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Auch hinter dem Eisernen Vorhang hatte Jimi Hendrix Fans, und was für welche! Doch auch heute gehen in Lemberg, der Vielvölkerstadt im Westen der Ukraine, mehr als merkwürdige Dinge vor sich. Verantwortlich dafür sind die Macht der Liebe, die uferlose Phantasie eines Schriftstellers – und die unsterbliche Musik von Jimi Hendrix. Ein Feuerwerk von unglaublichen und skurrilen Einfällen. Nominiert für den International Booker Prize 2023.
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Seitenzahl: 459
Andrej Kurkow
Jimi Hendrix livein Lemberg
Roman
Aus dem Russischen von Johanna Marxund Sabine Grebing
Titel der 2012 im Folio Verlag, Charkow,
erschienenen Originalausgabe:
›Lwowskaja gastrol Jimi Hendrixa‹
Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Foto Copyright ©Phil Leo/Michael Denora /
Iconica/Getty Images
All rights reserved
Alle Rechte vorbehalten
Copyright ©2016
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24350 5 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60436 8
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] 1
Am Gang kann man fast immer erkennen, wie alt jemand ist. Ein ganz junger Mensch geht fröhlich und neugierig. Ab und zu stellt er sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf etwas zu erhaschen, was er sonst nicht sehen würde. Solange er nicht größer als einsfünfzig ist, stört das auch keinen. In der Folge wird der Gang des Menschen für kurze Zeit ein wenig rüpelhaft und arrogant, oder aber geduckt, die Schultern hochgezogen und leicht nach vorne gebeugt. Das gefällt natürlich bei weitem nicht mehr allen und ruft Ängste hervor: Wer weiß schon, was ein Mensch mit einem solchen Gang anstellen kann?! Von da an ist es bei jedem anders. Der eine geht zwanzig Jahre lang gerade, der andere etwas seitlings – das hängt von der Stellung im Leben und der Größe der Angst ab. Aber diese Regel gilt nur tagsüber. Nachts kann man seine Tagesgangart und sein Alter ablegen und anders gehen. Die Nacht macht frei. Vor allem die Nacht vom 17. auf den 18.September.
In dieser Septembernacht 2011 waren Schritte aus der Hrnschewskyj-Straße, der Seljona, der Fjodorow-Straße und der Samarstyniwska zu vernehmen sowie aus Richtung des Stryjski-Parks, in dessen Bäumen schon seit je Scharen von fetten Krähen übernachten, die sich tagsüber auf der Lemberger Mülldeponie bei Hrybowytschi vollgefressen haben.
[6] Es waren die Soloschritte von einzelnen Menschen, die niemals, auch nicht zu Zeiten der ewig währenden Sowjetunion, in der Lage gewesen waren, in Reih und Glied zu marschieren. Hätte irgendein Eintrommler versucht, ihre Schritte auf Kurs zu bringen, hätte er sofort eine »leichte Körperverletzung« davongetragen. Zu »schwerer Körperverletzung« waren diese Leute absolut nicht imstande. Selbst wenn sich immer mal wieder einer, den sie erst kurz zuvor in ihren engsten Kreis aufgenommen hatten, in anderem, übertragenem Sinne als Eintrommler entpuppte. Der engste Kreis war erst in letzter Zeit wirklich sehr eng geworden. Früher, vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren, gehörten ihm noch mehr als fünfzig Leute an, und jedes Jahr wurde er Mitte September sogar bedeutend größer. Dann erweiterte er sich um Gleichgesinnte, die per Autostopp, Zug oder einfach zu Fuß anreisten.
Am Redemptoristenkloster des heiligen Alfons ging ein Mann mit etwas nervösen Schritten vorbei. Man konnte hören, dass er es eilig hatte. Er hastete durch die Samarstyniwska, die ihre steinerne Hand im Laufe der Zeit auch bis Brjuchowytschi hätte ausstrecken können, das aber aus irgendwelchen Gründen nicht getan hatte. Auf die Länge dieser Straße können die Pariser Boulevards heute noch neidisch sein, und würde man die Samarstyniwska in gleich große Stücke teilen und diese so anordnen, dass sie sich in der Mitte im rechten Winkel kreuzen, dann erhielte man eine vollwertige deutsche Kleinstadt mit einer reichen Geschichte. Es gibt nichts, was die Samarstyniwska in ihrem langen und immer noch andauernden Leben nicht gesehen [7] hätte. Straßen leben lange und überleben die Menschen, die von Generation zu Generation in ihnen wohnen. In der Samarstyniwska wurde immer viel gebetet, es wurden Wodka und Likör hergestellt und getrunken, im Filmarchiv des Bezirk-Filmverleihs wurden Filme aufbewahrt und im Schewtschenko-Kino auch gleich vorgeführt, es wurde erklärt, wie man Gärten anlegt und Gemüse zieht, es wurde Fahrunterricht erteilt und es wurden sogar kranke und verletzte Milizionäre behandelt. Das ist übrigens auch heute noch so. Man pflegt sie gesund oder hält in der Krankenhauskapelle einen Trauergottesdienst für diejenigen ab, die man nicht wiederherstellen konnte. Alles muss Regeln folgen, und jede Bewegung muss Anzeichen einer künftigen Vollendung aufweisen, wie auch jeder Satz, egal, wie viele Kommas er haben mag, mit einem Punkt, einem Doppelpunkt oder einem noch emotionaleren Satzzeichen enden muss.
Das nicht gerade ereignislose Leben des eiligen Fußgängers hatte sich vorwiegend am Ende der Samarstyniwska abgespielt, und er trug diese Straße immer in sich. Er spürte sie, wie ein guter Autofahrer, ohne eigens darauf zu achten, die Ausmaße seines Autos spürt und im Voraus weiß, durch welche Einfahrt es passt und durch welche nicht.
Ein breitkrempiger brauner Lederhut verdeckte das Gesicht des Mannes. Langes, schon ziemlich graues Haar, das bis zu den Schultern reichte, hing darunter hervor. Alle anderen Details sind unwichtig. Außer vielleicht die hohen, militärisch wirkenden, fest zugeschnürten Stiefel, zuverlässiges Schuhwerk aus heimischer Produktion, das seit fünfzig Jahren als »Scheißezerquetscher« bezeichnet wird. Die [8] Chinesen haben solche Stiefel nie produziert, ihnen wird dafür zu viel hochwertiges Hartgummi und zu viel grobes Leder benötigt. Nun werden diese Stiefel nur noch in Weißrussland und Transnistrien hergestellt. Aber auch in Lemberg gibt es noch ein paar Schuhmachermeister, die es nicht nur verstehen, eine große Nadel durch dickes Schweinsleder zu führen, sondern auch, Leder und Sohle fester miteinander zu verbinden, als es der Sowjetmacht in fast fünfzig Jahren mit der West- und der Ostukraine gelang. Am Klang der Schritte erkennen diese Könner, ob ein Schuster gepfuscht hat oder sein Handwerk versteht. Denn zwischen den Sohlen der beiden Stiefel muss eine Harmonie bestehen. Gerade in Lemberg mit seiner feinen Klangkultur ist das besonders wichtig. Der rechte Absatz darf nicht anders klingen als der linke! Beide Absätze müssen sich wie ein Paar anhören. Ein Paar, das den Weg liebt.
In der Hosentasche des Mannes klingelte das Handy.
»Alik, hast du noch weit?«, fragte die Stimme eines alten Freundes.
»Wir sind doch keine Deutschen und müssen uns nicht beeilen«, antwortete der Mann. »Wo bist du denn?«
»In der Lytschakiwska.«
»Alles klar«, sagte Alik. »Ich bin gleich da.«
Als Alik sich dem verschlossenen Tor des Lytschakiwski-Friedhofs näherte, kamen unter den Bäumen in der Nähe langsam etwa zehn Gestalten hervor. Sie umringten Alik, der den Schlüssel für das Friedhofstor aus der Tasche zog.
Er drehte den Schlüssel gerade im Schloss, als plötzlich hinter ihnen eilige Schritte zu hören waren. Alik wandte sich um und erblickte einen an die zwei Meter großen, ein [9] wenig gebückt gehenden Riesen. Seine langen grauen Haare schienen zu sagen: Ich gehöre zu euch.
»Labas vakaras«, wünschte er leise auf Litauisch einen guten Abend. »Entschuldigt, fast wäre ich zu spät gekommen!«
»Audrjus?!«, fragte Alik erstaunt und musterte den Riesen vom Scheitel bis zu den spitzen Schuhen. »Bist du mit dem Zug gekommen?«
»Ja, über Kiew.« Er nickte. Alle traten sie nacheinander zu Audrjus und umarmten ihn.
»Lange nicht gesehen«, sagte Alik, dann wandte er sich wieder zum Friedhofstor, drehte den Schlüssel um, und der Stahlbügel sprang aus dem Vorhängeschloss.
Sie gingen schweigend über den Friedhof. Auf der kleinen Anhöhe sahen sie sich um. Alik bedeutete den anderen, ihm zu folgen, und führte sie zwischen den Gräbern und schmiedeeisernen Grabumfriedungen hindurch. Bei einem Eisenkreuz, das wirkte, als hätte es sich vor den anderen Gräbern hinter dem Stamm eines alten Baumes und zwei hohen Büschen versteckt, blieben sie stehen. Die in die Jahre gekommenen Langhaarigen drängten sich um das unscheinbare Grab, das von keiner Umfriedung geschützt war. Das verrostete Schild in der Mitte des Kreuzes war unleserlich, man konnte weder den Vor- noch den Nachnamen des Verstorbenen entziffern. Einer der Männer kniete sich vor dem Kreuz an den Rand des Grabhügels und zog ein Tütchen aus der Tasche. Er öffnete es, stellte eine kleine Büchse mit weißer Farbe ins Gras und holte einen Pinsel hervor.
Sorgfältig schrieb er mit weißer Ölfarbe auf das Kreuz: »JIMI HENDRIX 1942 – 1970«.
[10] In der windlosen Stille knackte ein Ast irgendwo ganz in der Nähe. Alik lauschte angestrengt.
Wieder knackte es. Die Blätter auf dem Boden raschelten jämmerlich unter den Füßen eines herbeieilenden Unbekannten.
»Der Wächter?«, überlegte Alik.
Auf demselben Weg, den sie gekommen waren, die Gräber und Grabumfriedungen umgehend, näherte sich ihnen ein kleiner Mann mit Mütze. Ein ganz normaler Nicht-Hippie. Die um das Grab Versammelten sahen ihm gleichgültig entgegen. Neugier ist etwas für junge Leute, alle Anwesenden aber waren schon jenseits der fünfzig.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der ungebetene Gast laut und deutlich wie ein Nachrichtensprecher und wahrte einen höflichen Abstand. »Ich wollte schon lange… Ich wollte mit Ihnen reden…«
»Reden Sie«, meinte Alik ruhig.
»Erkennen Sie mich nicht?«, fragte der Mann und nahm die Mütze vom Kopf.
Trotz der Dunkelheit war das Gesicht des Neuankömmlings durch den Mond ausreichend beleuchtet. Alik sagte es dennoch nichts. Ein gewöhnliches Gesicht, wie es das Schicksal millionenfach hervorbrachte, mit Ohren, einer Nase und Augen. Als würde es der staatlichen Einheitsnorm entsprechen, ohne Makel und ohne einprägsame oder hervorstechende Eigenheiten.
Alik schüttelte den Kopf.
»Na so was.« Der Stimme des Mannes mit den kurzgeschnittenen Haaren war anzuhören, dass er gekränkt war. »Wir hatten einmal eng miteinander zu tun, wenn auch, [11] selbstverständlich, gegen Ihren Willen. Ich bin KGB-Hauptmann Rjabzew.«
»Du lieber Himmel«, entfuhr es Alik. Er kniff die Augen zusammen, sah aber dem unerwarteten Gast immer noch ins Gesicht. »Und was machen Sie hier, Herr Hauptmann? Sie müssen ja schon Hauptmann im Ruhestand sein?«
»Hauptmann der Reserve«, berichtigte Rjabzew ihn. »Aber im Prinzip ist das dasselbe. Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen… Und Ihnen etwas erzählen.«
»Na, dann entschuldigen Sie sich!« Alik zuckte mit den Schultern. »Aber machen Sie schnell. Wir sind ja nicht hergekommen, um Ihnen zuzuhören.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Eisenkreuzes mit der frischen weißen Aufschrift.
Der Hauptmann setzte seine Mütze auf und hustete einmal.
»Um’s kurz zu machen: Verzeiht mir! Mir und Mesenzew. Ich habe ihn kürzlich zu Grabe getragen… Blasenkrebs… Er war ebenfalls für euch zuständig.«
»Müssen wir uns das anhören?«, fragte missmutig Pensel, ein großer Mann mit langen Haaren und Bart, der eine Lederjacke trug und eher nach einem Biker aussah als nach einem Hippie.
»Kurz zuhören können wir ihm ja«, meinte Alik. »Also, Herr Hauptmann, fassen Sie sich etwas knapper! Die Burschen verlieren die Geduld.«
»Wenn ich mich kurz halten soll«, Rjabzew sprach leiser und weniger deutlich, »dann möchte ich mich zunächst dafür bedanken, dass ich vor fünfunddreißig Jahren durch euch Jimi Hendrix kennenlernen durfte! Er hat mein Leben [12] verändert. Seinetwegen war mir meine Karriere auf einmal nicht mehr wichtig. Daher bin ich auch nur Hauptmann und kein Oberst… Und deshalb haben die anderen und ich 1978 für euch seine Hand besorgt. Damit Jimi auch hier, in Lemberg, ein eigenes kleines Grab hat und damit ihr einen Ort habt, an dem ihr seinen Todestag begehen könnt.«
»Bitte was?«, fragte Alik mit großen Augen. »Jimis Hand haben unsere Kumpels aus dem Baltikum hergebracht, und denen haben Leute aus der litauischen Diaspora in den USA geholfen! Sag es ihnen, Audrjus, du erinnerst dich doch!«
»Ja.« Audrjus nickte. »Ich kann mich an die Jungs erinnern. Jonas, Kjastutis, Ramunas…«
»Natürlich waren sie es, die euch die Hand übergeben haben, aber aus den USA haben sie unsere Leute gebracht«, sagte Rjabzew, jetzt wieder militärisch deutlich und fest. »In Moskau haben sie davon nichts gewusst. Die Idee zu der illegalen Teil-Exhumierung von Jimi hatten der verstorbene Mesenzew und ich hier in Lemberg. Bezahlt hat Moskau, aber wenn die ganze Sache ans Licht gekommen wäre, dann würde ich heute nicht hier stehen…«
Einer der Zuhörer stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Hauptmann versuchte ihn zu erkennen und hielt kurz inne.
»Ich erzähle das, damit ihr nicht mehr auf uns böse seid. Wir waren keine verbohrten Bluthunde. Ich kann euch hier und jetzt den kompletten Lebenslauf von Jimi Hendrix aufsagen, Jahr für Jahr, ich kann alle seine Lieder auf Englisch aus dem Gedächtnis zitieren. Singen kann ich nicht, tut mir leid! Meine Eltern hatten weder Geld für ein Klavier noch für eine Gitarre. Ich habe in meiner Kindheit nur eine Trillerpfeife gehabt!«
[13] »Ich erinnere mich an Sie«, meinte Alik nachdenklich. »Wenn das wahr ist, was Sie sagen, dann müssen wir uns irgendwo zusammensetzen.« Er zeigte auf alle Anwesenden. »Wir müssen was trinken und uns eingehender mit den alten Zeiten befassen.«
»Alles, was ich erzählt habe, ist wahr«, sagte Hauptmann Rjabzew. »Ich habe keinen Grund, euch etwas vorzumachen. Ich bin nicht mehr im Dienst. Schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr.«
Alik sah zu Boden und schwieg. Dann blickte er auf das Kreuz mit der frischen weißen Aufschrift.
»Jimi, hörst du das?«, fragte er zum Kreuz gewandt. »Schon wieder haben sich die Behörden zwischen uns gedrängt. Aber wir haben dich weder vor dem 18. September 1970 verraten noch danach. Nicht ein Jahr, in dem wir nicht hergekommen sind und dein Grab in Ordnung gebracht haben. Wir waren selbst dann hier, wenn man sich äußerste Mühe gab, uns daran zu hindern.«
Irgendwo in der Nähe fuhr ein Krankenwagen mit lautem Sirenengeheul vorbei. Die Sirene wurde allmählich leiser.
»Was meint ihr, Jungs?«, fragte Alik in die Runde. »Ich fange an!«
Er zog einen Streifen Luminal aus der Tasche, drückte eine der Tabletten heraus, setzte sich ans Grab, legte die weiße Tablette auf den Boden und bohrte sie nach einer Pause mit dem Zeigefinger in die Erde.
»Ruhe in Frieden«, flüsterte er und stand wieder auf.
Der Hauptmann wich einen Schritt zurück, als wollte er nicht stören. Dann stand er wieder regungslos da und beobachtete das Geschehen.
[14] Ein weiterer alter Hippie setzte sich ans Grab, in seiner Hand eine Schlaftablette. Das Ritual wiederholte sich. Als Nächster kauerte sich Audrjus hin. Er flüsterte etwas auf Litauisch. Dann drückte auch er mit dem Zeigefinger eine weiße Tablette in die Erde.
Der Himmel über dem Lytschakiwski-Friedhof zog zu. Regentropfen klatschten auf die noch verbliebenen Blätter an Bäumen und Büschen. Die Blätter raschelten und murmelten, als kündeten sie von einer verborgenen Gefahr.
Alik blickte nach oben.
»Genau wie vor einem Jahr!«, sagte er. »Es wird Zeit…«
Sie gingen zurück zum Ausgang, die Anhöhe hinunter, vorbei an anderen Gräbern, Grabumfriedungen, Gruften und Grabsteinen.
Alik erblickte in der Dunkelheit ein großes steinernes Kruzifix. Das Gesicht des gekreuzigten Jesus schien ihm einen Augenblick lang glücklich zu sein.
Das Vorhängeschloss hing schon wieder am Friedhofstor, als Hauptmann Rjabzew plötzlich direkt vor Alik stand. Er war einen Kopf kleiner als dieser.
»Was meint ihr, Jungs, sollen wir einen großen Tisch für uns alle suchen?!«, fragte Alik, wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, nach rechts und marschierte los, an Gitter und Mauer entlang. Die anderen folgten ihm. Ganz am Ende ging der Hauptmann.
Schon bald lag die Friedhofsmauer hinter ihnen. Auf beiden Seiten waren die grauen Umrisse der schlafenden Häuser der Metschnikow-Straße zu erkennen. Aliks Beine fühlten sich plötzlich kraftlos an. Er ging voraus, zeigte seinen alten Freunden, mit denen er in der Jugend immer [15] wieder auf der Milizwache gelandet war, den Weg und dachte gleichzeitig daran, dass es auf diesem Weg nirgendwo einen großen Tisch für sie alle gab. Dabei wäre er so nötig gewesen.
Früher, in der unliebsamen Zeit der Sowjets, hatte selbst ein kleiner, rechteckiger Küchentisch mit ein paar Hockern ringsum groß gewirkt. Die damaligen Zeiten und Tische waren jetzt doppelt vergangen: Es war ein anderes Jahrhundert und ein anderes Land.
Heute wollte Alik einen richtigen Stuhl – offenbar hatte sein Hinterteil mit den Jahren begonnen, nach einer weichen Unterlage und Komfort zu verlangen. Aber eine weiche Unterlage und Komfort gab es nicht überall.
»Wie wäre es mit dem ›Georges‹?«, drang der warme Atem eines der Freunde an sein Ohr. »Genik ist heute bei der Security und lässt uns rein…«
Alik ging langsamer und sah seinen Freund aus dem Augenwinkel an.
Vor ihm bewegte sich die dunkle Luft, als hinge Zigarettenrauch darin.
»Es zieht Nebel auf«, verkündete Hauptmann Rjabzew, der rechts zwischen Alik und der Hauswand aufgetaucht war. »Ein tiefhängender Nebel«, fügte er wissend hinzu. »Er wird uns gleich verschlucken… Wir sollten lieber stehen bleiben.«
Alik hielt inne. Auch die Übrigen machten halt. Sie standen unter einem Hausschild mit der Aufschrift »Lytschakiwska 84-A«, das von einem schwachen Lämpchen beleuchtet wurde, und vor aller Augen füllte sich die Dunkelheit mit milchigen Nebelschwaden.
[16] Auf einmal war das Schild mit Straße und Hausnummer verschwunden und nicht mehr zu sehen.
»Alik, ich gehe«, ertönte Hauptmann Rjabzews Stimme. »Ein andermal.«
»Was für ein anderes Mal?«, fragte Alik.
»Sie sind ja nie umgezogen«, erwiderte der Hauptmann freundlich. »Ihre Adresse kenne ich seit den Siebzigern. Ich komme irgendwann vorbei und erzähle Ihnen die ganze Geschichte. Vielleicht schon morgen.«
Alle verabschiedeten sich und gingen im nächtlichen Nebel ihrer Wege. Nur Audrjus blieb so dicht neben Alik stehen, dass er ihn fast mit der Schulter berührte.
»Komm, wir fahren zu mir«, schlug Alik seinem litauischen Freund vor. »Ich habe Kräuterschnaps im Haus.«
»Ich habe auch welchen dabei, zwei Flaschen ›999‹«, erwiderte dieser.
Alik zog sein Handy aus der Tasche. Er wählte die Nummer eines Taxiunternehmens, aber die Zentrale meldete sich nicht. Er wählte die Nummer eines anderen Taxiunternehmens, das Ergebnis war das gleiche. Plötzlich hörte er Motorengeräusche. Da fiel ihm ein, dass er an einer Straße stand. Mit der Schuhsohle tastete er nach dem Bordstein und blickte in die Richtung, aus der sich das Auto näherte, das er zwar immer noch nicht sehen, aber hören konnte. Er hob den rechten Arm und stellte sich auf die Fahrbahn.
Aus dem milchigen Nebel tauchten ganz in der Nähe zwei gelbe Scheinwerfer auf. Alik trat noch einen Schritt vor, damit er besser zu sehen war. Plötzlich quietschten Bremsen, und das Auto schoss über den nassen Asphalt direkt auf ihn zu. Der linke gelbe Scheinwerfer rammte [17] Alik leicht am Knie, er sprang zur Seite und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu bewahren und auf den Beinen zu bleiben, doch es gelang ihm nicht.
Das Auto war stehen geblieben. Im Fahrzeuginneren ging das Licht an, und Alik konnte zwei erschrockene Gesichter erkennen. Das Gesicht eines jungen Mannes von etwa Mitte dreißig und das seines etwa zehn Jahre älteren Beifahrers. Die spitze Nase und der gepflegte Bart des Älteren ließen vermuten, dass er ein Ausländer, wahrscheinlich ein Pole war. Der Jüngere öffnete die Fahrertür und stieg aus. Seine Hände zitterten.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er Alik, der schon wieder auf den Beinen war und sein lädiertes Knie massierte. »Ich habe Sie nicht gesehen!«
»Geht schon«, sagte Alik. »Audrjus, bist du da?« Er blickte sich um.
»Ich bin hier«, antwortete sein Freund und kam näher.
»Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«, fragte der Fahrer des alten Opels mit immer noch zitternder Stimme.
»Ich wollte gerade ein Auto anhalten«, meinte Alik etwas abwesend. »Ich muss in die Samarstyniwska, ganz ans Ende…«
»Steigen Sie ein!« Der Fahrer, dem der Schreck noch in den Gliedern saß, öffnete die hintere Tür und betrachtete nicht ohne Interesse die beiden in die Jahre gekommenen langhaarigen Freunde.
Das Auto fuhr los und schwamm durch die Nebelsuppe wie ein U-Boot in dunklen, tiefen, trüben Gewässern.
»Sind Sie vielleicht zufällig Hippies?«, fragte der junge Fahrer seine unerwarteten Fahrgäste.
[18] »Wieso zufällig? Wir sind nun gerade nicht zufällig Hippies!«, erklärte Alik entschieden.
»Ich habe einen Film über Sie gesehen«, bemerkte der Fahrer weiter.
»Über uns?« Alik und Audrjus sahen sich erstaunt an.
»Über uns hat es keinen Film gegeben«, sagte Audrjus mit seinem weichen litauischen Akzent.
»Na, nicht über Sie persönlich, aber über Hippies!«, korrigierte sich der Fahrer. »Darüber, wie amerikanische Hippies nach Indien gefahren sind und sich eine Art Stadt für ein glückliches Leben gebaut haben. Vielleicht ist die Stadt auch schon ausgestorben. Das ist ja ewig her!«
»Was soll denn das heißen?«, fragte Audrjus beinah entrüstet. »Das ist gar nicht lange her! Halten Sie uns für Achtzigjährige? Wir haben das Leben noch vor uns! Bis zur Rente sind es auch noch zehn, fünfzehn Jahre!«
Der Fahrer zog den Kopf zwischen die Schultern und verstummte, während er sich auf die Fahrbahn im dichten Nebel konzentrierte.
»Glaubst du, dass Rjabzew die Wahrheit gesagt hat?!«, wandte Alik sich an Audrjus.
Audrjus zuckte mit den Schultern. Er wollte nicht antworten, und er hatte auch keine Antwort parat.
Sie fuhren etwa eine halbe Stunde, dann konnte man im unerwartet aufreißenden Nebel plötzlich die Stämme von Kiefern und den vertrauten Zaun des Milizkrankenhauses erkennen.
»Da sind wir«, meinte der Fahrer erleichtert. »Wollen Sie noch weiter?«
Alik nickte. »Ja, aber hier ist es schon ganz in der Nähe.«
[19] 2
Nachdem er seine langhaarigen Fahrgäste abgesetzt hatte, wendete der Opel und fuhr zurück in Richtung Innenstadt.
»Bei uns sind solche Hippies schon lange ausgestorben«, sagte der schnauzbärtige Beifahrer auf Russisch mit deutlichem Akzent. »Drogen, Haschisch… Lange haben die Hippies ja nicht gelebt, aber dafür hatten sie Sex und Spaß! Versuchen wir es noch mal?«
»Was versuchen, Pan Jarek?«, fragte erstaunt der Fahrer, dem von den Worten des Polen nur ›Sex‹ und ›Spaß‹ im Kopf geblieben waren.
»Wofür bezahle ich dich denn, verdammt noch mal?!«
Der Fahrer beobachtete aufmerksam die Straße. Der Nebel verzog sich gerade wieder ein wenig.
»Versuchen wir es«, stimmte er zu, wobei er aufs Gaspedal trat.
Auf den Pflastersteinen der Schpytalna, über die die Nacht mit einem nassen Lappen gewischt hatte, »jagte« Taras’ Opel mit zwanzig Kilometern pro Stunde dahin und schob den Nebel mit seinen Scheinwerfern und dem Fahrgestell beiseite. Das Auto wurde durchgerüttelt, und der nicht angeschnallte Fahrgast hüpfte auf dem rechten Vordersitz auf und ab. Taras kam schon diese Geschwindigkeit gefährlich vor. Aber kein Nebel konnte den Kapitalismus außer Kraft setzen, der zwanzig Jahre zuvor in der Ukraine angebrochen war. Und der Kapitalismus war hart. Willst du essen, dann geh und arbeite!
»Wie steht es?«, erkundigte sich Taras bei Pan Jarek, nachdem er den Wagen angehalten hatte.
[20] Vor einem Monat hatte dieser Pole im Internet Taras’ kleine Website gefunden und war neugierig geworden. Und hergefahren. Wie lange war die Fahrt von Polen hierher? Ein lustiger Gedanke. Polen konnte geradezu als Lemberger Umland gelten, so sahen hier die Entfernungen aus!
»Ich denke, für heute haben Sie genug!«, sagte Taras, ohne die Antwort seines Kunden auf die Frage abzuwarten, im Tonfall eines Arztes.
»Nein.« Pan Jarek schüttelte den Kopf und ging von gebrochenem Russisch zum Polnischen über. »Weißt du was… Es geht noch ein bisschen… eine Viertelstunde.« Dabei biss er vor Schmerz die Zähne zusammen. Sein Blick war matt, genauso wie seine Stimme.
»Vielleicht machen wir doch lieber morgen weiter?«, setzte Taras nach einer Pause noch einmal an, leiser und vorsichtiger. »Bei so einem Nebel…«
»Morgen?! Das wird zu teuer… Deine Hippies hast du heimgebracht, und dann auch noch auf meine Rechnung, oder wie?«
Der graue Opel Vectra mit seiner langen internationalen Biographie – Deutschland in den späten achtziger Jahren, Polen in den Neunzigern, Weißrussland in den Nullerjahren und jetzt die Ukraine im Jahr 2011 – fuhr wieder los, rollte über das bucklige Kopfsteinpflaster und gab jede Vibration, jedes Schlagloch aufs Genaueste an seine Insassen weiter.
Taras beugte sich zur Windschutzscheibe vor. Er lag fast mit der Brust auf dem Lenkrad und starrte hinaus auf die Straße. Der Zeiger des Tachos war auf sechzig geklettert. Der Passagier schwieg, während er gemeinsam mit dem Auto und seinem Fahrer über die Straße hoppelte.
[21] Taras kannte die von ihm persönlich entwickelten »therapeutischen« Routen durch das nächtliche Lemberg auswendig. Er kannte nicht nur die Straßennamen, sondern wusste auch, an welchen Häusern sie vorbeifuhren und welche Autos meistens vor diesen Häusern standen. Wäre da nicht der Nebel gewesen, hätte es gar kein Problem gegeben.
Pan Jarek stöhnte heftig auf, griff sich an die Leistengegend und presste die Hände zwischen die Schenkel in den engen Jeans, als wollte er sie aufwärmen.
Taras sah kurz zu seinem Fahrgast hinüber. Auf seinen Lippen war ein kaum merkliches Lächeln erschienen. Er trat noch forscher aufs Gaspedal, und der Wagen schoss wie wild vorwärts.
In Taras’ Augen leuchteten gleichzeitig Tollkühnheit und Furcht. Die Furcht saß am äußersten Ende seines Blicks, der sich zusammen mit den Scheinwerfern in den Nebel bohrte. Zwar drang das Licht etwa fünfzig Meter weit, aber wenn auf der Straße irgendein Hindernis aufgetaucht wäre, ob lebendig oder nicht, hätte das Auto niemals rechtzeitig bremsen können. Nasses Kopfsteinpflaster ist eine rutschige Angelegenheit.
Unerwartet riss es den Opel so in die Höhe, dass Taras, der auch nicht angeschnallt war, sich den Kopf an der Wagendecke anstieß. Der Pole war heftig durchgeschüttelt worden und biss die Zähne zusammen, als drohte ihm ein Schrei zu entfahren.
Taras warf seinem Beifahrer einen nervösen Blick zu.
»Stopp, anhalten!«, brüllte der, und sein ganzer Körper wand sich wie in einem Krampf. Gleich darauf sank Pan [22] Jarek in seinen Sitz zurück und ließ die Ellenbogen auf die Knie sinken, dann krümmte er sich zusammen. Er spitzte die Lippen im blass gewordenen Gesicht, als wollte er pfeifen.
Taras trat auf die Bremse. Der Opel schleuderte gegen den Fahrbahnrand.
Der Pole streckte die linke Hand aus. Sie zitterte. Sofort zog Taras mit geübter Geste ein Literglas unter seinem Sitz hervor und reichte es Pan Jarek.
Dann schaltete er den Motor und die Scheinwerfer aus und rührte sich nicht mehr. Der Nebel klebte mit aufdringlicher Neugier an dem dunklen, stillen Auto und seinen Insassen.
Taras’ Fahrgast hatte inzwischen, immer noch stöhnend, die Beifahrertür geöffnet. Hastig und ungeschickt kletterte er hinaus, blieb mit dem Rücken zum Auto stehen, ließ die Jeans hinunter und beugte sich vor. Die Ärmel seiner Lederjacke raschelten eigenartig steif.
Taras schloss die Augen. Nein, er war nicht sonderlich müde. Sein Biorhythmus hatte die nächtlichen Fahrten durch die Stadt längst verinnerlicht. Nur der Nebel gehörte nicht in seine Pläne. Nebel störte immer. Trotzdem war Nebel viel besser als Schnee oder Glatteis! Denn wenn es schneite, wieder taute und kurz darauf der Frost zurückkehrte – dann leb wohl, Verdienst, bis zum Frühling! Seltsam, dass sogar eine Arbeit, die doch direkt mit der Medizin zusammenhing, Saisonarbeit sein konnte. Aber er besaß ja offiziell gar kein Recht, jemanden medizinisch zu behandeln, denn aus dem Medizinischen Institut hatten sie ihn im dritten Jahr nach der letzten nicht bestandenen Prüfung [23] hinausgeworfen. Übrigens war er auch nicht der Meinung, dass er Kranke behandelte. Er half ihnen nur, ohne dabei ein einziges Medikament zu verschreiben oder irgendwelchen ärztlichen Rat zu erteilen.
In der völligen Stille klirrte ein Steinchen an Glas, und gleich darauf plätscherte es – der Pole pinkelte in das Literglas, das in seinen Händen zitterte.
Dann surrte es leise metallisch, der Pole zog den Reißverschluss seiner Jeans oder seiner Jacke zu.
Taras hörte das schwere, rasche Atmen seines Fahrgastes draußen. Der stand, jetzt regungslos und stumm, vor einem schlafenden dreistöckigen Haus, vor den schlafenden Fenstern der Stadt. Bis zur Hauswand waren es drei Meter, und selbst in diesem Raum zwischen der Mauer und dem Menschen, der sich gerade von einem kleinen, aber lästigen Nierenstein befreit hatte, hing Nebel.
Taras wartete geduldig. Wieder hörte er ein Plätschern, Pan Jarek schüttete sorgsam den Urin aus dem Literglas in ein Kanalgitter. Kurz darauf setzte er sich langsam auf seinen Platz neben dem Fahrer. Er stellte das leere Glas auf die Gummimatte vor seine Füße und hielt Taras die offene Hand hin, auf der ein nasses graues Körnchen lag, ein kleiner Stein von der Größe eines Buchweizenkorns. Taras schaltete das Deckenlicht ein, nahm das Körnchen behutsam mit zwei Fingern und betrachtete es.
»Was wollen Sie überhaupt damit?«, fragte der Pole mit heiserer Stimme, die noch gepresst klang vom gerade durchlittenen Schmerz.
»Zur Erinnerung«, antwortete Taras ruhig und leise. »Damit ich etwas habe, was ich den Kindern zeigen kann, [24] wenn sie fragen: Was hast du früher eigentlich gemacht, Papa?«
Das müde Lächeln ließ sein Gesicht freundlich aussehen.
»Du hast Kinder?«, fragte der Pole gleichgültig auf Polnisch. Er flüsterte jetzt fast.
»Nein, auch keine Frau.«
»Wie alt bist du?«
»Siebenunddreißig.«
»Oh! Du bist ja jünger als dein Auto.« Der Fahrgast lächelte.
»Nein, das Auto ist jünger. Ein paar Jahre.«
Der Pole zog ein Portemonnaie aus der Innentasche seiner Jacke heraus.
»Hier«, er reichte Taras einige Zwanzig-Zloty-Scheine.
»Soll ich Sie zum Hotel fahren?«, fragte Taras höflich.
»Ich gehe zu Fuß. Ich bin im ›Alten Krakau‹, nicht weit.« Der Pole hatte wieder zu gebrochenem Russisch gewechselt.
Als er allein war, schloss Taras sich in seinem Auto ein. Er zog aus dem Handschuhfach ein kleines Plastikröhrchen, das früher einmal homöopathische Globuli enthalten hatte, und ließ den Stein, den er vom Polen bekommen hatte, hineinfallen.
Er wollte ein bisschen schlafen. Er kippte seinen Fahrersitz nach hinten, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Im Auto war es dunkel, warm und gemütlich. Die Wärme reichte für eine halbe Stunde oder Stunde, danach würde die Kälte ihn von selbst wecken.
[25] 3
Die feuchte Luft, die durch das leicht heruntergekurbelte Fenster in den Innenraum des Opels drang, streifte Taras’ Wangen. Er wachte auf. Schlaftrunken griff er sofort in seine Jackentasche und zog die Zloty heraus, die er in dieser Nacht verdient hatte. Er knipste das Licht an. Sein Blick, der auf die Geldscheine in seinen Händen gerichtet war, wurde konzentrierter.
Er sah auf die Uhr. Halb fünf.
Die Scheinwerfer erhellten den feinen Nebel und leuchteten etwa achtzig Meter weit.
Taras stieß ein erfreutes »Hm« aus, weil der Nebel lichter wurde. Am alten Opel zogen langsam die Häuser der Schpytalna vorbei.
Er hatte diesen Herbst so satt. Regen, Nebel. Fast wie in London, wo er noch nie gewesen war. Bis zum Sommer war es noch lang. Es wäre jedoch nicht schlecht gewesen, jetzt in den Sommer zu fahren, irgendwohin, wo es warm war. Im Meer oder in einem Fluss baden…
Taras’ Gesicht nahm einen eindeutig leidenden Ausdruck an. Wem war in den Sinn gekommen, diese prächtige Stadt so weit vom Meer entfernt zu erbauen? Noch schlimmer, überhaupt weit weg vom Wasser! Überall nur trockenes Land, der nächste See erst in Wynnyky, aber dort war im Sommer alles voll. Vielleicht sollte er weggehen? Nach Odessa ziehen?! Odessa war auch eine tolle Stadt, die außerdem am Meeresufer lag!
Vor ihm tauchte seine Lieblings-Geldwechselstube auf. Im Fenster leuchtete ein helles gelbes Licht. Manchmal fuhr [26] Taras drei- bis viermal pro Woche zu diesem Fenster in der Iwan-Franko-Straße. Natürlich nur, wenn er Arbeit hatte. Ab und zu kam er auch eine ganze Woche lang nicht hierher. Dann blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Hause zu sitzen, Bücher und Zeitungen zu lesen und im Internet zu stöbern.
Er hätte ebenso gut und ohne besondere Ansprüche auch in Odessa leben können, ebenfalls im ersten Stock. So wie hier in Lemberg. Er hätte nichts dagegen gehabt, selbst wenn das nur in seiner Vorstellung existierende Haus in Odessa auch so eigentümlich geräuschdurchlässig gewesen wäre wie hier und die Holzstufen ebenso geknarzt hätten. Das wäre ihm völlig egal gewesen. Hauptsache das Meer in der Nähe! Und Leute um ihn herum! Und wenn es Leute gab, dann würden sich auch Kunden finden und er hätte sein sicheres Einkommen. Das Wichtigste wäre, in Odessa schlechte Straßen aufzutun. Aber sollte das ein Problem sein? Es gab wahrscheinlich keine Stadt in der Ukraine, in der es an holprigen Kopfsteinpflasterstraßen mangelte!
Das Auto hielt gegenüber der Wechselstube. Taras stieg aus, ohne den Motor abzustellen. Er ging zu dem erleuchteten Fenster.
Das Fensterchen mit den dicken Gitterstäben und dem kleinen Schlitz unten für den direkten Kontakt mit den Kunden gewährte durch das saubere Glas einen Blick auf eine nett aussehende junge Frau – die Angestellte dieser 24-Stunden-Wechselstube, die nachts immer da war. Taras wusste nicht, wer bei Tag hier arbeitete. Irgendwie gelang es ihm nie, die Dienste der Wechselstube tagsüber in Anspruch zu nehmen.
»Einen schönen guten Abend«, sagte Taras mit einem [27] Lächeln, blickte der jungen Frau in die Augen und schob sein ehrlich erarbeitetes Geld durch den Schlitz.
»’n Abend«, erwiderte sie und nickte.
Ihre Hand im durchsichtigen weißen Stoffhandschuh, der unter dem Ärmel ihres roten Pullovers verschwand, nahm die Geldscheine.
Taras sah, wie die junge Frau jeden Schein einzeln in der Hand umdrehte.
»Hier bitte«, sagte sie und schob Hrywni durch den Schlitz.
»Ist Ihnen nicht kalt da drin?«, fragte Taras scherzhaft und blickte weiterhin auf ihre schlanken Finger, die sich unter dem Stoff der Handschuhe verbargen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, antwortete sie. »Ich habe einen Heizlüfter.«
»Ich hätte Sie auf einen Kaffee eingeladen… Wenn Ihnen kalt gewesen wäre.«
»Wenn mir kalt ist, werde ich Sie schon selber fragen!«, erwiderte sie ein wenig giftig.
Auf dem Weg zurück zum Auto drehte sich Taras für einen Augenblick um. Das Gesicht der jungen Frau war von hier nicht zu erkennen. Die grelle Lampe in der Wechselstube leuchtete so hell, dass es in den Augen weh tat.
Taras parkte den Opel bei seinem Haus in der Pekarska und ging zu Fuß in das nächstgelegene Internetcafé.
Der Raum war kaum beleuchtet. Es gab ein paar Tische mit Computern, links einen nackten Tresen, rechts davon einen Kühlschrank mit einer Glastür, hinter der reihenweise Bier-, Cola- und Wasserflaschen standen. Aber es war niemand da.
[28] »Hallo«, rief Taras halblaut. »Ist hier wer?«
»Was? Wer ist da?«, bellte eine Männerstimme hinter dem Tresen hervor.
Taras trat näher und sah einen jungen Mann, verschlafen, mit zerknittertem Gesicht, in einem sackartigen Pullover.
»Was wollen Sie? Internet?«, fragte er schlaftrunken und stützte sich schwer mit den Handflächen auf den Tresen.
»Nein, zuerst will ich ein Bier, dann einen Kaffee.«
»Kaffee haben wir keinen. Bier gibt’s. Nehmen Sie es aus dem Kühlschrank.«
Taras nahm eine Flasche heraus und streckte sie dem jungen Mann hin. Der öffnete sie und holte ein sauberes Glas.
»Soll ich Ihnen vielleicht doch Internet anmachen?«, schlug er vor.
»Von mir aus«, sagte Taras achselzuckend.
Der junge Mann setzte sich an einen Computer. Der Bildschirm wurde hell, und vor dem blauen Hintergrund reihten sich die Icons der Programme auf.
»Bitte schön, setzen Sie sich!« Er überließ Taras den Platz.
Taras ließ sich auf den Stuhl fallen, rückte die Tastatur etwas weiter weg, goss sich Bier ins Glas und nippte daran. Dann zog er das weiße Plastikröhrchen für homöopathische Globuli aus der Jackentasche und öffnete es. Er schüttete sorgfältig zwei Dutzend kleine Steinchen auf den Tisch. Einige waren dunkler, andere heller, aber alle waren grau. »Gibt es hier eine Lupe?«, rief er in Richtung Tresen.
»Nein«, antwortete der junge Mann.
»Und Papier?«, fragte Taras.
Der junge Mann brachte ein leeres Blatt.
[29] Sofort schob Taras die Steinchen mit der Handfläche auf das weiße Papier. So waren sie besser zu sehen.
»Was ist das?«, fragte der immer noch verschlafene »Internet-Barmann«, der hinter seinem Kunden stehen geblieben war.
»Das?«, fragte Taras zurück und drehte sich um. »Das sind Heilsteine«, scherzte er.
»Und was heilen die?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich muss erst ein paar Versuche machen…«
Der junge Mann bedachte Taras mit einem misstrauischen Blick und ging dann zurück zum Tresen.
Nachdem Taras das Bier ausgetrunken hatte, schüttete er die Steinchen sorgfältig vom Papier zurück ins Plastikröhrchen und steckte es in die Jackentasche.
Der Nebel über Lemberg hob sich bereits, als drückten ihn die Straßen selbst nach oben.
Die Tür zum Treppenhaus knarrte. Taras blickte die Holzstufen an, von denen jede ihren eigenen Ton von sich gab, wie die Tasten eines verstimmten Klaviers. Die fünfte Stufe war die lauteste und durchdringendste. Ihr Geräusch weckte aus irgendeinem Grund immer sofort den Nachbarn aus dem Erdgeschoss, den nachtragenden Jerzy Astrowski, einen ehemaligen Friseur, ehemaligen Banja-Wart, ehemaligen Buchbinder und ehemaligen Aufpasser im Supermarkt. Jetzt konnte man Jerzy Astrowski schlichtweg als »ehemalig« bezeichnen. Er arbeitete nirgends mehr, trank aber regelmäßig, und wenn er betrunken war, suchte er Gesprächspartner, allerdings ausschließlich nüchterne. Regelmäßig begann er Streit mit Taras wegen des Lärms auf der [30] Treppe, aber an seinem schmalen, zierlichen Gesicht mit den feinen Zügen erkannte Taras, dass der Nachbar sich vermutlich einfach nach Zuwendung und Mitgefühl sehnte oder zumindest nach Beachtung, diese jedoch nicht erhielt und daher Streit begann.
Taras übersprang die fünfte Stufe, stieg noch etwa ein Dutzend weitere hinauf und betrat seine Wohnung.
Er schaltete das kleine Radio an, das schon seit Urzeiten auf dem Küchentisch stand, es spielte leise die ukrainische Hymne.
»Sechs Uhr.« Taras gähnte. »Zeit fürs Bett. Wer sich zu den Klängen der Hymne hinlegt, dem gibt Gott!«
Seit der Schulzeit bemühte sich Taras, Worten stets Taten folgen zu lassen. So auch jetzt. Fünf Minuten nachdem er diesen Satz gesagt hatte, legte er sich hin und versuchte langsam in Gedanken nachzurechnen, was Gott ihm für die Arbeit der vergangenen Nacht gegeben hatte. Was und wie viel?
4
Durch die Lüftungsklappe im Fenster drang außer kühler Feuchtigkeit auch noch das Bimmeln der nahen Straßenbahn in Taras’ Einzimmerwohnung herein. Aber Taras schlief friedlich. Er träumte vom grobschlächtigen, rücksichtslosen Schirinowski, dem russischen Nationalisten, und aus irgendeinem Grund sprach Schirinowski in seinem Traum Ukrainisch und sagte: »Die Ukraine muss von einem Meer zum [31] anderen reichen! Wir tunken die ukrainischen Stiefel noch in den Indischen Ozean!«
Da träumte Taras, er schlafe und sehe diesen Schirinowski im Traum, aber denke gleichzeitig, sozusagen in einer höheren, bewussteren Schicht seines Traumes, darüber nach, dass die Ukraine ihre eigenen Schirinowskis brauchte, durch und durch ukrainische. Selbst wenn sie berüchtigte Demagogen und sogar Idioten wären, dem ukrainischen Volk würden sie trotzdem hingebungsvoll dienen, es Wachsamkeit gegenüber dem Feind lehren und ihm den Begriff ›Feind des Vaterlandes‹ vernünftig erklären. Ein Klingeln an der Tür riss ihn aus dem Schlaf. Taras schlug die Augen auf. Das Klingeln war schon verstummt, aber sein Echo klang immer noch in der Luft der Wohnung und in den Ohren nach.
Er erwartete niemanden, also konnte jetzt nur der Nachbar von unten an seiner Tür klingeln. Aber weshalb? Denn Taras erinnerte sich sehr genau daran, wie er die fünfte Treppenstufe übersprungen hatte.
Taras schlüpfte in seinen weißen Frotteebademantel, den ein befreundeter Banja-Wart aus dem Hotel ›Georges‹ vom dortigen Bestand abgezweigt hatte. Er zog Pantoffeln an und schlurfte zur Wohnungstür.
Vor ihm stand Oxana, seine alte Bekannte, in einem graugrünen langen Mantel. Auf dem Gesicht das ewige Lächeln, hinter dem sich alles verbergen konnte, von ironischer und gereizter Laune bis zu fröhlicher und festlicher. Vor ihr auf dem Boden stand eine enorme Einkaufstasche mit einem Reißverschluss.
»Hast du etwa nicht mit mir gerechnet?«, fragte Oxana [32] verwundert und musterte seinen Frotteebademantel mit dem in Rot aufgenähten ›Georges‹ auf der Brusttasche.
»Nein«, gestand Taras, ohne sich zu rühren.
»Was stehst du so da?« Oxanas Lächeln verschwand. Sie blickte auf ihre Tasche. »Trag sie rein! Aber vorsichtig!«
Unter ihren gemeinsamen Freunden und Bekannten war es üblich, dass man Oxana gehorchte. Nicht, weil sie das Kommando führte oder stets bestimmte, wer was tun sollte. Nur hatte die Natur ihr, auch wenn sie Schauspielerin war, den Charakter einer Regisseurin mitgegeben.
Taras hob die Tasche hoch, spürte gleich ihr ganzes Gewicht und ging damit langsam rückwärts durch den Flur. Oxana kam hinter ihm herein. Sie schloss die Wohnungstür, nahm den Mantel ab, hängte ihn an den Garderobenhaken und zog sich die Stiefel aus.
»Komm, lass dich küssen! Die Ohren ziehe ich dir anschließend lang!« Sie streckte die Arme nach Taras aus, der verwirrt am Tisch stehen geblieben war.
»Was ist los, habe ich Geburtstag?«, fragte er. »Was ist denn heute für ein Tag?«
Oxana lachte auf. »Schau in deinem Pass, was heute für ein Tag ist! Der achtzehnte September!«
»Na so was!«, seufzte Taras.
Im nächsten Augenblick war er in Oxanas starken Händen. Wie ein warmer Schraubstock drückte sie seine Schläfen mit beiden Handflächen und zog seinen Kopf zu ihren Lippen.
»Also, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Tarasik!!!!!«, sagte sie und küsste ihn schmatzend zuerst auf den Mund und dann, wie ein Kind, auf Stirn und Wangen.
[33] Als sie den Kopf des Geburtstagskindes losgelassen hatte, sah Oxana sich um.
»Wo ist der Sekt? Im Kühlschrank?«
»Ich bin gleich wieder da, fünf Minuten…«, sagte Taras hastig. »Ich ziehe mich nur um. Ich habe gerade rechtzeitig Geld gewechselt!«
Er warf den Bademantel auf das ausgezogene Schlafsofa und schlüpfte in Hose und Pullover.
»Eine Sekunde!«, rief er, schon an der Wohnungstür.
Und die Tür fiel krachend zu. Die Treppenstufen ächzten laut unter seinen Tritten.
Oxana setzte sich auf einen Stuhl. Plötzlich zog ein kaum hörbares Summen hinter der Tüllgardine am Fenster sie an.
Sie ging hin, schob die Gardine zur Seite und erblickte auf der breiten Fensterbank ein selbstgebautes kleines Gewächshaus aus Plexiglas, in dem runde, kleine, stachellose Kakteen wuchsen. Über ihnen leuchteten drei schmale Tageslichtlämpchen.
Oxana war so in die Betrachtung der seltsamen nackten, in Plastikbechern wachsenden Kakteen vertieft, dass sie nicht hörte, wie die Tür aufging und Taras mit einer Tüte in der Hand hereinkam.
»So, Sekt haben wir jetzt!«, verkündete er fröhlich.
Schnell holte er zwei Weingläser aus dem alten Buffet und packte Schinken und Wurst, beides schon im Laden aufgeschnitten, sowie Käse aus der Tüte aus.
»Warte, und das Geschenk?«, unterbrach Oxana sein Hin und Her. »Hier, komm!«
Sie beugte sich zu ihrer Tasche hinunter, öffnete den Reißverschluss und hielt sie weit auf.
[34] Als Erstes zog sie ein nagelneues kleines Aquarium heraus und legte es dem Geburtstagskind in die Hände.
Taras hockte sich neben sie hin und stellte das Aquarium auf die Holzdielen. Die Verwunderung war ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Blick hing an der Tasche, als würde Oxana dort jetzt gleich, wie eine Zauberkünstlerin, ein riesiges Kaninchen an den Ohren herausziehen.
»Nimm und verteil sie schön auf dem Grund!« Oxana reichte Taras einen schweren Beutel mit Strandkieseln.
Allmählich wurde Taras’ Stimmung wirklich festlich. ›Oxana ist schon toll‹, dachte er. ›Immer schafft sie es, einen zu überraschen!‹
Nach dem Beutel mit den Strandkieseln kam aus der Tasche eine Sechsliterflasche mit grünlich-trübem Wasser zum Vorschein.
»Ich bin extra nach Wynnyky an den See gefahren«, erklärte Oxana dessen Herkunft. »Da siehst du, wie viele Kilometer meine Tscheburaschka heute für dich gefahren ist! Gieß es rein, aber vorsichtig!«
Taras füllte das Aquarium, und schon erschien vor ihm ein durchsichtiger Beutel, in dem, ebenfalls in Wasser, allerdings vollkommen klarem, Algen wogten, die in braunen Mini-Plastiktöpfchen wuchsen.
»Dieses Wasser auch da hinein?«, fragte Taras vorsichtig.
»Nur zu!«
Das Geburtstagskind ließ die drei Töpfchen mit den Algen ins Aquarium hinunter, und ihre langen Blätter wiegten sich in dem Wasser, das Taras’ Hände in Unruhe versetzt hatten.
Aus der Tasche kam ein weiterer Beutel mit klarem [35] Wasser, in dem nervös, mit kurzen Sprüngen, rot-blaue, fingerlange exotische Fischlein schwammen.
»So, jetzt hast du es hier nicht mehr so einsam!«, sagte Oxana und betrachtete stolz ihr Geschenk. »Ich hoffe, du bist begeistert?«
»Ich bin sprachlos!« Vielsagend schüttelte Taras den Kopf. »Aber wo stellen wir es hin?«
»Wieso, wohin?«, fragte seine Besucherin. »Auf deiner Fensterbank ist gerade genug Platz! Neben den Kakteen.«
»Aber dorthin wollte ich ein weiteres Gewächshaus… Vielleicht lieber auf die Fensterbank in der Küche?«
»Stell da lieber dein zweites Gewächshaus hin!«, unterbrach Oxana ihn entschieden. »Die Küche ist kein Ort für lebende Fische! Sie könnten dich falsch verstehen!«
Taras lachte.
»Können sie die Menschen denn verstehen?«
»Nicht jeden, aber solche wie dich schon. Wenn du dich anständig ihnen gegenüber verhältst. Übrigens sind das sehr nützliche Fische, stell dir nur vor! Eines Tages werden sie dir das Leben retten!«
»Oho!« Taras lächelte breit.
»Diese Art lebt in japanischen Seen und spürt es, wenn ein Erdbeben naht! Kapiert? Wenn sie plötzlich anfangen, an der Oberfläche Achten zu schwimmen, kannst du sofort auf die Straße hinauslaufen!«
Taras war verstummt. Sein Gesicht war ganz ernst geworden. Er vertiefte sich in den Anblick der rot-blauen Fische, die friedlich und ohne Hast ihr neues Wasserreich in Besitz nahmen.
»Meinst du denn auch, dass es bald ein Erdbeben gibt?«
[36] »Auf jeden Fall muss man sich vorbereiten! Wie viel ist schon darüber geschrieben worden! Die Berge sind doch ganz nah. Na, stell die Fische auf die Fensterbank, und schenk ein!«
Taras hob das Aquarium behutsam hoch. Mit den Ellenbogen schob er die Gardine zur Seite und stellte es auf die Fensterbank rechts neben das Gewächshaus.
»Wieso rasierst du denn die Kakteen?«, fragte Oxana hinter ihm.
»Diese Art ist so! Sie sind von Natur aus kahl. Das sind Lophophora williamsii, ganz besondere Kakteen! Mit ihrer Hilfe haben die Azteken und Maya mit ihren Göttern geredet.«
Kaum hatte Taras den Sektkorken an die hohe Decke geschossen, da drückte jemandes Finger kräftig auf den Klingelknopf an der Wohnungstür.
»Hol ihn der Teufel!«, entfuhr es Taras. »Der alte Mistkerl. Natürlich muss er den Augenblick verderben!«
»Wer ist das?«
»Mein Nachbar! Ich bin aus Versehen auf die fünfte Stufe getreten, verstehst du… Als ich den Sekt holen gegangen bin… Und deshalb macht er jedes Mal einen Aufstand.«
Taras trat zur Tür, die in den Flur führte.
»Bleib hier!«, hielt Oxana ihn entschlossen auf. »Ich geh selbst.«
Vor der Wohnungstür stand ein Mann im Trainingsanzug mit ziemlich zerknittertem Gesicht und zerzaustem, leicht lockigem Haar. Sein erboster Gesichtsausdruck wich unter Oxanas herausforderndem, fragendem Blick und wurde entschuldigend-neutral.
[37] »Sind Sie gekommen, um Taras zum Geburtstag zu gratulieren?!«
»Ich?«, fragte er entgeistert nach. »Wie, heute…? Ja, ja, natürlich!«
»Und wo ist die Flasche?«, fragte Oxana und blickte vielsagend auf die fest verschränkten Hände des Nachbarn.
»Die Flasche?«, wiederholte der, von der unerwarteten Situation völlig aus der Bahn geworfen. »Die Flasche… Wodka?«
»Nun ja, die Flasche Wodka!«, bestätigte Oxana. »Holen Sie sie! Wir warten. Richtig, Taras?« Sie warf einen Blick über die Schulter.
»Mhm«, erklang die unsichere Stimme des Hausherrn.
Der Nachbar eilte die Stufen hinunter.
»Ich lasse die Tür auf!«, rief Oxana ihm hinterher. »Aber machen Sie schnell!«
Fünf Minuten später erschien er wirklich mit einer Flasche Wodka in den Händen. Und er trug nun auch einen ungebügelten braunen Anzug. Auf seinem hellrosafarbenen Hemd sträubte sich eine kurze und breite grüne Krawatte, das Hemd war achtlos in die Hose gestopft, an den nackten Füßen trug er Pantoffeln.
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein!«, rief Oxana ihm aus dem Zimmer zu. »Danke, dass Sie sich dem Anlass entsprechend umgezogen haben!«
Am runden Tisch saßen bereits das Geburtstagskind und sein Gast. Drei gefüllte Sektgläser luden dazu ein, sofort zur Tat zu schreiten.
Der Nachbar setzte sich auf den freien Stuhl, stellte seine [38] Wodkaflasche neben die Sektflasche und sah die Frau fragend an, die nicht nur wie ein Kommandant redete, sondern auch einen unerbittlichen Blick hatte.
»Wenn ich dürfte«, begann er. »Ich heiße Jerzy Astrowski…«
Oxana nickte und griff nach ihrem Glas.
»Ich bin ein ehemaliger Friseur und könnte Ihnen einen Rat geben…«
»Später«, unterbrach ihn Oxana und wies mit dem Blick auf Taras. »Zuerst einen Toast auf das Geburtstagskind!«
»Ja, natürlich.« Jerzy nahm sein Glas. »Ich gratuliere! Als Ihr Nachbar wünsche ich Ihnen Frieden… Liebe« – dabei sah er schnell zu Oxana hinüber –, »Glück und, die Hauptsache: dass Geld im Haus ist… So.«
Der Trinkspruch belebte Taras, der angesichts seines unvermutet eingetretenen Geburtstags immer noch ganz verwirrt gewesen war.
Die drei Gläser trafen sich über dem Tisch, auf dem ein gelbes Tuch mit den unauslöschlichen Spuren früherer Feste lag. Aus dem Glas des Geburtstagskinds spritzten ein paar Sekttropfen heraus und fielen auf die aufgeschnittene Salami.
»Danke!« Taras nickte. »Ich bin sehr gerührt.«
Der Nachbar trank seinen Sekt auf einen Zug. Taras, der ihn beobachtet hatte, tat dasselbe. Nur Oxana hielt sich zurück, ihr Glas war noch fast voll. Sie öffnete gekonnt die Wodkaflasche.
»Als mein Vater bei der Armee war«, sagte Oxana und blickte von dem Gastgeber zu seinem Nachbarn, »mixte er mit seinen Freunden immer den Cocktail ›Polarlicht‹. Und – kein Problem! Keinem war hinterher schlecht.«
[39] »Was für ein Cocktail ist das denn?«, erkundigte Taras sich lebhaft.
»Man gießt ein halbes Glas Wodka in ein halbes Glas Sekt.«
Jerzy Astrowski zuckte zusammen, als er das Rezept des Cocktails erfuhr.
»Ich glaube, ich gehe«, sagte er leise, den Blick auf die Wodkaflasche in Oxanas Hand geheftet.
»Nein, Sie können nicht so schnell gehen! Das ist nicht nachbarschaftlich!«, sagte Oxana weicher.
Der Nachbar nickte ergeben.
Das Geburtstagskind schenkte sich und dem Nachbarn je ein halbes Glas Sekt ein, und Oxana füllte die Gläser mit Wodka auf. Die Zeit des »Polarlichts« war gekommen.
»Sie müssen mir etwas versprechen«, wandte Oxana sich am Ende ihres kurzen Gelages an Jerzy.
»Was?«, fragte der erschrocken und umklammerte das leere Glas in seiner Hand.
»Erinnern Sie Taras daran, dass er jetzt nicht mehr allein lebt!«, bat Oxana.
Nachdenklich und etwas bestürzt sah Jerzy sich um.
»Erinnern Sie ihn daran, dass er die Fische täglich füttern muss.« Oxana wies mit dem Kinn zur Fensterbank. »Und vereinbaren Sie mit dem Wohnungsamt, dass die die Treppenstufen reparieren.«
»Ich habe es denen doch schon hundertmal gesagt, aber sie wollen fünfzig Hrywni dafür!« Aus dem Nachbarn brach sein üblicher Ärger hervor.
Oxana zückte schweigend ihr Portemonnaie und nahm fünfzig Hrywni heraus.
[40] »Oxana! Ich mache das! Ich habe genügend!« Taras, auf dessen Gesicht sich schon die Auswirkungen des Cocktails widerspiegelten, hob die Hand über dem Tisch. Seine Finger umklammerten fest ein paar zerknitterte Scheine, die er aus der Hosentasche seiner Jeans gezogen hatte.
»Aber ich…« Jerzys Blick flog von dem Fünfziger in Oxanas Hand zu den zerknitterten Zwanzigern in Taras’ Faust. »Ich organisiere das. Wirklich!«
Vorsichtig zog er Taras drei Zwanziger aus den Fingern, stand auf, nickte zum Abschied und ging.
»Soll ich dir das Geschirr spülen?«, fragte Oxana.
»Lass nur, ich mach es selbst!«
»Na gut«, sagte sie. »Ich muss jetzt auch los, ich habe noch zu tun! Denk an die Fische!«
Als er wieder allein war, trat Taras ans Fenster und beobachtete eine Weile die Fische, die ruhig um die Wasserpflanzen herumschwammen.
»Heute gibt es anscheinend kein Erdbeben«, flüsterte Taras bei sich. »Das heißt, ich kann noch ein bisschen schlafen.«
5
Alik und Audrjus wachten noch vor Untergang der an diesem Tag nicht sichtbaren Sonne auf. Vor Aliks Fenster, ganz am Ende der Samarstyniwska, versuchte der von tiefhängenden Wolken verschleierte Tag sich noch zu halten. In den Köpfen der beiden rauschte es etwas, wahrscheinlich wegen des Gläschens ›Nemirow‹-Wodka und der paar Gläschen [41] vom litauischen Kräuterschnaps ›999‹, die sie zum Gedenken an Jimi Hendrix getrunken hatten. Sie hatten in ihren Kleidern geschlafen, Alik auf der Decke seines ständig ausgezogenen Sofas, Audrjus direkt im Sessel.
»Wie geht es in Vilnius so?«, fragte Alik und rieb sich die Augen.
»Keine Ahnung«, antwortete Audrjus und zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja umgezogen. Ich habe jetzt einen Hof etwa vierzig Kilometer von Vilnius entfernt. Ringsum keine Menschenseele.«
»Das ist gut.« Alik nickte. »Ich wünsche mir auch manchmal, es gäbe ringsum keine Menschenseele! Aber das Gegenteil hat ebenfalls seinen Reiz… Allerdings gibt es hier ja nur meine Stiefmutter und ein paar friedliebende Nachbarn. Irgendwie habe ich ein Loch im Bauch…«
»Ich könnte auch was essen… und trinken.
»Hast du denn etwas zum Essen da?«
Alik schüttelte den Kopf. »Ich faste jedes Jahr vor dem 17. September… zum Abnehmen…«
»Wie wäre es, wenn wir irgendwo was essen gehen?«, schlug der Litauer vor.
Alik dachte nach. »Wir könnten zu der 24-Stunden-Tschebureki-Stube am See… Tschebureki ohne Bier geht aber nicht… Was meinst du, hat unser Geheimdienstler die Wahrheit gesagt? Du warst doch dabei…«
»Mein Gedächtnis funktioniert nicht auf leeren Kopf und klaren Magen«, seufzte Audrjus.
»Hast du da jetzt nicht was verwechselt?« Alik blickte seinen Kumpel an.
»Was hab ich verwechselt?«, wunderte sich Audrjus.
[42] »Na… leerer Kopf… klarer Magen…«
»Hm. Das habe ich gesagt?! Ich vergesse das russische schon langsam, auf dem Hof ist niemand, mit dem ich russisch reden könnte.«
»Du hast doch sowieso gesagt, dass es niemanden in der Nähe gibt und du auf dem Hof allein bist.«
»Sag ich doch, dass ich mit niemandem russisch reden kann!« Audrjus nickte, um seinen Worten mehr Überzeugungskraft zu verleihen. »Hast du vielleicht Riga-Sprotten?«, fragte er. »Früher hatte jeder immer einen Vorrat an Riga-Sprotten!«
»Woher soll ich Riga-Sprotten haben?! Gehen wir!« Alik erhob sich schwungvoll.
Draußen roch es nach modrigem Wald. Hinter der lichten Reihe von Kieferstämmen schimmerten Autos, die in Richtung Brjuchowytschi brausten.
Im Rücken der beiden für ihr Alter guterhaltenen Hippies wurde ein Auto angelassen. Alik drehte sich um und erblickte hinter der Frontscheibe des gelben Moskwitsch das Gesicht seines Nachbarn aus dem Hof. Er winkte ihm zu.
»Soll ich euch mitnehmen?«, fragte der Nachbar höflich, nachdem er die Wagentür einen Spalt geöffnet hatte.
Sie setzten sich auf die Rückbank, die hart war und wegen der hervorspringenden Federn ein wenig pikte.
Das Auto fuhr auf die Straße und bog nach links in Richtung Stadt ab.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte der Fahrer und drehte sich halb um.
»Ich hatte an Brjuchowytschi gedacht… an die Tschebureki-Stube…«
[43] »Ich fahre aber in die Powitrjana«, sagte der Nachbar und stieg auf die Bremse.
»Fahr, fahr ruhig!«, forderte Alik ihn auf, denn er hatte keine Lust, aus dem Moskwitsch auszusteigen und wieder auf der Straße vor der Wahl zu stehen, die ihm schon auf die Nerven zu gehen begann. »Ich glaube, da gibt es auch ein Café!«
»Ja, das Café ›Café‹ in der Powitrjana 24!«, bestätigte der Nachbar. »Da sind die Preise wirklich lächerlich. Senik von der Tkazka hat sich da neulich für fünfzehn Hrywni derart betrunken, dass er zwei Tage nicht zur Arbeit gekommen ist… Sie haben ihn dort sogar schlafen lassen, was für ein Service! Versuch mal, bei McDonald’s einzuschlafen! Unmöglich! Sie schmeißen dich raus wie… wie…« Der Nachbar hatte entweder den Faden verloren, oder das nötige Wort war ihm entfallen, deshalb drehte er sich erneut halb zu seinen Fahrgästen um.
»Wie den letzten Dreck?«, schlug Audrjus mit mildem litauischem Akzent eine Variante für das Satzende vor.
»Genau.« Der Fahrer nickte.
Beim Haus Nr.24 in der Powitrjana kletterten die alten Freunde aus dem gelben Moskwitsch.
»Auf dem Rückweg schaue ich bei euch vorbei«, rief ihnen der Nachbar hinterher. »Wenn es klappt, nehme ich euch wieder mit!«
Drinnen war es laut und verraucht, also gemütlich. An jedem Tisch wurden angeregte Gespräche geführt, es wurde Bier getrunken, und zwischen den nicht gepflegten, aber scharfen Zähnen knirschte genüsslich Trockenfisch. Ein [44] paar Schimpfwörter belebten diesen Chor männlicher, durch den Alkohol verlangsamter Stimmen.
»Dahin.« Alik zeigte mit dem Finger in die rechte hintere Ecke.
Dort saßen wirklich nur zwei Personen am Tisch, und es hätten mindestens noch vier dazu gepasst! Ihre Tischnachbarn, der eine in einer frischgewaschenen wattierten Jacke, der andere in Anzug und Krawatte, senkten freundlich die Stimmen, als Alik von der Theke zurückkam und zwei Glas Bier auf den Tisch stellte und einen Teller, auf dem zwei hausgemachte Frikadellen, zwei Salzgurken und zwei handgroße Stockfische schamlos nebeneinanderlagen.
»Sag mir trotzdem, was du denkst! Hat unser KGB-Mann die Wahrheit gesagt?«, fragte Alik, als er seinem litauischen Freund wieder gegenübersaß.
Audrjus zuckte mit den spitzen Schultern. Seine Jacke lag neben ihm auf der Bank, und der dunkelblaue abgetragene Pullover ließ erkennen, wie wenig Fleisch und Fett er auf den Knochen hatte.
»Iss beide!« Alik wies mit einer lässigen, aber nachdrücklichen Kinnbewegung auf die Frikadellen. »Du lebst jetzt in Europa… Da kommt man schwerer über die Runden…«
Audrjus nahm eine Frikadelle mit den Fingern, hielt sie sich vor die Nase, schnupperte und lächelte.
»Vielleicht sagt er die Wahrheit«, meinte er und blickte auf die Frikadelle in seiner Hand. »Denk doch mal nach! In den Staaten ein Grab öffnen, dem Leichnam eine Hand abschneiden, sie in Plastik einschweißen, damit sie nicht stinkt, die Hand über den Atlantik nach Litauen bringen und von [45] da mit dem Zug nach Lemberg… Haben Hippies jemals was von Logistik verstanden?!«
»Was ist das?«, fragte Alik und stellte sein Bierglas ab.
»Siehst du, unsere Jungs hätten das nie alleine hinbekommen.«
»Das ändert die Sache grundlegend«, meinte Alik nachdenklich und setzte sein Bierglas wieder an.
»Was ändert das?« Audrjus blickte seinem alten Freund in die Augen.
»Na ja… unsere Sicht auf die Welt… Jimi Hendrix war ein Feind des Kapitalismus und hatte Fans beim KGB?!«