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"Niemand außer Noam Chomsky verbindet so leidenschaftlich die beiden vom Menschen verursachten Bedrohungen mit unserer Existenz – den katastrophalen Klimawandel und die nuklearen Weltuntergangsmaschinen." Daniel Ellsberg, Whistleblower der Pentagon-Papiere Eindrücklich wie nie zuvor klärt Chomsky über die existentiellen Bedrohungen durch Atomwaffen und den Klimawandel auf. Er stellt diese Bedrohungen in den Kontext einer nie dagewesenen globalen Macht der Konzerne, die mittlerweile die führende Rolle bei der Gestaltung unserer Zukunft übernommen haben. Noam Chomsky zeigt, dass sich globale Volksbewegungen mobilisieren müssen, um die Regierungen zu zwingen, sich der beispiellosen Herausforderung für das Überleben unserer Zivilisation zu stellen.
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Seitenzahl: 150
Ebook Edition
Noam Chomsky
Rebellion oder Untergang!
Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation
Aus dem Englischen von Michael Schiffmann
Die Originalausgabe des Buches ist im Jahr 2020 bei Routledge erschienen: INTERNATIONALISM OR EXTINCTION by Noam Chomsky (Author) edited by Charles Derber, Suren Moodliar, Paul Shannon Copyright © 2020 Noam Chomsky, Valeria Wasserman Chomsky and the Prospects for Survival with Justice Project
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ISBN 978-3-86489-810-5
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Die Dringlichkeit der »Gefahr des Untergangs« ist unübersehbar. Sie sollte der konstante Gegenstand von Aufklärungsprogrammen, Organisation und Aktivismus sein und den Hintergrund für unser Engagement in allen anderen Kämpfen bilden. Aber sie kann diese Kämpfe nicht ersetzen, zum einen, weil viele dieser anderen Kämpfe ihrerseits entscheidend wichtig sind, und zum anderen, weil diese grundlegende Gefahr nicht effektiv angegangen werden kann, solange es kein allgemeines Verständnis für ihre Dringlichkeit gibt. Aber ein solches Verständnis setzt eine wesentlich größere Sensibilität gegenüber den weltweit verbreiteten Formen von Leid und Unrecht voraus – ein tieferes Bewusstsein, das zu Aktivismus und Engagement sowie zu tieferen Einsichten in deren Wurzeln und wechselseitige Verbindungen inspirieren kann. Es ist nutzlos, zu mehr Militanz aufzurufen, wenn die Bevölkerung noch nicht dazu bereit ist, und diese Bereitschaft kann nur durch geduldige Arbeit geschaffen werden. Das mag frustrierend sein, wenn wir an die nur zu reale Dringlichkeit der existenziellen Gefahren denken. Aber egal, ob das frustrierend ist oder nicht, wir können diese vorbereitenden Stufen nicht überspringen.
– Noam Chomsky, Januar 2019
An einem diesigen Nachmittag Mitte Oktober 2016 nur einige Wochen vor der schicksalhaften Wahl im November, die dann Donald J. Trump ins Weiße Haus brachte, versammelte sich vor der historischen Old South Church in Boston eine große Menschenmenge, die bald mehr als zwei Häuserblocks weit reichte. Zwar waren alle, die gekommen waren, natürlich stark mit der bevorstehenden Wahl beschäftigt, aber das war keineswegs ihr einziges Anliegen. Einige waren sogar aus dem Ausland angereist und sie alle waren hier, um bei einer »Chomsky-Veranstaltung« dabei zu sein – Letzteres eine der Bezeichnungen für die sehr besondere Art von breit angelegter öffentlicher Vorlesung und Konversation, die immer wieder stattfindet, wenn der bekannte Linguist und öffentliche Intellektuelle vor einem großen Publikum spricht. Die jüngeren Teilnehmer an der Veranstaltung setzten sich dann später auf ganz ähnliche Art mit Noam Chomsky auseinander, wie das ihre Großeltern schon fünfzig Jahre zuvor getan hatten, als er so viel zur öffentlichen Infragestellung der beständigen Eskalation der US-Intervention in Vietnam beitrug. Dabei gibt Chomsky meist, auf Basis leicht zugänglicher Quellen, in eloquenter, aber schlichter Prosa einen wohlstrukturierten Vortrag, dessen Argumente und Wortwahl für fast alle Zuhörer verständlich sind. Wenn die heutige Chomsky-Veranstaltung so wie sonst lief, würde es zweifellos einen langen Frage- und Antwortteil geben, in dem Noam sich mit den Fragen, Kommentaren oder Einwänden der Anwesenden auseinandersetzen würde. Dabei würden seine Antworten genauso ruhig, überlegt und konzentriert sein wie der Vortrag selbst – mit Ausnahme der Fragen, in denen er gebeten würde, über sich selbst zu sprechen. Auf diese würde er anders reagieren und sie entweder ignorieren, beiseitewischen oder geschickt umgehen. Aufgrund seiner zutiefst egalitären und demokratischen Einstellung scheint Chomsky solche Fragen unwichtig zu finden. Die Tatsachen und Argumente, die er im Dienst dessen vorträgt, was Menschen zu ihrer jeweiligen »Sache« gemacht haben, machen solche Fragen seiner Ansicht nach überflüssig.
Und die Sache, um die es im Oktober 2016 ging, unterschied sich beträchtlich von vielen anderen, über die Chomsky in all den Jahren zuvor gesprochen hatte. An diesem Abend sprach er nicht über diese oder jene Gräueltat oder Rechtsverletzung einer Supermacht. Stattdessen trug sein Vortrag den Titel »Internationalismus oder Untergang« und bezog sich nicht auf irgendeine besondere innen- oder außenpolitische Maßnahme oder Katastrophe, sondern auf die drohende Gefahr des Untergangs so gut wie aller Lebensformen auf der Erde.
In der Stunde bis zu Beginn der Veranstaltung unterhielten sich die Teilnehmer leise und geduldig. Der Titel warnte schon vor dem dramatischen Thema, um das es gehen würde. Aber auch ein vorgebildetes Publikum kann schwerlich darauf vorbereitet sein, dass man es gleich dazu bringen wird, sich mit Entwicklungen auseinanderzusetzen, die zum endgültigen Aussterben der meisten Arten einschließlich der eigenen führen könnten. Darin ähnelte die Erfahrung des wartenden Publikums sicher der des Lesers des vorliegenden Bändchens, dessen Titel ja so bedrohlich ist, wie er überhaupt nur sein kann.
Aber genau das macht Botschaft und Herangehensweise Noam Chomskys aus: Komplexe Fakten und scheinbar übermächtige soziale Strukturen sind alle durch unsere Vernunft erfassbar. Ruhige Diskussion, der Austausch von Standpunkten, klar formulierte Argumente und Konzepte, schnörkellose historische Darstellungen, strategische Fragestellungen und kollektives Engagement, um die Verantwortlichen für die Zerstörung zu überzeugen, unter Druck zu setzen oder loszuwerden – das alles ist Teil dessen, was den nicht eigens erwähnten, implizit aktivistischen Zweck eines Vortrags von Chomsky ausmacht.
Dieses Buch geht auf besagte Chomsky-Veranstaltung zurück. Der Hauptteil (erstes Kapitel) gibt den ursprünglichen Vortrag wieder und ist zusätzlich mit Fußnoten versehen, die den Leser auf weitere Quellen hinweisen. Das zweite Kapitel geht auf ein nach dem Vortrag geführtes Gespräch mit dem engagierten Aktivisten Wallace Shawn zurück, der vielen besser als herausragender Dramatiker und Schauspieler bekannt ist. Vor dem Hintergrund seiner Freundschaft mit Noam, die in den 1980er-Jahren im sandinistischen Nicaragua begann, stellte Shawn einige Überlegungen zu Noams Vortrag an und bat ihn, etwas zu der ewigen, emblematischen Frage zu sagen: Wie überzeugen wir die Leute, die heute nicht hier sind, davon, dass sie etwas tun müssen?
Chomskys Antwort darauf war wahrscheinlich für das Publikum und vielleicht auch für Shawn selbst unbefriedigend. Er sprach dabei von verschiedenen Möglichkeiten zum Abschluss von Abrüstungsverträgen, von verschiedenen historischen Präzedenzfällen und von den Gründen für solche Verträge. Aber damit tat Chomsky die Frage keineswegs arrogant ab, sondern gab Shawn und dem Publikum eine Antwort, die man, wenn es denn überhaupt so etwas gibt, als das »Chomsky-Dogma« bezeichnen könnte: Wir überzeugen Menschen davon, sich zu engagieren und aktiv zu werden, indem wir ihnen die Fakten und Möglichkeiten aufzeigen. Und die von Chomsky erwähnten Verträge waren solche Möglichkeiten. Dafür, dass seine Zuhörer sich dann dafür entscheiden, das Richtige zu tun, gibt es natürlich keine Garantie. Aber die implizite Aussage ist dennoch, dass die Geschichte in unserer Hand ist und von unserer Kreativität abhängt – und von unseren Grenzen.
Im Lauf des auf das Gespräch mit Wallace Shawn folgenden und im dritten Kapitel wiedergegebenen Publikumsgesprächs tauchten wie bei jeder Chomsky-Veranstaltung immer wieder Varianten dieser Frage und der Antworten Noams auf. Während seine grundsätzliche Aussage dabei stets dieselbe bleibt, sind seine Antworten immer detailliert und sorgfältig mit Argumenten untermauert. Stets geht er auf die historische Besonderheit jedes Themas und die spezifischen Probleme ein, mit denen Menschen konfrontiert sind, die im jeweiligen Bereich etwas tun wollen. Kein Kampf, ganz gleich wie lokal oder beschränkt er auch sein mag, wird dabei als unwichtig abgetan. Die Herausforderung für Menschen, die etwas verändern wollen, besteht darin, herauszufinden, wie sich spezifische Kämpfe mit allgemeineren Kämpfen, besonders denen, denen die ganze Menschheit gegenübersteht, verbinden lassen.
Noams direkte, auf seinem Respekt für all die vielen lokalen Kämpfe basierende Antwort auf diese Frage findet sich explizit in seinem Nachwort in Kapitel vier. Sie besteht aus 2019 geschriebenen Anmerkungen zu Fragen der Herausgeber, mit denen er seine Analyse auf die Zeit nach den Wahlen von 2016 und die ersten zwei Jahre der Trump-Administration ausdehnt. Wie schon das dieser Einleitung vorangestellte Zitat klarmacht, soll mit dem Verweis auf die Gefahr des Untergangs auf keinen Fall die Bedeutung anderer, vielleicht unmittelbarerer Kämpfe bestritten werden. Allerdings müssen diese in das richtige Verhältnis zu dem breiteren, universalen Kampf um das Überleben der Menschheit und um Gerechtigkeit gebracht werden. Wir dürfen nicht erwarten, dass die Menschen auf ihre direkten Bedürfnisse verzichten oder ihre historischen Ansprüche aufgeben; stattdessen sollten diese Kämpfe mit dem Kampf gegen den Untergang der Menschheit verbunden und verwoben werden. In Kapitel fünf finden wir den Anfang eines weiteren wohlbedacht formulierten Vortrags Noams von 2019, mit dem er eine dritte existenzielle Gefahr anspricht: die Aushöhlung des demokratischen Prozesses, die ihrerseits zur Verschärfung der Klimakrise und zu der Gefahr eines Atomkriegs beiträgt.
Worum geht es in Noams Vortrag im ersten Kapitel – Internationalismus oder Untergang? Als langjähriger Gegner aller Atomwaffen skizziert Noam nun eine weitere Gefahr für das »200000 Jahre alte Experiment der menschlichen Spezies«: den Klimawandel. Er verweist auf das zeitliche Zusammentreffen beider Gefahren, die beide am Ende des Zweiten Weltkriegs auftauchten. Nur Monate vor der Veranstaltung hatte eine Arbeitsgruppe der International Union of Geological Sciences (IUGS) den Begriff des »Anthropozäns« vorgeschlagen, um zu verdeutlichen, dass die Menschheit und ihre Gesellschaften sich heute in Naturkräfte verwandelt haben, die eine Veränderung des Planeten auf geomorphologischer Ebene bewirken.
»Anthropozän« war zunächst nur ein obskurer Begriff, den sowjetische Wissenschaftler zur Beschreibung der langfristigen Auswirkungen des Handelns der Menschheit auf die Natur geprägt hatten, hat aber nun als Bezeichnung für die Epoche nach dem Holozän, das vor 11000 Jahren begann, Eingang in den akademischen Diskurs und in die Massenmedien gefunden. Der Kohlendioxidspiegel der Atmosphäre, der heute bedeutend höher ist als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, liefert einen klaren, objektiven Maßstab für diese Auswirkungen: Es sind menschliche Aktivitäten, vor allem die Verbrennung fossiler Brennstoffe, die diesen Wert immer rascher nach oben treiben. In seinem Vortrag zeigt Chomsky, dass dies parallel zur wachsenden Gefahr eines tödlichen Nuklearkonflikts stattfindet. In der Ära des Anthropozäns haben Wissenschaftler nun eine Zeit der »Großen Beschleunigung« diagnostiziert, in der der Kohlenstoffspiegel auf mehr als 400 Teilchen per Million (ppm) anstieg und damit wesentlich höher lag als der als »sicher« betrachtete Wert von 350 ppm. Diese Beschleunigung begann etwa 1950.1
Unter Umweltwissenschaftlern und öffentlichen Intellektuellen wird eine Debatte darüber geführt, ob die Bezeichnung »Anthropozän« uns nicht vielleicht von den sozialen Systemen ablenken könnte, die diese Gefahr des Untergangs antreiben. Ein sehr bedeutender Teilnehmer dieser Debatte, der Umwelthistoriker Jason Moore, ist sogar der Meinung, wir sollten die Epoche seit Ende des 18. Jahrhunderts besser als »Kapitalozän« definieren, um auch auf einige entscheidende Gründe des destruktiven Charakters der Epoche hinzuweisen.
Während Chomsky diese Frage im vorliegenden Band nicht anspricht, weist er dennoch auf zwei Elemente des derzeitigen menschlichen Handelns hin, die damit zu tun haben. Zum einen fordert er das Publikum auf, »über eine höchst bemerkenswerte Tatsache nachzudenken: Eine der wichtigsten politischen Organisationen im mächtigsten Land der Weltgeschichte hat sich ganz buchstäblich der Vernichtung eines Großteils des Lebens auf der Erde verschrieben.« Damit richtet er unsere Aufmerksamkeit auf die Republikanische Partei, ihre systematische Leugnung des Klimawandels und ihre dezidiert destruktive Umweltpolitik. Und hier könnte das Publikum natürlich die Frage stellen, welche Kräfte es sind, die die Republikanische Partei und das System als Ganzes dominieren.
Im zweiten Fall gibt Chomsky eine indirekte, aber vielsagende Antwort auf die Frage nach den sozialen Ursachen und zitiert dazu den vierten Präsidenten der USA und einen ihrer »Gründerväter«, James Madison, der einst über die »freche Verderbtheit der Zeiten« sprach, in denen reiche »Börsenspekulanten« sich mit der Regierung, »deren Werkzeuge und Tyrannen sie in einem sind«, zusammentun, um die Herrschaft des Volkes »mit ihrem Geschrei und ihren Schlichen« zu überwältigen. Aus dieser Perspektive haben Privatinteressen schon ganz zu Anfang der amerikanischen Republik den Staat erobert und die Stimme sowie die Interessen der Bevölkerung zugunsten ihrer eigenen Logik der Profitmaximierung verdrängt.
Wir sind allerdings diesen Privatinteressen (über die Chomsky in anderen Werken spricht – siehe dazu Kapitel sieben: Weitere Quellen) und den auf ihnen basierenden »nationalen« Interessen der USA keineswegs ohnmächtig ausgeliefert und mit seinem Vortrag bot Noam dem Publikum die Möglichkeit, Wege auszuloten, auf denen internationale Zusammenarbeit sowohl durch den Druck von Eliten als auch durch den der Bevölkerung entstehen kann. Zugleich zeigt er jedoch auf, dass auch dies sich bisher als unzureichend erwiesen hat, um die Menschheit und den Planeten vor der Gefahr eines atomaren Holocaust zu schützen. Er führt zwei Beispiele für provokative Aktionen der USA an, die fast zu einer unkontrollierbaren Eskalation und einem umfassenden Atomkrieg geführt hätten. Und beide Male boten die bestehenden Verträge und internationalen Mechanismen keinen Schutz. Sowohl während der sogenannten Kubakrise Anfang der 1960er-Jahre als auch während der US-amerikanischen »Operation Able Archer« [»Operation Geschickter Bogenschütze«] in den 1980er-Jahren gewährte die Entscheidung untergeordneter Offiziere, sich nicht an die mechanischen Verfahrensabläufe zu halten, der Menschheit noch eine weitere Atempause.
Im Fall von Operation Able Archer gab der russische Offizier Stanislav Petrov die Informationen über einen vermeintlichen US-Angriff nicht an seinen Vorgesetzten weiter. Er verstieß damit gegen seine Anweisungen für einen solchen Fall und rettete uns so sehr wahrscheinlich vor dem Untergang. Während der Kubakrise verweigerte der sowjetische U-Boot-Offizier Wassili Archipow seine Zustimmung zum Abschuss von Nuklearraketen. In diesem letzteren Fall entsprach sein Vorgehen dem vorgesehenen Prozedere, aber es hätte leicht anders ausgehen können, da zwei weitere Offiziere dem Abschuss bereits zugestimmt hatten. Aber glücklicherweise war die Zustimmung aller drei Offiziere an Bord von Archipows U-Boot erforderlich.
Wären diese Militärs kritiklos den erwarteten Handlungsabläufen gefolgt, wären weder Chomsky noch seine Zuhörer überhaupt noch am Leben gewesen und hätten niemals über das Verhalten dieser bis heute kaum bekannten Soldaten nachdenken können.
Gerade durch seinen Verweis auf diese Art von individuellem Widerstand kann Chomsky deutlich machen, wie groß die Gefahr für unser Überleben und wie notwendig eine Umgestaltung der internationalen Ordnung ist. Während ihm die Haltung einiger der rationaleren und aufgeklärteren Angehörigen der Elite und ihre Forderungen, wie zum Beispiel die von Ronald Reagans Außenminister George Shultz nach Beendigung des weiteren Baus und langfristiger Abschaffung von Atomwaffen, Hoffnung geben, stellt er zugleich unzweideutig fest, dass wir nicht erwarten können, dass »Systeme organisierter Macht angemessene Schritte zur Bekämpfung dieser Krisen unternehmen – zumindest, solange sie nicht durch eine permanente und engagierte Mobilisierung und Aktivität der Bevölkerung dazu gezwungen werden«. Als vielversprechende Alternative verweist er auf Bewegungen wie die große Mobilisierung breiter Teile der Bevölkerung gegen die weitere Entwicklung von Nuklearwaffen Anfang der 1980er-Jahre, die für ihn sowohl exemplarisch als auch notwendig seien.
Im Verlauf der Diskussion gewährte Noam dann auch Einblicke in die Geschichte seines persönlichen Engagements. Am Beispiel einer dieser Begebenheiten, die um ein Rüstungsforschungslabor namens Draper-Labor kreiste, erläutert er die seiner Perspektive zugrundeliegende strategische Logik. Damals sprachen sich liberale Kräfte gegen vom Pentagon finanzierte Forschungen am MIT aus und forderten das Verbot aller derartiger Aktivitäten auf dem Campus. Die Konservativen fanden natürlich genau solche Forschungen gut. Dagegen war die Position der von Noam unterstützen »Radikalen«, solange es solche Forschungen überhaupt gebe, sei es bei Weitem vorzuziehen, wenn sie auf dem Campus stattfänden, wo sie öffentlich überwacht und debattiert werden könnten. Dieser Sicht zufolge bestand das Manko der liberalen Position darin, dass sie diese Art von Forschung gar nicht beenden, sondern nur an Orte auslagern wollte, wo sie nicht wie an der Universität auf organisierten Widerstand stoßen würde. Ganz ähnlich war die Analyse dessen, was Aktivisten an der Basis und sowohl gemeinsam mit staatlichen Akteuren als auch gegen diese fordern sollten, die Basis von Noams Vortrag, der eine sorgfältig komponierte Mischung von geerdeten, pragmatischen Strategien und visionären Ansprüchen lieferte.
Als das Publikum sich dann ins große Schiff der Kirche begab, in der die Veranstaltung stattfand, führte der Weg durch eine Kapelle voller Tische und Stände der verschiedensten Organisationen, von denen jede sich mit Themen befasste, von denen sie glaubte, sie könnten für die Besucher relevant sein. Während Noams Vortrag eine große Synthese vieler verschiedener Anliegen versprach, fügten sich so auch zahlreiche sehr spezifische Kämpfe in diesen Gesamtrahmen ein. Diese Initiativen kommen leider in diesem Buch nicht vor, aber man bekommt in den Anfangspassagen des unter ChomskySpeaks.org im Internet verfügbaren Begleitvideos Noam Chomsky – Internationalism or Extinction eine ganze Reihe dieser vielfältigen Organisationen zu sehen: Haiti- und Venezuela-Solidaritätsgruppen, Ortsverbände von Antiatomwaffen- und Friedensvereinigungen, Bewegungen für Konzernpräsenz, Umweltprojekte, sozialistische Organisationen und viele andere. Ermöglicht wurden die Veranstaltung, das Video und damit das vorliegende Buch durch eine Förderung des Wallace Action Funds. Der Gründer, Randall Wallace, liest Chomskys Werke seit vielen Jahren sehr aufmerksam und ist außerdem Enkel des Agrarwissenschaftlers und ökologischen Denkers Henry Wallace, der von 1941 bis 1945 Franklin Delano Roosevelts Vizepräsident war und bei seiner eigenen Präsidentschaftskandidatur 1948 vor dem heraufziehenden Kalten Krieg und dessen vorhersehbaren Folgen warnte – den Folgen, die Noam im vorliegenden Buch so plastisch darstellt.
Auch wenn die düstere Analyse in diesem Band durch einen geerdeten optimistischen Glauben an den Widerstand von unten ausgeglichen wird, werden die Leser sich wohl genau wie einer der Teilnehmer der Veranstaltung von 2016 fragen: Wie können wir »unser Engagement bewahren«? Noams typisch lapidare Antwort hierauf war: »Man muss ja nur an die Alternative denken.« »Wir geben nicht auf!«, war die unausgesprochene, aber deutlich spürbare Schlussfolgerung des Großteils des Publikums, und genau dasselbe wünschen wir uns in Bezug auf die Leser dieses Buchs und ihre Reaktion auf seinen Aufruf zu einer Notfallmobilisierung gegen den beschleunigten Untergang der meisten Arten einschließlich der menschlichen, der bereits begonnen hat. Um es in Noams Worten zu sagen: »Die Aufgaben, die vor uns stehen, sind gewaltig und können nicht aufgeschoben werden.«
Charles Derber, Suren Moodliar und Paul Shannon
im Frühjahr 2020
Der mögliche Untergang der menschlichen Spezies und die Frage des Internationalismus waren seit dem Augenblick, in dem die Gefahr des Untergangs zur einer nur zu realistischen Sorge wurde, nämlich seit dem 6. August 1945