Kampf oder Untergang! - Noam Chomsky - E-Book

Kampf oder Untergang! E-Book

Noam Chomsky

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Beschreibung

Noam Chomsky ist einer der wichtigsten Denker der Gegenwart. Der emeritierte MIT-Professor am weltbekannten Massachusetts Institute of Technology gilt als ein "Mann für alles". In diesem Buch spricht Chomsky über die großen Fragen: Warum herrscht auf unserer Welt weiterhin so viel Ungleichheit? Leben wir bereits in der Dystopie? Steht die Menschheit am Rande der Selbstauslöschung? Warum begehren die "99 Prozent" nicht gegen die "Eliten", die "Herren der Menschheit", wie Chomsky sie einst nannte, auf? Kaum jemand kann all dies besser beurteilen als Noam Chomsky, der fast ein ganzes Jahrhundert Revolution, Revolte, Krieg und Zerstörung hinter sich hat und dennoch optimistisch ist. Das sollte uns alle ermutigen weiterzumachen, denn einen anderen Ausweg haben wir nicht.

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Seitenzahl: 187

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Ebook Edition

Noam Chomskyim Gespräch mit Emran Feroz

Kampf oder Untergang!

Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-725-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Einleitung
1 Tucson, Arizona
2 Imperialismus, Krieg und Fluchtursachen
3 Donald Trump und die »freie Welt«
4 Gott, Religion und der Staat
5 Optimismus in der Dystopie
6 Wie wir die Herren der Menschheit das Fürchten lehren
Warum Optimismus angebracht ist
Wie der Wandel zu schaffen ist

Einleitung

Im Zeitalter der Renaissance gab es den »uomo universale« – Universalgelehrte, die verschiedene Gebiete gemeistert hatten und als Experten in Kunst, Wissenschaft und zahlreichen anderen Bereichen betrachtet wurden. Leonardo da Vinci war einer von ihnen, für manche Menschen sogar einer der letzten. Derartige Denker waren nicht nur im Okzident, sondern auch im Orient zugegen. Philosophen, Mathematiker, Ärzte, Dichter und Theologen waren unter ihnen. Derartige Alleskönner, deren Persönlichkeit in breiten Kreisen hohes Ansehen und Gewicht hat, sind in unserem gegenwärtigen, postmodernen Zeitalter kaum noch auffindbar. Man hat den Eindruck, dass die Menschen verdummen und sich immer weiter dem Abgrund nähern, während sie im Dunst der Globalisierung und des Kapitalismus ihren selbstzerstörerischen Tätigkeiten nachgehen. Ein Mensch, der sich alldem seit Jahrzehnten widersetzt, ist Noam Chomsky. Für viele Menschen steht außer Frage, dass Chomsky zu den bedeutendsten Intellektuellen der Welt, ja womöglich sogar der modernen Menschheitsgeschichte gehört. Sollte es in unserer Welt noch im Ansatz irgendwelche Personen geben, die man mit dem »uomo universale« der Renaissance in Verbindungen bringen kann, dann gehört Chomsky ohne jeglichen Zweifel dazu. Bereits in jungen Jahren revolutionierte er die Linguistik mit seinen Theorien, etwa mit der sogenannten Chomsky-Hierarchie, die formale Grammatiken und Sprachen klassifiziert und einordnet. Chomskys wissenschaftliche Arbeit spielt sowohl in der Mathematik als auch in der Informatik bis heute eine wichtige Rolle. Die mathematische Formalisierung von Sprachen gehörte unter anderem auch zu den Grundlagen der Computerlinguistik und maschineller Sprachübersetzung.

Es war auch die Sprachwissenschaft, die Chomsky zu seinem nächsten wichtigen Anliegen führte: dem politischen Geschehen. Als Linguist, Publizist, Aktivist und Philosoph veröffentlichte Chomsky zeit seines Lebens mehr als einhundert Bücher. Bedeutend sind in dieser Hinsicht insbesondere seine medientheoretischen Arbeiten, wie etwa Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media, in der er zusammen mit dem amerikanischen Medienanalysten Edward S. Hermann seine Theorie zum Propagandamodell darlegt. In dem Buch, das mittlerweile als Standardwerk gilt, belegen Chomsky und Hermann die umfassende Manipulation der amerikanischen Medien durch verschiedene politische und wirtschaftliche Interessengruppen. Was Chomsky sagt, das gilt und hat Gewicht – selbst in konservativen oder neoliberalen Kreisen, die ansonsten nicht viel von Menschen seines Schlages halten. Doch so traurig und womöglich auch makaber es klingen mag: Menschen wie Noam Chomsky gehören im 21. Jahrhundert zu einer aussterbenden Art. Viele intellektuelle Mitdenker und Gefährten Chomskys sind bereits gestorben, wie etwa der kritische US-Historiker Howard Zinn, der pakistanische Intellektuelle Eqbal Ahmad oder der palästinensische Literaturkritiker Edward Said. Die Arbeit und das politische Engagement dieser und vieler anderer Menschen werden von Chomsky allerdings nicht nur fortgeführt, sondern auch vereint. Der ehemalige MIT-Professor ist das Paradebeispiel eines Intellektuellen, der sich gegen das vorherrschende System stellt und dieses radikal infrage stellt. Da wundert es nicht, dass Chomsky im Laufe seines Lebens immer wieder heftig kritisiert wurde. Für einige gilt er nicht nur als »Anti-Amerikaner«, sondern aufgrund seines jüdischen Hintergrunds und seiner scharfen Kritik an Israels Politik als »selbsthassender Jude«. Doch Chomsky scheut den rhetorischen Schlagabtausch nicht und scheint stets die passende Antwort parat zu haben. In den meisten Fällen verblüfft er damit nicht nur seine Kontrahenten, sondern entzieht ihrer Argumentation die Grundlage. Gleichzeitig bleibt Chomsky dabei seiner Rolle als Intellektueller treu und ist sich auch der Verantwortung bewusst, die er damit trägt. Mehrere Generationen wurden von Chomskys Einfluss geprägt. Als ich damit begann, Chomskys Werke zu lesen, galt dieser bereits als ein Koloss, ja fast schon als eine Legende. Besonders auffallend ist allerdings Chomsky Unnachgiebigkeit. Er steht zu seinen Thesen, zu dem, was er sagt, und wird nicht müde, seine Gedanken immer wieder aufs Neue darzulegen. Wer Chomsky kennt, weiß oftmals im Voraus, was er zu dieser und jener Thematik zu sagen hat – und doch will man ihn abermals zuhören und lesen, denn er fasziniert sein Publikum wie kein Zweiter.

Immer wieder warnt Chomsky, dass sich die Menschheit derzeit in der bedrohlichsten Phase ihrer Geschichte befindet. Die massive Ungleichheit und Armut, der Klimawandel und der stets mögliche Nuklearkrieg haben die totale Selbstzerstörung menschlichen Lebens erstmals zu einer realen Gefahr werden lassen. Nur wenn die Probleme unserer Zeit richtig erkannt und gelöst werden, können wir den Sturz über die Klippe noch abwenden. Gewaltige Aufgaben, welche die Weltgemeinschaft nur gemeinsam lösen kann. Dennoch gibt es sehr wohl einige Staaten, denen eine besondere Rolle zufällt. Denn auch im gegenwärtigen internationalen Staatensystem gibt es einige, die im Orwell’schen Sinn wortwörtlich »gleicher« sind als andere. Dies betrifft in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika, dem größten Imperium der Geschichte. Noam Chomsky übt immer wieder scharfe Kritik an der Politik seines Heimatlandes, gerade weil er sich als US-amerikanischer Intellektueller in besonderem Maße für das Handeln seines Staates und dessen Regierung verantwortlich fühlt. Doch trotz seiner zahlreichen düsteren Prognosen ist Noam Chomsky ein überaus optimistischer Mensch geblieben, mit einem tiefen Glauben an das Gute im Menschen und an die Fähigkeit der Menschheit, ihre selbst geschaffenen Probleme auch selbst zu lösen.

Das vorliegende Buch besteht aus mehreren Interviews, die ich mit Noam Chomsky führten durfte. Es macht die Ansichten eines Mannes deutlich, der die Probleme unserer Welt deutlich erkennt und beschreibt. Noam Chomsky hat fast ein ganzes Jahrhundert erlebt, und seine Beobachtungen machen dies oftmals auch deutlich. Gerade in einer Welt im gegenwärtigen Zustand werden jene Menschen dringend gebraucht, die mit ihrem Denken und ihren Worten den Wandel anstoßen können.

1 Tucson, Arizona

Seit 2017 wohnt Noam Chomsky gemeinsam mit seiner Ehefrau Valeria in Tucson im US-Bundesstaat Arizona. Tucson liegt nahe der mexikanischen Grenze und gilt als eine liberale Bastion im Süden des Landes. Das Linguistik-Institut der Universität von Arizona ist ein bescheidendes Gebäude. Im Gegensatz zu den prunkvollen Sälen der Elite-Universitäten des Landes hat man hier eher den Eindruck, dass das Budget eher knapp bemessen ist. Die Lehrräume und Büros sind etwas in die Jahre gekommen. Alte Bücher stapeln sich in den Ecken, während Ventilatoren gegen die stickige, heiße Luft, die bei 45 Grad im Schatten schnell entstehen kann, kämpfen. Beim Betreten des Gebäudes wird schnell deutlich, wer der »Held« des Instituts ist. »Sie suchen Noam Chomsky? Dann bitte einfach nach links«, so ein Hinweis auf einem Flachbildschirm, auf dem allgemeine Informationen zum Gebäude zu finden sind. Am Ende des Ganges auf der linken Seite, im Büro 234, ist dann zu lesen: »Noam Chomsky, Laureate Professor«. Der Personalplan des Instituts hinterlässt ebenso seinen eigenen Eindruck. Neben all den Namen und Gesichtern sticht der »Gründer der modernen Linguistik«, wie Chomsky hier genannt wird, sofort ins Auge. Umso bescheidener verweilt Chomsky in seinem spärlich eingerichteten Büro. Die Regale sind leer. Kartons sind im Raum verteilt. Man merkt, dass der Umzug noch nicht allzu lange her ist. Das Büro wird nur von zwei Bildern geschmückt: einem von Martin Luther King sowie einem von Bertrand Russell. Die dritte Legende im Raum ist Chomsky selbst, und jeder im Institut, ja, womöglich in der ganzen Stadt, weiß das.

Emran Feroz: Wir sind hier in Tucson im US-Bundesstaat Arizona. Sie bezeichnen diesen Ort oft als »besetztes Mexiko«. Andere behaupten, dass dies besetztes, indigenes Land sei. Wo befinden wir uns denn nun wirklich?

Noam Chomsky: Während des Zeitalters der europäischen Invasion Amerikas lebten vielleicht achtzig Millionen Menschen in der westlichen Hemisphäre. Gegenteilig zu dem, was man glaubte, wurde vor Kurzem bewiesen, dass es zum damaligen Zeitpunkt in Nordamerika große Städte und kultivierte Regionen gab. Das Landwirtschaftssystem in Bolivien gehörte zu den fortschrittlichsten der Welt. Es gab einen weitreichenden Handel. Das meiste hierzu wird seit den 1960er-Jahren entdeckt. Bis dahin war die gängige Vorstellung jene, dass zum besagten Zeitpunkt lediglich eine Million Menschen in der westlichen Hemisphäre lebten, sprich viel weniger als 80 Millionen. Man dachte, dass es auf dem amerikanischen Kontinent nur wenige große Zentren, wie jene der Mayas oder der Inkas, gab. Diese Vorstellung war von der Zeit der Aufklärung bis hin in die 1960er-Jahre verbreitet. Der Aktivismus der 1960er-Jahre war in gewisser Hinsicht eine »zweite Aufklärung«. Er brach viele Barrieren und öffnete Türen, um bestehende Narrativen herauszufordern – vor allem bezüglich der Forschung rund um das indigene Amerika. Die ersten Arbeiten hierzu wurden von Nicht-Akademikern in Gang gebracht. Ein Beispiel hierfür ist Francis Jennings, der Kurator eines Museums für indigene Angelegenheiten gewesen ist. Er schrieb eines der ersten Bücher über die Invasion Amerikas, und im Laufe der darauffolgenden Zeit veränderten sich einige Dinge radikal.

Wenn Sie über diesen Campus laufen, werden Sie bemerken, dass es Monumente gibt, die an die Zerstörung des indigenen Amerikas erinnern. Es gibt Kurse für indigene Sprachen und viele Studenten mit indigenen Wurzeln. Es gibt hier zwar keinen ausreichenden, aber immerhin einen gewissen Respekt für die indigene Kultur. Als die Spanier Mexiko einnahmen, gingen sie sehr brutal und gewalttätig vor. Einige spanische Siedler blieben. Die Bevölkerung Mexikos ist demnach eine komplizierte Mischung von Menschen spanischer und indigener Herkunft. Viele sind weiterhin indigen. Ähnlich verhält es sich in Zentral- und Südamerika, wo sich ebenfalls Migranten aus Europa ansiedelten.

Bei der sogenannten Migrationskrise in den USA handelt es sich eigentlich um eine moralische Krise. Wenn Sie hinschauen, um wen es sich bei den Migranten handelt, die regelmäßig in Situationen von Terror und Gewalt, für die wir in weiten Teilen verantwortlich sind, abgeschoben werden, werden Sie feststellen, dass sehr viele von ihnen einen indigenen Hintergrund haben. Man kann sagen, dass die Bestrafung und Zerstörung der indigenen Bevölkerung auf dem Kontinent noch lange kein Ende gefunden. Menschen, die aus Zentralamerika kommen, flüchten meistens vor Gewalt und Zerstörung, die von den Vereinigten Staaten geschaffen worden sind, allen voran in den Reagan-Jahren. In Europa findet mehr oder weniger dasselbe Szenario statt, was jedem einleuchtet, der die gemeinsame Geschichte Europas und Afrikas kennt.

Doch um auf die eigentliche Frage bezüglich des Territoriums, auf dem wir uns jetzt befinden, zurückzukehren: Es war mexikanisches Territorium, genauso wie weite Teile des Südwestens bis hin zu Kalifornien. Die Amerikaner besetzten und eroberten das Land in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Es fällt auf, dass die meisten Städtenamen spanisch sind. San Francisco, Los Angeles, San Diego und so weiter tragen diese Namen, weil sie zu Mexiko gehörten. Der damalige Krieg war womöglich der niederträchtigste Krieg in der Geschichte der USA. Diese Bezeichnung stammt nicht von mir, sondern von General Ulysses S. Grant, dem Kriegshelden und späteren Präsidenten, der im Bürgerkrieg als Junior Officer gekämpft hatte. Die gegenwärtige Forschung bestätigt das Urteil Grants. Mittlerweile können Sie das sogar in den führenden Zeitungen des Landes lesen. Ein wichtiges Buch zu der Invasion Mexikos trägt den Namen Der niederträchtige Krieg. Es wurde in der Washington Post rezensiert und zitierte Grant, dessen Beschreibungen man bestätigte. Das ist ein großer Wandel. Die gesellschaftliche Debatte ist seit den 1960er-Jahren um einiges zivilisierter geworden. Aber die Zerstörung der indigenen Bevölkerung gilt weiterhin als eine der größten Gräueltaten in der Geschichte der Menschheit. Millionen von Menschen wurden damals innerhalb eines Jahrhunderts ausgelöscht. All dies geschah bis ins 20. Jahrhundert, und jene, die das taten, wussten sehr genau, was sie da tun. Das ist alles kein Geheimnis.

Feroz: Heute wird nur noch sehr wenig darüber gesprochen. Hat sich die Wahrnehmung dieses Krieges im Laufe der Geschichte geändert?

Chomsky: Wir hatten mal ein Kriegsministerium in den USA. Das war noch im vor-orwellianischen Zeitalter. 1947 wurde das Kriegsministerium umbenannt. Es wurde plötzlich zum Verteidigungsministerium. Jeder mit klarem Verstand wusste allerdings, dass es nicht um Verteidigung ging, sondern ausschließlich um Aggression und Angriffe. Henry Knox, der erste US-amerikanische Kriegsminister, beschrieb, wie die Amerikaner eine Auslöschung der indigenen Bevölkerung durchführten und dabei Mittel benutzten, die sogar extremer und brutaler waren als jene der Eroberer in Südamerika. John Quincy Adams, eine der führenden Figuren des früheren Amerikas, schrieb einst vom Schicksal der »hilflosen Rasse der Nordamerikaner«, die ausgelöscht wurde. Sie wussten ganz genau, was sie da machten. Später wurde das Ganze dann verschönert. Es schien dann so, als ob die indigenen Völker einfach irgendwie verschwunden sind. Das Verständnis dieser Ereignisse hat sich seit den 1960er-Jahren verändert. Es ist ein Fakt, dass wir uns im indigenen Amerika befinden, aus dem Mexiko wurde. Ich denke, es ist legitim, vom »besetzten Mexiko« zu sprechen.

Feroz: In Ihren Werken und Vorträgen nutzen sie gerne die Perspektive des unbeteiligten Beobachters, des Aliens, der die Welt wie in einer Glaskugel betrachten kann. Falls außerirdische Lebewesen die Menschheit aus dem All beobachten würden, was würden sie sehen und denken, vor allem in Bezug auf unser politisches Verhalten?

Chomsky: Die Welt ist ein komplexer Ort, voller komplexer Interaktionen und beträchtlicher Vielfalt. Fokussieren wir uns auf das, was als »der Westen« bezeichnet wird, und auf einige andere Generalisierungen, die auffallend sind.

Was der Alien sehen würde, sind Gesellschaften, die eine Generation neoliberaler Politik durchlaufen haben, die den Markt zum gesellschaftlichen Zentrum erhoben hat (»business first«). Diese haben erwartungsgemäß zu einer Schwächung sozialer Bindungen und öffentlicher Institutionen – insbesondere von Gewerkschaften – geführt, die mit der Stagnation sowie des Niedergangs der Mehrheit und einer sehr starken Kon­zen­tra­tion des Reichtums und der daraus folgenden Verschlechterung der funktionierenden Demokratien verbunden sind. Ein Resultat davon ist, dass Gesellschaften eher zu Plutonomien tendieren und zu einem Hort der zunehmenden Unsicherheit werden. In den USA – dem bei Weitem mächtigsten Staat der Geschichte und demnach auch dem wichtigsten Fall – hat diese Tendenz eine extreme Form erreicht.

Eine Vorstellung hierfür wird von den Ökonomen Lawrence Katz und Alan Krueger in einer Studie der Princeton University geliefert, in der festgestellt wird, dass 94 Prozent des Netto-Beschäftigungswachstums in der US-amerikanischen Wirtschaft von 2005 bis 2015 in alternativen Arbeitsverhältnissen entstanden sind. Es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass sich diese Realitäten seitdem geändert haben.

Wenn wir diese alternativen Arbeitsregelungen und jene Menschen berücksichtigen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgetreten sind, liegt die wahre Arbeitslosenquote nicht bei den viel beschworenen 3,8 Prozent, sondern bei ganzen 11 Prozent. Diese Diskrepanz besteht auch in anderen Industrienationen, aber in den USA ist es tatsächlich die dreifache Rate. Weltrekord! Darüber hinaus stellt die neoliberale Globalisierung eine globale Reservearmee von Arbeitern zur Verfügung, die Arbeitgeber zur Androhung von Produktionsverlagerungen nutzen können, sollten lokale Arbeitnehmer aufbegehren und ihre Rechte einfordern. Diese Praxis ist zwar illegal, Studien haben jedoch gezeigt, dass sie trotzdem ständig angewandt wird und dabei sehr effektiv ist.

In Anbetracht dieser Merkmale des Neoliberalismus ist es nicht schwer, das Paradox der Vollbeschäftigung und der niedrigen Löhne, von dem wir immer wieder hören und das viele Kommentatoren und Beobachter beunruhigt, zu verstehen. Dies betrifft auch die Tatsache, dass die Reallöhne für einfache Arbeiter heute um vier Prozent niedriger sind als in den 1970er-Jahren vor dem neoliberalen Angriff oder dass die Arbeitsproduktivität sich verdoppelt hat und die Löhne gesunken sind, während der Wohlstand in einige wenige Taschen gewandert ist.*

Es ist auch kein Wunder, dass die neoliberalen Programme als Erfolg gelten. Ihre Auswirkungen wurden schon vor Jahren auf höchster Ebene wohlwollend anerkannt. Vor 20 Jahren hat der Vorsitzende der Federal Reserve Bank, Alan Greenspan, jene Wirtschaft gepriesen, die angeblich unter seiner Führung florierte. Es hieß damals, dass der Erfolg auf die wachsende Unsicherheit der Arbeitnehmer zurückzuführen sei, was für die Wirtschaft gesund sei. Warum? Weil die Arbeiter zu eingeschüchtert sind, um nach höheren Löhnen oder Sozialleistungen zu streben. Dies würde die Inflation gering halten und die Gewinne hoch. Dies geschah in einer Zeit, in der man Greenspan unter anderem als »St. Alan« bezeichnete und als einen der größten Ökonomen der Geschichte pries, bevor das System 2007 beziehungsweise 2008 zusammenbrach. Daraufhin musste auch er einräumen, dass sein Verständnis von Märkten fehlerhaft gewesen ist.

Feroz: Was sind die Folgen einer solchen Politik, und wie würde das aus der Perspektive des Aliens aussehen?

Chomsky: Eine derartige Politik kreiert einen Teufelskreis aus bekannten Mechanismen: Die Konzentration des Reichtums führt zu einer noch stärkeren Konzentration politischer Macht, was wiederum zu einer Politik führt, die die Gräben zwischen der herrschenden Elite und dem Prekariat vertieft und die Demokratie noch weiter untergräbt. Resultate im politischen Verhalten der Menschen sind Wut, Angst, die Suche nach einem Sündenbock und die Verachtung für Institutionen. Wir bezeichnen das als Populismus und beobachten es zurzeit bei Wahlen rund um den Globus und vor allem in den USA.

Gleichzeitig gibt es in vielen Bereichen, einschließlich des politischen Systems, einen deutlichen Anstieg des Aktivismus. In den USA war das überraschendste Merkmal der Wahlen 2016 nicht die Wahl eines Milliardärs mit enormer Medienunterstützung und umfangreicher Wahlkampffinanzierung, sondern der bemerkenswerte Erfolg der Kampagne von Bernie Sanders. Mit ihm brach eine lange Tradition von Wahlen, deren Ergebnisse allein durch die Variable der »Wahlkampffähigkeit« mit großer Genauigkeit vorhersagbar waren. Wichtige Beiträge des Politikwissenschaftlers Thomas Ferguson machten dies deutlich.

Sanders fehlte die Finanzierung durch Firmen- oder Privatvermögen. Er wurde von den Medien ignoriert oder verunglimpft und benutzte sogar das beängstigende Wort »sozialistisch«, ein Schreckgespenst in den USA. Er hätte die Nominierung der Demokraten gewinnen können, wenn Obama und Clinton keine Parteimanager gewesen wäre. Ein anderes Beispiel ist das Phänomen rund um Jeremy Corbyn in England, der sich trotz heftiger Opposition seitens der Medien und der Eliten der Arbeiterpartei durchsetzen konnte.

Was der Außerirdische also sehen würde, ist etwas, das Antonio Gramscis berühmte Beschreibung einer alten Welt, die stirbt, während eine neue um ihre Geburt kämpft, entspricht. Ich denke, dass das natürlich nur eine erste Annäherung ist, aber sie ist ein wesentliches Merkmal des Gesamtbildes.

Feroz: Wie sieht es mit den »Herren der Menschheit« aus? Würden die Außerirdischen auch sie deutlich erkennen?

Chomsky: Adam Smith hatte kein Problem, diejenigen zu identifizieren, die er als »Herren der Menschheit« bezeichnete. Zu seiner Zeit waren das englische Kaufleute und Fabrikanten, die die »Hauptarchitekten der Politik« waren und dafür sorgten, dass ihre Interessen am meisten beachtet wurden, egal, wie schwerwiegend die Auswirkungen auf andere, einschließlich der Menschen in England waren. Die größten Opfer der krassen Ungerechtigkeit der Engländer waren jedoch anderswo – für Smith insbesondere in Britisch-Indien. In zweieinhalb Jahrhunderten hat sich viel verändert, aber die Grundprinzipien sind dieselben geblieben.

Die heutigen Herren der Menschheit stammen aus der internationalen Investorenklasse, dem hoch konzentrierten und verzahnten Unternehmenssektor mit einer schnell wachsenden Komponente des Finanzkapitals, insbesondere nachdem sie durch den Abbau des Bretton-Woods-Systems durch Präsident Nixon und dann durch die massive Deregulierung des Crash-Bailout-Systems entfesselt wurden und die neoliberale Ära dominieren. Sie diktieren die Politik, wenn auch nicht ohne interne Meinungsverschiedenheiten, und sie bemühen sich sicherzustellen, dass ihre eigenen Interessen bedient werden, ungeachtet der Auswirkungen auf andere. Dies geschieht mit viel Erfolg, besonders in den letzten Jahren.

Feroz: Aber es gibt doch Unterschiede zwischen unserem Zeitalter und jenem Adam Smiths, oder nicht?

Chomsky: Zu Smiths Zeiten gab es einige widersprüchliche Machtsysteme: Seine anglozentristische Formulierung hatte nicht das Ziel, die globale Ebene zu erreichen, und das gilt auch heute noch. Die Vorherrschaft der USA in der globalen Gesellschaft in der Folge des Zweiten Weltkriegs war überwältigend und wurde bisweilen auf die Hälfte des Weltvermögens geschätzt. Ein Machtumfang ohne historische Präzedenzfälle. Doch dieses Bild veränderte sich mit der Zeit. In den 1970er-Jahren war die globale, staatskapitalistische Wirtschaft tripolar: Nordamerika, Deutschland und Nordostasien waren schon damals die am dynamischsten wachsenden Regionen. Schon bald kam ein rasch wachsendes China hinzu. Inzwischen ist der nationale Wohlstand der USA durch konventionelle Maßnahmen auf weniger als 20 Prozent der Gesamtzahl gesunken, was ungefähr die Hälfte der Schätzungen von 1945 ausmacht.

Herkömmliche Schätzungen des nationalen Reichtums in Bezug auf das BIP sind im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung irreführend. Mittels komplex integrierter Versorgungsketten, Subunternehmen und anderer derartiger Instrumente hat eine Verschiebung stattgefunden. Der nationale Wohlstand ist kein realistischer Maßstab mehr für die globale Macht. Stattdessen muss man sich heute die Konzerne ansehen, die staatliche Unterstützung genießen. Es ist ihr Reichtum, der zählt, und nicht der Wohlstand der Bevölkerung. Die Welt weicht nämlich stärker als bisher vom Modell der nationalen, selbstständigen politischen Ökonomien ab. Der Wirtschaftswissenschaftler Sean Starrs kommt zu dem Schluss, dass Unternehmen in praktisch allen Wirtschaftszweigen – Industrie, Finanzen, Dienstleistungen, Einzelhandel und anderen – die Eigentumsverhältnisse der Weltwirtschaft mitbestimmen. Insgesamt liegt ihr Anteil am Eigentum bei fast 50 Prozent. Der heutige Anteil am Eigentum entspricht fast dem gesamten Reichtum der USA im Jahr 1945, als sich das Land auf dem historischen Höhepunkt seiner Macht befand.

Nach klassischer Betrachtung ist der US-amerikanische Wohlstand zurückgegangen, aber der Profit der US-Unternehmen in der globalisierten Wirtschaft ist förmlich explodiert.

Das immense Ausmaß dieses aufkommenden globalisierten Systems wird im Welt-Investitionsbericht der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung 2013 dargelegt. Sie schätzt, dass rund 80 Prozent des Welthandels innerhalb der globalen Wertschöpfungsketten von transnationalen Konzernen mit Sitz in den USA angesiedelt sind, die jedoch gerade einmal 20 Prozent der Arbeitsplätze weltweit ausmachen. All das kann nur zweifelhaft als »Handel« bezeichnet werden, da es sich um interne Transaktionen handelt, sprich um Kommandowirtschaften von Unternehmen.

Dies sind lediglich erste Annäherungen, wenn auch signifikante. Die Welt ist komplexer als jede einfache Beschreibung.

Feroz: Sie sagen oft, dass Intellektuelle in diesen Zeiten eine große Verantwortung tragen. Warum ist das so, und was für eine Art von Verantwortung meinen Sie?

Chomsky: Das Konzept des »Intellektuellen« ist seltsam. Allem Anschein nach scheint der gegenwärtige Sinn des Begriffes seit der Zeit der Dreyfus-Affäre gebräuchlich zu sein. Was auch immer die Kategorien für die Qualifikation sein mögen, Intellektuelle haben einerseits die gleichen Verantwortungen wie alle anderen, andererseits wiegt diese Verantwortung in ihrem Fall aufgrund ihrer Privilegien und Möglichkeiten schwerer. Wir alle haben die Verantwortung zu versuchen, Unrecht zu korrigieren, Missverständnisse zu überwinden und für das Gemeinwohl zu arbeiten. Das scheint naheliegend zu sein. Diejenigen, die als Intellektuelle bezeichnet werden, sind besonders gut in der Lage, diese notwendigen Aufgaben zu erfüllen, und haben daher größere Verantwortung als die meisten.