgeschossen hatten. Also meinte ich nur: »Ja. Wir haben ewig gequatscht.«

Als Martha sich wieder den Spaghetti zuwandte, zog Danica die Augenbrauen nach oben. »Siehst aus, als hättet ihr mehr als gequatscht.«

Ich zeigte ihr wenig galant den Mittelfinger, bevor ich zu Martha sagte: »Du musst nicht immer für uns kochen, nur weil Mum eine Weile weg ist. Wir können uns mittlerweile ganz gut selbst verpflegen, und das ist doch immer ein riesiger Aufwand für dich.«

»Einen Stock nach oben zu kommen? Unsinn.« Sie lachte, als sie den Topf vom Herd schob. »Außerdem freue ich mich, dass ich mal wieder jemanden hab, für den ich kochen kann. Seit Willow studiert, koche ich fast nur noch für mich.«

Ich stützte das Kinn auf meine Hand und hütete mich, weiter zu protestieren. In Wahrheit würden Danica und ich uns wahrscheinlich von Käsetoast und Gurken im Glas ernähren, wenn Martha nicht für uns kochen würde. Meine kurze Studentenzeit hatte das bewiesen. Ich bekam nicht einmal Rührei hin, und um meine Schwester stand es leider nicht viel besser. Wir waren zu verwöhnt von unserer Mutter.

»Wo ist Willow eigentlich?«, wollte Danica wissen.

Ich war mir sicher, dass sie mit einem Mordsschädel im Bett lag, verkniff mir den Kommentar aber mit einem Grinsen.

Martha schnaubte, als sie den großen Soßentopf auf den Tisch hievte. »Sie hat noch geschlafen, als ich hochgekommen bin. Vielleicht kannst du sie kurz holen, Harper-Schatz?«

»Klar«, gab ich knapp zurück. »Wenn ich sie aus dem Bett kriege.« Ich erhob mich vom Tisch und ignorierte die hochgezogenen Augenbrauen meiner Schwester, als ich in den Flur schlurfte, um in meine Schuhe zu schlüpfen.

Zu meiner Überraschung kam Willow mir schon im Treppenhaus entgegen, ohne dass ich minutenlang an ihrer Schulter rütteln musste. Sie sah so zerzaust aus, wie ich es vermutet hatte, aber mein Grinsen verblasste schnell, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. Ihre Augen waren aufgerissen, und wir blieben gleichzeitig stehen und starrten uns an, nur wenige Treppenstufen voneinander entfernt.

»Was ist?«, fragte ich alarmiert.

Meine beste Freundin räusperte sich. »Das … das Lions ist abgebrannt.«

Mir klappte der Mund auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ihre Worte so richtig verstanden hatte, dann schüttelte ich langsam den Kopf. »Nein. Wir … wir waren doch gestern Nacht …«

»Es muss irgendwann in den frühen Morgenstunden passiert sein.« Willow kam zwei Stufen nach oben und hielt mir ihr Handy unter die Nase. Auf dem Bild konnte ich die verkohlte Front unserer Lieblingsbar erkennen, der Schriftzug darüber war kaum noch zu lesen. »Sarah hat mich gerade angerufen, du weißt schon, die Kellnerin, mit der ich mal eine Weile ausgegangen bin.«

Ich nickte, weil ich mich noch gut daran erinnerte, wie glücklich Willow damals in ihrer ersten Beziehung mit einer Frau gewirkt hatte, bis sie beide erkannt hatten, dass es doch nicht reichte. »Wurde jemand verletzt?« Wie automatisch wanderte meine Hand an meinen Nacken, wo sich eine unheimliche Gänsehaut ausgebreitet hatte. »War jemand drin?«

»Zwei Angestellte, die noch aufgeräumt haben. Einer liegt auf der Intensivstation, einer wurde nur leicht verletzt.« Willow ließ das Handy sinken und presste die Lippen zusammen. »Letzterer hat wohl erzählt, dass es wahnsinnig schnell ging. Innerhalb von Sekunden stand der gesamte Laden in Flammen, sie konnten sich kaum nach draußen retten. Richtig unheimlich.«

Ich schluckte schwer. »Weiß man schon, was die Ursache war?«

»Bisher wohl noch nicht, aber so was dauert ja immer eine Weile.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht Brandstiftung?«

Brandstiftung. Obwohl das sicher nicht miteinander in Zusammenhang stand, kam mir plötzlich wieder der unheimliche Typ in den Sinn, der in der Nacht in die Schmiede wollte.

Willow legte den Kopf schief. »Was denn? Du bist so blass geworden.«

Ich warf einen Blick über meine Schulter zu unserer Wohnung, bevor ich leise sagte: »Du darfst Danica und Martha nichts davon erzählen, klar?« Als sie nickte, atmete ich tief durch. »Ich glaube, heute Nacht wollte jemand in die Goldschmiede einbrechen. Da war ein Typ, der an unserer Tür gerüttelt hat. Es ist nichts passiert, Reggie hat ihn verjagt, aber erschrocken habe ich mich trotzdem.«

Willow schnappte nach Luft. »Scheiße. Was hast du denn um die Uhrzeit überhaupt noch da unten gemacht?«

»Ohrringe«, gab ich schwach zurück und winkte ab. »Spar’s dir, ich weiß, dass ich hätte schlafen sollen. Aber darum geht es auch gerade gar nicht.«

»Schon klar. Das mit dem Fasteinbrecher ist unheimlich. Aber wenn er sich von deinem Hundeopa hat verjagen lassen, war er wahrscheinlich kein richtiger Verbrecher, sondern nur ein Betrunkener, der sich verlaufen hat.« Sie grinste breit, und obwohl das auch das war, was ich zuerst vermutet hatte, stieg etwas Unwillen in meinem Magen auf.

Ich kämpfte das dumpfe Gefühl nach unten, weil ich eigentlich wollte, dass Willow recht hatte, und zuckte mit den Schultern. »Ein Einbrecher und ein Brand in unserer Lieblingsbar, beides in einer Nacht. Schon ein großer Zufall, oder?«

»Da müssen die Sterne wohl irgendwie echt schräg gestanden haben gestern.« Willow schüttelte abwehrend den Kopf und hakte sich bei mir unter. »Na komm. Ich rufe später noch mal Sarah an und frag, ob es neue Details gibt. Und du hältst dich jetzt nachts von der Schmiede fern, klar?«

»Klar, Mama«, brummte ich und konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken.

Willow verdrehte die Augen und zerrte mich nach oben. »Dann gehen wir jetzt mal essen, mein Kind.«

Ich hielt es nicht lange in der Wohnung aus. Kaum waren unsere Teller leer, entschuldigte ich mich und verschwand wieder im Treppenhaus, um zurück in die Schmiede zu gehen. Ein paar Aufträge, die ich in der Abwesenheit meiner Mutter selbst angenommen hatte, waren noch offen, und es brannte mir unter den Nägeln, den Schmuck fertig zu machen.

Als ich jedoch auf die Ladenfläche trat, bemerkte ich, dass jemand an der Glastür stand und versuchte, durch die Scheibe nach drinnen zu schauen. Es war ein junger Typ mit dunklen Locken, und ich schreckte fürchterlich zusammen, weil ich sofort an meine unheimliche Begegnung letzte Nacht denken musste. Aber der hier war ganz sicher kein Einbrecher. Er war hochgewachsen und trug ein ordentliches weißes Hemd, durch das sich seine definierten Muskeln abzeichneten. Überhaupt wirkten seine Klamotten teuer und sein ganzes Äußeres mehr als gepflegt.

In diesem Moment nahm er mich von draußen wohl ins Visier. Seine Haltung versteifte sich kurz, ehe seine Mundwinkel einen Millimeter nach oben zuckten. Er hob die Hand, winkte mir durch die Scheibe und deutete dann auf die Tür.

Mit ein paar großen Schritten durchquerte ich den Verkaufsraum und schloss die Tür auf. »Hey. Wir haben momentan keine richtigen Öffnungszeiten«, erklärte ich ihm.

Der junge Mann betrachtete mich einen Moment aus kaffeeschwarzen Augen, die direkt meine Seele zu durchbohren schienen, dann trat wieder ein Lächeln auf sein Gesicht. Er wirkte nicht älter als fünfundzwanzig, aber irgendetwas in seinem Ausdruck, an seiner geraden Haltung ließ ihn … sehr reif wirken. »Ja, ich habe das Schild gesehen. Ich hatte nur gehofft, dass ich vielleicht doch jemanden antreffen würde. Du arbeitest hier?«

Etwas unsicher nickte ich, ließ den Blick an seinen teuren Klamotten herunterwandern und dann wieder zu seinem Gesicht. Er wirkte freundlich, charmant sogar, und verdammt, ich musste zugeben, dass er … echt heiß war. Die Muskeln, die dunklen Augen, diese leicht angehobenen Mundwinkel und dann noch dieser dezente Geruch nach einem holzigen, sicher teuren Parfüm … Ich schluckte. »Meiner Mutter gehört die Goldschmiede. Wie kann ich dir helfen?«

In seiner Miene blitzte etwas auf, und seine Mundwinkel wanderten noch ein Stück nach oben. »Du bist die Tochter von Lillian Bell?«

Überrascht sah ich ihn an. »Du kennst meine Mutter?«

»Nicht persönlich, aber … ein Verwandter hat hier einmal ein Schmuckstück reparieren lassen und war sehr zufrieden mit dem Ergebnis.«

»Verstehe.« Wieder musterte ich seine teuren Klamotten. Der Typ hatte offensichtlich genug Geld, um zu jedem Juwelier und jeder Goldschmiede der Welt zu gehen. Die Reparatur meiner Mutter musste ihn wirklich beeindruckt haben. Ich lächelte. »Also wie gesagt, sie ist nicht da. Kleine Arbeiten mache ich in ihrer Abwesenheit gern. Aber ich habe noch ein paar andere Aufträge, und es könnte sein, dass es etwas dauert.« Ich machte einen Schritt zur Seite, damit er in den Laden treten konnte.

»Das macht nichts. Ich bin noch bis morgen oder übermorgen in der Stadt, bevor ich wieder losmuss.« Er ging an mir vorbei und sah sich neugierig um.

Ich schob die Tür wieder zu und betrachtete seinen muskulösen Rücken. »Du kommst gar nicht aus Liverpool?«, fragte ich.

»Nein, eigentlich aus London.« Er unterbrach die Inspektion der Vitrinen und drehte sich wieder zu mir um. »Entschuldige, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Archer Harrison.«

»Harper«, gab ich zurück, konnte meine Neugier aber nicht ganz unterdrücken. »Da hast du ja einen ganz schönen Weg hinter dir, Archer. Machst du Urlaub in Liverpool?«

»So ähnlich.«

Es war offensichtlich, dass er nicht tiefer ins Detail gehen wollte, auch wenn sein Lächeln weiter freundlich und durchaus charmant wirkte. Himmel, der Typ sah WIRKLICH gut aus. Plötzlich ärgerte ich mich ein wenig, dass ich nur eine alte Jeans und ein T-Shirt trug und meine Haare nicht einmal richtig gekämmt hatte.

Ich schob die Frage nach seinem Verwandten, der extra in Liverpool bei meiner Mutter gewesen sein soll, zurück in meinen Hinterkopf und bemühte mich um ein halbwegs höfliches Lächeln. »Worum geht es denn?«

Er hielt mir die Hand hin, und ich zwang mich, den Blick von seinem gemeißelten Gesicht zu nehmen und nach unten zu sehen.

Als ich den Ring an seinem Mittelfinger ins Auge fasste, war mein Kopf plötzlich wie leer gefegt. Auf den ersten Blick sah er nur aus wie ein alter Goldring, aber mit jeder weiteren Sekunde, die ich ihn betrachtete, bemerkte ich ein neues Detail. Verzierungen zogen sich über die gesamte Fläche bis zur Fassung des großen Steines. So ein filigranes Muster von Ranken hatte ich noch nie in dieser Größenordnung gesehen. Ich rückte etwas näher, und da fiel plötzlich das Sonnenlicht durch die Fensterfront in den Stein. Er war milchig, beinahe durchsichtig, und leuchtete in Tausenden Farben wie ein Regenbogen.

»Harper?«

Archers Stimme holte mich zurück in die Realität. Ich hob den Kopf und starrte ihn an. »Der … der ist wunderschön! Wo hast du den her?«

»Ist ein altes Familienerbstück. Schon seit Generationen in meiner Familie.«

»Was sind das für Materialien?«

»Ich dachte eigentlich, dass du eine Antwort darauf hast.« Sein Lächeln war herausfordernd.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Ring. »Das ist sicher echtes Gold. Der Stein ist in Emaille eingefasst. Und dass er alt ist, ist auch völlig klar, das sieht man ihm trotz seines großartigen Zustandes an.« Ich neigte den Kopf ein wenig, betrachtete die schmale Fassung. »Unglaubliche Qualität. Großer technischer Aufwand. Muss deine Familie damals eine Menge gekostet haben.«

»Angeblich war er ein Geschenk.«

»Derjenige muss wirklich schwer verliebt gewesen sein.« Ich richtete mich wieder auf und sah ihm in die Augen. »Aber der Stein – keine Ahnung. Ich glaube, so etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist kein Diamant, auch wenn er so funkelt. Ähnelt mehr einem Opal oder einem Mondstein, aber mit einem seltsamen metallenen Glanz. Ich kenne kein Metall, das so …« Mir fehlten tatsächlich die Worte.

Archer nickte nachdenklich. »Du bist dir sicher, dass du so etwas noch nie gesehen hast? Ein anderes Schmuckstück, das vielleicht ähnlich aussah? Oder dich daran erinnert?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Daran würde ich mich erinnern.«

Archer seufzte leise, aber bevor ich ihn fragen konnte, ob alles in Ordnung war, lächelte er wieder. »Er gehörte wohl zu einem Set, und ich suche aktuell nach den anderen Stücken. Aber egal. Er ist zwar in gutem Zustand, aber er sollte dringend mal wieder gereinigt werden. Eben weil der Ring so wertvoll ist, habe ich mich nicht getraut, das zu Hause zu machen. Könntest du das für mich übernehmen?«

»Wie gesagt … es könnte etwas dauern, weil ich noch andere Aufträge habe, einige davon müssen heute fertig werden.« Schnell schob ich noch hinterher: »Aber wenn du ihn bis morgen hierlassen könntest?« Denn ich wollte diesen Ring wirklich näher untersuchen. Und irgendwie wollte ich auch diesen gut aussehenden Typen noch mal sehen.

Archer zögerte. Ich konnte es ihm nicht verdenken, der Ring musste von unschätzbarem Wert sein – emotional wie materiell.

Ich richtete mich auf. »Ich schwöre, dass ich sehr gut auf ihn aufpassen werde. Niemand außer mir wird ihn anfassen, und ich werde ihn über Nacht in unserem Safe einschließen.«

Er stockte, dann lächelte er wieder. »Das wäre großartig.« Nach einem erneuten Zögern zog er den Ring vorsichtig von seinem Finger und hielt ihn mir hin.

Aus irgendeinem Grund musste ich mich davon abhalten, nach Luft zu schnappen, dabei wusste ich überhaupt nicht, warum. Wir hatten hier oft teuren Kram von Kunden, wenn auch nicht so teuren. Ich hielt die Hand auf, und Archer ließ den Ring hineinfallen.

Einen Moment hatte ich das Gefühl, dass der Ring eine Wärmewelle durch meinen Körper schickte. Vielleicht weil Archer ihn bis eben noch getragen hatte, und das Gefühl verschwand auch direkt wieder, daher schenkte ich ihm nicht weiter Beachtung.

Stattdessen betrachtete ich erneut den Ring. Von Nahem sah er sogar noch beeindruckender aus, selbst im indirekten Licht funkelte er wunderschön. »Der ist wirklich gut gepflegt, aber ich werde trotzdem sehen, was ich machen kann.« Ich hob den Kopf und bemerkte, dass Archer auf den Ring starrte und dabei die Stirn in Falten gelegt hatte. »Alles okay?«, fragte ich nach.

Sofort wanderte sein Blick zu mir hoch. Prüfend. Skeptisch vielleicht sogar. »Fühlt es sich … seltsam an?«, fragte er.

»Was?« Ich sah auf den Ring hinunter und dann wieder in sein Gesicht. »Was soll sich seltsam anfühlen?«

Er wartete noch kurz ab und zuckte dann mit den Schultern. Ich konnte es mir zwar nicht genau erklären, aber er wirkte irgendwie enttäuscht. »Nichts, vergiss es. Ich hinterlasse dir auch noch meine Kontaktdaten.«

Ich beeilte mich, den Ring in den kleinen Safe im hinteren Bereich des Raumes zu legen und abzusperren. Dann brachte ich Archer Zettel und Stift, die er mir kurz darauf wieder reichte.

Er zog die Mundwinkel hoch, aber irgendwie war der Funke aus seinem Gesicht verschwunden. Es wirkte seltsam stumpf, als wäre ein wenig der Freude aus ihm gewichen. »Unter der Nummer kannst du mich jederzeit erreichen, wenn irgendetwas … seltsam sein sollte. Oder wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Kann ich bis morgen Mittag damit rechnen?«

Was meinte er mit seltsam? Und unvorhergesehen? Meinte er einfach, dass ich es vielleicht nicht schaffte? Weil seine Miene noch verschlossener wirkte als am Anfang, hakte ich besser nicht nach. »Sicher«, gab ich nur zurück. »Ich melde mich, wenn er fertig ist.«

»Vielen Dank, Harper.« Wie er meinen Namen aussprach. Als wäre er ganz besonders schön. Archer lächelte ein letztes Mal, dann verließ er den Laden. Durch die hohen Fenster konnte ich sehen, wie er auf dem Gehweg sofort nach seinem Handy griff und es mit ernster Miene an sein Ohr hob.

Ich lehnte mich an die Theke und drehte mich zum Safe rüber, in dem der Ring nun lag.

Das Ganze war … wirklich seltsam gewesen.

Kapitel 4

Meine Augen brannten, als ich das goldene Armband gegen das Licht meiner Schreibtischlampe hielt, um es ein letztes Mal zu prüfen. Aber selbst mit scharfem Blick war die Stelle, an der es der Kundin letzte Woche gerissen war, kaum noch zu erkennen.

Es war fertig.

Unwillkürlich entfuhr mir ein tiefes Seufzen der Erleichterung. Mit dem kleinen goldenen Kettchen hatte ich alle Bestellungen der letzten Tage abgehakt. Es war das erste Mal, seit meine Mutter nach Ibworth abgereist war, dass keine Aufträge mehr offen waren.

Das hieß … bis auf einen.

Ich schob mich mit dem kleinen Stuhl vom Arbeitstisch weg und knipste die Lampe aus, bevor ich aufstand. Es war schon wieder spätabends, ich hatte mich also nicht wirklich an mein Vorhaben gehalten, ein wenig kürzerzutreten. Aber immerhin konnte jetzt so langsam die Anspannung aus meinem Rücken weichen, die sich schon die ganzen letzten Wochen auf mich gelegt hatte, weil ich mich trotz allem für alles hier verantwortlich fühlte.

Während ich mit dem goldenen Armband zur Ladenfläche zurücklief, rieb ich mir den steifen Nacken. Gott, ich war wirklich schon wieder viel zu lange hier, aber noch konnte ich nicht ins Bett gehen. Ich legte das Armband in den Samtbeutel, der dafür vorgesehen war, und drehte mich dann – endlich – zu dem kleinen Safe um.

Es war seltsam, aber der Ring, den Archer vorbeigebracht hatte, schien mich wie magisch anzuziehen. Vielleicht lag es daran, dass ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Auch jetzt, als ich ihn wieder in meine Hand nahm, löste er ein warmes, vertrautes Gefühl aus, obwohl der Stein mir noch immer ein Rätsel war. Vielleicht, wenn ich ihn unter der Lupe betrachtete …

Eine Tür schlug zu, und ich zuckte zusammen. Als ich aber nur eine Sekunde später das leise Klimpern von Ringen auf dem Metall der Greifreifen des Rollstuhles auf dem Flur hörte, beruhigte sich mein Herz sofort wieder. Danica. Das war nur meine Schwester. Und wann war ich eigentlich so schreckhaft geworden? Vermutlich lag es bloß an dem Fasteinbrecher und dem unheimlichen Brand in der Lions Bar.

»Harper?« Danica bog um die Ecke, und sobald sie mich erblickte, schossen ihre Augenbrauen nach oben. »Sag mal, was machst du denn immer noch hier?«

»Ich habe noch die offenen Aufträge fertig gemacht.« Wie automatisch schlossen sich meine Finger um den Ring, und ich ließ die Hand sinken. Bildete ich es mir nur ein, oder wurde das Metall unter meiner Haut wirklich wärmer?

»Du hast das Abendessen verpasst. Mal wieder.« Danica verdrehte die Augen und sah dabei aus wie das Klischee jedes Teenagers. Irgendwann seit heute Morgen musste sie die Ohrringe angelegt haben, die ich ihr dieses Jahr zum Geburtstag gemacht hatte. Feine, perfekt runde Ringe, die im Licht des Ladens golden funkelten.

Der Anblick ließ jeglichen Widerstand in mir schmelzen wie Butter. »Tut mir leid«, sagte ich zerknirscht und schloss den Safe hinter mir. »Ich wollte endlich alle Aufträge abschließen, damit ich mal wieder ein paar Tage freimachen kann.«

Danica wirkte nicht sehr überzeugt. Sie scannte mich von oben bis unten und verschränkte dann die Arme vor der Brust.

Erst jetzt bemerkte ich, dass sie einen Teller mit Kartoffelauflauf auf dem Schoß hatte, der ganz offensichtlich für mich war. Ihre große Schwester, die, obwohl sie immer da war, eigentlich kaum da war.

Ich wollte mich gerade mit einem warmen Lächeln bedanken, als Danica mich fragte: »Du warst gestern mit Willow in der Lions Bar, oder?

Überrascht blinzelte ich. »Ja, wieso?«

Danica presste die Lippen zusammen. »Der Brand …«

»Keine Sorge, da waren wir schon längst weg. Wir haben nichts davon mitbekommen.«

Danica wirkte nicht unbedingt beruhigt.

»Wirklich«, sagte ich. »Und es war ein schöner Abend, also du siehst, ich kann mich schon auch von der Arbeit trennen.«

»Ein Wunder. Hattest du denn auch Spaß?« Sie zwinkerte zweideutig, und ich stöhnte genervt.

»Und gerade noch hatte ich beinahe so etwas wie warme schwesterliche Gefühle für dich.«

Danica machte öfter Kommentare in diese Richtung. Sie hatte mit ihren sechzehn Jahren mehr Dates im Monat als ich in den letzten Jahren. Eigentlich hatte ich seit der Trennung von meinem Exfreund Eric kurz nach unserem Schulabschluss niemanden mehr gedatet. Wir hatten uns drei Jahre gedatet, bevor er mich für seine hübsche Klassenkameradin Sophia sitzen gelassen hatte, die mit ihm zum Studieren nach Manchester gegangen war. Ich hatte die Sache mittlerweile überwunden, aber große Lust auf Dates hatte ich seitdem auch nicht mehr. Und schon gar nicht, wenn meine kleine Schwester versuchte, mich zu verkuppeln.

»Ich mache mir nur Sorgen um dich, Harper.«

»Ich mir auch um dich. Vor allem weil du wie vierzig klingst und nicht wie sechzehn.« Ich ging an ihr vorbei, klaute mir den Teller mit dem Auflauf von ihrem Schoß, und ließ dabei unauffällig den Ring in meine Hosentasche fallen.

Das Essen war noch warm und roch großartig nach cremigen Tomaten und den Gewürzen, die Martha immer benutzte. Ich roch Basilikum, Oregano und eine ordentliche Portion Knoblauch und musste unwillkürlich grinsen. Martha brachte immer ihr halbes Gewürzregal mit, wenn sie für meine Schwester und mich kochte. Schnell versenkte ich die Gabel, die auf dem Tellerrand gelegen hatte, in den Kartoffeln. Der Käse zog sich wunderbar lang, als ich den ersten Bissen in den Mund steckte. Himmel, das schmeckte göttlich.

»Du wirst noch als alte Jungfer sterben«, neckte Danica mich. Sie wendete den Rollstuhl wahnsinnig flink, um mir in den Flur zu folgen, und der Anblick versetzte mir einen winzigen Stich.

Danica ging besser damit um als Mum und ich. Sie hatte sich unglaublich schnell an den Rollstuhl gewöhnt, daran, dass sie querschnittsgelähmt war. Anfangs hatte ich sie noch ab und zu dabei erwischt, wie sie abends auf dem Bett gesessen und geweint hatte, wenn sie dachte, dass sie niemand sah. Allein bei dem Gedanken daran krampfte sich mein Magen zusammen. Aber innerhalb weniger Monate hatte sie akzeptiert, wahrscheinlich nie wieder laufen zu können, hatte zu ihrer alten Energie zurückgefunden und gelernt, mit allem klarzukommen.

»Dann verbringe ich meinen Lebensabend eben mit Reggie.« Ich grinste meine Schwester an. »Ich wette, die alte Haufenschleuder überlebt uns eh alle.«

Danica seufzte, vielleicht aufgrund meines Unwillens, ihr einen hübschen Schwager zu suchen. Als sie sah, dass ich wieder in Richtung Werkstatt ging, zogen sich ihre Augenbrauen zusammen wie ein paar dunkle Gewitterwolken. »Was machst du da? Ich dachte, du bist fertig für heute?«

»Du hast mir bestimmt das Essen gebracht, weil dir klar war, dass es nicht so ist.« Ich zuckte mit den Schultern. »Und ich bin FAST fertig. Es gibt da nur noch einen Ring, den ich säubern will. Einmal das Ultraschallbad und vielleicht etwas nachpolieren. Dauert höchstens zehn Minuten.« Obwohl, konnte ich das versprechen? Immerhin hatte ich eigentlich noch vor, mir den Stein genauer anzusehen. Vielleicht ein wenig zu recherchieren, aus welchem Material er war. Ich korrigierte mich: »Höchstens zwanzig.«

Danica schnaubte. Ich war mir sicher, dass eigentlich sie früher hätte zur Welt kommen sollen, denn sie wirkte in diesem Moment, genau wie in vielen anderen, eher wie eine ältere Schwester als ich. »Mach doch, was du willst«, knurrte sie. »Aber dann beschwer dich morgen nicht wieder ewig über deine Nackenschmerzen. Oder darüber, dass du keine Zeit für dich hast.«

Ich presste die Lippen zusammen, um nicht wieder zu grinsen. »Ehrlich, ich mache bald Feierabend. Dreißig Minuten, höchstens.«

»Dir ist schon aufgefallen, dass sich die Minutenzahl schon wieder erhöht hat, oder?«

»Wenn ich hochkomme, schauen wir irgendeinen Film zusammen, den du unbedingt sehen willst. Zum dritten Mal Die nackte Kanone, zum Beispiel, okay?«, versuchte ich es mit lieblicher Stimme.