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You are my poison. Eine Giftmischerin, die für New Yorks gefährlichste Gang arbeitet, und ein Cop, der magische Verbrecher jagt – zu spät hat Avery gemerkt, wie aussichtslos ihre Gefühle für Detective Hayes sind. Seit sie wegen Mordes am Oberhaupt der New Yorker Magier gesucht wird, bleibt ihr nur die Flucht. Wider besseren Wissens muss sie dem undurchsichtigen Ryker vertrauen, um mehr über ihre gefährlichen Toxic-Kräfte herauszufinden. Doch Avery ahnt, dass Hayes mit allen Mitteln versuchen wird, sie zu finden. Knisternd. Gefährlich. Packend. Der Abschluss der atemberaubenden SPIEGEL-Bestseller-Dilogie
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Seitenzahl: 573
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2023 Ravensburger Verlag
Copyright © 2023 by Anne Lück
Lektorat: Tamara Reisinger(www.tamara-reisinger.de)
Umschlaggestaltung: Zero, München
Verwendete Bilder von © Annartlab und © Pakhnyushchy, alle von Shutterstock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51177-8
ravensburger.com
Für Vergangenheits-Anne.
Du hast oft gezweifelt,ob du dir diesen Traum hier jemals erfüllen kannst.
Aber du hast nie aufgehört zu schreiben.
Und jetzt schau uns an.
QUELLE Magischer Fluss, der die Urmagie produziert und in die Atmosphäre abgibt. In den USA gibt es zwei große Quellen, eine in New York und eine in Denver. Die Quellen werden seit Jahrhunderten von den zwei mächtigsten Narrative-Familien beschützt.
NARRATIVES Haben die Macht über Erinnerungen. Sie können mithilfe der Tinte und des Papiers in Büchern Erinnerungen erkennen, speichern, hervorrufen; sehr starke Narratives (Manipulatoren) können Erinnerungen auch verändern/löschen.
Narratives riechen nach Büchern, Papier und Geheimnissen.
ARTISTS Haben die Macht über den Körper ihrer Mitmenschen. Sie können mithilfe von Ton oder anderen Kunstgegenständen das Aussehen von Menschen verändern und Verletzungen heilen.
Artists riechen nach Farbe, Öl und Freiheit.
POISONER Haben die Macht über die Gefühle ihrer Mitmenschen. Sie können durch Speisen oder Getränke, die sie selbst herstellen, Gefühle verstärken oder kurzzeitig hervorrufen.
Poisoner riechen nach mit Blut vermischtem süßen Wein.
TOXICS Eine sehr seltene Unterart der Poisoner. Sie können ihre Magie durch Körperkontakt einsetzen und mit einer einzigen Berührung ihre Mitmenschen vergiften – von leicht bis tödlich.
SHIELDS Mit ihnen endet die Magie ihrer Familie. Sie besitzen keine magischen Fähigkeiten, sind jedoch immun gegen die Magie anderer. Deswegen arbeiten viele Shields auch als Bodyguards für wichtige Magier oder für die Polizei.
Shields riechen nach Kupfer.
Zahara Kennedy schrie, als hätte der Teufel persönlich seine Klauen in ihren Körper geschlagen.
Sie schrie, als sie in den Salon der riesigen Hochzeitslocation stürzte und in dem wieder aufflammenden Deckenlicht den leblosen Körper ihrer Tochter sah. Sie schrie, als sie die junge Frau in ihren Armen hielt, mit ihren silbergefärbten Lippen und der ansonsten totenblassen Haut. Sie schrie auch noch, als der Tumult um sie herum ausbrach, als man nach der Mörderin rief, als jemand nach der Polizei und nach einem Krankenwagen brüllte. Als man Isla wegbrachte und die Gäste nach Hause schickte, einen nach den anderen, bis nur noch die Bediensteten und die engste Familie im Haus waren. Irgendwo in den endlosen Gängen des Anwesens.
Und sie schrie auch jetzt vor Verzweiflung und Hass. Ihr Gesicht war rot vor Anstrengung, in ihren Augen schimmerten Tränen, aber sie wirkte nicht traurig. Sie wirkte so wütend, wie ich noch nie einen Menschen gesehen hatte.
»Sie werden dieses Mädchen, diese Ausgeburt der Hölle finden, Detective Hayes!«, schrie sie, und die Lampen über unseren Köpfen schienen zu erzittern, obwohl sie mittlerweile heiser war. »Sie werden sie finden und hierherbringen, oder bei Gott, ich schwöre Ihnen, dass ich es selbst tun werde – und dann wird von ihr nichts weiter übrig sein als Fetzen!«
Mein Blick huschte zu Zahara Kennedy, zu der Hand, mit der sie sich an der Wand des Salons abstützte, als würde sie in ihrer endlosen Wut nach Halt suchen. Ich nahm jede noch so kleine Bewegung ihres Körpers wahr. Das Zittern ihrer Muskeln, das Zucken in ihrem Gesicht, das Beben ihrer Lippen. Ich konnte nichts dagegen tun, mein Gehirn suchte seit meiner Zeit in der Army automatisch nach Schwachpunkten, den kleinen Eingeständnissen von Unsicherheit, die mir mein Gegenüber zeigte. Aber Zahara Kennedy war nicht unsicher. Jede Faser ihres Körpers war wild entschlossen.
Wild entschlossen, Avery in ihre Finger zu bekommen und sie in kleine Stücke zu reißen, für das, was sie ihrer Tochter angetan hatte. Aber da war noch etwas anderes. Das sagte mir mein Instinkt. Die Art, wie ihre Finger zitterten, wie ihre Stimme bebte … Da war nicht nur Trauer, nicht nur Wut in ihr.
Sie hatte Angst. Ich wusste nur nicht, wovor.
Also tat ich das Gleiche wie immer. Ich straffte die Schultern und hob das Kinn. Erwiderte ihren Blick, ohne das geringste Anzeichen von Schwäche zu zeigen. »Ich werde Avery Bishop finden.« Meine Stimme klang kühl. Selbst in meinen eigenen Ohren. Ich hatte mir antrainiert, dass sie immer so klang, selbst wenn in meinem Inneren ein Sturm tobte und alles niederzureißen drohte, was ich für wichtig empfand. So wie jetzt. »Aber ich rate Ihnen dringend davon ab, Selbstjustiz zu üben. Vor allem nicht, bevor wirklich sicher ist, dass Avery das getan hat.«
Mir schlug blanker Hass aus ihren dunklen Augen entgegen. »Das soll ein Witz sein, oder, Detective? Wir wissen beide, dass sie das getan hat.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Atmete tief durch. »Wenn Sie Beweise dafür haben, bitte ich sie dringend, mir diese zu übermitteln. Das wird meinen Job um einiges einfacher machen.«
Ihre Schultern bebten wieder, und sie presste ihre Lippen fest aufeinander. Aber sie entgegnete nichts mehr. Was sollte sie auch sagen? Sie hatte keine Beweise für Averys Schuld. Ich bezweifelte sogar, dass sie wusste, was genau mit Isla passiert war.
Aber ich wusste es. Ich hatte selbst schon gesehen, wie ein Opfer solcher Toxic-Kräfte aussah. Wie ein Opfer von Avery aussah. Der Gedanke, dass Avery Isla dasselbe angetan hatte wie meiner Schwester, fühlte sich an, als würde mir jemand ein Messer in die Eingeweide rammen.
»Wenn Sie mich dann entschuldigen würden, Mrs Kennedy. Ich würde mich gern an die Ermittlungen machen«, sagte ich ruhig, obwohl ich es nicht war. Sie hielt mich nicht auf, wahrscheinlich weil sie keine guten Argumente mehr hatte. Und ich ging erhobenen Hauptes an ihr vorbei, obwohl ich am liebsten in die Knie gegangen wäre.
Als ich den dunklen Flur entlangmarschierte, raubten die Erinnerungen mir fast den Atem. Aber ich ging weiter, auch wenn ich vor meinem inneren Auge erneut meine Schwester sah. Emily, wie sie reglos auf dem Boden lag, die Lippen silbern eingefärbt, die Haut totenblass.
Genau wie Isla Kennedy vor wenigen Stunden.
Erst draußen, außerhalb des Sichtfeldes der Kennedys und jeder ihrer Angestellten, erlaubte ich mir einen kurzen Moment der Schwäche. Tastete nach der Hauswand der Seitengasse, in die ich eingebogen war, und stützte mich mit der Hand ab, wie Zahara Kennedy es eben noch getan hatte.
Meine Gedanken rasten, während ich versuchte, mich auf die Straße vor mir zu konzentrieren. Aber vor meinen Augen erschien wieder und wieder das totenblasse Gesicht von Avery, wie sie dort auf dem Boden des Salons gehockt hatte, Isla in ihren Armen. Ihr Blick, der so verzweifelt gewesen war, der so laut nach Hilfe geschrien hatte. Und Isla, die so aussah wie meine Schwester. Damals, nachdem Avery ihr das Leben genommen hatte.
Nur langsam kam die Realität zurück. Und der hilfreiche Schmerz, der sich in meiner Hand ausbreitete, weil ich die Finger so fest in den Stein der Hauswand gebohrt hatte. Ich atmete tief durch, bevor ich losließ und die blutende Hand zu einer Faust ballte.
Ja, ich würde Avery Bishop finden und diese Gräueltat aufklären. Egal, was das mit sich bringen würde. Egal, was das mit mir und ihr und unserer Zukunft machen würde.
Ich würde die Wahrheit finden. Koste es, was es wolle.
Der Horizont hinter der endlos wirkenden Brachfläche flimmerte vor meinen Augen, während Ryker und ich in seinem Wagen über den Highway fuhren. Ich wusste nicht, wie lange ich schon in die untergehende Sonne starrte, aber es fühlte sich gleichzeitig ewig an und als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Noch immer hatte ich das Geschrei der Leute im Kopf. Spürte die Hand, die meine fest umschlossen hielt, während Ryker mich im Dunklen durch den Irrgarten an Menschen zerrte. Und sah Isla, meine beste Freundin, in meinem Arm liegen. Silberne Adern um ihren Mund herum, die Lippen vor Erstaunen oder Schreck leicht geöffnet. Ihre Arme waren kalt gewesen. So verdammt kalt.
Ich fröstelte, und beinahe sofort fuhr Ryker zu mir herum. Seine Haltung war angespannt, war sie schon die ganze Zeit, seit wir von Islas Hochzeitsfeier geflüchtet und in seinem Wagen davongefahren waren. Wir hatten kein Wort miteinander gesprochen, aber jetzt tauschten wir einen kurzen Blick. Einen, der Tausende Fragen stellte und keine einzige beantwortete.
Er atmete tief durch und musterte mich, als würde er mich nach Wunden absuchen, die nicht da waren. Oder doch – sie waren da, aber nicht sichtbar. Sie brannten in meinem Inneren wie ein Feuer, das ich nicht mehr löschen konnte. Vielleicht nie wieder würde löschen können. Sein Blick blieb kurz an meinem Kleid hängen, bevor er wieder nach vorn auf den Highway sah.
»Wir machen gleich eine Pause.« Rykers Stimme klang kratzig, als hätte er seit Ewigkeiten nicht gesprochen. Vielleicht war es auch so, mein Zeitgefühl war völlig im Eimer.
Ich verdrängte die schrecklichen Bilder, die mich wahrscheinlich den Rest meines Lebens verfolgen würden. Verdrängte Islas verzweifeltes Gesicht, als sie mir gesagt hatte, dass alles eine Lüge gewesen war. Dass ihre Familie Toxics wie mich opferte, um ihre Macht zu behalten, dass ich in großer Gefahr war. Und ich verdrängte ihr lebloses Gesicht, verdrängte das Gefühl ihrer kalten Arme. Stattdessen suchte ich in meinem Kopf nach den Fragen. Wägte ab, welche ich zuerst stellen sollte und welche vielleicht gar nicht, weil ich die Antwort nicht ertragen würde. Schließlich entschied ich mich für die, die ich wahrscheinlich schon längst hätte stellen sollen, wäre unsere Flucht nicht so überstürzt und ich nicht so taub gewesen: »Wo fahren wir hin?«
Ryker presste kurz die Lippen zusammen, und ich bildete mir ein, dass seine Finger sich noch etwas fester um das Lenkrad schlossen. Nach kurzem Zögern antwortete er: »An einen sicheren Ort.«
Jetzt rieselte doch langsam die Erkenntnis zu mir durch, dass ich vielleicht nicht unbedingt so blind in sein Auto hätte steigen sollen. Ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Ohne darüber nachzudenken, warum er mittlerweile nicht mehr für Islas Familie arbeitete. Warum er polizeilich gesucht wurde. Aber als ich mich von ihm abwandte und ebenfalls auf den Asphalt vor uns starrte, merkte ich, dass ich keine Angst fühlte. Eigentlich fühlte ich überhaupt nichts. »Und du wirst mir nicht sagen, wo dieser sichere Ort sein wird. Hab ich recht?«
»Das wirst du sehen, wenn wir da sind.«
»Du könntest mich auch darauf vorbereiten, indem du die Karten offen auf den Tisch legst.«
»Ich kann nicht. Tut mir leid, Avery.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen drehte ich mich wieder zu ihm und bemerkte die steile Falte auf seiner Stirn, die sich wie ein Graben zwischen seine Brauen zog. Er wirkte noch angespannter als zuvor. Beinahe schon, als hätte er körperliche Schmerzen.
Kurz zuckte sein Blick zu mir. »Du wirst mir wohl vertrauen müssen.«
Unwillkürlich entfuhr mir ein Schnauben. »Kann ich das denn?«
Ryker lachte freudlos. Nur eine Sekunde, bevor sein Gesicht wieder völlig ernst wurde. »Das letzte Mal, als ich es überprüft habe, habe ich dich aus einer ziemlich prekären Situation gerettet. Du erinnerst dich vielleicht? Das ist keine zwei Stunden her.«
Zwei Stunden. So lange waren wir also schon aus New York raus und still den Highway entlanggefahren. Hatten beide versucht, die Situation zu verarbeiten. Ich konnte es nicht fassen, dass ich so lange nichts gesagt, nichts gefragt hatte. Allerdings konnte ich es wohl guten Gewissens auf den Schock schieben.
Die ungeliebten Bilder tauchten wieder vor meinem inneren Auge auf, egal, wie sehr ich mich gegen sie wehrte. Isla, leblos in meinen Armen, niedergestreckt von einer Magie, von der ich gedacht hatte, dass nur ich sie hatte. Niedergestreckt von dem Mann, den sie liebte, dem sie vertraut und den sie kurz vorher geheiratet hatte. Ein eisiger Schauer wanderte meinen Rücken hinunter.
»Nicholas.« Es war eine Mischung aus Fluch und Atemlosigkeit, der über meine Lippen kam.
Ryker gab ein Geräusch von sich, das mich an ein Knurren erinnerte. »Ich weiß.« In seiner Stimme schwang so viel Wut mit, wie ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Dem lockeren Ryker, der immer Witze machte und so salopp mit seiner Chefin Isla gesprochen hatte. Der immer ein vergnügtes Blitzen in den Augen hatte und der jetzt vor Hass beinahe in Flammen aufzugehen schien. »Ich war dort«, spuckte er aus. »Und habe gesehen, was er getan hat.«
Die heiße Magie, die aus ihm geflossen war und die Isla vergiftet hatte. Die Magie eines Toxics, wie ich einer war. Und die, dank seiner Anschuldigung, dafür verantwortlich war, dass die Menschen nun dachten, dass ich eine solche Gräueltat begangen hatte. Dass Adam Hayes dachte, dass ich Isla das angetan hatte. Wie schon zuvor seiner Schwester.
Ich lehnte mich an den Sitz und spürte, wie mich die restliche Energie verließ. Wie das Blut aus meinem Kopf wich und nur Schwindel und Angst zurückließ.
»Ich habe keine Toxic-Kräfte an ihm gerochen«, sagte ich mit brechender Stimme. »Ich habe gar nichts an ihm gerochen. Ich hätte doch erkennen müssen, dass er ein Poisoner ist. Ich hätte etwas ahnen müssen.«
»Das konntest du nicht«, warf Ryker sofort dazwischen. »Es gibt Möglichkeiten, diesen Geruch zu überdecken. Poisoner-Tinkturen, die dir den Duft eines ganz anderen Magiers geben können.«
Ich starrte ihn an. Wieder wurde mir bewusst, dass ich eigentlich gar nichts wusste. Dass ich zwar so viel gelernt hatte in den letzten Wochen, dass es aber dennoch nicht genug war. Und die Erkenntnis raubte mir den Atem. Sie ließ meine Lunge verkrampfen und Panik in meinem Inneren aufsteigen.
»Atme durch, Avery«, beschwor Ryker mich von der Seite.
Ich schnappte nach Luft. »Wie?«, krächzte ich und spürte endlich, wie Tränen in meine Augen schossen. Wie die Wut und die Trauer in mir gewannen. »Wie soll ich das tun? Ich wurde verraten. Dieser Typ rennt noch in New York rum, und wahrscheinlich glauben ihm alle, dass ich es war!« Ich schluckte hart, als ich an Hayes’ entsetztes Gesicht dachte, und fuhr zu Ryker herum. »Wie kann ich durchatmen, wenn meine beste Freundin … wenn Isla …« Die Worte erstarben zu einem erbärmlichen Stammeln. »Glaubst du, dass sie tot ist, Ryker? Glaubst du, er hat sie ermordet?«
Ich hatte Angst gehabt, diese Worte auszusprechen, seit Isla in meinen Armen zusammengebrochen war. Seit ich gesehen hatte, wie die silbernen Adern von ihren Lippen über ihre plötzlich porzellanblasse Haut gewandert waren, seit ich ihre kalten Arme an meinen gespürt hatte.
Ryker erstarrte, und seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte er das Lenkrad. Sekundenlang wartete ich auf seine Antwort, aber als das gepresste »Ich weiß es nicht, Avery« hervorkam, sackte trotzdem alles in mir zusammen. Es war kein »Ich glaube nicht, Avery«, es klang eher nach einem »Ich weiß es nicht, aber es sah ganz danach aus, Avery«.
Mit einer heftigen Geste wischte ich mir übers Gesicht, wischte die Tränen fort und tastete das verdammte Abendkleid ab, das ich immer noch trug. Das, was Isla mir geschenkt hatte. Aber in der schmalen Tasche an der Hüfte fand ich nichts. Mein Handy war weg. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, ob ich es im Salon hatte liegen lassen oder ob ich es auf unserer überstürzten Flucht verloren hatte. Es spielte auch keine Rolle.
»Ich hab mein Handy verloren. Du musst mir deins geben«, verlangte ich. Wahrscheinlich war ich eigentlich nicht in einer Situation, in der ich Forderungen stellen konnte, aber jetzt, nachdem die Taubheit von mir abgefallen war, quälte mich die innere Unruhe. Ich musste es wissen.
»Wozu brauchst du es?«
»Ich will sehen, was die verdammten Medien geschrieben haben. Was ich im Internet finde. Es ist erst zwei Stunden her, aber Isla ist ein Promi. Irgendwer wird etwas geschrieben oder gepostet haben, und wenn es nur einer von den Hochzeitsgästen war. Wenn Isla … Ich muss nachsehen!«
»Auf keinen Fall!« Er presste die Lippen zusammen und schüttelte hart den Kopf. »Ich habe GPS und Internet ausgeschalten, damit uns niemand verfolgen kann.«
Mit großen Augen starrte ich ihn an. Aber bevor ich die Frage stellen konnte, fiel bei mir auch schon der Groschen. Vermutlich war die Polizei hinter uns her. Sehr wahrscheinlich war sie das. Ryker war in das Anwesen der Kennedys eingebrochen und hatte zwei Wachmänner k. o. geschlagen. Und ich war möglicherweise eine gesuchte Mörderin. Selbst wenn ich Isla nicht getötet hatte, wie halb New York vermutlich glaubte – ich hatte sie auch nicht gerettet, obwohl ich direkt neben ihr gewesen war.
Ich schluckte schwer. Hayes hätte das Missverständnis vielleicht aufklären können. Seine Kollegen hörten auf ihn. Aber wie er mich angesehen hatte – dieses Entsetzen in seinen Augen, als könnte er nicht glauben, was ich getan hatte. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Drahtzaun um mein Herz gewickelt und zugezogen. Und dieser Schmerz raubte mir fast den Atem.
»Dann lass mich wenigstens meinen Bruder anrufen!«, flehte ich. Mein armer, großer Bruder, der sich ständig um mich sorgte. Und der jetzt vielleicht auch dachte, dass ich eine Mörderin war.
»Avery, ich glaube, du verstehst die Lage nicht, in der wir uns befinden!«, gab Ryker angespannt zurück. Seine Hände waren fest um das Lenkrad geschlungen, und er starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen den leeren Highway vor uns an. »Niemand darf wissen, wohin wir gehen. Nicht nur um unseretwillen, sondern auch …« Er verstummte und zuckte zusammen, als hätten die Worte ihm die Zunge verbrannt. Nur eine Sekunde später sah er mich mit einem so intensiven Blick an, dass ich auf meinem Sitz zusammenschrumpfte. »Niemand darf etwas wissen, Avery.«
Schon wieder traten mir Tränen in die Augen, und ich wischte sie fort. »Ich würde ihm nichts verraten. Ich muss ihm nur sagen, dass ich es nicht war. Er darf auf gar keinen Fall denken …« Ich schnappte nach Luft. Hielt Rykers Blick stand, bis er sich schnaubend abwandte. »Ich muss ihn warnen, Ryker. Er muss aus New York verschwinden.«
»Denkst du wirklich, er würde gehen, ohne eine Erklärung von dir zu bekommen? Und denkst du, er könnte die mögliche Gefahr für sich behalten? Denn wenn die Kennedys merken, dass er etwas weiß und andere Leute warnt, denkst du nicht, sie würden ihm einen Riegel vorschieben?« Da war Bedauern in seiner Stimme, aber auch weiterhin die Härte, die seine Worte vorhin schon begleitet hatte. »Du bist seine Schwester, Avery. Er kennt dich. Ganz sicher wird er nicht glauben, dass du es warst.«
»Aber …« Was, wenn doch? Vielleicht hatte Ryker recht damit, dass ich Ellis nichts von der Gefahr erzählen durfte, bis ich nicht sicher wusste, ob ich die Explosion der Quelle nicht doch verhindern konnte. Aber das mit Isla …
Ryker sah mich nicht mehr an. Stattdessen richtete er den Blick stur auf den Highway vor uns, bevor er anfügte: »In ein paar Stunden machen wir eine Pause, um zu tanken. Da werde ich schauen, ob ich an Informationen komme, in Ordnung?«
Ich presste die Lippen zusammen. Biss die Zähne aufeinander. Aber aller Unwillen half nicht, mir blieb keine Wahl. Also nickte ich und sah ebenfalls wieder aus dem Fenster.
Es dauerte tatsächlich noch ein paar Stunden, bis wir eine Abfahrt erreichten, und in dieser Zeit wechselten Ryker und ich kein Wort mehr miteinander. Ich versuchte, mich auf die Bäume am Straßenrand zu konzentrieren, die Schilder, die an uns vorbeirasten. Aber in meinem Kopf herrschte das pure Chaos, und es zog mich immer wieder in seinen Bann.
Doch statt an das zu denken, was mit Isla passiert war und was die Magiergesellschaft mir wahrscheinlich vorwarf, dachte ich an meine Familie, die ich an diesem schrecklichen Ort zurückgelassen hatte, an dem sie der Magie vielleicht genauso ausgeliefert waren wie Veda. Und ich dachte an Hayes. An sein entsetztes Gesicht, die weit aufgerissenen Augen, seinen ungläubigen Blick, der erst zu Isla geflogen und dann zu mir gewandert war. Darin die Frage, die auch jetzt noch weh tat: Was hast du getan, Avery?
Ich rieb unauffällig über meine Brust, versuchte, den Druck auf ihr etwas zu nehmen, aber es gelang mir nicht. Dabei konnte ich ihm nicht einmal vorwerfen, dass er dachte, dass ich es gewesen war. Bei Devon hatte es genauso ausgesehen, als ich meine verfluchten Toxic-Kräfte angewandt hatte. Und auch bei Emily Hayes.
Als Ryker endlich zu einer Tankstelle einbog, war die Sonne bereits langsam am Untergehen. Es war das erste Mal, dass ich mich wieder zu ihm drehte. Mein Kopf fühlte sich schwer an von der Schuld und der Ausweglosigkeit unserer Situation. Ryker sah auch nicht besonders glücklich aus. Er war noch immer angespannt, was seine Armmuskeln deutlich zeigten. Aber er bemühte sich, ein neutrales Gesicht aufzusetzen. Vielleicht meinetwegen. Um mich nicht zu beunruhigen, zumindest nicht mehr, als ich es ohnehin schon war.
Auf einmal tat es mir leid, wie ich mit ihm gesprochen hatte. Dass mir noch kein Wort des Dankes über die Lippen gekommen war, obwohl er mich offensichtlich gerettet hatte. Was auch immer das jetzt für mich hieß – ich wusste schließlich nicht, was sein Plan war. Ob ich nur vom Regen in die Traufe kam. Aber immerhin schien Ryker bemüht darum, dass ich mich mit ihm einigermaßen sicher fühlte. Und das tat ich. Ich fühlte mich erstaunlicherweise sicher mit Ryker. Obwohl ich wusste, was er getan hatte, und obwohl er mir nicht sagte, wohin wir fuhren. Oder was das alles zu bedeuten hatte.
Ich räusperte mich. »Danke«, sagte ich, als er an der Zapfsäule hielt und sich abschnallte.
Er stoppte in der Bewegung und sah mich überrascht an. »Wofür?«
Obwohl ich mich eigentlich nicht danach fühlte, ließ seine Reaktion meine Mundwinkel ein bisschen nach oben zucken. »Du hast mich gerettet. Ohne dich würde ich jetzt wahrscheinlich in U-Haft sitzen, oder Schlimmeres.« Ich schluckte und schüttelte sanft den Kopf. »Egal, wohin du mich bringst – wahrscheinlich ist es besser als das, was mich in New York erwartet hätte.«
Ryker zögerte eine ganze Weile. »Vielleicht hätte ich dir besser helfen können, wenn ich einfach für dich ausgesagt hätte. Aber …«
»Aber wer weiß, ob man einem gesuchten Verbrecher geglaubt hätte.« Ich lächelte schwach und winkte ab. »Schon gut, ich versteh dich. Wirklich. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders reagiert.«
Ryker nickte langsam, während er mich nachdenklich musterte. Dann zog er das Handy aus seiner Hosentasche und reichte es mir.
Überrascht blickte ich ihn an.
»Wenn du die Nummer auswendig kennst, ruf deinen Bruder an. Aber mit unterdrückter Nummer, damit man es nicht nachvollziehen kann«, sagte er ernst. »Fass dich so kurz wie möglich. Sag ihm auf keinen Fall, wo wir sind, klar? Sag ihm einfach nur, was dir wichtig ist.«
Ich presste die Lippen zusammen und schluckte den plötzlichen Kloß in meinem Hals runter. Ellis’ Nummer war die einzige auf der ganzen Welt, die ich in- und auswendig konnte. »Okay.« Es kam nur als heiseres Flüstern aus meinem Mund.
Ryker nickte und stieg aus dem Auto, um vollzutanken.
Ich starrte sein Handy an, sekundenlang, ohne irgendetwas zu machen. Die Angst vor dem, was mich erwarten könnte, war zu groß. Erst als Ryker getankt hatte und auf dem Weg zum Bezahlen war, kratzte ich endlich das letzte Restchen Mut zusammen und wählte die Nummer von Ellis. Es klingelte eine gefühlte Ewigkeit, und ich konnte das Pochen meines Pulses in meinen Ohren hören. Als mein Bruder ranging, blieb mir kurz die Luft weg.
»Hallo?«, fragte er träge.
Ich schluckte, drängte die aufsteigenden Tränen zurück, bevor ich erstickt sagte: »Ellis …«
Innerhalb einer Sekunde änderte sich seine Stimmung völlig. »Avery!«, rief er aus. Er klang entsetzt, fast panisch, und seine nächsten Worte kamen wie eine Flut aus dem Hörer: »Wo zur Hölle bist du? Was ist passiert? Bist du verletzt? Brauchst du Hilfe? Sag mir, wo du bist!«
Ich vernahm ein helles Klimpern. Sein Schlüsselbund. Wenn ich es ihm sagte, würde er sich sofort ins Auto setzen und mich abholen. Egal, was war. Die Erkenntnis trieb mir erneut Tränen in die Augen.
Hastig wischte ich sie weg, mir blieb nicht mehr viel Zeit, denn Ryker war schon wieder auf dem Weg zurück zum Auto. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und sein Blick zuckte beunruhigt hin und her.
»Du darfst ihnen nicht glauben«, sagte ich schnell. Meine Stimme war brüchig, aber ich versuchte, sie etwas zu festigen, damit mein Bruder sich keine Sorgen machte. »Ich habe nichts getan, Ellis. Ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist, auch wenn das nicht viel ist. Aber du musst mir glauben.«
Ein paar Sekunden herrschte Stille, dann sagte Ellis: »Okay.« Einfach nur okay. Und die Erleichterung überwältigte mich beinahe. »Avery, sprich mit mir.«
»Ich kann nicht«, sagte ich heiser. »Aber ich melde mich bei dir. Ich komme zurück, hoffentlich bald. Für den Moment ist erst mal wichtig, dass ich in Sicherheit bin. Und dass ich nichts getan habe, okay?«
Es war natürlich nicht okay. Das Stöhnen, das er am anderen Ende der Leitung ausstieß, war eindeutig. »Avery. Was soll ich denen denn sagen?«
»Nichts. Sag ihnen einfach gar nichts. Das Gespräch hat nie stattgefunden. Und wenn du kannst, verlass New York. Nimm Opa mit und hau ab. Zu Mama und Papa vielleicht, aber … Wenn du kannst, geh einfach. Es ist gefährlich dort.«
»Avery, du …«
Neben mir ging die Autotür auf, und Ryker ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Meine Gesprächszeit mit Ellis war um.
»Ich muss los«, unterbrach ich meinen Bruder. »Verlass New York. Ich … ich hab dich lieb, Ellis.«
»Ave…« Er klang flehend.
Aber ich konnte nichts mehr sagen. Wegen der Zeit und wegen des Kloßes in meinem Hals. Und weil ich es nicht aushielt, mich zu verabschieden – ohne zu wissen, wie lange es dauern würde, bis wir uns wiedersahen –, legte ich einfach auf. Mein Herz raste so sehr, dass ich mich in den Sitz lehnen und eine Hand auf die Brust drücken musste, um mich zu beruhigen. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ryker saß einen Moment stumm neben mir, doch dann legte er mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, Avery«, war das Einzige, was er sagte. Als wäre er schuld an der Situation, in der ich mich befand. Nicht diese furchtbare, verhasste Magie, die in mir brodelte.
Und Nicholas.
Die Trauer wurde zu Wut, die Wut zu Hass. Auf diesen Mann, der mir innerhalb weniger Minuten alles genommen hatte. In diesem Moment schwor ich bittere Rache, die ich schon fast auf der Zunge schmecken konnte. Ich war selbst ein wenig erschüttert darüber, wie mächtig dieses Gefühl in mir wurde, aber plötzlich war in meinem Kopf nur noch der Gedanke, dass er für das bezahlen würde, was er getan hatte. Was er mir angetan hatte – aber vor allem, was er meiner besten Freundin angetan hatte.
»Avery, du musst dich beruhigen.«
Rykers Stimme drang scharf in mein Bewusstsein, wie ein Messer, aber sie holte mich aus meiner Wutspirale heraus. Sein Blick hatte sich auf meine Arme geheftet, und als ich nach unten sah, tanzten silberne Fäden über meine Haut. Die pulsierende Magie, die die Wut durch meine Arme bis in meine Fingerspitzen geschickt hatte. Und einen Moment begrüßte ich sie sogar. Wünschte mir, Nicholas mit dieser Kraft wehzutun. Ihn leiden zu lassen. Dann erst atmete ich tief durch und zog mühevoll die Fäden zurück, und mit ihrem Verschwinden kam die Scham. Darüber, dass ich so über die Magie gedacht hatte, die mir überhaupt erst diese verdammte Situation eingebrockt hatte. Und das Entsetzen, dass ich darüber nachgedacht hatte, sie gegen einen anderen Menschen einzusetzen, dass ich bereit gewesen war, Nicholas auf diese Weise bezahlen zu lassen.
Plötzlich fühlte ich mich nur noch müde und verzweifelt. Weil ich in den letzten Wochen so viel durchgemacht hatte und trotzdem niemanden beschützen konnte. Veda war tot, und Isla vermutlich auch. Hayes glaubte wahrscheinlich, dass ich Isla das angetan hatte, genau wie der Rest von New York. Und sie alle würden sterben, von der Quelle vernichtet werden, wenn ich weiterhin versagte, wenn ich keinen Weg fand, um das Übertreten der Quelle zu verhindern. Auch Ellis. Auch mein Großvater.
Ryker entspannte sich neben mir ein wenig. Seufzend legte er die Hände auf das Lenkrad und sagte leise: »Der Tankwart hat mir gesagt, dass ein paar Meilen weiter ein Motel ist. Es ist spät, und wir sind wahrscheinlich beide durch, also lass uns morgen weiterfahren.«
Ich brachte nicht einmal mehr ein Wort über die Lippen, sondern schaffte nur noch ein müdes Nicken.
Ryker startete den Motor, und ich schloss erschöpft und ergeben die Augen.
Wir fuhren noch einmal zwanzig Minuten, bis wir das Motel fanden, das der Tankwart Ryker empfohlen hatte. Es war etwas abgeschieden vom Highway und nur mit einem großen Schild beleuchtet, bei dem die Hälfte der Buchstaben ausgefallen war. Irgendetwas mit »Rose«, der Rest war schwarz.
Ich sah nur kurz nach oben und dann zu dem bräunlichen Gebäude, das die bereits triste Gegend noch mehr verschandelte. Es hatte zwei lang gezogene Stockwerke mit immer den gleichen rötlichen Metalltüren, hinter denen wahrscheinlich nicht die bestausgestatteten Zimmer lagen. Aber für den Moment war es mir egal. Ich war so müde, dass ich mich nur noch unter einer Bettdecke zusammenrollen wollte, egal wie mottenzerfressen sie war.
Ryker hielt auf dem Parkplatz und stieg aus, um uns ein Zimmer zu besorgen. Ich sah ihm nachdenklich hinterher, als er über den Asphalt schlich, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Genau so war er vorhin auch von der Tankstelle gekommen: mit getriebenem Blick und für ihn ungewöhnlich gebückter Haltung. Als wäre dort etwas passiert, von dem er mir nicht erzählt hatte.
Unwillkürlich sah ich zu seinem Handy, das er in die Autotür gelegt hatte, und plötzlich fiel mir ein, dass er mir gar nichts gesagt hatte. Noch ein paar Meilen vor der Tankstelle hatte er versprochen, dass er versuchen würde, etwas über Isla oder ihre Familie herauszufinden. Dass er bei seiner Rückkehr so verstört ausgesehen hatte, verhieß also nichts Gutes.
Ich bemühte mich, den Blick wieder von dem Handy zu lösen, aber mein Kopf hatte bereits angefangen, sich zu drehen. Die Gedanken stürmten auf mich ein, die unzähligen Fragen, die ich mir seit unserer Abreise immer wieder und wieder stellte. Hatte Isla überlebt? Welche Lügen hatte Nicholas verbreitet? Und wem glaubte man?
Sicher nicht mir, die bei der Konfrontation vor Schock geschwiegen hatte. Und die danach verschwunden war, ohne eine Erklärung abzugeben. Mein Blick zuckte zurück, wie von selbst, und ich konnte mich nicht mehr von dem kleinen Display abwenden. Ich biss mir auf die Unterlippe, versuchte noch eine Sekunde, mich davon abzuhalten – und griff dann über den Fahrersitz hinweg nach dem Handy. Es leuchtete sofort auf und zeigte mir unzählige Nachrichten an, von einer »Arianna«. Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, schnappte mein Gehirn ein paar der Worte auf, die sie geschrieben hatte. Gefährlich und kann nicht fassen, dass du …
Ellis hatte mir mal einen Trick gezeigt, wie man mittels des Kameraknopfes die Handysperre umgehen konnte. Und obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, stellte ich das Internet an und rief eine Suchmaschine auf. Wenn ich mich beeilte, konnte eigentlich nichts schiefgehen, da war ich mir fast sicher. Vielleicht suchte man gar nicht nach uns. Vielleicht war Ryker nur übervorsichtig. Aber ich konnte diese Gedanken an Isla nicht mehr abstellen. Sie würden mich quälen, bis ich endlich die Wahrheit herausfand.
Ich bereute meine Internetsuche fast sofort. Kaum hatte ich Islas Namen eingegeben, sprang mir ein Bild entgegen … von mir selbst. Im ersten Moment war ich so geschockt, dass ich mein blasses Gesicht nur anstarren konnte. Das alte Bild aus meiner Abschlusszeit, auf dem meine Haare noch dunkler und mein Gesicht noch jünger waren. Dann erst bemerkte ich die fette Unterschrift darunter: Warum wollte diese Frau Isla Kennedy tot sehen?
Mein Herz sank sofort dreißig Etagen tiefer. Mein Verstand war kaum in der Lage, die ganzen Worte aufzunehmen, die im Artikel standen. Auf der Flucht. Brutale Tat. Fassungslose Familie. Polizeifahndung.
Das beantwortete auch die Frage, ob Ryker nur übervorsichtig war. Und warum er nach unserem letzten Halt so getrieben gewirkt hatte.
Die Polizei suchte nach mir. Wegen Mordes.
Meine Finger fühlten sich plötzlich eiskalt an. Ich wollte gerade weiterscrollen, als neben mir die Tür aufgerissen wurde.
»Was tust du da, Avery?«
Ich riss den Kopf hoch und starrte Ryker an, der mich unter seiner Kapuze ungläubig anfunkelte. Schuldbewusst presste ich die Lippen zusammen, da griff er schon nach seinem Handy und riss es mir aus der Hand.
»Ich habe dir doch gesagt, dass wir vorsichtig sein müssen!«, zischte er und warf einen gehetzten Blick über die Schulter. Aber wir waren allein auf dem Parkplatz, und außer unserem war nur ein weiteres Auto da – eine Schrottlaube, die wahrscheinlich dem Mitarbeiter gehörte, der die Zimmer verteilte.
»E…es tut mir leid … Ich wollte nur schauen …« Ich atmete tief durch und versuchte, seinem Blick so fest wie möglich zu begegnen. »Du hast mir überhaupt nichts gesagt, Ryker. Was sollte ich denn tun? Ich muss wissen, was passiert ist. Ich muss wissen, woran wir sind. Und ich bin kein Kind, vor dem du das verstecken kannst, denn ich weiß, dass du es weißt. Ich habe es dir angesehen, als du aus der Tankstelle gekommen bist.«
Seine Gesichtszüge wurden weicher, und er sah aus, als würde er etwas sagen wollen, aber ich schnitt ihm das Wort ab, weil ich mich mittlerweile so in Rage geredet hatte.
»Du reißt mich aus dieser Situation in New York raus, und glaub mir, ich bin dir überaus dankbar dafür – aber du kannst mich auch nicht für dumm verkaufen. So funktioniert das nicht, okay? Ich werde hier wahnsinnig mit mir und meinen Gedanken.«
»Ich weiß, Avery.« Entgegen meiner Vermutungen stieß Ryker ein tiefes Seufzen aus und ließ sich bei geöffneter Tür auf den Fahrersitz sinken. Als er sich über die Augen rieb, merkte ich erst, dass er genauso erschöpft war, wie ich mich fühlte. »Es tut mir leid, okay?« Er wischte über sein Handy, um das Internet wieder auszustellen, und musterte mich dann müde von der Seite. »Aber als ich dir gesagt habe, dass ich dir nichts sagen kann, habe ich das genau so gemeint. Ich kann es nicht. Aber es wird sich alles erklären, wenn wir angekommen sind, das verspreche ich dir. Bis dahin musst du mir vertrauen, und du musst auf das hören, was ich sage. Ich will uns nicht weiter in Gefahr bringen, als wir es eh schon sind.«
Ich starrte ihn an. Aber obwohl die ganze Situation für mich so undurchsichtig war, obwohl ich so vieles noch nicht verstand, vertraute ich ihm. Ich dachte wieder daran, wie er in der Nacht vor der Hochzeit zu mir gekommen war, um mich zu warnen. Um mir einen Ausweg zu geben, obwohl ihn das in Gefahr gebracht hatte. Es gab für mich keinen Grund, Ryker zu misstrauen.
Er hob das Handy, seine Miene war ernst. »Du hast es gelesen?«
Ich sank ein wenig in mich zusammen und nickte. »Ich werde als Mörderin gesucht.«
»Genau das war es auch, was ich in der Tankstelle gesehen habe. Sie haben einen Bericht gesendet, und ich bin abgehauen, bevor sie mich auch noch zeigen konnten. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Und ja, ich weiß, dass du kein kleines Kind bist, auf das man aufpassen muss – aber ich hatte das Gefühl, dass ich dich nach allem wenigstens ein bisschen schonen sollte. Du hast viel durchgemacht. Und ich wollte erst sichergehen, dass ich alle Informationen habe.« Die Härte wich erneut aus seinem Blick, und etwas zuckte an seinen Mundwinkeln. Ein Lächeln. »Ich war grad hier kurz im Internet. Ja, die Polizei ist hinter uns her, wegen dem, was du angeblich getan hast. Und ja, unsere Lage ist beschissen, und wir müssen sehr vorsichtig sein. Aber du wirst nicht wegen Mord gesucht … sondern wegen versuchtem Mord.«
Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was er da sagte. Als die Realisation langsam in mein Gehirn sickerte, machte mein Herz einen riesigen Sprung. »Isla … ist nicht tot?«
Er schüttelte den Kopf, und das Lächeln wurde breiter. Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen. »Nein. Sie lebt. Aber wie es aussieht, liegt sie im Koma.«
Wegen dem, was Nicholas ihr angetan hatte. Ich wusste nicht, warum er sie nicht getötet hatte – ob seine Magie noch nicht so funktionierte oder ob er sie sogar besser im Griff hatte als ich – aber es war auch egal. Plötzlich war die Welt nicht mehr ganz so grau und die Situation nicht mehr ganz so ausweglos. Ich spürte eine winzige Hoffnungsflamme in mir, aber gleichzeitig auch eine Entschlossenheit. Eine innere Getriebenheit, die ich nicht mehr abschütteln konnte.
»Wir müssen sie warnen. Sie und ihre Familie. Nicholas hat ihr das angetan, und wahrscheinlich sitzt er gerade neben ihr am Bett und hält ihre Hand, als wäre er ihr Held und nicht ihr Verderben!«, sagte ich. Und das Bild, das in diesem Moment in meinen Kopf auftauchte, machte mich wieder rasend vor Wut.
Ryker jedoch schüttelte den Kopf. »Was willst du tun? Sie anrufen? Wie kommst du darauf, dass sie dir jetzt glauben?«
Ich knirschte mit den Zähnen. »Das müssen sie!«, rief ich aus. »Spätestens wenn Isla aufwacht.« Ein Blitz zuckte durch mich hindurch, und ich schnappte nach Luft. »Wenn er überhaupt zulässt, dass sie aufwacht.«
»Sie ist bei ihrer Familie, und so, wie ich die Kennedys kenne, werden sie ihre geliebte Tochter keine Sekunde lang aus den Augen lassen. Er kann ihr momentan wahrscheinlich nichts anhaben. Und wenn sie aufwacht und die Geschichte bestätigt, dann können wir immer noch nach New York zurückkehren. Bis dahin würde ich es begrüßen, nicht in einer Gefängniszelle zu landen, wenn dir das auch recht ist.«
Ich brummte unwillig. Natürlich hatte Ryker recht. Auch wenn es mir nicht gefiel, im Moment konnte ich nicht viel tun. »Also fliehen wir weiter?«
»Nur noch ein bisschen.« Er nickte in Richtung des Motels. »Aber nicht mehr heute. Wir müssen uns ausruhen und Kraft tanken. Ich habe uns ein Zimmer besorgt und werde jetzt noch Snacks kaufen. Du kannst schon mal nach oben gehen und dich umziehen.« Er lehnte sich nach hinten, zog eine Tasche vom Rücksitz und reichte sie mir. »Jogginghose, Turnschuhe und T-Shirt von mir werden dir wahrscheinlich zu groß sein, aber es ist bequemer als ein Abendkleid und High Heels, möchte ich meinen.«
»Danke.« Ich nahm die Tasche entgegen, ebenso den Schlüssel mit der Zimmernummer. Für einen winzigen Moment hatte ich den Impuls, ihn zu bitten, mich nicht allein zu lassen. Ich war immer noch überfordert von allem, was passiert war, und davon, dass die Polizei mich jetzt wegen versuchten Mordes suchte. Allerdings hatte ich mich die letzten Jahre auch allein durchgebissen. Ich brauchte niemanden, der mir beistand und meine Hand hielt. Also nickte ich nur und stieg aus dem Wagen. Geduckt und von dem kleinen Häuschen mit dem Empfang weggedreht, nur zur Sicherheit.
Das Zimmer, das Ryker für uns gebucht hatte, lag in der oberen Etage des Motels. Es war nur eine flache Treppe bis dorthin, zwanzig Stufen höchstens, aber sie kamen mir wie ein Bergaufstieg vor. Ich war so erschöpft wie noch nie in meinem Leben. Als ich das Zimmer aufschloss, drang mir sofort der Geruch von Staub und Mottenkugeln entgegen, aber selbst das war mir in diesem Moment egal. Ich sah ein Doppelbett, das ich mir wahrscheinlich mit Ryker teilen musste, eine flache Kommode und eine Tür, die sicher zum Bad führte. Mehr war auch nicht wichtig.
Ich ließ die Sporttasche auf das Bett fallen und wühlte darin nach einer dunklen Jogginghose und einem weißen Shirt, bevor ich ins Bad schlurfte. Obwohl ich kaum noch Energie hatte, zwang ich mich dazu, mich unter die Dusche zu stellen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um heiß zu werden, und schon bald fühlte ich mich, als hätte ich mich direkt in den Himmel gestellt. Ich genoss das wohltuende Wasser für ein paar Minuten und drehte es dann wieder ab, damit für Ryker auch noch welches übrig war. Nachdem ich mich abgetrocknet und in Rykers Klamotten geschlüpft war, faltete ich das verschwitzte Abendkleid, das Isla mir geliehen hatte, zusammen und strich noch einmal darüber, bevor ich es in die Sporttasche legte. Hoffentlich gingen die Falten wieder raus. Hoffentlich bekam ich überhaupt noch die Gelegenheit, es Isla zurückzugeben. Und hoffentlich würde ich irgendwann in naher Zukunft wieder mit ihr reden können.
Als ich in sauberen, aber wirklich viel zu großen Sachen zurück ins Schlafzimmer kam, trat Ryker gerade über die Schwelle. Er warf die Tür hinter sich zu und zog endlich die Kapuze vom Kopf. Dann erst reichte er mir ein eingepacktes Sandwich und ließ die restlichen Snacks auf das Bett fallen: Chips und Kekse. Mein Magen knurrte sofort laut. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen?
»Danke«, seufzte ich und biss so gierig in das Sandwich, dass ich beinahe die Folie mitgegessen hätte.
Ryker schmunzelte und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand gegenüber dem Bett. »Wenn du gegessen hast und ich geduscht, sollten wir ein paar Stunden schlafen. Wir fahren am besten so früh wie möglich weiter, damit wir keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen.«
Kauend sah ich zu ihm auf. »Und was ist mit deinem Auto, das draußen steht?«
»Da hab ich mich drum gekümmert.«
Ich zog die Augenbrauen nach oben, merkte aber, dass es mir egal war. Ich hatte mich dazu entschlossen, Ryker zu vertrauen, und das tat ich jetzt. Wahrscheinlich wollte ich von seinen Machenschaften gar nicht allzu viel wissen. »In Ordnung.«
»In Ordnung«, gab er belustigt zurück und klatschte in die Hände. »Dann bis gleich.« Und damit verschwand er im Bad.
Ich aß den Rest meines Sandwiches auf und kuschelte mich dann unter die Decke. Weil die plötzliche Stille im Zimmer mich aber seltsam ruhelos machte, schaltete ich den Fernseher ein und ließ ihn auf irgendeinem Kindersender, der Cartoons ausstrahlte. Für die Nachrichten war ich viel zu nervös. Und Ryker hatte recht: Wir mussten schlafen. Ich musste zur Ruhe kommen, irgendwie.
Ryker duschte noch kürzer als ich. Als er aus dem Bad kam und mich mit den geöffneten Chips- und Kekstüten bis zum Kinn zugedeckt im Bett liegen sah, lachte er. »Das ist eine Seite, die ich gar nicht von dir erwartet habe, Avery. Du hast immer so cool getan.«
»Ich bin eben sehr facettenreich.« Ich funkelte ihn herausfordernd an. »Ist das jetzt der Moment, wo wir anfangen, uns besser kennenzulernen? Kann ich dir dann ein paar Fragen stellen? Da gibt es nämlich ein paar Dinge, die mich brennend interessieren würden.«
Er fror kurz in seiner Bewegung ein, bevor er die Hände in die Hüfte stemmte. »Nein«, gab er zurück, allerdings nicht ohne ein Lächeln. »Aber bald. Versprochen.«
»Von mir aus.« Ich unterdrückte ein Schnauben. Sollte er seine Geheimnisse doch bewahren, ich war zu müde, um mich darüber aufzuregen. »Dann ein anderer Gedanke, der mich nicht loslässt: Wie kann es sein, dass Nicholas ein Toxic ist?« Ich verengte meine erschöpften Augen ein wenig. »Seine Eltern sind bekannte Narratives. Und ein Poisoner kann nicht von zwei Narratives abstammen. Oder ist das bei Toxics etwas anderes?«
»Nein, Toxics sind auch Poisoner.« Ryker zuckte mit den Schultern, als würde es ihn nicht so dringend interessieren wie mich. »Schreit also nach einer Affäre, wenn du mich fragst.« Er ließ einen Blick über das Bett schweifen, bevor er mich wieder ansah. »Hast du ein Problem damit, wenn wir in einem Bett schlafen? Ansonsten kann ich auch die Couch beziehen.«
Ich schob die Gedanken über Nicholas beiseite, weil sie mich im Moment nicht weiterbrachten, und winkte ab. »Unsinn. Solange du nicht versuchst, mich unter der Decke zu begrapschen, werden wir keine Probleme bekommen.« Ich sagte es scherzhaft, aber mein dummes Gehirn fügte noch hinzu: Mein Herz ist nämlich vergeben. Mir fuhr ein Stich durch die Brust, und ich presste wieder die Lippen zusammen.
Verdammt, eigentlich hatte ich nicht an Hayes denken wollen. Aber plötzlich hätte ich am liebsten das Handy in die Hand genommen und ihn angerufen. Ihm alles erklärt. Wie sehr wünschte ich mir, dass er mir glaubte, auch wenn sein Blick etwas anderes gesagt hatte. Dass er mir versicherte, dass alles gut werden würde. Ich würde ihm glauben, ohne darüber nachzudenken. Gott, ich vermisste diesen idiotischen Detective.
»Natürlich nicht«, sagte Ryker, wahrscheinlich auch ernster, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Seine Worte hatten einen ähnlichen Ton wie meine. Als würde er das Gleiche denken. Wir starrten uns eine Sekunde an, bevor wir beide lächeln mussten.
»Isla, was?«, fragte ich neckend.
Er schüttelte lachend den Kopf, als wäre der Gedanke absurd, als er um das Bett ging. »Der Detective, was?« Ryker ließ sich auf seine Seite fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Blick haftete auf den Cartoons, aber seine Gedanken waren ganz woanders. So wie meine.
»Ach, halt die Klappe«, murmelte ich unter der Decke hervor, und das brachte ihn wieder zum Lachen. Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Und das heißt nicht, dass ich jetzt verzweifelt bin. Kein Grund für Trost-Fummeleien, Ryker Lewis.«
Er verschluckte sich an dem Keks, den er gerade in den Mund gesteckt hatte, und diesmal war ich diejenige, die über ihn lachte.
Die Stimmung zwischen uns wurde wieder etwas leichter, und eine Weile lagen wir einfach nur schweigend nebeneinander im Bett, stopften Chips und Kekse in uns rein und schauten Cartoons. Und obwohl wir auf der Flucht waren, uns in einem dreckigen Motel versteckten, fühlte ich mich nicht mehr so einsam wie zuvor. Nicht mehr so hoffnungslos. Und ich fühlte mich Ryker noch viel mehr verbunden, als ich es ohnehin schon getan hatte. Nicht nur, weil er mich gerettet hatte, sondern auch, weil ihm die Sache mit Isla wahrscheinlich ähnlich zusetzte wie mir.
Ich blickte zu ihm rüber und klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Du bist ein guter Typ, Ryker. Auch wenn ich eigentlich immer noch keine Ahnung habe, wer du bist. Aber zumindest das weiß ich.«
Er lachte hustend. »Hast du einen sanften Moment, Avery? Das ist ja fast ein wenig unheimlich.«
»Nein, eigentlich brauchte ich nur etwas, woran ich meine fettigen Hände abwischen konnte.«
Ryker schlug meine Hand weg, und ich rutschte kichernd noch tiefer unter die Decke. Allerdings kam mir in diesem Moment ein Gedanke, der mich nicht mehr losließ. Ryker war ein guter Mensch. So wie Isla. Und ich zog ihn in meine Geschichten rein, genau wie sie. Vielleicht sollte ich mit offenen Karten spielen.
»Du musst deine Geheimnisse nicht erzählen, aber ich werde das tun, um fair zu sein«, murmelte ich unter der Decke hervor.
Ryker brummte etwas Unverständliches, aber ich blieb unter der Decke, wie um eine Schutzmauer zwischen uns zu haben.
»Dass ich eine Toxic bin, weißt du. Das ist leider eine meiner schlechten Eigenschaften.«
»Das ist keine schlechte Eigenschaft, Avery. Aber sprich weiter.«
»Ich bin außerdem in einer Gang.« Ich atmete aus, und es fühlte sich an, als würde sich etwas in mir lösen. »War in einer Gang. Das ist der Grund, warum ich mit Detective Hayes zusammengearbeitet habe – wir wollten Dorian Mars hochnehmen. Der Typ ist so was wie ein Mafiaboss in der Unterwelt von New York. Und ich war sehr lange, viel zu lange, seine Untergebene. Habe Poisoner-Drinks für ihn gemischt, um ihm seine Opfer in die Arme zu treiben.«
Ryker schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Warum?«
»Ich bin als Teenager in seine Gang gekommen, weil ich mich von der Gesellschaft ausgeschlossen gefühlt hatte.« Endlich zog ich mir die Decke vom Kopf, aber ich traute mich nicht, ihn anzusehen. »Er war da. Hat sich um mich und die anderen Kids gekümmert. Und schließlich kleine Verbrechen von uns verlangt, die immer größer wurden, bis wir zu tief drinsteckten. Dann hat er verlangt, dass ich meine Schulden bei ihm abzahle.«
»Was für ein Pisser.«
Überrascht sah ich zu Ryker rüber, und er erwiderte meinen Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Deine schlechte Eigenschaft ist also, dass du als Jugendliche von einem Gangsterboss übers Ohr gehauen wurdest? Lass gut sein, Avery. Wir haben in dem Alter wahrscheinlich alle Dinge getan, auf die wir nicht stolz sind.«
»Ich habe als Erwachsene weitergemacht.«
»Klang aber, als hättest du keine Wahl gehabt.«
»Man hat immer eine.«
Rykers Mundwinkel bogen sich nach oben. »Deshalb hast du doch mit Detective Hayes zusammengearbeitet, oder?«
Touché. Ich spürte, wie mir ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht wanderte.
Ryker tätschelte kurz etwas ungeschickt meinen Kopf, bevor er wieder die Arme vor der Brust verschränkte und weiter den Cartoon schaute, als hätten wir gerade nur über das Wetter gesprochen.
Aber obwohl mein Gespräch mit Ryker mir ein wenig von der Dunkelheit in meinem Herzen genommen hatte, konnte ich die Gedanken nicht abschalten. Eine Stunde später liefen die Cartoons immer noch, allerdings war Ryker bereits auf der Decke eingeschlafen, die Kapuze im Gesicht und die Arme verschränkt, als wäre er auch im Schlaf noch ein Bodyguard. Ich hingegen lag da und starrte an die dunkle Decke. Versuchte, nicht an entsetzte waldgrüne Augen zu denken, und tat es dann doch. Irgendwann schlief ich wohl doch ein, wachte aber nach nur zwei oder drei Stunden wieder auf. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, das Licht im Motelzimmer war schummrig, und im Fernsehen lief jetzt irgendeine Naturdoku.
Ich seufzte tief, bevor ich mich aus dem Bett schälte und zum Fenster ging. Müde rieb ich mir übers Gesicht. Viel mehr Schlaf war für mich heute wohl nicht drin. Ob ich je wieder zu einem gesunden Schlaf kommen würde?
Um richtig wach zu werden, zog ich die Blenden auf und blinzelte in das kleine Stückchen Sonne, das sich schon am Horizont zeigte. Genoss für einen Moment die warmen Strahlen auf meinem Gesicht, bevor ich den Blick über die Umgebung wandern ließ. Ich sah noch nirgends sonst ein Licht brennen, aber die Autos auf dem Parkplatz waren tatsächlich über Nacht mehr geworden. Das von Ryker sah ich nicht mehr, dafür aber …
Mein Herz setzte aus, und mein Mund wurde augenblicklich trocken.
Ein Polizeiwagen. Gerade stiegen zwei Uniformierte aus, der Fahrer gestikulierte etwas mit den Händen, sein Partner deutete auf das kleine Rezeptionshäuschen, und dann setzten die beiden sich träge in Bewegung.
Ich wusste nicht wie, aber sie hatten uns gefunden.
Zwei, drei Sekunden lang konnte ich nur am Fenster stehen und voller Horror durch die Scheibe blicken. Ich fühlte mich wie in einer Schockstarre, völlig eingefroren. Und als ich mich endlich wieder bewegen konnte, war es beinahe, als würde ich es in Zeitlupe tun. Ich drehte mich zum Inneren des Raumes, zum Bett, und erst als der Schrei über meine Lippen kam, schien die Zeit wieder in normalen Bahnen zu laufen: »RYKER!«
Es war ein lautes, verzweifeltes Wimmern, das hörte selbst ich. Glücklicherweise verfehlte es seine Wirkung trotzdem nicht, denn Ryker fuhr sofort hoch. Etwas verwirrt blickte er in meine Richtung, sah mich mit entsetztem Gesicht und eingesunkenen Schultern am Fenster stehen, und schlagartig wich die Müdigkeit aus seinen Augen. Er warf die Decke zurück und war so schnell neben mir, dass ich zusammenzuckte. Kaum hatte er die Blenden auseinandergezogen und die Lage erfasst, spannten sich sämtliche Muskeln in seinem Oberkörper an, und sein Blick wurde eiskalt.
»Das ist meine Schuld.« Mein Mund fühlte sich ganz trocken an, als ich an gestern dachte. An Rykers Warnung, und wie ich sie ignoriert hatte, um ins Internet zu gehen und nach Isla zu googeln. Jetzt würde meine Unachtsamkeit uns ins Verderben stürzen.
Rykers Kiefer mahlte, bevor er zu mir herumfuhr. »Wir müssen hier weg. Schnellstmöglich.«
Ich nickte und schlang die Arme schützend um meinen Körper. Meine Hände zitterten, und die Gedanken in meinem Kopf spielten wieder verrückt. Was würde passieren, wenn die Polizei uns jetzt hier aufgriff? Waren sie überhaupt hinter uns her oder war es nur Zufall, dass sie hier waren? Wahrscheinlich würden die nächsten Minuten darüber entscheiden, ob Ryker und ich wirklich wegen unserer Verbrechen im Gefängnis landen würden.
Stopp. Ich musste mich beruhigen. Egal, wie viel ich darüber nachdachte, es würde nichts an meiner Lage ändern. Wir konnten kein Risiko eingehen, indem wir die Situation aussaßen. Ryker hatte recht: Wir mussten hier weg, so schnell wie möglich. Und am besten so unauffällig wie möglich.
Ryker war bereits an der Tür und hatte sich die Kapuze seines Pullis über den Kopf gezogen. Als er zu mir zurückblickte und nickte, schienen seine bernsteinfarbenen Augen zu funkeln. Er legte eine Hand an die Lippen, bevor er die Tür langsam aufzog. Mit bebendem Herzen drückte ich die Tasche an mich und wartete auf sein Go, und als er es mir gab, stürzten wir beide sofort nach draußen.
Der Platz vor dem Motel war bis auf ein paar Autos leer. Die Polizisten mussten wohl noch in der Rezeption sein, aber wenn sie tatsächlich nach uns fragten, würden sie dort nicht mehr sehr lange bleiben.
Ryker griff nach meiner Hand und zog mich zur Treppe. Wir hetzten nach unten und versuchten, dabei so wenig Lärm wie möglich zu machen. Wieder einmal wurde mir die Absurdität meiner Lage bewusst. Gestern noch war ich auf der Hochzeit meiner besten Freundin gewesen. Hatte an einem Tisch feine Suppe gegessen und in einem edlen Kleid Champagner getrunken. Jetzt war ich auf der Flucht vor der Polizei. Wegen versuchten Mordes.
Das Herz schlug mir bis zum Hals, als wir den Parkplatz erreichten und Ryker mich nun vor sich herschob. Das Auto, das er ansteuerte, war ein schwarzer Sportwagen. Er war um einiges unauffälliger als sein voriger, und ich fragte mich unwillkürlich, wo er ihn so schnell herhatte. Aber für den Moment war das nicht wichtig. Für den Moment zählte nur, dass wir hier wegkamen.
Ich griff gerade nach der Beifahrertür, als ich plötzlich eine Hand an meinem Kopf spürte und nach unten gedrückt wurde. In letzter Sekunde konnte ich mich davon abhalten zu schreien und landete einigermaßen lautlos neben dem Wagen im Staub. Voller Entsetzen drehte ich mich um. Ryker hockte über mir, dicht an das Auto gedrängt, und warf mir einen intensiven Blick zu. Er schüttelte stumm den Kopf, und in der nächsten Sekunde erklangen Schritte auf dem Parkplatz – nur wenige Meter neben uns.
Mir stockte der Atem. Ich hatte nicht gehört, dass die Polizisten aus der Rezeption gekommen waren, aber Ryker glücklicherweise schon. So nah am Boden konnte ich unter dem Wagen hindurch nur ihre Schuhe sehen. Die dunkelblaue Hose darüber. Und hinter ihnen die Stiefel, die wahrscheinlich zu dem Rezeptionisten gehörten.
»Zimmer 67?« Eine männliche Stimme. Vermutlich einer der Polizisten.
Die Antwort des Rezeptionisten konnte ich nicht verstehen, er war wahrscheinlich zu weit weg. Oder das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren war so stark geworden, dass nichts anderes mehr zu mir durchdringen konnte.
»In Ordnung«, sagte wieder der Polizist, der vorhin gesprochen hatte.
Ich hoffte schon darauf, dass sie zu unserem Zimmer hochgehen würden, um nach uns zu suchen, und uns damit etwas Zeit verschaffen würden. Aber den Gefallen taten sie uns natürlich nicht.
»Geh du nach oben«, befahl der andere Polizist. Seine Stimme klang wie ein Knurren. »Warte an der Tür. Ich überprüfe noch die Autos und komm dann nach. Keine Alleingänge. Wir wissen nicht, ob sie bewaffnet sind.«
Jetzt war es sicher. Sie waren hinter uns her. Sie waren wegen uns gekommen, und es würde nur noch wenige Sekunden dauern, bis einer der Polizisten uns hinter dem Wagen entdeckte. Und ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was das für Ryker – und vor allem für mich – bedeutete. Würde ich je wieder frei sein? Wahrscheinlicher war wohl, dass man mich für den versuchten Mord an Isla hinter Gittern verrotten ließ. Oder sofort zu den Kennedys brachte, um mich der Quelle zu opfern. Würde ich meine Familie noch einmal sehen können? Oder Hayes? Beim Gedanken an ihn füllten sich meine Augen mit Tränen.
Ryker bewegte sich hinter mir. Und als ich zu ihm aufblickte, in sein seltsam ruhiges Gesicht, sah ich plötzlich eine Waffe in seiner Hand. Ich riss die Augen auf. Meine Lippen verzogen sich zu einem Schrei, doch vor Schock brachte ich keinen Ton heraus. Die Schritte des Police Officers kamen näher. Seine Füße waren schon fast direkt am Auto. Ich wollte Ryker anflehen, ihm nichts zu tun. Nicht auf ihn zu schießen. Doch da richtete er sich schon auf, und ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Gefolgt von zwei Schreien. Der des Polizisten, der dem Auto am nächsten war und der sofort von dem Wagen zurückstolperte. Und der seines Kollegen, der schon einige Meter entfernt gewesen zu sein schien.
Ich konnte nicht erkennen, ob Ryker den Polizisten getroffen hatte, aber er ging schnell hinter einem anderen Wagen in Deckung. Sein Kollege brüllte von Weitem irgendeine Warnung. Der Schuss, den er in unsere Richtung abgab, traf die Beifahrertür, die Ryker gerade aufgerissen hatte. Metall prallte laut auf Metall, und ich presste unter dem ohrenbetäubenden Lärm die Hände auf die Ohren.
Was zur Hölle passierte hier nur?
Mein Verstand kam gar nicht so schnell hinterher, wie Ryker im Schutz der Tür in den Wagen sprang und den Schlüssel ins Schloss rammte. Wie er die Fenster runterdrehte und noch einen Schuss abgab. Und noch einen. Dann warf er etwas aus dem Auto, das etwas leiser knallte und uns innerhalb von wenigen Sekunden in einen dichten weißen Rauch hüllte.
Das alles passierte so schnell, dass ich immer noch mit auf den Ohren gepressten Händen auf dem Boden des Parkplatzes kauerte. Rykers Rufen hörte ich trotzdem, und ich richtete mich vorsichtig auf. Das Auto neben mir setzte sich langsam in Bewegung. Ryker musste den Motor gestartet haben. Die Erkenntnis riss mich endgültig aus meiner Starre.
Die Polizisten brüllten immer noch etwas, irgendwo sehr nah bei uns. Aber durch den dichten Rauch trauten sie sich offensichtlich nicht, näher zu kommen. Wahrscheinlich, weil sie nicht wussten, wo Ryker genau war und ob er nicht immer noch den Lauf seiner Waffe auf sie richtete.
Ich warf mich durch die offene Beifahrertür und knallte sie hinter mir zu. Der Rauch behinderte nicht nur die Sicht der Polizisten, denn er war einfach überall. Ich sah nur noch Weiß, während der Rauch in meiner Lunge kratzte und mein Herz heftig schlug.
Wir sind so was von erledigt!, schrie meine innere Stimme. Und dann: Er hat auf die Polizisten geschossen! Er hat einfach auf sie geschossen!
Ryker trat so hart aufs Gas, dass ich in den Sitz gepresst wurde, und sofort war mein Kopf völlig leer. Ich wusste nicht, ob er durch den dichten Qualm mehr sehen konnte als ich oder ob er einfach auf gut Glück losfuhr, aber das Auto schoss über den halb leeren Parkplatz. Ein paar Sekunden später brachen wir durch die Wand aus Qualm, und ich sah den Highway vor uns. Ryker riss das Lenkrad herum, trat noch fester aufs Gas, und wir rasten wieder die Straße hinab.
Durch das immer noch offene Fenster hörte ich Rufe, dann Schüsse, die am Blech des Autos abprallten. Ich schrie auf und schlug die Arme über dem Kopf zusammen, während ich tiefer in den Sitz rutschte. Das hier war ein Albtraum. Wie hatte unsere Lage innerhalb von wenigen Stunden noch schlimmer werden können?
Vielleicht wäre es doch eine bessere Idee gewesen, mich der Polizei zu stellen.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich mich einfach ergeben hätte.
Für mich und für Ryker. Für jeden, der in diese ganze Misere involviert war.
Aber dafür war es jetzt zu spät, ich hatte keine Wahl mehr. Ryker hielt nicht an, und als ich mich nach wenigen Minuten endlich traute, die Arme von meinem Kopf zu nehmen und über die Schulter zu schielen, sah ich nur noch eine Staubwolke. Ich war sicher, dass die Polizisten uns folgten, aber gegen die PS von Rykers neuem Sportwagen hatten sie keine Chance. Wir ließen sie zurück, ebenso wie die Möglichkeit, noch durch Reden aus dieser ganzen Sache rauszukommen.
Ich schaute wieder nach vorn und presste die Lippen zusammen. Ryker fuhr immer noch so schnell, dass ich mich wie in den Sitz gepresst fühlte, aber in mir wallte auch Unglauben auf. Unglauben und heiße Wut, die ich dringend zurück in mein Innerstes quälen musste, damit ich nichts Unüberlegtes tat.
Wir schossen eine gefühlte Ewigkeit über den Highway, bevor Ryker den Wagen leicht abbremste und sein Handy zückte, um eine schnelle Nachricht zu tippen.
»Willst du uns umbringen?«, zischte ich ihn an, obwohl die Straße leer war und die Wahrscheinlichkeit, dass er mit seinem sicheren Fahrstil hier einen Unfall baute, gegen null ging. Aber ich war so schrecklich geladen, dass ich ein Ventil brauchte.
»Eigentlich versuche ich gerade das Gegenteil.« Er tippte die letzten Worte und steckte das Handy in die Seitentür des Autos, bevor er mir einen kurzen Blick zuwarf. »Hast du ein Problem, Avery? Willst du vielleicht darüber reden?«