12,99 €
You are my poison. Dass die Cops auf sie aufmerksam werden, ist das Letzte, was Avery gebrauchen kann. Schließlich muss die Barkeeperin nicht nur ihre Poisoner-Gabe verbergen, mit der sie magische Drinks herstellt und Menschen beeinflusst, sie steht auch in der Schuld einer gefährlichen Gang. Doch als in New York immer mehr rätselhafte Morde geschehen, nimmt ein junger Detective Avery ins Visier – ausgerechnet Hayes, dessen Nähe sie völlig aus dem Konzept bringt und der mit seinen grünen Augen in ihr Innerstes zu blicken scheint. Schon bald müssen die Giftmischerin und der Cop zusammenarbeiten, denn in der magischen Gemeinschaft geht etwas Dunkles vor sich. Und Averys Gabe beginnt, sich zu verändern … Knisternd. Gefährlich. Packend. Band 1 der atemberaubenden SPIEGEL-Bestseller-Dilogie *** Leseprobe *** "Avery." Dieses Wort nur. Nur mein Name. Und plötzlich war es, als würde die Umgebung um mich herum wieder leiser werden. Ruhiger. Schärfer. Ich blickte auf, in dem Moment, in dem sich Hayes vor mich hinhockte. Er stützte die Ellenbogen auf den Knien ab, die Hände ineinander verschränkt, und sah mich mit einem ernsten Blick an, der tausend Worte sagte und doch kein einziges. Mein Blick zuckte zu seiner Brust, wo links das Logo des NYPD prangte. Er war im Dienst. Um Himmels willen, natürlich war er das. Er war zu einem Verbrechen gerufen worden. Und ich, eine Magierin, war seine Hauptverdächtige.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 539
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2023 Ravensburger Verlag
Copyright © 2023 by Anne Lück
Lektorat: Tamara Reisinger
Umschlaggestaltung: Zero, München
Verwendete Bilder von © Annartlab und © m2art, alle von Shutterstock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51162-4
ravensburger.com
Für meine Mama –
weil sie seit meiner ersten Fantasy-Geschichte
wusste, dass sie dieses Buch irgendwann
in den Händen halten würde.
Danke,
dass du die großartigste Person der Welt bist.
Das eisige Kribbeln einer dunklen Vorahnung stieg an meinem Nacken empor, noch bevor ich um die Straßenecke trat und das gelbe Absperrband des NYPD sah.
Ein Schauer ging durch mich hindurch. Trotz meines langen Lieblingsmantels, in den ich mich gekuschelt hatte, war ich vollkommen durchgefroren. Der Oktober in New York war normalerweise recht mild, aber in den letzten Tagen war es ziemlich abgekühlt. An sich machte mir kaltes Wetter nichts aus, allerdings hatte ich heute den letzten Bus verpasst. Und nun war ich schon seit über einer Stunde in den kalten, nassen Straßen New Yorks unterwegs und hatte mich durch dunkle Gassen geschlagen, in die sich Frauen meines Alters und meiner schmalen Statur wahrscheinlich nicht einmal mit einer geladenen Waffe in der Hand getraut hätten. Aber obwohl ich so eilig gegangen war, dass das schlammige Wasser der Pfützen fast bis zum Rand meiner abgewetzten Stiefel hochgespritzt war, war ich trotzdem viel zu spät dran. Und jetzt, als ich in die 3rd Avenue einbog, gerade mal drei Blocks von meinem Ziel entfernt, und das gelbe Absperrband in der Ferne sah, wusste ich, dass ich es im Leben nicht mehr rechtzeitig schaffen würde.
Beinahe automatisch wurden meine Schritte langsamer, mein Atem ging schneller und irgendwo in meiner Brust machte mein Herz einen unangenehmen Hüpfer. Das hier war New York, und es war nicht das erste Mal, dass ich in dieser Gegend eine Polizeiabsperrung sah. Unfälle, Prügeleien, das waren alles alltägliche Dinge, die hier ständig passierten. Obwohl Melrose nicht die allerschlimmste Gegend war, war es doch immer noch die Bronx.
Aber irgendetwas sagte mir, dass das hier etwas anderes war. Vielleicht das eisige Kribbeln in meinem Nacken, das mich schon seit ein paar Straßen begleitete und das jetzt ein Stückchen tiefer wanderte und sich wie eine kalte Hand um mein Herz legte.
Ich hätte wahrscheinlich einfach direkt einen Bogen schlagen und noch ein Stück weiter um den benachbarten Block gehen sollen. Das wusste ich, aber aus irgendeinem Grund bewegten sich meine Füße trotzdem auf die abgesperrte Gasse zu, die ich normalerweise als Abkürzung zum Rhapsody nahm. Das Blaulicht des Polizeiwagens hinter dem gelben Band warf unheimliche Schatten auf die umstehenden Häuser. Sie erinnerten an dunkle Dämonen, und das Engegefühl in meiner Brust wurde noch stärker. Drängender. Irgendetwas hier fühlte sich seltsam an. Vertraut, aber unheimlich, wie eine Gruselgeschichte, die man als Kind tausendmal gehört hatte und die einem immer noch einen Schauer über den Rücken jagte.
Natürlich war ich nicht die einzige Schaulustige. Trotz der späten Stunde hatten sich eine Handvoll Fußgänger an dem gelben Absperrband versammelt, tuschelten miteinander und schüttelten mit entsetzten Blicken ihre Köpfe. Wie schrecklich, konnte ich in dem Gemurmel hören, als ich die Arme um mich schlang und noch etwas näher trat. Ich versuchte, über die im Weg stehenden Polizisten und ihre blinkenden Autos etwas zu sehen, etwas, das mir erklärte, was hier passiert war. Warum die ganze, verdammte Gasse komplett abgesperrt war.
Und dann sah ich ihn.
Zwischen den Police Officern, die in der Gasse standen, fiel er auf, obwohl er eine ähnliche Uniform trug. Pechschwarze Haare, an den Seiten abrasiert und darüber gerade lang genug, um sich ein wenig zu kräuseln – das einzig unordentliche an seiner gesamten Ausstrahlung. Ein Paar stechend dunkler Augen, die jedes Mal bis in mein Innerstes zu blicken schienen – und von denen ich wusste, dass sie bei näherer Betrachtung ein tiefes Waldgrün waren. Der gerade Rücken eines ehemaligen Soldaten. Und die Detective-Jacke, die auf der linken Brust und auf den Oberarmen das Zeichen des 42. New York Police Departements trug, mit einem kleinen, leicht zu übersehenden Zusatz, der ihn als etwas Besonderes auswies. Ein goldenes Emblem in Form eines Schilds.
Hayes.
Mein Herz stolperte, und beinahe automatisch schob ich mich hinter zwei Frauen, die sich direkt an die Absperrung drängten und miteinander tuschelten. Zwischen ihren zusammengesteckten Köpfen hindurch sah ich wieder zu dem Detective, der in einiger Entfernung an einem der Polizeiwagen stand.
Er hatte die Ärmel seiner Jacke trotz der Kälte hochgekrempelt und lauschte offenbar dem Bericht eines Kollegen. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. Das an sich war nicht ungewöhnlich: Hayes wirkte immer ernst. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich ihn das letzte Mal so angespannt gesehen hatte. Und allein die Tatsache, dass er hier war, dass er mit diesem Fall betraut war, verhieß nichts Gutes. Ganz und gar nichts Gutes.
Ich spürte, wie meine Eingeweide sich zusammenzogen. Mein Körper reagierte ganz automatisch auf die Gefahr, die von ihm ausging. Die Gefahr, die er für mich bedeutete. Aber unter die aufsteigende Panik, dass er mich womöglich sehen könnte, mischte sich noch ein anderes Gefühl.
Neugier. Diese Art von ängstlicher Neugier, die sich wie ein Eisfilm auf der Haut anfühlte.
Ich machte einen Schritt zur Seite, sodass die Frauen mich zwar weiterhin vor Hayes abschirmten, ich aber einen besseren Blick auf die Szene vor mir hatte. Vergessen war die Tatsache, dass ich jetzt definitiv viel zu spät kommen und mir wahrscheinlich eine Predigt von meinem Bruder Ellis würde anhören müssen. Mit den Augen suchte ich die Umgebung ab, scannte alles ganz genau. Bevor ich jedoch etwas entdecken konnte, drang ein Geruch an meine Nase. Erst nur leicht, verwässert von dem Duft nach Regen und dem Gestank der Straßen. Aber ich roch es trotzdem. Zwischen dem plötzlichen Geruch von Verbranntem lag noch etwas anderes, etwas Bekanntes, was ich im ersten Moment nicht zuordnen konnte. Als ich mich ein wenig nach vorn beugte und meine Hand das vom Regen nasse Absperrband streifte, blitzte etwas unter einem der Polizeiautos hervor. Eine Abdeckung. Sie war schwarz, weswegen sie fast mit der dunklen Straße verschmolz, aber kaum hatte ich den dicken Plastikstoff ins Auge gefasst, wusste ich, was es war.
Eine Leichenabdeckung.
Das war auch der Moment, in dem ich begriff, woher ich den Geruch kannte. Es war der nach alten Bibliotheksbüchern, der Duft nach staubigen Seiten, nach dunklen Geheimnissen, den nur wenige Menschen wahrnahmen. Es war der Geruch eines Narratives. Eines Magiers.
Mit einem leichtem Aufkeuchen wich ich einen Schritt zurück, und sofort drehten sich die beiden Frauen zu mir um.
Die eine wirkte pikiert, sie zog die Augenbrauen nach oben und musterte mich. Vielleicht war es der lange Mantel, den meine Freundin Veda mir geschenkt hatte. Er war wunderschön, der dunkelblaue, dicke Stoff mit dem goldenen Flickenmuster, aber er war auch unheimlich auffällig. Besonders in einer Gegend wie Melrose, denn hier trug selten jemand alte Designerstücke zur Schau.
Die andere Frau blickte mir etwas weniger abweisend ins Gesicht, in ihren wasserblauen Augen konnte ich so etwas wie Mitgefühl erkennen. »Schrecklich, wirklich«, sagte sie. Ihre Stimme krächzte, vielleicht von einer leichten Erkältung, und ich erkannte in ihr die Frau, die vorhin schon gesprochen hatte. »Dieser arme Mensch.«
»Das war Mord«, sagte die andere. Sie spuckte das Wort aus wie einen Fluch, und ich spürte, wie das kühle Prickeln in meinem Nacken sich in einen Wasserfall aus Eis verwandelte, der an meiner Wirbelsäule hinabstürzte. Mord. Hier.
Dass Hayes hier war, dass dieser unverkennbare Geruch von Magie in der Luft lag, gab der Sache einen noch fahleren Beigeschmack. Denn es bedeutete, dass jemand von uns involviert war. Nur – war er der Mörder oder das Opfer?
Mein Blick zuckte wieder zu dem Stück Plane, das ich von meiner Position aus unter dem Polizeiwagen durchschimmern sehen konnte. Es war, als würde ich durch einen dunklen Tunnel nur noch dieses schwarze Stück Plastik sehen. Die Abdeckung, unter der ein Mensch lag, der sein Leben verloren hatte. So nah an meinem Zuhause, so nah an meinem Alltag.
Mord.
Plötzlich schoben sich zwei beinahe poliert wirkende Schuhe in mein Blickfeld, vor die Plane, und dann erhob jemand die Stimme und holte mich aus meinem Tunnel. »Es gibt hier nichts zu sehen, wenn die Damen also bitte weitergehen würden.«
Ich sah auf, direkt in das Gesicht eines Mannes, der für sein Aussehen eine viel zu sanfte Stimme hatte. Seine Augen waren dunkel, und fast sein gesamtes, restliches Gesicht wurde von einem dichten schwarzen Bart verdeckt. Er hatte den Körper eines Kleiderschrankes, und die vor der Brust verschränkten, muskulösen Arme schienen seine Polizeijacke beinahe zu sprengen.
Die Frauen, die schräg vor mir standen, begannen eine hitzige Diskussion mit dem Officer, der mit ruhiger Stimme erklärte, dass sie so Polizeiarbeit behinderten.
Ich sah noch einmal zu seinen Füßen, die die Abdeckplane jetzt vollständig von mir abschirmten, und zog den Mantel enger.
Allmählich kehrten die alltäglichen Gedanken wieder in meinen Kopf zurück, die Tatsache, dass ich viel zu spät dran war. Sie versuchten, diese Szene zu verdrängen, von der ich jetzt schon wusste, dass sie mich wahrscheinlich bis in meine Albträume verfolgen würde. Ich muss weiter, dachte ich. Und dann wieder: Jemand von uns. Mord.
Gerade als ich mich abwenden wollte, hob ich noch ein letztes Mal den Kopf – und mein Blick traf direkt den von Detective Hayes. Er hatte sich wohl umgedreht, um zu sehen, warum sein Kollege so lange mit den Schaulustigen diskutierte. Ganz kurz weiteten sich seine Augen vor Überraschung, als er mich erkannte. Dann verengte er sie wieder zu Schlitzen, und sein gesamtes Gesicht wurde hart wie eine Steinmauer. Da war er, der Blitz, der mich jedes Mal durchzuckte, wenn er mich so ansah. Mit dieser eigenartigen Mischung aus Verärgerung, Verachtung und absolutem Misstrauen. Als würde er in mir, in meinem Gesicht, etwas suchen und war wütend darüber, dass er es nicht fand. Dass ich es nicht hatte. Schlagartig war die Schicht aus Eis zurück, und sie zog sich von meinem Haaransatz an über jeden Zentimeter meiner Haut. Angst.
Dabei konnte er gar nicht wissen, wie richtig er mit seinem Misstrauen lag. Denn wenn er gewusst hätte, dass ich Mitglied einer der gefährlichsten Gangs New Yorks war, würde ich ihn wahrscheinlich schon längst durch ein Stahlgitter anstarren. Aber bei dem Detective Hayes, dem legendären Schrecken der New Yorker Unterwelt, reichte manchmal schon eine Ahnung, um einem ein Ende zu setzen. Da half mir auch nicht, dass wir eine gemeinsame Vergangenheit hatten und fast so etwas wie Freunde hätten sein können.
Einen Moment, in dem ich wie eingefroren an dem Absperrband stand, dachte ich, er würde rüberkommen. Mit diesem forschen Schritt, den nur Soldaten hatten. Dass er mich fragen würde, was zum Teufel ich hier tat, und dass ich gefälligst verschwinden sollte. Sein Blick schien mich zu durchbohren wie ein scharfes Messer, butterweich und tödlich. Aber nach ein paar Sekunden wandte er sich einfach nur abrupt ab und sah wieder zu seinem Kollegen. Es war, als hätte er mich in diesem Moment aus einem eiskalten Griff befreit, und ich konnte mich endlich wieder bewegen. Also stürzte ich los, die Arme um mich geschlungen, und hastete die Straße entlang, bis ich endlich bei dem kleinen asiatischen Imbiss an der Ecke abbiegen konnte und außer Sichtweite war.
Lächerlicherweise bildete ich mir ein, dass Hayes’ Blick immer noch auf meinem Rücken brannte, als ich im Stechschritt zwischen den nach fettigem Essen stinkenden Gebäuden hindurchging. Ich konnte beinahe schon Vedas Stimme in meinem Kopf hören, die mich mahnte, mich so weit wie möglich von Cops – und vor allem von Hayes – fernzuhalten. »Du bist eine grauenvolle Lügnerin«, hatte sie immer gesagt. »Die sperren dich schneller weg, als du bis drei zählen kannst.« Dabei hatte mich Hayes nur eine Sekunde lang angesehen. Er war mir nicht einmal zu nahe gekommen, und ich spürte ein wenig Wut in mir aufschäumen, dass mich allein seine Anwesenheit so verängstigt hatte. Normalerweise war ich niemand, der sich leicht einschüchtern ließ. Vor allem die letzten Jahre hatten dafür gesorgt, dass meine Haut aus Granit war. Aber dieser verdammte Detective hatte etwas an sich, eine unheimliche Aura, die bis direkt in meine Seele vorzudringen schien. Und wenn ich etwas nicht mochte, dann, wenn Leute versuchten, in mich hineinzusehen. Ich selbst hatte viel zu viel Angst davor, einen Blick in mein Innerstes zu werfen. Davor, dass sich darin in den letzten Jahren alles so verdunkelt hatte, dass ich mich selbst nicht mehr erkannte.
Ich versuchte, mich wieder auf den Weg zu konzentrieren. Ein Blick auf mein Handy, das ich aus der tiefen Manteltasche zog, zeigte mir, dass ich bereits jetzt zwanzig Minuten zu spät war. Ellis würde mich definitiv umbringen. Besonders, wenn er erfuhr, warum ich zu spät war.
Hastig blickte ich an der Straße nach links und rechts und hetzte dann bei Rot drüber, um wenigstens ein paar Sekunden wiedergutzumachen. Der Flickenteppich aus Teer und halbherzigen Ausbesserungen, der für Melrose typisch war, platschte leise von der Nässe des letzten Regenfalls, als ich darüber rannte. Im Gegensatz zu meinen letzten Jobs, die ich immer wieder nach ein paar Wochen verloren hatte, hatte ich in meinem älteren Bruder Ellis einen einigermaßen gnädigen Boss gefunden. Aber ich war sicher, dass irgendwann in der nächsten Zeit auch ihm der Kragen platzen würde, wenn ich mich nicht zusammenriss.
Beinahe hätte ich eine ältere Frau umgerannt, als ich um die Ecke bog. Ich entschuldigte mich hastig über ihr Schimpfen hinweg und bog dann in die nächste, schmale Gasse ab. Die hohen Gebäude verschluckten mich in ihrer Dunkelheit, und sofort sah ich wieder die Abdeckplane vor mir. Ich dachte an die Person, die darunter auf dem nassen Boden der Gasse lag, die ihre Familie nie wiedersehen würde, und spürte eine so heftige, pochende Schuld in mir, dass sie mir beinahe den Atem raubte. Schuld? Ja, das war es wohl, was so heftig an meinen Eingeweiden zog. Dabei war ich sicher, dass das keiner von den Menschen war, deren Untergang ich herbeigeführt hatte. Dorian Mars, der berüchtigste Gangsterboss der Unterwelt, war niemand, der Beweise zurückließ. Niemals.
Als ich durch die Dunkelheit der Gasse brach und wieder im Licht der Leuchtreklamen und Straßenschilder stand, durchflutete mich Erleichterung. Darüber, dass ich diese unheimliche Situation, die Leiche und Detective Hayes, hinter mir gelassen hatte. Und nach ein paar langen Schritte die Melrose Avenue entlang hatte sich auch mein Herz langsam beruhigt. Diese Leiche, dieser Mord, sie hatten nichts mit mir zu tun. Ich musste sie aus meinen Gedanken verbannen und einen klaren Kopf fassen. Ich hatte keine Zeit für so etwas. Und ganz sicher keine Gehirnkapazität, um mich mit Problemen auseinanderzusetzen, die mich nicht betrafen. Ich hatte genug eigene.
Als vor mir die hohen Mauern des Rhapsody auftauchten, erreichte mein Puls wieder sein normales Niveau. Kurz schaute ich an der schwarzen Fassade hoch, die trotz der aufwendigen Renovierung immer noch an einen Pub erinnerte. Nur die neonfarbene Leuchtreklame, die den Namen des Clubs verkündete, und die Schlange auf dem Gehweg sprachen eine andere Sprache. Mein Blick glitt zur Eingangstür, vor der Carlos die Ausweise der Anstehenden kontrollierte. Er war ein riesiger Hüne, breiter noch als der Detective am Tatort eben, und sein grimmiges Lächeln hätte wahrscheinlich alle, die Ärger machen wollten, in die Flucht geschlagen, noch bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnten. Nicht mich jedoch. Ich wusste, dass hinter dem gefährlichen Lächeln, das er mir jetzt zuwarf, ein netter Kerl steckte, der alles für seine Töchter tat. Ich erwiderte sein Lächeln, ehe ich mich an den vielen Menschen vorbeidrängte, die den Bordstein verstopften.
Seit Ellis vor einem halben Jahr den alten Pub unseres Großvaters als kleinen Club neu eröffnet hatte, war unser Kundenstamm von Monat zu Monat gewachsen. Jeder wollte plötzlich in diesen exklusiven Laden, jeder wollte ihn einmal von innen sehen und die legendären Cocktails probieren – die, von denen man auf der Straße flüsterte, dass sie eigenartige Dinge mit den Gefühlen der Menschen anstellten. Das Rhapsody war innerhalb kürzester Zeit von einem Geheimtipp zu einem »Du kannst mir nicht ernsthaft erzählen, dass du da noch nie gewesen bist«-Ort geworden, und ich wusste wirklich nicht, ob mir das gefiel. Früher war der Pub meines Großvaters ein gemütlicher Ort gewesen, ein ruhiges Plätzchen, an dem man auf seinen Feierabend anstoßen konnte. Es war schwer, sich an das neue Bild zu gewöhnen, das deutlich moderner und angesagter war.
Auf der linken Seite des Gebäudes befand sich eine schmale Lücke, und als ich mich hineinschob, versuchte ich, nicht an die Leiche in der Gasse und den Detective zu denken, der mir eventuell auf der Spur war. Die Tür für die Mitarbeiter lag am Ende einer Treppe mit nur drei Stufen. Sie stand offen, und ich konnte die Musik sogar hier draußen hören. Auf der obersten Stufe saß unser Barkeeper Michael. Er hatte ein Bein von sich gestreckt und hielt eine Zigarette locker in der linken Hand. Er zog die Augenbrauen hoch, als er mich heranhasten sah, und ich knurrte ihm sofort ein: »Ich weiß, dass ich zu spät bin. So spät sogar, dass ich überhaupt keine Zeit für eine Gardinenpredigt habe, tut mir leid.«
Michaels Mundwinkel zuckten, als er einen Zug von seiner Zigarette nahm. Ganz langsam stieß er den Qualm aus, und ich war schon an der Treppe, als er schulterzuckend sagte: »Ellis hat schon nach dir gefragt.«
Shit. Ich stoppte auf der zweiten Stufe und blickte mit zusammengekniffenen Lippen auf ihn herab. Der Barkeeper erinnerte mich eigentlich immer ein wenig an einen Seemann mit dem dichten Bart, den gestreiften Shirts und der kleinen Mütze, die er dauernd trug. Jetzt aber hatte er eher etwas von einem Schakal, der mich mit blitzenden Augen musterte, weil er meine Nervosität ganz genau in der Luft roch.
Natürlich hatte ich gehofft, dass mein Bruder meine Abwesenheit nicht bemerken würde, so viel wie in der Bar aktuell los war. Meistens war er, wenn die Türen geöffnet wurden, noch gar nicht im Laden, weil er im Lager noch Befehle brüllen oder die Security-Leute kontrollieren musste. Aber dass er ausgerechnet heute schon hier war und nach mir gesucht hatte, hatte ich wahrscheinlich mir selbst zuzuschreiben. Mir und der Tatsache, dass ich es einfach nicht schaffte, Verabredungen einzuhalten und pünktlich zu sein.
»Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte ich atemlos.
Michael ließ sich quälend lange Zeit. Er zog noch einmal an seiner Zigarette und blickte mit vergnügt funkelnden Augen zu mir auf. Dann sagte er: »Dass ich dich ins Lager geschickt habe, um Soda zu holen. Keine Ahnung, ob er mir geglaubt hat. Vielleicht hängst du noch einen Toilettengang dran, wenn er dich aufgreift.«
Erleichtert wandte ich mich der mit Graffiti besprühten Metalltür zu. »Danke.«
Er zuckte wieder mit den Schultern und blickte mir nach, als ich elegant über seine ausgestreckten Beine hüpfte und mich ins Innere des Clubs schob. Hitze und Musik strömten auf mich ein, aber ich hörte trotzdem noch die Worte, die Michael hinter mir murmelte: »Warst du wieder allein bei Gage? Das wird Ellis nicht gern hören.«
Wut wallte in mir auf. Dass er den Namen meines Großvaters in den Mund nahm, als würde er die Geschichte kennen, als würde er meine Gefühle kennen, machte mich rasend. Dabei wusste Michael nur, dass mein Großvater seit einem halben Jahr im Altenheim war und dass mein Bruder nicht wollte, dass ich ihn allein besuchte. Aber er hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Wie ich mich mit dieser zerreißenden Situation fühlte. Oder warum mein Bruder mich von dem Mann fernhalten wollte, der einen großen Teil meines Lebens beinahe ein Vaterersatz für mich gewesen war.
Ich riss den Kopf zu ihm herum und stellte mit Genugtuung fest, dass er zusammenzuckte. Veda hatte schon mehr als einmal gesagt, dass mein wütender Blick wirklich Furcht einflößend war für eine so zierliche Person wie mich, und das, obwohl mein normaler Gesichtsausdruck schon einigermaßen abschreckend wirkte. Resting Bitch Face hatte sie es damals genannt.
Ich konnte mir nur vorstellen, wie sehr meine blassblauen Augen gerade funkelten, als ich eine Hand in die Hüfte stemmte und die Zähne zusammenpresste. »Das geht dich einen Scheiß an, Michael.«
»Klar«, gab er sofort zurück und schien selbst in seiner sitzenden Position in sich zusammenzusinken. »Sorry«, schob er noch hinterher.
Ich schnaubte und drehte mich um, wieder zurück zum Inneren des Clubs. Ohne ihn noch eines Wortes zu würdigen, stapfte ich den schmalen, dunklen Gang entlang, der nicht in Richtung Tanzbereich führte, sondern zu der kleinen Umkleide für Mitarbeiter. Die Wut in mir wollte sich nur langsam entladen, aber sie war auch immer noch gemischt mit Schuld und Frust. Eine gefährliche Mischung.
Der kleine Raum, in dem sich die Mitarbeiter umzogen, erinnerte mich jedes Mal wieder an die Umkleiden, die wir damals für den Sportunterricht in der Schule gehabt hatten. Holzbänke und dunkelrote Spinde, die auf der anderen Seite aufgereiht waren. Ein kleiner Spiegel über einem Waschbecken. Neonröhren, von denen immer mindestens eine flackerte. Und ein Boden aus Linoleum, der quietschte, egal mit welchen Schuhen man darüber ging. Ich beeilte mich, zu meinem Spind zu kommen, und hängte vorsichtig meinen heißgeliebten Mantel hinein. Die schwarze Sportleggins ließ ich an und tauschte nur den Hoodie gegen das Shirt, auf dessen linker Brust das Logo des Rhapsody prangte: Ein Cocktailglas, aus dem giftiger Dampf aufzusteigen schien.
Ich war gerade dabei, meine langen blonden Haare aus dem engen Kragen des Shirts zu befreien, als mein Handy einen Ton von sich gab. Mein Nacken wurde wieder kalt – als hätte ich für einen Abend nicht schon genug erlebt. Einen Moment dachte ich darüber nach, den Ton einfach nicht zu beachten. Aber ich wusste natürlich, von wem die Nachricht war und was es bedeuten würde, wenn ich sie ignorierte. Es gab nur eine Nummer, deren Benachrichtigungen ich nicht stumm geschalten hatte – weil er es mir ausdrücklich verboten hatte.
Achtlos warf ich meinen Rucksack in den Spind, den Blick schon auf mein Handydisplay gerichtet. Neben einer Nachricht von meiner Freundin Veda, die mich nach einem Kaffeedate fragte, war da noch eine andere. Die, die gerade erst hereingekommen war. DM, war dort zu lesen. Dorian Mars. Mein Puls beschleunigte sich, als ich die Nachricht öffnete. Es war nur ein Bild, das irgendwie nach einem Polizeifoto aussah, und darunter ein Name. Jack Lawson.
Ich konzentrierte mich darauf, tief durchzuatmen. Früher hatte ich Dorian ab und zu nach den Menschen gefragt, die er mir schickte. Was sie getan hatten, dass sie es verdienten, bei mir zu landen. Was sie verbrochen hatten. Aber in den wenigen Fällen, in denen Dorian mir tatsächlich darauf geantwortet hatte, hatte ich meine Nachfrage sofort bereut. Seine Gründe waren nie gut genug. Nicht, dass irgendein Grund gut genug gewesen wäre, aber seine waren oft so kaltblütig, dass ich mir irgendwann abgewöhnt hatte, bei ihm nach Rechtfertigungen zu suchen, und zu etwas anderem übergegangen war.
Etwas zu schwungvoll warf ich die Spindtür zu und tippte auf dem Weg zur Tür den Namen, den Dorian mir geschickt hatte, in eine Suchmaschine ein. Schon nach wenigen Sekunden hatte ich das gleiche Bild gefunden, auf der Seite des NYPD. Die Worte, die ich dort las, beruhigten mein rasendes Herz ein wenig. Bewaffneter Raubüberfall. Mehrfache schwere Körperverletzung. Versuchter Totschlag seines eigenen Kindes. Dieser Jack Lawson war einer von den wirklich bösen Jungs hier in New York. Vielleicht nicht so böse und skrupellos wie Dorian Mars, aber die Informationen reichten mir für den Moment. Um mein Gewissen zu beruhigen. Um mich selbst zu rechtfertigen, und um zu verdrängen, was jemand wie Detective Hayes vielleicht wirklich in meiner dunklen Seele sehen würde.
Ich steckte das Handy in meine linke Hosentasche und trat auf den Gang.
Bereits auf der breiten Treppe, die den hinteren Gang mit der Tanzfläche verband, wurde blaues und pinkes Neonlicht an die Wände geworfen. Ellis hatte rechts und links neben den Stufen deckenhohe Spiegel anbringen lassen, die das Licht reflektierten, und jedes Mal, wenn ich hier langlief, fühlte ich mich wie im Zentrum eines Kaleidoskops. Der Bass der Musik ließ die Luft vibrieren, und seltsamerweise führte diese etwas düstere, etwas verruchte Atmosphäre dazu, dass ich wieder an die Szene in der Gasse denken musste. An die Abdeckung. An Hayes’ Blick.
Ich rieb mir über den kribbelnden Nacken, während ich die Stufen emporging, und versuchte, die Bilder mental vor mir wegzuschieben. Es gelang mir überraschend schnell, aber das war auch immerhin etwas, das ich die ganzen letzten Jahre trainiert hatte. Weitermachen, egal was passiert ist. Vergessen, egal was man gesehen oder getan hat. Verdrängen, egal wie sehr die Schuld einen aufzufressen droht.
Der Hauptraum des Clubs war bereits gut mit Gästen gefüllt, die sich auf der Tanzfläche und an der Bar tummelten. Als ich am oberen Treppenabsatz ankam und den Blick schweifen ließ, musste ich zugeben, dass ich zwar den Trubel noch nicht ganz akzeptiert hatte, der mittlerweile hier herrschte – wohl aber, was Ellis aus dem ehemaligen Pub gemacht hatte. Als Kind hatte ich die urige Bar meines Großvaters geliebt, weil ich mich in ihr wie in einer spannenden, unheimlichen Höhle gefühlt hatte, in der es allerhand Abenteuer zu erleben gab. Das, was es damals zu diesem magischen Ort gemacht hatte – die dunklen Backsteinwände, die bis zur Decke ragten –, hatte Ellis bei der Renovierung zum Glück erhalten. Sie machten den Charme des Rhapsody aus. Zusammen mit den Neonlichtern, den alt aussehenden Stehtischen, der modernen Bar, den durchgesessenen Sofas und dem glitzernden Tanzbereich samt Bühne. Dieses immer wieder abwechselnde Spiel aus neu und alt war einzigartig. Und auch wenn ich das nur ungern zu den Vorteilen des Clubs zählte: Es sah auch absolut großartig aus auf Instagram-Bildern. Tatsächlich hatte der Hype auf das Rhapsody vor ein paar Monaten mit einem Instagram-Post und einer mysteriösen Caption angefangen, die auf unsere Cocktails anspielte.
Hinter der Bar entdeckte ich Marla, deren rotes Haar im Neonlicht schimmerte, und in einiger Entfernung konnte ich auch Michael sehen, der gerade einen Kunden abkassierte. Anscheinend hatte er seine Rauchpause beendet. Ich quetschte mich an einem an einer Säule wild knutschenden Pärchen vorbei auf die Bar zu. Marla sah mich schon von Weitem und machte mir die kleine Tür an der Seite auf.
»Wo warst du?«, wollte sie mit ihrer immer ein wenig emotionslosen Stimme wissen.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wurde aufgehalten.«
Sie zog eine Augenbraue hoch, während sie zwei Gläser mit Whiskey Cola füllte. »Klar doch.« Ihr Ton machte deutlich, dass sie mir nicht glaubte. Dazu hatte ich wahrscheinlich schon zu viele Ausreden in zu kurzer Zeit benutzt. »Vielleicht kannst du in Zukunft nicht immer an den besonders geschäftigen Tagen aufgehalten werden?«
Ich winkte ab und wandte mich den Gästen zu, die an der Bar standen, um ihr wenigstens jetzt unter die Arme zu greifen. Ich nahm die erste Bestellung auf und ließ den Blick über die Menge schweifen, ehe ich Marla über die Musik hinweg zubrüllte: »Die Gasse zwischen der Melrose und der 3rd Avenue war abgesperrt.« Und um es noch ein wenig dringlicher klingen zu lassen, fügte ich nach ein paar Sekunden hinzu: »Anscheinend ist da irgendwas Unnatürliches passiert.«
Marla wirkte, als hätte sie mir gar nicht zugehört, weil sie bereits mit der nächsten Bestellung beschäftigt war. Aber daran, wie sie sich eine der roten Lockensträhnen hinters Ohr klemmte, erkannte ich, dass sie durchaus aufmerksam war. Und wie vermutet hakte sie nach ein paar Sekunden nach: »Was ist passiert?«
Ich schob erst den Drink über den Tresen, den ich gerade fertig gemacht hatte, bevor ich mich ein wenig zu Marla beugte und antwortete: »Ein Mord anscheinend. In den ein Magier involviert war.«
Sie riss sofort den Kopf herum und starrte mich mit großen Augen an. »Du lügst.«
»Nein, das ist mein Ernst. Es hat nach Papier gerochen, und ich habe die Abdeckung gesehen.« Ich wandte mich wieder den Gästen zu – mit einem Lächeln auf den Lippen. Auch wenn es in meinem Inneren rumorte. Denn dieser Satz, diese Erklärung, hatte augenblicklich die Bilder zurück in meinen Kopf geholt. Dieses unheimliche Gefühl, das kalte Kribbeln. Der Geruch nach alten Büchern und Magie. Als würde mich das, was da in der Gasse passiert war, doch irgendwie betreffen. Als wäre es bedeutend für mich.
Dabei war das absolut unmöglich.
»Krass«, kam es noch von Marla, dann arbeiteten wir beide schweigend weiter, abgesehen von kurzen Gesprächen mit den Kunden.
Schon nach wenigen Minuten merkte ich, wie die angenehme Stille sich in mir ausbreitete, die ich hier immer verspürte. Das war es, was ich an der Arbeit im Rhapsody mochte. Meine Gedanken waren so damit beschäftigt, die Kunden über laute Musik hinweg zu verstehen und Drinks zu mixen, dass überhaupt kein Platz für andere Dinge war. Es war unheimlich wohltuend. Und da ich mittlerweile ein gutes halbes Jahr in der Bar meines Bruders arbeitete, kannte ich die meisten Cocktailrezepte inzwischen auswendig und musste nicht mehr überlegen. Stattdessen konnte ich mich auf die Gesichter der Kunden konzentrieren. Darauf, wie ihre Augen aufgeregt funkelten, wenn sie das erste Mal einen unserer Spezialdrinks bestellten. Wie sie die ersten, erwartungsvollen Schlucke eines unserer grün leuchtenden Dancing Joys probierten. Wie sie sich fragten, ob alles, was man über uns erzählte, wirklich stimmte oder ob es nur seltsame Gerüchte waren. Und wie die Drinks schlussendlich langsam ihre Wirkung entfalteten, in ihre Blutbahnen und in ihr Gehirn drangen. Bis die Realisation auf ihren Gesichtern deutlich erkennbar war: das Gefühl, das sie sich von der Karte gewünscht hatten und das sich nun auf für sie unerklärliche Weise von ihrem Bauch aus bis in ihre Fingerspitzen ausbreitete. Jedes Mal wieder sah ich, wie sie auf der Tanzfläche den Kopf drehten, zu mir blickten und versuchten, etwas in meinem Gesicht zu lesen. Wie sie versuchten, zu verstehen, ob sie es sich nur einbildeten – oder ob es tatsächlich die Wirkung unserer Drinks war. Irgendwann zuckten die Menschen auf der Tanzfläche jedoch alle mit den Schultern, schüttelten den Gedanken ab, weil es einfach zu weit hergeholt war. Zu unrealistisch, dass es so etwas wirklich gab – magische Drinks, die die Gefühle verändern konnten.
Ich konnte mich noch gut an die Polizeikontrollen erinnern, die es in der Anfangszeit des Rhapsody – und auch jetzt noch regelmäßig – zur Genüge gab. An die Cops, die immer wieder auftauchten und unsere Drinks in Labore schickten, aber nie etwas fanden. Weil es keine Drogen darin gab. Keine Erklärung für die Wirkung, die sie entfalteten. Zumindest keine, die ihnen logisch vorkam. Denn für die meisten Menschen existierte Magie nicht.
Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu meiner zweiten oder dritten Kontrolle hier, als plötzlich Hayes vor mir an der Bar gestanden hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn jahrelang nicht mehr gesehen – nur von seinen Ambitionen gehört, Dorian Mars hinter Gitter zu bringen. Das war auch der Grund gewesen, warum ich ihm nach seiner Rückkehr nach New York konsequent aus dem Weg gegangen war, obwohl alles in mir danach geschrien hatte, ihn wiederzusehen. Nach so langer Zeit nur einen Blick auf den jungen Mann zu werfen, zu dem er in der Zwischenzeit geworden war. Tatsächlich hatte ein einziger Blick in seine eisigen Augen an diesem Abend im Rhapsody die Erinnerungen an früher sofort wieder zurückgeholt. Die wenigen und doch irgendwie bedeutsamen Momente, die wir teilten. Als wären sie nicht Jahre, sondern nur Stunden her gewesen. Doch wenn es mit ihm irgendetwas gemacht hatte, mich wiederzusehen, dann hatte er es gut hinter seiner professionellen Detective-Maske versteckt.
Während ich ihn und seine Kollegen hinter die Bar und ins Lager gebracht hatte, damit sie alles kontrollieren konnten, hatte ich es ihm gleichgetan und mir nicht anmerken lassen, wie sehr mich sein Auftauchen aufwühlte. Aber in meinem Inneren war ein Sturm ausgebrochen. Ich hatte jede kleinste seiner Bewegungen beobachtet, jedes Zucken seiner Augen, jedes Krümmen seiner schlanken Finger. Vielleicht, weil ich irgendwo in diesem beeindruckenden Mann den Jungen gesucht hatte, der damals mein Herz berührt hatte und dann verschwunden war. Und offensichtlich war er das auch jetzt noch. Ich zumindest hatte nichts mehr von diesem Jungen an ihm erkannt. Und als er und seine Kollegen den Club wieder verlassen hatten, war ich mit einem seltsam leeren Gefühl im Magen zurückgeblieben. Als hätte ich diesen Jungen zum zweiten Mal verloren.
Entschlossen schüttelte ich den Kopf und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit, mixte Drinks und beobachtete die Gäste. Irgendwann fiel mein Blick auf eine junge Frau, die das Gefühl, das Glück, das sich in ihr ausbreitete, ganz offensichtlich genoss. Es würde ein paar Stunden bleiben, lange genug, dass sie einen großartigen Abend hatte, bevor es sich langsam ausschlich.
Die Magie in den Dancing-Joy-Cocktails – oder generell in allen unseren Cocktails – wirkte nicht wie die Drogen, die in New York zur Genüge grassierten. Niemand verlor seinen Willen, niemand konnte damit zu etwas gezwungen werden, weil er oder sie schon zu sehr weggetreten war, und niemand wachte am nächsten Tag mit einem Filmriss und brutalen Kopfschmerzen auf. Der Dancing Joy machte nur glücklicher. Für einen Moment, einen Abend. Ließ die Probleme in den Hintergrund rücken, ohne das Bewusstsein zu trüben. Ohne abhängig zu machen. Deshalb waren das Rhapsody und seine Drinks auch so beliebt.
Meine Mundwinkel zuckten, und wieder einmal wünschte ich mir, dass es auch für mich so einfach sein könnte. Dass ich nur einen unserer Drinks runterstürzen musste, um alles zu vergessen und glücklich zu sein. Aber damit der Cocktail auch bei mir wirkte, brauchte ich eine viel stärkere Dosis der Magie als unsere Gäste. Und Ellis hatte mich erst vor ein paar Monaten gebeten, die Dosis zu reduzieren, da er sich Sorgen machte, dass irgendwann doch noch jemand glaubhaft behaupten konnte, dass in unseren Drinks Drogen waren. Oder dass die anderen Magier der New Yorker Gesellschaft uns vielleicht die Bude hochnehmen würden.
Aber selbst mit der richtigen Dosis hätten die Drinks meine Probleme nur für einen kurzen Moment betäubt.
»Avery.« Marla drückte mir sanft den Ellenbogen in die Rippen und holte mich damit aus meinen fast schon hypnotisierten Beobachtungen der jungen Frau heraus. Ich sah sie fragend an, und sie nickte zur Ecke der Bar.
Mein Herz sank ein wenig, als ich ihrem Blick folgte. Am Ende der Bar stand Ellis, die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem wirklich stürmischen Gesichtsausdruck. Seine Augenbrauen berührten beinahe seine blauen Augen, und ich presste die Lippen zusammen. Er sah wütend aus. Allerdings nur so wütend, dass die Kunden um uns herum keinen Schreck bekamen. Das hieß, dass er noch um einiges wütender war, und das war alles andere als gut. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter zu Michael, um die Situation abzuschätzen. Hatte er mich nach meiner ruppigen Antwort vielleicht doch bei Ellis verpfiffen? Aber der Barkeeper stand mit dem Rücken zu mir und bediente gerade einen Kunden, deshalb konnte ich in seinem Blick nichts lesen.
»Geh lieber«, brummte Marla neben mir. »Bevor er dich noch hinter der Bar hervorzerrt.«
Das würde in der Tat peinlich werden. Also stieß ich innerlich ein sehr tiefes Seufzen aus und trottete die Bar entlang zu der Stelle, an der Ellis stand. Sobald er sicher war, dass ich seiner stillen Aufforderung folgte, drehte er um und schlenderte zur Treppe, als wäre er vollkommen locker drauf. Nur ich konnte sehen, wie angespannt seine Schultern unter dem ordentlichen schwarzen Hemd und wie steif seine Bewegungen waren. Die blonden Haare, die wir beide von meiner Mutter geerbt hatten, hatte er an den Seiten nach hinten gekämmt. Wahrscheinlich hatte er das auch oben versucht, aber unsere Naturwellen waren absolut nicht zu bändigen. Sie hatten nicht einmal den Anstand, richtige Locken zu sein, stattdessen standen sie, selbst wenn sie kurz waren, in alle Richtungen ab.
Als ich den Platz hinter der Bar verließ und auf meinen Bruder zuging, kam mir kurz der Gedanke, ihm die Haarlänge nahezulegen, die ich gerade trug, weil sich die Wellen bei mir langsam immer mehr aushingen. Aber als ich seinen grimmigen Blick auffing, verkniff ich mir den Kommentar und lehnte mich einfach wortlos neben ihm mit dem Rücken an die Wand.
Ellis war eine Stufe der Treppe nach unten gegangen und trotzdem noch ein paar Zentimeter größer als ich. Er nutzte den Größenunterschied, um mich von oben herab böse anzufunkeln. »Wo warst du?«
»Was meinst du?« Unschuldig strich ich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht und lächelte ihn gewinnend an. Es brachte natürlich nichts.
Ellis machte eine unwirsche Handbewegung, als würde er meine Worte aus der Luft wischen wollen. »Avery, lass den Quatsch. Ich weiß, dass du nicht da warst.«
Tja, er hatte Michaels Lüge also nicht geschluckt. Eigentlich überraschte es mich nicht, Ellis war zu schlau für solche Ausflüchte. »Ich wurde aufgehalten«, versuchte ich es deshalb. »Die Polizei hat meine übliche Gasse komplett abgesperrt, und ich musste einen Umweg nehmen. Ich glaube, dass da jemand umgebr…«
»Ein Umweg, der dich wie lange gekostet hat? Zwanzig Minuten? Eine halbe Stunde?«, unterbrach Ellis mich knurrend. Er nickte hart in Richtung Bar, wo sich mittlerweile wieder mehr Menschen tummelten. »Heute ist ein voller Tag. Deine Kollegen brauchen dich, also erweis dich als zuverlässig, bevor ich dich auch noch vor die Tür setze.«
Ich wusste, dass er das nicht tun würde. Wir waren immer noch Familie, hier in New York mittlerweile fast die letzten Teile davon, und er würde mich nie im Leben rauswerfen. Weder aus dem Haus, in dem wir lebten, noch bei diesem Job. Trotzdem setzte ich ein geknicktes Gesicht auf. Mir war bewusst, dass er nur auf mich aufpassen wollte. Und obwohl es mich nervte, dass er den Ersatzpapa spielte, war ich ihm doch dankbar, dass ich hierbleiben konnte. Dass er mir die Möglichkeit gab, in seiner Bar zu arbeiten.
»Sorry, Ellis«, sagte ich.
Doch auch das wischte er aus der Luft.
Ich unterdrückte ein Stöhnen, weil ich die Gardinenpredigt schon kommen sah. Hastig wandte ich den Blick ab, damit er meine Gereiztheit nicht bemerkte.
»Ich will keine Entschuldigungen hören, Ave. Ich will, dass du Verantwortung übernimmst. Für dich, deine Kollegen und den Club, den ich hier aufgebaut habe. Für deinen Job. Hörst du mir überhaupt zu?«
»Klar hör ich zu.«
»Wieso siehst du mich dann nicht mal an, wenn ich mit dir rede?«
Ich zwang mich, den Kopf zu heben und ihn anzusehen, aber es fiel mir unheimlich schwer. Nicht, weil er mittlerweile wie meine Mutter klang, sondern weil genau in diesem Moment Jack Lawson den Club betreten hatte. Obwohl er etwas längere Haare hatte als auf dem Polizeifoto und einen ungepflegten Dreitagebart, erkannte ich ihn sofort. Das war der Mann, den Dorian Mars geschickt hatte. Das war der Mann, um den ich mich kümmern sollte.
»Du wirst morgen arbeiten. Sonntag«, sagte Ellis gerade. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und einen Ausdruck auf dem Gesicht, der keine Widerrede duldete.
»In Ordnung«, brummte ich deshalb und ließ den Blick wieder zum Eingang schweifen. Lawson schob sich durch die Menge zur Bar, also musste ich mich langsam beeilen. Er durfte seinen Drink auf keinen Fall bei einem der anderen bestellen.
»… erwarte ich von dir, besonders weil es um die Kennedys geht.«
Mein Herz machte einen Sprung, bevor ich den Kopf wieder ruckartig zu Ellis herumschnellen ließ. »Die Kennedys?«
Mein Bruder sah genervt aus. »Schön, dass du so gut zuhörst«, brummte er, bevor er noch mal sagte: »Isla Kennedy hat morgen den Club für ihren Junggesellinnenabschied gemietet. Deshalb will ich, dass du da pünktlich und verantwortungsbewusst bist, hast du verstanden?«
Isla Kennedy. Ich erinnerte mich kurz daran, etwas auf Instagram gelesen zu haben, dass sie verlobt war und bald heiraten würde. Dass sie ihren Junggesellenabschied aber gerade bei uns feiern wollte, in unserem Rhapsody, war der absolute Wahnsinn. Für einen Moment ließ mich das sogar fast meinen Auftrag von Dorian Mars vergessen.
Ich würde Isla Kennedy kennenlernen!
»Reiß dich zusammen«, meinte Ellis, aber es klang schon wieder ein wenig versöhnlicher als noch eine Sekunde zuvor. Wahrscheinlich hatte er mich nicht als Strafe an einem Sonntag eingeteilt, sondern um mir einen Gefallen zu tun. Er wusste, dass ich Isla auf allen möglichen Social-Media-Seiten folgte. Das High-Society-Mädchen, die magische Überfrau, die man nur bewundern oder neidvoll hassen konnte. Aber er musste trotzdem den strengen Chef raushängen lassen.
Also presste ich die Lippen zusammen und nickte brav.
»Gut.« Ellis winkte in Richtung Bar, wie um mich wegzuschicken, und ging dann die Treppe nach unten. Einen Augenblick sah ich ihm nach und fragte mich, ob seine angespannten Schultern etwas damit zu tun hatten, dass ein Mitglied der Kennedy-Familie zu uns kam. Die Kennedys waren selbst für die New Yorker High Society eine einflussreiche Familie – aber das war noch nichts im Vergleich zu dem, was sie für uns bedeuteten. Für unsere Leute. Für uns Magier.
Meine Haut begann schon zu kribbeln, wenn ich nur darüber nachdachte, aber ich musste in die Gegenwart zurückkehren. Besonders, weil genau in diesem Moment Jack Lawson an die Bar trat. Mit gehetztem Blick suchte er nach einem Barkeeper, seine Schultern hingen traurig herab. Glücklicherweise waren Michael und Marla gerade beschäftigt, also drängte ich mich schnell hinter den Tresen und lehnte mich vor ihm auf die Bar. »Hey, was darf’s sein?«
Die Nervosität war sofort wieder zurück und schlug Wellen in meinem Magen. Ich spürte, dass meine Stimme zitterte, aber glücklicherweise war das über den brummenden Bass nicht zu hören. Lawson drehte sich zu mir, und ich war überrascht, wie leer sein Blick tatsächlich war. Wie hoffnungslos. Ich war mir sicher, dass er sein Schicksal kannte, dass er genau wusste, was ihm blühte. Und wieder stellte ich mir die Frage, womit er Dorian Mars wohl so sehr verärgert hatte. Nicht, dass ich wirklich eine Antwort darauf wollte.
Neben dem Geruch von Alkohol, der von ihm ausging, lag jetzt noch etwas anderes in der Luft. Es war Magie, die ich wahrnahm, aber nicht die von alten Büchern und Geheimnissen, wie die Narratives sie verströmten. Und auch nicht die von mit Blut vermischtem Wein, süß und gefährlich und betörend, die an den Poisonern haftete. Wie an Ellis. Wie an mir. Es roch eher, als hätte Lawson gerade erst ein riesiges Gemälde beendet und wäre danach direkt von seiner Galerie in den Club gestürzt. Der Duft von frischer Farbe, Öl und Freiheit begleitete den Mann. Er war unverkennbar ein Artist, auch wenn sein Geruch und damit wohl auch seine Magie schwach waren.
Als er sich über die Bar lehnte, konnte ich auch das sanfte Prickeln spüren, das immer in der Luft lag, wenn zwei Magier aufeinandertrafen. Nur leicht, wie zwei schwache, elektrisch geladene Atome, die einander zu nah kamen. Wenn Lawson es auch spürte, dann ließ er sich nichts anmerken.
»Einen Dancing Joy«, bestellte er mit kratziger Stimme unseren beliebtesten Cocktail.
So wie er aussah, hatte er ein paar Glücksgefühle dringend nötig. Sein Blick zuckte schon wieder im Raum umher, als würde er etwas suchen. Er beachtete mich kaum, weil er viel zu sehr mit seinen Ängsten beschäftigt war. Wahrscheinlich hatte irgendwer von Dorians Leuten erzählt, dass er hier etwas Ruhe finden könnte. Etwas Ablenkung von allem, was ihn belastete. Erleichterung.
Stattdessen würde er hier sein unvermeidliches Ende einläuten.
»Kommt sofort«, sagte ich mit einem Lächeln, obwohl mein Herz raste und die Schuldgefühle wieder überhandnahmen. Ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, was ich über ihn gelesen hatte, während ich nach einer dunklen Flasche unter der Theke griff, die ich dort für meine Aufträge deponiert hatte. Sie war hinter anderen Getränken versteckt, in einer kleinen Nische, die nur ich kannte, damit Michael und Marla sie nicht aus Versehen benutzten. Ich versuchte, an seine Taten zu denken, als ich den Cocktail mischte, und an die Menschen, die er verletzt hatte, auch wenn ich ihre Gesichter nicht kannte. Heute wirst du hier kein Glück finden, dachte ich, und meine Finger zitterten leicht.
Jack Lawson sah mich nicht an, als ich das Glas mit der dunklen Lilafärbung über den Tresen schob. Ich wollte mich abwenden, als er danach griff. Als er den Drink an seine Lippen hob und die ersten Schlucke nahm. Aber ich konnte nicht. Es war, wie einem Unfall beizuwohnen. Einen, bei dem man ganz genau wusste, was passieren würde, ohne dass man es verhindern konnte.
Ich zwang mich, mich von ihm loszureißen, den nächsten Kunden zu bedienen. Doch immer wieder zuckte mein Blick zu ihm, während er zusammengesunken an der Bar saß und den Drink hinunterkippte. Ich beobachtete seine blassen Gesichtszüge, die so verzweifelt, so frustriert aussahen.
Deshalb sah ich auch genau in der Sekunde zu ihm, in der der Dancing Joy, der keiner war, seine Wirkung entfaltete. Zuerst war da nur ein nervöses Zucken der Schulter, dann folgte ein unruhiges Tippen seiner Finger. Er drehte den Kopf zur Tür. Zur Tanzfläche. Wieder zu seinem Drink und dann erneut über seine Schulter. Ich wusste, was er fühlte, nicht nur, weil es ihm ins Gesicht geschrieben stand. Ich wusste, welch unschöne Mischung ich ihm da ins Glas gekippt hatte. Es begann mit Nervosität, die sich langsam steigerte, bis sie zu Angst wurde. Blanke Panik, die sich in jede seiner Nerven ausbreitete. Die jede Faser seines Körpers einnahm.
Und dann kamen die Schuldgefühle.
Ich erkannte es daran, wie sein Gesicht beinahe in sich zusammenzufallen schien. Welche Schuld ihn quälte, wusste ich nicht. Vielleicht gegenüber seinen Opfern. Oder seiner Familie. Oder womit auch immer er Dorian Mars so sehr verärgert hatte, dass er ihn zu mir geschickt hatte. Wie man es riskieren konnte, es sich mit dem gefährlichen Gangsterboss zu verscherzen, war mir sowieso schleierhaft.
Das »was« war auch vollkommen egal. Wichtig waren die Emotionen, die sich in seinem Inneren gerade überstürzten, Wellen schlugen, von ihm Besitz nahmen, bis nichts anderes mehr zu spüren war. Bis er nur noch aus diesen Gefühlen bestand.
Ich wusste, dass ich ihm eine starke Mischung gemacht hatte. Das tat ich immer, wenn Dorian jemanden zu mir schickte, um ganz sicher zu sein, dass der Auftrag erfüllt war. Aber der Horror, der nun auf Lawsons Gesicht trat, war doch etwas mehr, als ich beabsichtigt hatte. Einen Moment glaubte ich, dass er noch an der Bar zusammenbrechen würde. Er war kalkweiß, das war sogar unter dem Neonlicht zu erkennen, und er griff sich an die Brust.
Ich streckte die Hand nach ihm aus, wollte ihn an der Schulter berühren und fragen, ob alles in Ordnung war. Das war es natürlich nicht, und es war meine Schuld, das wusste ich. Der Impuls, dem ich folgte, war vollkommen irrsinnig, aber ich konnte ihn trotzdem nicht unterdrücken.
Doch noch bevor mein Finger seinen Ärmel berührte, sprang Lawson plötzlich auf. Mit totenbleichem Gesicht und zitternden Händen. Er sah sich so gehetzt um, dass es schon beinahe an eine psychotische Episode erinnerte, bevor er sich mit solcher Gewalt einen Weg durch die Menge zum Ausgang bahnte, dass er einige Gäste heftig von sich stieß und ein paar wütende Blicke kassierte. Was er vermutlich gar nicht mitbekam. In seiner blinden Angst, seiner überwältigenden Panik und voller Schuldgefühle, die in ihm aufquollen, konnte er nichts anderes mehr wahrnehmen. Und genau das würde sein Ende bedeuten. Diese Gefühle, die ich in ihm ausgelöst hatte, würden ihn in die Arme von Dorian Mars treiben und damit seinem Leben ein Ende setzen.
In dem Moment, in dem er aus der Tür nach draußen in die Nacht stürzte, war mir, als würde alles in und an mir zusammensacken. Ich spürte so etwas wie Erleichterung, dass es geklappt hatte, aber auch diese unendliche, quälende Schuld. Diese Verzweiflung, die an mir nagte und mich daran erinnerte, dass ich keine Wahl hatte. Ich spürte sie so sehr, dass ich nach einer Whiskyflasche griff und mir einen Shot einschenkte.
Der Alkohol brannte in meiner Kehle und lenkte mich davon ab, was ich gerade getan hatte. Wenn auch nur für ein paar Sekunden. Es lenkte mich von der Verzweiflung ab, von der Angst, dem Frust über Dorian Mars und seinen beschissenen Aufträgen.
Und es lenkte mich davon ab, dass ich eine verdammte Mörderin war.
Es war bereits nach vier Uhr, als ich das Rhapsody durch die gleiche, schwere Metalltür verließ, durch die ich gekommen war. Mein Kopf fühlte sich ein wenig an, als wäre er in Watte gepackt, und meine Beine schmerzten von dem langen Stehen. Als ich den Mantel enger um mich schlang und aufblickte, in den bereits aufklärenden Himmel, erinnerte ich mich an meine ersten Nächte im Club. Wie ich jeden Morgen durch die Tür gehumpelt war und auf meinen großen Bruder geflucht hatte, der keinen leichteren Job für mich hatte erübrigen können. Ich hatte jeden Morgen geschworen, dass ich nicht wiederkommen würde. Dass mich keine zehn Pferde mehr hinter diese Bar bringen würden. Aber trotzdem war ich jeden Abend wieder aufgetaucht, bis ich mich schließlich an das lange Stehen, die unfreundlichen Gäste und das Putzen der Toiletten gewöhnt hatte. Und das lag nicht nur daran, dass ich mich meinem Bruder oder dem Erbe meines Großvaters verpflichtet fühlte. Es fehlte mir auch einfach an Alternativen. Und wenn man mit jemandem wie Dorian Mars zu tun hatte, aber eigentlich von ihm wegwollte, dann durfte man auf keinen Fall perspektivenlos sein. Man musste einen Ausweg für sich finden. Mit allen Mitteln, die dazu nötig waren. So zumindest versuchte ich immer wieder und wieder, diese ganze Sache vor mir selbst zu rechtfertigen. Die Dinge, die ich für ihn tat.
Ich entschied mich, über die 3rd Avenue zu gehen, obwohl der Weg nach Hause von hier eigentlich weitaus kürzer gewesen wäre. Ellis würde noch eine ganze Weile im Club bleiben, um klar Schiff zu machen, und da es noch dunkel war und die Erinnerungen an Lawson noch frisch, wollte ich nicht zu lange allein in der Wohnung sein. Auch wenn es bei allem, was ich tat, wahrscheinlich kindisch war.
Aber vielleicht war es nicht nur das, was mich die Straße hinabtrieb, in einem leichten Bogen um den Block, bis wieder die Gasse in mein Blickfeld kam, an der ich am Vorabend einen unfreiwilligen Halt eingelegt hatte. Sie war inzwischen nicht mehr abgesperrt, und von den Polizisten war auch nichts mehr zu sehen. Trotzdem blieb ich für einen Moment an der Straße stehen und starrte in die dunkle Lücke zwischen den beiden Wohnhäusern. Obwohl am Horizont die Sonne bereits langsam aufging, drang kaum ein Lichtstrahl zwischen die Gebäude, und ich konnte nur den leichten Schimmer der Pfützen und die Umrisse einiger großer Müllcontainer erkennen.
Kurz dachte ich darüber nach, die Gasse zu meiden und außen herumzugehen, aber diesmal rief ich mich selbst zur Ordnung. Hier war nichts, wovor ich mich fürchten musste. Ich hatte weiß Gott schlimmere Dinge erlebt und durfte mich nicht von so einer lächerlichen Erinnerung einschränken lassen, völlig egal, was ich dort gesehen oder eigentlich nicht gesehen hatte. Das hier war der Weg, den ich immer ging. Er war vertraut. Und das würde ich mir nicht nehmen lassen.
Aber da war auch noch etwas anderes, das zeitgleich mit der grimmigen Entschlossenheit in mir aufstieg. Ein seltsames Prickeln, das in meinen Magen nach oben wanderte und beinahe danach verlangte, dass ich durch die dunkle Gasse ging. Vielleicht ein plötzlicher Anflug von Adrenalinsucht. Bevor sich mein Kopf jedoch aktiv dazu entschließen konnte, dem Impuls nachzugeben, hatten meine Füße sich schon in Bewegung gesetzt.
Meine Schritte hallten von den hohen Wänden um mich herum wider. Statt nach oben zu blicken, in den sich auftuenden Himmel, klebte mein Blick auf dem Boden. Erst auf den Spitzen meiner Stiefel. Dann wanderte er weiter, Meter für Meter, bis zu der Stelle, an der die Leiche gelegen haben musste. Ich erkannte sie an der beinahe sternförmigen, großen Pfütze, über der das Leichentuch ausgebreitet gewesen war.
Natürlich war von dem Opfer nichts mehr zu sehen. Kein Blut, keine anderen Hinterlassenschaften. Nicht dass ich das erwartet hatte, aber es ging mir auch nicht um das, was man sehen konnte. Vielmehr war es das, was ich am Vorabend gespürt hatte, was meine Füße langsam weiterbewegte.
Das sanfte, kühle Prickeln kehrte in meinen Nacken zurück, als ich über die Pfütze hinwegstieg. Es war ein seltsames Gefühl, beinahe wie ein Ziehen. Eine Art Sehnsucht, die in meinem Magen rumorte. Nur noch sanft, wie ein Echo des eigentlichen Gefühls, aber es war da. Und als ich, fast am anderen Ende der Gasse, den Kopf hob, roch ich es plötzlich.
Kein Blut. Kein Reinigungsbenzin. Es war Asche. In der Gasse stank es, als wäre etwas – oder jemand – verbrannt worden. Ich reckte die Nase, schnupperte in der Luft, und auf einmal nahm ich den Geruch so deutlich wahr, als hätte jemand direkt neben mir ein Feuer gelegt. Was zum Teufel war hier nur passiert?
Die Frage pochte in meiner Brust, als ich die Gasse kurz darauf verließ. Ich schob die Hände in die Manteltaschen und blickte noch einmal zurück in die dunkle Leere zwischen den Häusern. Der Geruch hatte sich inzwischen wieder verflüchtigt, aber das Gefühl war geblieben. Es war, als würde jemand nach mir rufen. Nach Hilfe schreien. Auf meinem Nacken breitete sich eine Gänsehaut aus, und ich drehte mich schnell weg, um die Gedanken abzuschütteln.
Das war doch Blödsinn. Ich war einfach übermüdet, und der Anblick von vor ein paar Stunden hing mir wahrscheinlich noch in den Knochen. Meine Sinne spielten mir nur einen seltsamen Streich, und ich musste bloß ins Bett, dann würde ich das Ganze schnell vergessen.
Doch mein Vorhaben, das alles einfach ruhen zu lassen und nicht weiter darüber nachzudenken, löste sich jäh in Luft auf, als ich die 3rd Avenue runterlief und sich auf der linken Seite das 42. Police Department auftat. Ich ließ nur kurz den Blick über das weiß-orange Gebäude schweifen, über die weißen Autos davor, die mit dem Logo des NYPD gekennzeichnet waren. Es war kaum etwas los um diese Uhrzeit. Aber dann sah ich aus irgendeinem Grund auf die andere Straßenseite und blieb abrupt am Bordstein stehen.
Gegenüber des Police Departments befand sich ein kleiner Laden, wohl ein Coffeeshop mit Bäckerei, den ich noch nie groß beachtet hatte. Die kleinen Schaufenster, über denen Baldachine thronten, waren winzig und beinahe unauffällig in einer Straße wie dieser. Doch das war nicht das, was mir den Atem stocken ließ. Obwohl es noch sehr früh war, waren die Fenster bereits beleuchtet, und hinter einem von ihnen konnte ich einen Mann am Tresen stehen sehen. Und nicht irgendeinen Mann – durchgedrückter Rücken, auf dem das NYPD-Logo prangte, und pechschwarze Haare, die sich oben etwas kringelten. Hayes.
Der Detective war allein. Zumindest konnte ich keinen seiner Kollegen in dem kleinen Vorraum oder in der Nähe des Coffeeshops sehen. Mein Blick huschte zurück zu Hayes, und ich beobachtete ihn ein paar Sekunden von der anderen Straßenseite aus. Er stand mit dem Profil zu dem großen, schwach beleuchteten Fenster und starrte mit düsterer Miene auf sein Handy. Wie immer war seine Stirn in Falten gelegt, was ihn älter wirken ließ, obwohl er erst Anfang zwanzig war. Vielleicht ließ es einen aber auch altern, wenn man einen Job hatte, der einen mitten in der Nacht aus dem Bett jagte und zu einem Tatort rief. Oder wenn man bereits mit achtzehn in der Army gedient hatte.
Eine seltsame Unruhe breitete sich in mir aus. Es war eine Mischung aus der Angst, die er immer in mir auslöste, und der brennenden Neugierde über den Fall, den er heute untersucht hatte. Ich wusste, dass er etwas mit uns Magiern zu tun hatte – nicht nur wegen des Prickelns, das ich in der Gasse gespürt hatte, sondern auch, weil es Hayes war, der den Fall betreute.
Und wieder bewegten sich meine Füße, bevor mein Kopf sich dazu entschieden hatte. Vielleicht war es nur meine Müdigkeit, die mich meinen Respekt vor dem Detective einen Moment vergessen ließ, und wie sehr mich sein zorniger Blick manchmal immer noch einschüchterte, auch wenn ich es mittlerweile mit viel unheimlicheren Typen zu tun hatte.
Das Glöckchen über der Glastür bimmelte aufgeregt, als ich sie nach innen aufdrückte, und sofort kam mir die angenehme Wärme und der Geruch von frisch gebackenen Brötchen entgegen. Ich sog ihn ein, bevor ich mich zu Hayes umdrehte, der immer noch mit durchgedrücktem Rücken am Tresen stand und auf sein Handy starrte. Er blickte noch nicht einmal auf, als ich direkt hinter ihn trat.
»Guten Morgen, Detective Hayes«, sagte ich mit einer fröhlichen Stimme, nach der ich mich überhaupt nicht fühlte.
Ein Ruck ging durch seinen Körper, und er riss den Kopf herum, um mich ungläubig anzustarren. Waldgrün. Ich konnte beinahe die Tannen riechen, als ich in seine Augen blickte. Sie verdunkelten sich innerhalb eines Wimpernschlages, als wäre ein Gewitter über ihnen zusammengezogen.
»Avery.« Seine Stimme war eine immer wieder irritierende Mischung aus rauchigem Gangsterboss und Erotik-Hörbuchsprecher, und ich versteifte mich, damit man mir mein Schaudern nicht anmerkte. Gegen das Grinsen, zu dem sich meine Lippen verzogen, konnte ich mich allerdings nicht wehren.
»Harte Nacht?«, wollte ich wissen und war selbst ein wenig genervt von der Fröhlichkeit in meiner Stimme. Aber ich wusste auch, dass es ihn auf die Palme brachte, wenn ich ihm so locker begegnete, und ein wenig freute ich mich über die Gefühlsregung in seinem Gesicht.
Seine Augenbrauen zuckten, bevor er sich wortlos wieder seinem Handy zuwandte. Er ließ mich einfach abblitzen, wie so oft.
Und wie so oft machte ich genau das, was ihn jedes Mal wieder zu einer Reaktion trieb: Ich ignorierte es. »Ja, meine auch.« Mit federndem Schritt ging ich um ihn herum, sodass ich nun vor ihm an der Theke stand, und tat so, als würde ich sehr eindringlich die auf eine Tafel geschriebene Getränkekarte studieren. »Ich brauche dringend einen Kaffee«, kommentierte ich dabei. »Kannst du was empfehlen?«
»Einen anderen Bäcker.«
»Ist der Kaffee hier so schlecht?«
Hayes knurrte sein Handy an, und als ich über meine Schulter blickte, zuckte ein Nerv an seiner Stirn. Es war faszinierend, ihn mal anders zu sehen als konzentriert und unterkühlt. Er war immer noch ein wenig einschüchternd, und ein Teil von mir hatte immer noch Angst, dass Hayes herausfand, was ich für Dorian Mars tat, aber jetzt hatte ich mich etwas besser unter Kontrolle als gestern Abend.
Er musste bemerkt haben, dass ich ihn anstarrte, denn er hob den Kopf und sah mich an. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er sich doch zu einer Antwort herab: »Der Kaffee hier ist großartig. Deshalb komme ich hierher.«
Ich war also das Problem. Dabei hatte ich ihm eigentlich nichts getan.
Gespielt unbekümmert zuckte ich mit den Schultern und wandte mich wieder nach vorn. Die Bedienung war offenbar in der Küche beschäftigt, und nachdem ich mich noch einmal im Gästeraum umgesehen hatte, um sicherzustellen, dass niemand hier war, sagte ich: »Hab den Tatort heute Nacht gesehen.«
»Ich weiß.«
Klar, er hatte mich dort bemerkt. Wieder blickte ich über meine Schulter, während ich auf meiner Lippe kaute. Sein Gesicht war unmöglich zu lesen. Vor allem, wenn er mich nicht direkt ansah. »Ein Mord, hm?«
Jetzt passierte doch etwas. Ein harter Zug erschien um seinen Mund. Nur für eine Sekunde, aber ich sah es trotzdem. Mein Nacken begann wieder zu kribbeln.
»War der Magier der Mörder oder das Opfer?«
Hayes’ Ausdruck wechselte schlagartig von genervt zu todernst. Diesmal war der Blick, den er mir zuwarf, auch nicht unbedingt brennend und wütend, sondern eindringlich. »Avery, die Sache geht dich wirklich überhaupt nichts an. Halt deine Nase da raus.«
Er stritt es nicht ab, dass ein Magier involviert war, aber das hätte auch keinen Sinn gehabt. Hayes war seit über einem Jahr Leiter einer Taskforce des NYPD, die sich mit magischen Fällen beschäftigte, und er wusste, dass ich das wusste. Obwohl unsere Existenz gewissermaßen streng geheim war, wussten einige Leute, in denen kein magisches Blut floss, Bescheid – besonders in den höheren Rängen der Polizei. Immerhin hatte jemand von oben die Taskforce genehmigen müssen. Andere vermuteten wahrscheinlich etwas, auch wenn der Gedanke, dass es Magie gab, ihnen absurd vorkam.
Während ich Hayes’ Gesicht musterte, fragte ich mich, wie viel seine Kollegen tatsächlich über ihn wussten. Ob sie wussten, dass er gegen Magier ermittelte. Dass er selbst magisches Blut hatte, auch wenn die Fähigkeiten seiner Familie bei ihm aufhörten – weil er der sogenannte Shield war: das Ende einer langen Linie von Magiern, das immun gegen Magie war, sie selbst aber nicht mehr nutzen konnte. Und ich fragte mich, ob sie wussten, dass das der Grund war, warum er sich in seiner Teenagerzeit als das schwarze Schaf der Familie gefühlt hatte, dass er immer das Gefühl hatte, sich behaupten zu müssen, und dass er deshalb zum Militär gegangen war. Ich fragte mich, ob sie so viel wussten wie ich.