Jugendliche heute - Besser als ihr Ruf - Tim Bärsch - E-Book

Jugendliche heute - Besser als ihr Ruf E-Book

Tim Bärsch

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Beschreibung

In Zeitungen und im Fernsehen sieht man es jeden Tag: Die Jugend ist dick, doof und gewalttätig! Doch ist es wirklich so? Und wird es immer schlimmer? Der Autor zeigt, dass die Jugend die Phase der meisten Dummheiten (z.B. Straftaten) ist, war und bleiben wird. Er zeigt ebenfalls, dass die Medien übertreiben und einzelne Extremfälle als Maßstab für die gesamte Jugend nehmen. Am Ende des Buches steht das Fazit: Die Jugendlichen heute sind besser als ihr Ruf. Dieses Buch liefert Fakten, Wissenswertes und diverse Statistiken zu den entsprechenden Themen. Es sollen nicht nur pädagogische Fachleute angesprochen werden, deshalb verzichtet der Autor auf fachchinesische Begriffe. Die Informationen werden komprimiert, vereinfacht, klar und mit einer Prise schwarzem Humor vermittelt.

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Fakten und Anregungen zu den Themen Jugendkriminalität, Übergewicht, Vorurteile, Sucht, Schule und Gewaltprävention

BaER® Schulungszentrum Essen

Deeskalation, Gewaltprävention und Coaching Tim Bärsch

Inhaltsverzeichnis

VOR-DENKEN

GEWALT

1.1 Was ist Gewalt?

1.1.1 Gewalt ist nicht lustig

1.1.2 Das ist Gewalt

1.1.3 Die Natur Gewalt

1.1.4 Gewalt ist Stress

1.1.5 Zivile Courage

1.2 Wissenswertes

1.2.1 Aggressivität ist ein Fehler im Gehirn

1.2.2 Bauch schlägt Kopf

1.2.3 Jeder Kampf hat ein Vorspiel

1.2.4 Körper – Macht – Gewalt

1.2.5 Ändern ist nicht leicht

1.2.6 Andere Länder – andere Sitten

1.3 Situation heute

1.3.1 Die heutige Welt

1.3.2 Die heutige Jugend

1.3.3 Dick und besonders doof

1.3.4 Die früheren Jugenden

1.3.5 Die heutige Schule

1.3.6 Heute gibt es mehr Gewalt

PROBLEMLAGEN

2.1 Gründe für Gewalt

2.1.1 Das Fernsehen ist an allem schuld

2.1.2 Ballern macht blöd und gewalttätig

2.1.3 Es war der falsche Freundeskreis

2.1.4 Die Jugend gehorcht nicht mehr

2.1.5 Die nehmen alle Drogen

2.1.6 Gewalt lernt man in der Familie

2.1.7 Es sind die bösen Gene

2.1.8 Die Gesellschaft trägt die Verantwortung

2.2 Ernährung

2.2.1 Die liebe Industrie

2.2.2 Chemie im Essen

2.2.3 Zuckersüß ist das Leben

2.2.4 Fette sind humorvoll und gemütlich

2.2.5 Auswirkungen der Ernährung

2.2.6 Richtige Ernährung

2.2.7 Fazit

2.3 Vorurteile

2.3.1 Die haben doch alle ein Messer

2.3.2 Die meisten Straftäter sind jugendlich

2.3.3 Nur Männer sind gewalttätig

2.3.4 Gewalttäter sind selbstbewusst

2.3.5 Man sieht denen das schon an

2.3.6 Heute haben alle AD(H)S

2.3.7 Früher war alles besser

LÖSUNGEN

3.1 Grundlagen

3.1.1 Haltung

3.1.2 Flexibilität

3.1.3 Stressbewältigung

3.1.4 Kommunikation

3.2 Pädagogische Ansätze

3.2.1 Früh ansetzen

3.2.2 Verantwortung

3.2.3 Der emphatische Ansatz

3.2.4 Der konfrontative Ansatz

3.2.5 Demokratie lernen

3.3 Gesellschaftliche Lösungen

3.3.1 Einfache Lösungen

3.3.2 Härtere Strafen

3.3.3 Politik soll handeln

3.3.4 Die Medien

3.3.5 Seien Sie Vor-bild

NACH-DENKEN

UM-DENKEN

QUER-DENKEN

INFORMATIONEN

Literaturempfehlungen

Weiterführende Literatur

Internetseiten

Autor

Vor-denken

„Das Jahrtausend war noch jung. Die Menschheit hatte der Natur viele Geheimnisse entrissen. Wissenschaft und Technik verdrängten den Glauben an das Übernatürliche. Doch das Böse existierte und es war schlau. Aus dem Dunkeln griff es an und holte sich seine Opfer.“ (Hörspiel John Sinclair Edition 2000)

In einer Werbung aus den 90er Jahren steht ein Mann mit seinem Auto im Stau. Vor ihm schaut ein fetter und hässlicher Junge aus dem Rückfenster. Das Kind zieht Grimassen und streckt die Zunge heraus. Dieser „ungezogene Abschaum“ steht für alles, wie die Jugend gerne gesehen wird: dick, doof und böse (ungezogen). Den möchte man doch zurechtweisen oder eine Tracht Prügel verpassen. Schließlich hat er es verdient. In dem Werbespot kommt nun die Rache. Der Mann zuckt unter dem Lenkrad eine Portion Pommes von McDonalds hervor und isst diese genüsslich vor den Augen des Kindes. Traurigkeit und Enttäuschung beim Dicken. Der Zuschauer hat seine Genugtuung und seinen Spaß. Der dicke Junge wurde für seine Leistung bestimmt in der BigMac-Währung bezahlt.

Mein Ziel mit diesem Buch ist es, zu zeigen, dass Jugendliche wirklich so sind: dick, doof und böse. Ich möchte aber auch zeigen, dass es zu dieser Phase gehört und dass die Jugend ein Spiegel der Gesellschaft ist. Außerdem soll das Buch Anregungen zur Vorbeugung geben. Es soll hierbei keinen Quantensprung in der Prävention bringen. Physikalisch gesehen wäre es eine „kleinstmögliche Zustandsänderung, meist von einem hohen auf ein niedriges Niveau“. Und ich möchte natürlich ein höheres Niveau erreichen. (Sie merken, manchmal bin ich ein Klugscheisser und prahle mit meinem unnötigen Wissen. Da ich meine direkte Umwelt nicht dauernd nerven möchte, kommt das alles in dieses Buch.)

Seit langer Zeit beschäftige ich mich mit Jugendkriminalität und ihrer Prävention. Ich liebe Statistiken und schreibe gerne meine Ideen nieder. Dabei geht es nicht immer um absolute Wahrheiten, sondern auch um meine Erkenntnisse. Da ich alles wieder schnell vergesse, schreibe ich es lieber auf.

„Die schwächste Tinte ist besser als das beste Gedächtnis.“

(Chinesisches Sprichwort)

Sonstiges:

Liebe

Leserinnen

, bitte fühlen Sie sich auch angesprochen, wenn ich im Folgenden nur die männliche Form verwende. Die einzigen Gründe dafür sind die bessere Lesbarkeit, die sprachliche Einheitlichkeit und

weil ich ein Macho bin.

Wörter, auf deren

Stamm

und deren

Bedeutung

ich besonders hinweisen möchte, habe ich durch einen Bindestrich getrennt und verbunden.

Humor

(gerade schwarzer Humor) ist meine Art mit schlimmen Themen (z.B. Gewalt) umzugehen. Es ist für mich eine innere Reinigung (Katharsis) und verschafft mir Abstand zu dem Thema. Humor ist durch Kursivschrift gekennzeichnet und ist für das Verständnis des Textes nicht wichtig. (

Manchmal können Sie den Witz vielleicht nicht verstehen oder nicht nachvollziehen. Ist nicht schlimm. Das geht meiner Frau auch oft so. Lesen Sie dann einfach weiter.)

Ich bin

kein Wissenschaftler

, kein Doktor der Kriminalistik oder Professor der Erziehungswissenschaften. Deshalb kann es sein, dass Sachen, die ich schreibe, stark vereinfacht und deshalb nicht zu 100% „richtig“ sind. Es geht hier um die Hauptaussagen,

nicht um Korinthen.

Dass ich mit dem

Fernsehen

aufgewachsen bin, werden Sie an verschiedenen Stellen im Buch bemerken. Das Fernsehen hat mich nunmal geprägt und meine kreativen Vorbilder waren u.a. Peter Lustig, das A-Team, Colt Seavers und Jean Pütz (heute Jack Bauer und Michael Scofield).

Bedanken

möchte ich mich bei meinen (Haupt-)Lehrern, denen ich viel zu verdanken habe und aus deren Lehren sich meine Ideen entwickelt haben: Stefan Tebbe (Kampfkunst WingTsun), Anita Heyer (NLP), Reiner Gall (Konfrontative Pädagogik) und Thomas Schut (Erlebnispädagogik)

Vielen Dank

an: Sibylle Bärsch, Marian Rohde, André Karkalis, Simone Haneke, Holger Schlafhorst, Petra Weinstein, Stefanie Martin, Ralf-Erik Posselt, Samuel Meffire, Frank Langer, Rainer Grebert, Christof Nicpon, Andreas Janßen, Silke Arnold, Kristina Krahn und Frank Müller

Außerdem Dank

an mein MacBook, Meyerbeer- und Senseo-Kaffee, ohne die meine Bücher nicht so schnell möglich gewesen wären. ;-)

Tim Bärsch / Essen im Februar 2012

1 Gewalt

Patrick: „Hast du meine Unterhose gesehen?“ - Sandy: „Äh...Nein.“

- Patrick: „Möchtest Du sie sehen?“

(Dialog aus der Zeichentrickserie Sponge-Bob)

Es gibt einfach Sachen, die möchte man weder sehen noch hören. Gewalt gehört oft zu diesem Bereich. Zuviel davon mitzubekommen ist auf jeden Fall ungesund, egal ob als Opfer, Täter, Zuschauer oder Helfer. Nicht umsonst sind einige meiner pädagogischen Kollegen mittlerweile fix und fertig (neudeutsch „Burnout“), weil sie aus diesem Sumpf kopfmäßig nicht mehr herausfanden.

Es gibt Studien, dass es gesünder ist, nicht die täglichen Nachrichten zu schauen. Nachrichten bringen nunmal hauptsächlich schlechte Meldungen und viel Gewalt. Schon nach einen Monat war eine Gruppe entspannter und nachweislich gesünder, nur weil sie nicht mehr mitbekam, was so in der Welt Schlimmes passiert.

Deshalb: Beschäftigen Sie sich also nicht zu viel mit so schlimmen Dingen, z.B. mit den Themen Jugend und/oder Gewalt. Tja, leider schon zu spät! Jetzt haben Sie dieses Buch gekauft und möchten es natürlich auch lesen.

1.1 Was ist Gewalt?

„Wo ich sitze, ist immer oben.“ (Otto von Bismarck)

Bevor wir in das Thema Gewalt einsteigen, sollten wir erst einmal klären, was Gewalt überhaupt ist. Definitionen aus Büchern herauszuschreiben und in seiner Doktorarbeit zu verwursten, ist auf jeden Fall sehr anstrengend und sehr humorlos. Da kann man als Mensch, der wenig arbeiten möchte (z.B. als Politiker) schonmal auf die Idee kommen, Ghostwriter zu beauftragen oder die Kopierfunktion von Schreibprogrammen zu nutzen. Übrigens heißt die Autobiografie von Großvater Karl Theodor zu Gutenberg „Fußnoten“.

1.1.1 Gewalt ist nicht lustig

„712 Anklagen wegen Erpressung, 849 wegen Betrug, 246 Anklagen wegen Unterschlagung, 87 wegen Verschwörung zum Mord, . . . 527 Anklagen wegen Behinderung der Justiz. Angeklagte, worauf plädieren sie?“ - „NICHT SCHULDIG!“

(aus dem Film „Batman – the dark knight“)

Gewalt kann einen gewissen Witz haben, besonders für Leute mit schwarzem Humor. Voraussetzung ist, dass man selbst nicht Opfer ist und die Opfer nicht kennt und mag. In unserer gewaltarmen Gesellschaft (Falls Sie es nicht bemerkt haben: Dies war schon der erste Witz!) üben immer nurdie anderen Gewalt aus: Die USA, die Nazis, die Araber, die Juden, die Multi-Kulti-Gangs, die Rapper, die Jugend allgemein usw. Man selbst ist am Stammtisch Realist, aber gewaltfrei. Es sei denn, es geht um Kinderschänder, muslimische Terroristen oder den FC Bayern München. Diese haben nun mal den Tod verdient. Mit viel Halb- oder eher BILD-Zehntelwissen wird da gerne über Gott und die Welt geurteilt. Dabei hat die Medaille immer zwei Seiten und so kann Gewalt auch positive Seiten haben: Die staatliche Gewalt, wenn man gerade überfallen wurde oder ein guter Boxkampf. Oder seit die somalischen Fischer ihren Beruf wechselten und gewalttätige Piraten wurden, hat sich der somalische Fischbestand erholt.

Gewalt kann aber auch faszinierend und anziehend wirken. Was macht Gewalt eigentlich so interessant?

Gewalt schafft klare Eindeutigkeit.

Mit Gewalt können Ziele durchgesetzt

werden. Gewalt sichert Privilegien, z.B. Ansehen in einigen Gruppen.

Glückshormone können aktiviert werden.

Gewalt wird oft mit Ehre, Stolz und Männlichkeit verbunden und/oder gleichgesetzt.

1.1.2 Das ist Gewalt

„Der Teufel ist ein Optimist, wenn er glaubt, dass er die Menschen schlechter machen kann.“ (Karl Kraus)

Nun aber zu den Definitionen von Gewalt. Im Lexikon wird Gewalt mit „Staatsmacht, Brutalität, Härte“ gleichgesetzt. Es existieren viele Facetten dieses Begriffes. Eine bekannte Definition ist vom Konfliktforscher Johan Galtung:

„Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“

Gewalt ist der „Wille zur Macht“ (Nietzsche), die „Kraft der Destruktion“ oder der „Todestrieb“ (Freud). Gewalt wird von R. Grabs als Manifestation von Macht verstanden. Gewalt ist oft grausam und stößt ab. Aber sie fasziniert auch und zieht an. Warum schauen wir sonst so gerne Thriller, Grusel- und Horrorfilme. Da kommen nicht selten Massenmorde, Gemetzel, Hinrichtungen, Massaker, Blutbäder und Schlachtfeste vor.

Gewalt gab es zu allen Zeiten. Wir wissen, dass bereits der erste geborene Mensch (Kain) ein Mörder war, laut Untersuchungen 2% der Steinzeitmenschen durch Keulenschläge auf den Kopf starben, das Mittelalter brutal war, die Weltkriege erbarmungslos waren und es auch heute oftmals (un-)menschlich zugeht. 1776 war übrigens das letzte Jahr, in welchem keine Nationen gegeneinander Krieg führten. Kriege zu führen oder jemanden zu schlagen, ist auf jeden Fall Gewalt. Jemanden aufzuschlitzen auch. Aber was ist, wenn der „Aufschlitzer“ einen weißen Kittel trägt und mit einem Skalpell den entzündeten Wurmfortsatz des Blinddarmes entfernen möchte?

Bei Gewalt kommt immer schnell der Begriff Moral mit ins Spiel. Jemanden zu schlagen, der schwächer ist, wird meistens als Gewalt bezeichnet. Aber was ist, wenn der „Schläger“ Klitschko heißt und im Boxring steht? Dann wird es Sport genannt, auch wenn der andere hoffnungslos unterlegen ist (z.B. beim Kampf im Nov. 2010 gegen S. Briggs, der mir fast leid tat). Vertreter der Gewaltfreien Kommunikation sagen: „Gewalt ist jemanden daran zu hindern, für seine Bedürfnisse zu sorgen.“

Zu den Definitionen kommen noch die, die zusätzlich die „strukturelle Gewalt“ (Galtung), „symbolische Gewalt“ (Bourdieu) oder „kulturelle Gewalt“ beinhalten.

Zu meinen Lieblingsdefinitionen gehören „Gewalt zerstört“ (Heitmeyer) oder „Gewalt tut weh“ bzw. „Gewalt verletzt“ (Gewalt Akademie Villigst). Diese Grunddefinitionen verwende ich auch in diesem Buch.

Eigentlich weiß doch jeder, was Gewalt ist. Nur sieht es jeder ein wenig oder völlig anders. Gewalt kommt auf jeden Fall in den besten Familien vor und ist in unserer Gesellschaft nicht selten: egal ob im Krieg, in einer Straßenschlacht, einer Kneipenprügelei oder am Stammtisch. Doch ist Gewalt „natürlich“?

1.1.3 Die Natur Gewalt

„Wenn Schimpansen Schusswaffen und Messer hätten und wüssten, wie man damit umgeht, würden sie ohne jeden Zweifel ebenso davon Gebrauch machen wie wir Menschen.“ (Jane Goodall)

Wenn Männer in der Kneipe Alkohol zu sich nehmen, kommen sie ihren Trieben und damit ihrer Natur näher. Geschichtlich könnte der Stammtisch seinen Namen von der Hirnregion bekommen haben, die hier am meisten benutzt wird: das Stammhirn. Dieses wird auch Reptiliengehirn genannt, weil es dem Gehirn von Reptilien (z.B. Schlangen, Krokodilen, Eidechsen) entspricht. Das Reptiliengehirn kann eigentlich nur in zwei Kategorien denken: Flucht oder Angriff (Laufen oder Raufen). Es ist nicht zur Nächstenliebe oder strategischem Denken fähig. Deshalb gab es in der Vergangenheit auch keine berühmten Philosophen oder Päpste, die Krokodile waren. An einigen Stammtischen hingegen könnten sie herzlich willkommen sein, wenn sie zusätzlich noch genug Alkohol vertragen. Ist der Mensch also einfach Teil der Natur und deshalb tierisch und „unmenschlich“? Hat der menschliche Mann nur gelernt, sein Revier mit dreckigen Socken anstelle von Urin zu markieren? Ist er deshalb zu so grausamen Taten fähig? Wie sieht es denn sonst in der Natur aus?

Killerwale werfen sich Robben zu, bevor sie sie töten. Katzen spielen mit Mäusen, bevor sie morden. Löwen beißen die Kinder ihres Rivalen tot und Krokodile fressen ihre eigenen Kinder, wenn die nicht schnell genug weg sind. Alligatoren ziehen ihre Opfer unter Wasser bis diese langsam ertrinken. (Übrigens haben diese eine Wassergeschwindigkeit von 32 km/h und fast 20 km/h an Land. Für den Menschen bedeutet dies, dass er nur aufgrund des Radfahrens so gute Chancen im Triathlon hat.)

Unsere nahen Verwandten, die Schimpansen, sind nicht viel anders als wir: Sie haben eine strenge Hierarchie, schlagen, treten, töten, mobben, setzen Waffen ein, vernichten andere Gruppen usw.

„Die Schimpansen agierten fast wie gegenüber Beutetieren und behandelten ihre Feinde, als gehören sie einer anderen Spezies an. Ein Angreifer hielt beispielsweise das Opfer am Boden (indem er sich auf dessen Kopf setzte und die Beine festhielt), während die anderen es bissen, schlugen und traten. Einmal rissen sie eine Gliedmaße aus, dann eine Kehle heraus ...“ (Prof. Frans de Waal)

Nicht umsonst wird der Mensch von Konrad Lorenz als das Bindeglied zwischen dem Affen und dem Homo Sapiens bezeichnet. Andere nennen uns unbehaarte Affen. Wenn in England alkoholisierte Männer ihr Revier in der Kneipe markieren, sich aufplustern und voreinander „rumhüpfen“, wird dies „monkeydance“ (Affen-Tanz) genannt. Es gibt also viele Parallelen zwischen uns und den Schimpansen. 99% der Gene stimmen übrigens auch überein.

Die Bonobos (auch nahe Verwandte mit 99% Genübereinstimmung) sind hingegen sehr friedlich, empathisch und freundlich zueinander. Es wurde z.B. ein Weibchen beobachtet, welches einen verletzten Vogel aufnahm und pflegte. Also ohne Selbstzweck, sozusagen aus Nächstenliebe. Sind die Bonobos Christen? Oder was läuft da anders? Die Frauen regieren die Gruppe und sie tun etwas, was mit den Werten der christlichen Kirchen so gar nichts zu tun hat. Immer wenn Stress aufkommt, haben sie Sex, egal wo und mit wem. Homosexualität ist hier genauso normal wie der Sex mit dem anderen Geschlecht. Bonobos setzen auch Stehgreif-Sex ein, um einander zu begrüßen, Spannungen abzubauen oder Bindungen zu stärken.

Ist dies die Lösung für menschliche Konflikte: Sex mit jedem? Wahrscheinlich eher nicht! Ende der 60er Jahre wurde es ja in einigen Kommunen praktiziert. Ekel war da kein Argument gegen Sex. Und war da alles friedlicher? Es gab gewalttätige Ausschreitungen, auf welchen u.a. unser späterer Außenminister und Vorsitzende einer Friedenspartei mit Motorradhelm auf Staatsbedienstete Steine warf. In dieser Zeit entwickelte sich auch die Terrorgruppe RAF.

Auch werden gerne die friedlichen Stämme aus Afrika, Asien, Australien, Amerika oder Pandora genannt, wenn es um das Miteinander ohne Kriege im Verbund mit der Natur geht. In dem Buch „Der Affe in uns“ beschreibt Prof. Frans de Waal zwei Dorfälteste der Eipo-Papua in Neuguinea. Sie durften in einem Flugzeug mitfliegen und wollten dabei aber, dass die Tür offen bleibt und sie schwere Steine auf das Nachbardorf abwerfen konnten. Der Anthropologe notierte in seinem Tagebuch, dass er Zeuge der Erfindung einer „jungsteinzeitlichen Bombe“ gewesen sei.

Diese Beispiele unserer nahen Verwandten und unserer eigenen Spezies zeigen, dass Gewalt in der Natur vorkommt und somit „natürlich“ ist. Der Mensch hat sich noch so weiterentwickelt, dass er das einzige mir bekannte Lebewesen ist, welches für seine Überzeugungen tötet und stirbt. Doch was passiert in den menschlichen Köpfen bei Gewaltsituationen und kann man dies vielleicht auch kontrollieren?

1.1.4 Gewalt ist Stress

„Wer sagt, die ganze Welt sei schlecht, der hat wohl nur so ziemlich recht.“ (Wilhelm Busch)

Gewaltsituationen sind Stresssituationen. Mittlerweile kennt fast jedes Kind den Begriff „Stress“. In Zeiten des Sofort-und-immer-telefonierens, des Coffee-to-go, des Fastfoods, des Stundenhotels, der Minutensuppen und des Sekundenklebers gehört Stress nunmal zum Alltag. Stress gehört zu den Faktoren, von denen Menschen aller Arbeitsbereiche in den letzten Jahren zunehmend betroffen sind. Was passiert in diesen Stresssituationen?

Vereinfacht dargestellt pumpt der menschliche Körper in weniger als einer Sekunde das Blut aus den Gedärmen in die Muskeln. Er wird durch Hormone (Adrenalin, Testosteron, Noradrenalin, Endorphine, Serotonin) schneller, aggressiver und schmerzunempfindlicher. Er kann jetzt besser angreifen oder fliehen (fight or flight).

Leider ist das Gehirn nicht gut durchblutet und der Mensch reagiert hauptsächlich wie ein Reptil (Flucht oder Angriff). Durch den Fight-or-Flight-Impuls haben wir schlechten Zugang zu der Großhirnrinde und damit zu unseren Gehirnzellen (Neuronen), die für strategische Überlegungen zuständig sind. Deshalb erbringen wir auch schlechtere Ergebnisse unter Druck. Wenn wir viel Stress haben, können wir einfach keine komplexen Aufgaben erfüllen. Bei Prüfungsstress werden z.B. Aufgaben nicht gelöst, die ein paar Stunden vorher relativ problemfrei gelöst wurden. Es ist kaum möglich, komplizierte Rechenaufgaben zu lösen, wenn man von einem hungrigen Bären verfolgt wird.

Geht unser Gehirn von einer Gefahr aus, wird gar nicht erst mit der Großhirnrinde kommuniziert. Sehen wir plötzlich eine Schlange vor uns oder schert das Auto vor uns aus, so reagieren wir, ohne zu denken. Der Reiz wird an den Thalamus (Teil des Zwischenhirns) weitergegeben und bei Gefahr wird die Abkürzung zur Amygdala (Mandelkernähnlicher Teil im Gehirn) genommen.

Der Stress hat biologisch betrachtet seine Sinnhaftigkeit. Stress ist von der Natur für vorübergehende Extremsituationen gedacht. Bei der Dauerbelastung in der heutigen Zeit hat Stress viele negative Auswirkungen:

Hoher Blutdruck mit einer langen Liste möglicher Folgen (z.B. Herz-, Augen- und Nierenschäden)

Gehirn- und Gedächtnisversagen (Konzentrationsschwierigkeiten und eine eingeschränkte Fähigkeit, neue Erinnerungen zu speichern)

Schwächung des Immunsystems (und damit eine höhere Empfänglichkeit für Infektionen)

Gewichtszunahme (Das Stresshormon Cortisol fördert die Blutzufuhr von den inneren Organen zu der Muskulatur. Dadurch dauert die Verdauung länger.)

Janice Kiecolt-Glaser untersuchte u.a. die Wundheilung von Menschen, die sich vertragen oder sich streiten (Stress). Die Blutgerinnung, das Abwehrsystem und die Wundheilung waren bei den streitenden Menschen immer um Längen schlechter. Streit ist Stress und damit ganz klar ungesund.

Tierversuche haben sogar gezeigt, dass bei dauerhaftem Stress Gehirnzellen absterben. Deshalb ist Stressbewältigung ein sehr wichtiges Thema (siehe auch Kapitel 3.1.3.). Es ist gesünder und dient auch der Gewaltprävention. Wie bereits geschrieben, sind wir in Stressmomenten nicht so gut zu wohl überlegtem Denken und Handeln fähig. Erst wenn wir den Stress bewältigen, haben wir mehr Handlungsmöglichkeiten und können deshalb besser reagieren.

1.1.5 Zivile Courage

„Nicht jede Lust wählen wir. Nicht jeden Schmerz meiden wir.“

(Epikur)

Der Begriff Zivilcourage setzt sich aus den beiden Wörtern zivil (lateinisch: civilis, 1. bürgerlich – nicht militärisch, 2. anständig, annehmbar) und courage (französisch: Beherztheit, Schneid, Mut) zusammen. Er kann als bürgerlicher, anständiger Mut übersetzt werden. Gewalt und Übergriffe finden tagtäglich in der Schule, am Arbeitsplatz, auf der Straße, in der Kneipe usw. statt. Viele Menschen reagieren verunsichert und schauen einfach weg. Sie fördern damit unabsichtlich ein Klima von Gewalt.

Im Jahr 1964 wurde die New Yorkerin Kitty Genovese vor ihrem Wohnhaus in Queens brutal über mehrere Stunden zu Tode gequält. Insgesamt 38 Anwohner beobachteten den Überfall oder hörten die Schreie des Opfers. Keiner half oder wählte den Notruf. Der spektakuläre Fall bringt die Forschung „Psychologie des Helfens“ ins Rollen. In verschiedenen Experimenten konnten Psychologen zeigen, wie leicht Menschen durch äußere Einflüsse vom Helfen abgehalten wurden.

„GESTERN WURDE EIN JUNGE VON ZEHN FAHRGÄSTEN MISSHANDELT. NEUN DAVON SIND AUSGESTIEGEN.“

(Dominik-Brunner-Stiftung)

Die US-Psychologen John Darley und Bibb Latané gehören zu den ersten Forschern, die eigene Experimente zur Hilfsbereitschaft durchführen. 1968 wurden Probanden eingeladen, um angeblich an einer Diskussion über Probleme im Studium teilzunehmen. Sie ahnten nicht, dass in Wirklichkeit ihre Hilfsbereitschaft getestet werden sollte. Die Probanden saßen einzeln in einer Kabine und sollten sich über Kopfhörer und Mikrophon mit anderen Personen in benachbarten Kabinen unterhalten. Doch statt einer echten Diskussion wurde ihnen nach kurzer Zeit eine Tonbandaufnahme vorgespielt, auf der ein Mann einen epileptischen Anfall erlitt und dabei um Hilfe rief. Die erste Probandengruppe glaubte, allein mit dem Mann vom Tonband zu sein. Die zweite Gruppe glaubte, sie wären zu dritt. Die dritte Gruppe dachte, es wären insgesamt sechs Leute anwesend. Das Ergebnis war erschreckend: Je mehr Menschen anwesend sind und helfen könnten, desto seltener schreitet der einzelne ein. Die Psychologen nennen dieses Phänomen „Verantwortungsdiffusion“. Das Experiment hat außerdem gezeigt, dass es für den so genannten „Bystander-Effekt“ gar nicht notwendig ist, die anderen Personen und ihre Reaktion zu sehen. Allein die Annahme, es seien noch andere Menschen da, führt dazu, Verantwortung abzugeben. Deshalb halten auf einsamen Landstraßen Autofahrer eher an als bei vielbefahrenen Straßen. Je mehr Menschen da sind, desto seltener und später erfolgt Hilfe.

In einer Studie von P. R. Amato (1983) zeigte sich, wie unterschiedlich das Hilfeverhalten zwischen Großstädtern und Kleinstädtern gegenüber einem auf der Straße gestürzten Mann ist. Dabei kam heraus, dass in den Kleinstädten über 50% der Zeugen halfen und in den Großstädten lediglich 15%.

1975 fuhr Prof. Moriarty (Es handelt sich nicht um den Gegner von Sherlock Holmes) mit seinem Team an den Strand und führte dort seine Versuche durch. Ein Lockvogel hat seine Kleidung an den Strand abgelegt. Danach ist er schwimmen gegangen und wurde sichtlich beklaut. In weniger als 20% der Fälle wurde eingeschritten. Bei der zweiten Versuchsreihe bat der Lockvogel einfach jemanden, auf seine Sachen aufzupassen. Diese schritten in 95% der Fälle ein. Werden Personen also direkt angesprochen, ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass sie helfen.

Die Wissenschaftler Darley und Batson legten 1973 einen scheinbar verletzten Menschen an die Straßenseite und beobachteten das Hilfsverhalten von Theologiestudenten, die zu einem Seminar gingen. Selbst wenn sie im Seminar über das Thema „Der barmherzige Samariter“ zu referieren hatten, hatte Zeitdruck einen viel größeren Einfluss auf das Hilfeverhalten. Von den Studenten, die unter Zeitdruck gesetzt wurden, halfen dem „Opfer“ nur 4%; jene die unter keinem Zeitdruck standen, halfen zu 63%.

Insgesamt helfen Menschen also eher, wenn:

sie die einzigen sind, die helfen können (Bystander-Effekt).

ein Mann mit Fotoapparat in der Nähe ist (Presse-Effekt).

sie die Umgebung kennen (Wohlfühl-Effekt).

sie nicht unter Zeitdruck stehen.

sie direkt angesprochen werden (Verantwortungs-Effekt).

die Hilfsperson nach Vermögen aussieht (Belohnungs-Effekt).

Es gab Untersuchungen, ob Personen geholfen wird, die in der U-Bahn umfallen. Insgesamt wird den Menschen eher nicht geholfen, wenn:

sie anscheinend betrunken waren (Selbst-Schuld-Effekt).

sie im Gesicht bluteten (Hier-muss-ein-Arzt-her-Effekt).

sie eine Narbe im Gesicht hatten (Frankenstein-Effekt).

viele Leute da waren (Bystander-Effekt).

die Helfenden das Hinfallen nicht selbst gesehen haben.

die Helfenden schlechte Laune hatten.

In vielen Gewaltfällen haben die Täter einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Anders war es im September 2009 in München. Der Geschäftsmann Dominik Brunner beschützte hier vier Schüler und wurde aus Rache von den zwei Tätern zu Tode geschlagen und getreten. Nach seinem Tod bekam er einige Ehrungen, u.a den bayerischen Verdienstorden, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, einen Platz in Dietzenbach, eine Kinderkrippe, eine Stiftung, einen Weg in München und eine 2,2-Meter-Statur in seiner Heimatstadt Ergoldsbach. Es ist mehr als schade, dass ein Mensch erst versterben muss, bevor er für seine Ideale geehrt wird.

Es gibt einfach so viel Gewalt und es gibt viele „gute“ Gründe, anderen Menschen nicht zu helfen. Sollen wir bei soviel Gewalttätigkeit und so wenig Zivilcourage etwa am besten zu Hause bleiben? Sie werden mir zustimmen, dass Schiffe am sichersten im Trockendock sind. Aber dafür sind Schiffe nun einmal nicht gebaut. So verhält es sich auch bei uns Menschen. Sie können nicht den ganzen Tag im Haus bleiben. Sie können aber zuversichtlich hinausgehen und etwas zu einer besseren Welt beitragen.

ZIVILCOURAGE KANN MAN TRAINIEREN.

DENN ZIVILCOURAGE BEGINNT IM KOPF.

(Dominik-Brunner-Stiftung)

1.2 Wissenswertes

„Ich weiß nicht, mit was für Waffen der Dritte Weltkrieg geführt wird, aber der Vierte wird mit Stöcken und Steinen ausgetragen.“

(Albert Einstein)