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Eine essentielle Fibel über Kapitalismus, Politik und die Funktionsweise der Welt, basierend auf der sehr beliebten Vorlesungsreihe "Was ist Politik?" Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus? In diesem bahnbrechenden Text zeichnen Chomsky und Waterstone eine kritische Landkarte für eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft. 'Covid-19 hat eklatante Versäumnisse und monströse Brutalitäten im gegenwärtigen kapitalistischen System aufgedeckt. Es stellt sowohl eine Krise als auch eine Chance dar. Alles hängt von den Handlungen ab, die die Menschen in ihre eigenen Hände nehmen.' Wie prägt die Politik unsere Welt, unser Leben und unsere Wahrnehmungen? Wie viel vom "gesunden Menschenverstand" wird tatsächlich von den Bedürfnissen und Interessen der herrschenden Klassen bestimmt? Und wie können wir die kapitalistischen Strukturen herausfordern, die heute alles Leben auf dem Planeten bedrohen?
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Seitenzahl: 717
Ebook Edition
Noam ChomskyMarv Waterstone
Konsequenzen des Kapitalismus
Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand
Aus dem Englischen von Michael Schiffmann
Originally published in English as Consequences of Capitalism (Haymarket Books, 2021) Copyright (c) 2021 Valeria Wasserman Chomsky and Marvin Waterstone.
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www.westendverlag.de
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1. Auflage 2022
ISBN 978-3-86489-851-8
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022
Übersetzung: Michael Schiffmann
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Titel
1 Gesunder Menschenverstand, das Selbstverständliche und die Macht
2 Der herrschende gesunde Menschenverstand: kapitalistischer Realismus
Vorlesung von Noam Chomsky, 24. Januar 2019
3 Kapitalismus und Militarismus
Vorlesung von Noam Chomsky, 31. Januar 2019
4 Kapitalismus versus Umwelt
Vorlesung von Noam Chomsky, 7. Februar 2019
5 Neoliberalismus, Globalisierung und Finanzialisierung
Vorlesung von Noam Chomsky, 14. Februar 2019
6 Widerstand und Reaktion
Vorlesung von Noam Chomsky, 21. Februar 2019
7 Soziale Veränderungen
Vorlesung von Noam Chomsky, 28. Februar 2019
Kapitalismus und Covid-19 Abschließende Bemerkungen
Die Reaktionen bis jetzt
Kapitalistischer Common Sense und Covid-19
Militarismus und Covid-19
Umweltkatastrophe und Covid-19
Covid-19 und reaktionäre und progressive soziale Bewegungen
Kapitalismus und Covid-19 – 2.0 Weitere Bemerkungen, März 2022
Einige aufschlussreiche Resultate – öffentliche Gesundheit
Einige aufschlussreiche Resultate – Wirtschaft
Weitere Resultate – die Geißel des Neoliberalismus
Schluss: Einige Lichtblicke
Weiterführende Quellen
Zweites Kapitel
Zusatzlektüre
Berichte von Aktivisten aus der Praxis
Drittes Kapitel
Zusatzlektüre
Berichte von Aktivisten aus der Praxis
Viertes Kapitel
Zusatzlektüre
Berichte von Aktivisten aus der Praxis
Fünftes Kapitel
Zusatzlektüre
Berichte von Aktivisten aus der Praxis
Sechstes Kapitel
Zusatzlektüre
Berichte von Aktivisten aus der Praxis
Siebtes Kapitel
Zusatzlektüre
Berichte von Aktivisten aus der Praxis
Kapitalismus und Covid-19
Kapitalismus und Covid-19 – 2.0
Personen- und Ortsregister
Titel
Inhaltsverzeichnis
Scheinbar endlose Kriege sowohl der heißen als auch der kalten Art überall auf der Welt. Immer umfangreichere und gravierendere Umweltkatastrophen. Beispielloser globaler Reichtum und beispiellose Ungleichheit der Einkommen. Und, als Reaktion auf diese und weitere Symptome systemischen Zusammenbruchs immer repressivere und autoritärere Regimes, die sich einer extrem spalterischen Rhetorik bedienen. Das sind die Bedingungen, die das tägliche Leben von Milliarden von Menschen auf unserem Planeten charakterisieren. Das vorliegende Buch basiert auf einem Seminar, das wir in den letzten drei Jahren an der University of Arizona gegeben haben und in dem wir versuchten, den diesen existentiellen Lebensumständen zugrundeliegenden, systemischen Ursachen auf den Grund zu gehen. Dabei haben wir uns bemüht, dies auf eine Art zu tun, die den Blick auf die Möglichkeiten wirksamen Handelns im Rahmen einer auf breite Bündnisse abzielenden Politik lenkt.
Die Hauptziele des Seminars waren ein gründliches Nachdenken über die heute vorherrschende Art der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Organisation der Gesellschaft und die Herstellung der theoretischen, historischen und praktischen Beziehungen zwischen dieser Form der sozialen Organisation und den Folgen, die die unvermeidliche Konsequenz dieser gesellschaftlichen Praxis sind. Außerdem hoffen wir, durch die Aufdeckung der strukturellen systemischen Grundlagen der oben erwähnten, scheinbar disparaten Erscheinungen Maximen für die politische Zusammenarbeit und das Bündnis von unzähligen verschiedenen Gruppen zu erarbeiten, die sich für wirtschaftliche, politische, soziale und ökologische Gerechtigkeit einsetzen. In der Form, wie sie von den wichtigsten Vermittlungsinstanzen präsentiert werden, die das Weltbild der meisten Menschen prägen, erwecken diese Phänomene zunächst fast immer den Eindruck, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Das gilt sogar für Aktivisten und praktisch in Bewegungen arbeitende Menschen, und daher sehen wir nur selten die Formen von politischer Zusammenarbeit und politischen Bündnissen, die für eine wirksame, kohärente und vorwärtsweisende Reaktion auf die skizzierten Entwicklungen nötig sind.
Seit wir dieses Seminar 2017 zum ersten Mal angeboten haben, hat sich natürlich sowohl innerhalb als auch außerhalb der USA politisch sehr viel verändert, aber wir haben seitdem immer das Ziel verfolgt, die Kontinuitäten in den uns interessierenden Themenbereichen hervorzuheben. Während wir uns zwar durchaus für veränderte Bedingungen interessieren, konzentrieren wir uns vor allem darauf, diese Veränderungen in den Kontext einer Gesamtdarstellung der historischen, politischen und sozialen Phänomene zu stellen. Wir wollen sie begreiflich machen, indem wir das Augenmerk auf ihren inneren Zusammenhang lenken, statt sie, wie dies allzu oft geschieht, als separate Ereignisse darzustellen, die in keiner Beziehung zueinanderstehen. Dabei sprechen wir auch von einigen der neuen Formen und Besonderheiten, die diese Erscheinungen in den letzten Jahren angenommen haben; aber auch dabei zeigen wir ihre Verbindungen zueinander auf und führen sie auf kontinuierliche systemische und institutionelle Rahmenbedingungen zurück.
Wir beginnen unser Buch mit einer äußerst grundlegenden Frage: Woher wissen wir eigentlich, was wir über die Welt zu wissen glauben? Im Rahmen dieser Untersuchung werfen wir einen Blick darauf, wie die Menschen zu ihrem Verständnis von der Art und Weise kommen, wie die Welt funktioniert. Dieser Prozess der Erkenntnis, den wir als die Anwendung, Verstärkung und Modifizierung dessen verstehen können, was oft »Common Sense« oder auf Deutsch »gesunder Menschenverstand« genannt wird, ist niemals völlig abgeschlossen. Die Nutznießer der bestehenden Verhältnisse sind ununterbrochen damit beschäftigt, uns die »Erkenntnis« zu vermitteln, dass die Zustände genauso sind, wie sie sein sollten. Wie wir die Welt verstehen, hat daher sehr viel damit zu tun, wie wir uns mit ihr auseinandersetzen. Ferner wollen wir die komplexen Beziehungen zwischen gesundem Menschenverstand und bestehender Macht beleuchten. Dabei greifen wir Antonio Gramscis Konzept der Hegemonie sowie das Konzept und die Rolle des Intellektuellen auf, und außerdem die Art und Weise, auf die die Wirtschaft (im weiteren Sinne) mit anderen Aspekten der Gesellschaft interagiert und so für verschiedene Klassen und Gruppen die unterschiedlichen Erfahrungen ihres Alltagslebens hervorbringt.
Im zweiten Kapitel untersuchen wir eine Erscheinung, die unserer Meinung nach in einem Großteil der Welt, wenn auch nicht überall, die derzeit vorherrschende Form des »gesunden Menschenverstandes« ist. Da wir glauben, dass letzterer Begriff ein sehr nützliches Konzept für das Verständnis der Art und Weise ist, wie wir über die Welt denken und wie wir sie verstehen, müssen wir die Frage stellen, welche Form er gegenwärtig annimmt. Dabei folgen wir einigen anderen Analytikern und bezeichnen die vorherrschende Form des Common Sense als kapitalistischen Realismus. Wir wollen mit diesem Begriff nicht nur das herrschende politisch-ökonomische System, sondern insbesondere auch die Haltung der Verfechter des Systems beschreiben, der zufolge es keinerlei praktikable Alternative zur Organisierung der Gesellschaft nach den Prinzipien der Spätphase des industriellen Staatskapitalismus gibt. Es stimmt natürlich, dass nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern ein Großteil der Gesellschaft nach diesen Prinzipien organisiert ist. Daher ist das der grundlegende Rahmen, in dem wir versuchen werden, die resultierenden Folgen und Probleme zu verstehen. Auch hier hat es in den letzten Jahren wichtige Veränderungen innerhalb der verschiedenen Varianten des Spätkapitalismus und im Verhältnis zwischen ihnen gegeben und unsere Analyse verortet diese Veränderungen innerhalb der jeweiligen Kontinuitäten und Kontexte.
Im dritten Kapitel beginnen wir mit der Untersuchung einiger der gravierendsten Folgen, die sich ganz naturgemäß aus der Organisierung vieler Gesellschaften nach den Prinzipien einer kapitalistisch-realistischen politischen Ökonomie ergeben haben. Wir beginnen mit den vielfältigen Beziehungen zwischen dem Kapitalismus selbst und den verschiedenen alten und neuen Methoden, die die Kapitalisten (und ihre unentbehrlichen Partner im internationalen Staatensystem) eingesetzt haben, um diese Form der politischen Ökonomie auf dem gesamten Globus durchzusetzen. Diese Praktiken sind unter dem Namen Kolonialismus und Imperialismus (in alter oder neuer Form) bekannt geworden und wären oft nicht ohne einen weiteren Mechanismus, nämlich den Militarismus, praktikabel gewesen. In diesem Kapitel verfolgen wir sehr sorgfältig nach, wie das Kapital, sofern seine Bewegungsfreiheit nicht beschränkt wird, sich auf der Suche nach den richtigen Bedingungen für die Maximierung seines Gewinns rund um die Welt bewegt. Damals wie heute zählten zu diesen Bedingungen oft billigere Arbeitskräfte und Ressourcen und/oder gewinnträchtigere Märkte. Gerade in jüngster Zeit gehören dazu auch umwelt- und arbeiterfeindliche Bestimmungen sowie monetäre und steuerliche Konditionen, die die Maximierung der Kapitalakkumulation begünstigen. Diese Praktiken, die häufig nicht ohne gravierende Beschneidung der Rechte und der Souveränität anderer Parteien möglich waren, haben eine lange und blutige Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht und sich wahrscheinlich in eine verhängnisvolle Zukunft fortsetzen wird.
In Kapitel vier wenden wir uns der Untersuchung der wichtigsten Folgen des Verhältnisses zwischen kapitalistischer Wirtschaftsform und Umwelt zu. Hier haben wir eine zweite Gruppe existentieller Krisen vor uns. Zwar nimmt der Kapitalismus als abstraktes Modell in seiner konkreten Umsetzung natürlich verschiedene Formen an, aber dennoch hat er die kontinuierliche und charakteristische Tendenz, den Planeten als Warenlager für die von ihm benötigten Ressourcen (darunter vor allem Energie) oder als Müllhalde für Abfallprodukte aller Art (die zu einem Großteil dem Bestreben nach beständigen Neuerungen und dem damit einhergehenden Veralten der bisherigen Produkte geschuldet sind) zu betrachten. Dementsprechend muss er die Natur ohne Rücksicht auf ihren intrinsischen Wert und ihre unentbehrliche Rolle für den Fortbestand des Lebens seinem unnachgiebigen Kalkül von Kosten und Nutzen unterwerfen. In diesem Kalkül sinkt der Wert von allem, was nicht der Maximierung des Gewinns oder der Minimierung der Verluste dient, immer tiefer und im »Idealfall« sogar auf null. Zusammen mit den immer kürzeren Zeitspannen, in denen eine maximale Investitionsrendite erwirtschaftet werden muss, hat ein unter dem Diktat des Wettbewerbs stehender Imperativ zur Externalisierung sämtlicher nicht zum Profit beitragender Kosten zu einer endlos langen Liste von Umweltgefahren geführt, zu denen auch die drohende Klimakatastrophe gehört, die heute das Leben auf der Erde in seiner bisher bekannten Form infrage stellt.
Im fünften Kapitel nehmen wir die Untersuchung der banaleren, alltäglichen Gewalt des Kapitalismus in seiner heutigen neoliberalen, globalisierten und finanzialisierten Form in Angriff. Auch wenn diese alltäglichen Erscheinungen nicht immer unbedingt so dramatisch sind wie der Militarismus oder die Umweltkatastrophe, sind sie doch typisch für die Auswirkungen des Kapitalismus auf den Alltag von Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt. Während die Ideen, die dem Neoliberalismus zugrunde liegen, viel weiter in die Vergangenheit zurückreichen, hat er sich seit Ende der 1970er und erst recht in den 1980er Jahren vor allem in den USA und Großbritannien in ein permanentes Programm der Eliten verwandelt, das dem Zurückrollen der bescheidenen Positionsgewinne dienen soll, die die Unterklassen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpfen konnten. Zu den Hauptzielen gehören die Beseitigung oder Privatisierung staatlicher Dienstleistungen aller Art, der kompromissloser Angriff auf alle Formen gewerkschaftlicher Organisierung, die massive Deregulierung sämtlicher Bereiche der Wirtschaft und die Verbreitung eines kritiklosen Glaubens daran, dass Marktprinzipien zur Beurteilung sämtlicher Aspekte des sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens geeignet sind. Das Ergebnis ist der atemberaubende Anstieg von Reichtum und Ungleichheit, die weitgehende Beseitigung oder das Verschwinden auch noch der minimalsten Zugeständnisse an die Bevölkerung im Hinblick auf soziale Sicherheit, der Verlust der »Commons« so gut wie überall in der Gesellschaft sowie die radikale Beschneidung der Hoffnung der Menschen auf irgendetwas, was sie von einem Gebilde namens »Gesellschaft« erwarten könnten.
Das sind drei große Kategorien von Konsequenzen des Kapitalismus, die wir in diesem Buch behandeln: den Militarismus (und die Gefahren von Krieg und »Terrorismus«), die drohende Umweltkatastrophe und die oberflächlich betrachtet trivialeren Auswirkungen des Neoliberalismus. Aber diese Folgen führen unvermeidlich auch zu Reaktionen. Sobald wir uns über die Konsequenzen klar geworden sind, müssen wir darüber nachdenken, wie soziale Bewegungen auf sie reagieren und wie Forderungen nach fortschrittlichen Veränderungen durchgesetzt werden können. Zugleich beschäftigen wir uns damit, wie die Eliten (die vom Erhalt oder der Verstärkung des Status quo begünstigt werden) ihrerseits auf diese Reaktionen antworten. Das sind die Themen, die wir in Kapitel sechs aufnehmen. Wie schon seit etlichen Jahrzehnten hat es in den letzten Jahren eine große Vielfalt von sozialen Bewegungen für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Gerechtigkeit gegeben: gegen die Sparpolitik der Regierungen, für die Umwelt, für die Menschenrechte (die eine Erweiterung der Definition von »Mensch« und der Liste der Menschenrechte selbst forderten), für eine Strafrechtsreform, für die Reduzierung und Abschaffung der weltweiten Armut und vieles andere mehr. Bedrückend bei alldem war allerdings die kontinuierliche Fähigkeit der Eliten, diese Bewegungen voneinander getrennt zu halten oder sogar gegeneinander aufzuhetzen. Eines der Hauptziele unseres Buchs besteht darin, aufzuzeigen, wie grundlegend wichtig die Beziehungen zwischen diesen scheinbar völlig disparaten Themen sind. Wir wollen damit begründen, wie notwendig das Bestreben nach Bündnissen und Einheit ist.
Der Widerstand gegen die Verhältnisse wächst, aber bisher ist es den Eliten gelungen, die bestehende Unzufriedenheit dazu zu nutzen, die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft gegeneinander aufzuwiegeln. Auch diesen Aspekt der Auswirkungen des Kapitalismus diskutieren wir in Kapitel sechs. Die Strategien der Eliten treten oft im Mantel eines so genannten Populismus (oder Nationalismus, Patriotismus oder Nativismus) auf, bei dem die Schuld an allen derzeitigen Übeln auf die wehrlosesten Teile der Bevölkerung (Einwanderer, Minderheiten, Alte, Junge, Behinderte oder »Abweichler« von sexuellen oder sonstigen Normen) geschoben wird, die dann im Namen der »akzeptierten« und »wertvollen« Mitglieder der Gesellschaft zum Sündenbock für alles und jedes gemacht werden. Damit werden (mindestens) zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum einen wird noch mehr Macht in die Hände autoritärer »Populisten« gelegt, die die wertvollen Mitglieder der Gesellschaft vor den »wertlosen« beschützen wollen, und zum anderen werden Aufmerksamkeit und Kritik gerade von jenen abgelenkt, die die Entscheidungen treffen, die für die Mehrheit so verhängnisvoll sind.
Im letzten Kapitel untersuchen wir einige konkrete Elemente, die in die Arbeit für fortschrittliche Veränderungen eingehen müssen, und einige Hindernisse, die solchen Veränderungen entgegenstehen. Wie wir schon in unserem Seminar zu vermitteln versucht haben, ist es hier sehr wichtig zu verstehen, dass es für all diese Fragen und Probleme Lösungen gibt. Es gibt bereits Menschen, die an den theoretischen und praktischen Antworten auf die Fragen arbeiten. Ihre Arbeit zeigt, dass reale Veränderungen erreichbar sind, aber auch, dass die Hindernisse dafür fast immer groß sind. Viele dieser Hürden sind institutioneller Art und gehen auf die bestehenden Machtsysteme zurück. Wichtiger Teil unserer Arbeit an all diesen Problemen ist der Versuch, diese Hindernisse zu verstehen und Wege zu ihrer Überwindung zu finden. Trotz aller Schwierigkeiten kommen wir hier um energische Bemühungen um Abhilfe nicht herum.
Das ist also die Gesamtstruktur. Wir beginnen, indem wir untersuchen, wie wir selbst glauben, die Welt zu verstehen: unsere Konzeption von der Funktionsweise der Welt, zumindest im Hinblick auf die Aspekte, über die wir in diesem Buch sprechen. Dann behandeln wir einige der wichtigsten Folgen dieser Funktionsweise sowie Muster, wie Bewegungen sich organisieren können, um gegen diese Konsequenzen anzukämpfen. Bei allen Kapiteln handelt es sich um leicht redigierte und ergänzte Versionen unserer Vorlesungen der letzten drei Jahre, in erster Linie aber aus dem Frühjahr 2019. Die Kapitel sind immer in zwei Teile aufgeteilt, deren jeweils leicht unterschiedliche Absichten sich auch im Stil niederschlagen. Im ersten Teil, den modifizierten Vorlesungen Marv Waterstones, liefern wir einen theoretischen, konzeptuellen und historischen Überblick zum fraglichen Thema. Er ist im Stil etwas formeller und konzentriert sich bewusst auf die analytischen und abstrakten Aspekte. Der zweite, auf den Vorlesungen Noam Chomskys basierende Teil der Kapitel, gibt eine Reihe sehr konkreter historischer und aktueller Beispiele, die zur Veranschaulichung der abstrakteren Überlegungen dienen sollen. Entsprechend dem konkreteren und empirischen Charakter des Materials ist der Ton hier eher locker und gesprächsartig. Auch wenn wir zwei verschiedene Vorlesungen gehalten haben, konnte jeder von uns doch immer explizit auf das verweisen, was im Rahmen der Vorlesung des anderen diskutiert wurde. Die Tatsache, dass wir dazu umfangreiche Rückmeldungen erhielten, scheint zu zeigen, dass diese Kombination und Integration von Inhalt und Stil sowohl provokativ als auch produktiv waren. Auch in diesem Buch, mit dem wir die diskutierten Ideen über den akademischen Bereich hinaus zu verbreiten versuchen, werden wir so oft wie möglich die zwischen den beiden Teilen des jeweiligen Kapitels bestehenden inhaltlichen Beziehungen und Verbindungslinien aufzeigen.
Eine letzte Anmerkung zu Struktur und Inhalt des Buches: Um den Passagen, in denen es um die Notwendigkeit und Möglichkeit fortschrittlicher Veränderungen geht, mit konkretem Inhalt zu füllen, und das düstere Zukunftsbild, das die Vorlesungen oft als wahrscheinlich erscheinen ließen, etwas aufzuhellen, luden wir jede Woche mindestens einen und meistens zwei Aktivisten und Praktiker ein, die in den Bereichen tätig waren, die zum jeweiligen Zeitpunkt des Seminars hauptsächlich diskutiert wurden. Einige von ihnen kamen aus der Region und waren persönlich anwesend, während andere über Bildschirm aus allen möglichen Gebieten des Landes zugeschaltet wurden.
Jedes Kapitel enthält deshalb am Ende des Buchs neben der Lektüreliste für das Seminar und den über diese noch hinausgehenden Quellenangaben noch eine kurze Beschreibung der Vorträge unserer Besucher sowie Links zu den Organisationen, denen sie angehören. Das Feedback der Studenten hat uns den Eindruck vermittelt, dass diese Besuche ihren Zweck erfüllt haben. Sie haben ihnen gezeigt, dass Veränderungen möglich sind und ihnen Zugang zu Menschen verschafft, die etwas tun.
Die jungen Menschen in unseren Seminaren und die Leser dieses Buchs sind mit Problemen konfrontiert, die es noch nie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Wird die menschliche Spezies überleben? Und wenn sie es tut, wird das Leben dann noch menschenwürdig sein? Wir können uns diesen Fragen nicht entziehen. Neutralität ist keine Alternative, sondern in Wirklichkeit die schlechteste Wahl. Dieses Buch ist unser Versuch, darzulegen, wie ein effektiveres Handeln aussehen könnte, und wie man es in die Wege leiten kann.
Noam Chomsky und Marv Waterstone im Frühjahr 2020
Woher wissen wir eigentlich, was wir über die Welt zu wissen glauben? Wie navigieren wir unser alltägliches Leben und wie passen wir uns an neue Situationen an? In diesem ersten Kapitel wollen wir die Mechanismen behandeln, die an der Produktion, Verstärkung und manchmal auch Veränderung der Prozesse beteiligt sind, durch die Menschen zu bestimmten (manchmal richtigen, aber oft auch falschen oder ungenauen) Antworten auf zwei Fragen kommen: Erstens: Wie funktioniert die Welt unter gewissen Umständen tatsächlich? Und zweitens: Wie könnte oder sollte die Welt funktionieren? Während wir die Diskussion auf einer abstrakten und allgemeinen Ebene beginnen, stellen wir diese Fragen aber immer auch im Rahmen der Kontexte, die uns hier am meisten interessieren, das heißt im öffentlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext und weniger im Hinblick auf unser privates Denken und Tun. Fürs Erste werden wir die Summe dessen, was viele Leute zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort glauben, als gesunden Menschenverstand bezeichnen. Sehen wir uns daher diesen Begriff einmal näher an.
»Zentral für den Begriff des gesunden Menschenverstandes ist, dass es keiner besonderen Bildung und keiner Beweise bedarf, um seine Wahrheiten zu begreifen und zu akzeptieren. Sie werden von der gesamten Gesellschaft anerkannt und liegen für jeden über normale Intelligenz verfügenden Bürger auf der Hand.« (Crehan 2016)
Diese Definition aus Kate Crehans Buch von 2016 enthält eine Reihe sehr dehnbarer Konzepte, die uns, wann immer wir ihnen begegnen, sehr skeptisch machen sollten, wie etwa die »gesamte Gesellschaft«, »jeder über normale Intelligenz verfügende Bürger« sowie Dinge oder Ideen, die wir einfach so und ohne Beweis akzeptieren. All diese Dinge sollten uns sehr stutzig machen. Aber gleichzeitig ist klar, dass sie Elemente dessen darstellen, was wir über den Begriff des gesunden Menschenverstandes zu wissen glauben. Tatsächlich ist das ein Aspekt der Funktionsweise des gesunden Menschenverstandes: Er funktioniert tatsächlich über diese unhinterfragten, als gegeben hingenommenen Mechanismen.
Es gibt mehrere verschiedene Definitionen von »gesundem Menschenverstand«. Die erste davon stammt von Aristoteles und besagt, dass er eine Art sechster Sinn ist, der die anderen fünf Sinne organisiert und uns so ermöglicht, die Welt zu verstehen. Wir erfahren also alle möglichen Arten von sinnlichen Eindrücken in Form von Hören, Sehen, Riechen, Berühren oder Schmecken, aber außerdem haben wir auch noch einen sechsten Sinn, der uns, laut Aristoteles, erlaubt, all diese Eindrücke zu integrieren und daraus Dinge zu konstruieren, die für unser Gehirn eine Bedeutung ergeben. Das ist eine der Definitionen des gesunden Menschenverstandes, die man vielleicht als mechanistisch bezeichnen könnte.
Bei einer zweiten Definition geht es um das, was alle Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort über die Welt und ihre Funktionsweise wissen. Hier ist die Frage des Grads von Bedeutung: Je mehr man mit anderen zu tun hat und je näher man ihnen ist, in desto höherem Grad ist der »Common Sense« diesem Verständnis nach allen gemeinsam und in desto höherem Grad unterscheidet er sich vom gesunden Menschenverstand anderer, die einem fern sind. Dieses Verständnis lässt uns dann Dinge sagen wie: »Nun, das ist doch schlicht gesunder Menschenverstand. Natürlich laufen die Dinge so.« Das wäre also eine zweite Definition.
Eine dritte Definition ist normativer Art und betrachtet den gesunden Menschenverstand als etwas Positives. In diesem Verständnis ist er mehr oder weniger das Äquivalent von Vernunft. Diese Variante spricht dann manchmal von dem Gegensatz Schlauheit versus Bücherwissen: Man weiß doch, was der Bauch einem sagt. Es gibt viele Leute, die sich in ihrem gesellschaftlichen Leben von diesem Prinzip leiten lassen. Da sagt man dann Dinge wie »Benutz doch mal deinen gesunden Menschenverstand«. Mit anderen Worten: »Du weißt doch, wie die Welt funktioniert, wende doch mal deine Vernunft an.«
Wenden wir uns nun einer Formulierung zu, die all das ein wenig anders umreißt, nämlich dem von dem britischen Soziologen und Sozialwissenschaftler Anthony Giddens (Giddens 1984) geprägten Begriff des praktischen Bewusstseins, der mit dem des gesunden Menschenverstandes verwandt ist. Die ersten beiden oben gegebenen Definitionen sind ähneln dem, was Giddens unter praktischem Bewusstsein versteht. Letzteres beschreibt er als Akkumulation erlernten Verhaltens zur Bewältigung der Situationen, mit denen wir in unserem Alltagsleben konfrontiert sind, und er nennt es »praktisches Bewusstsein«, um es von dem zu unterscheiden, was er als »diskursives Bewusstsein« bezeichnet (1984).
Um sein diskursives Bewusstsein zu nutzen, muss man ein inneres Gespräch führen, das einem klarmacht, wie die Welt funktioniert. Man muss dabei sehr sorgfältig nachdenken. Mit dem praktischen Bewusstsein verhält es sich ganz anders. Da weiß man in vielen Situationen ganz einfach, wie man sich verhalten soll, was man zu erwarten hat, was passiert, wenn man sich auf eine bestimmte Art verhält. Daher habe ich das Seminar letztes Jahr damit begonnen, dass ich die Teilnehmer unvermittelt angeschrien habe, weil das eben nicht Teil dessen ist, wie wir uns eine Situation wie hier im Seminar vorstellen. Es ist nicht Teil des Dekorums. Es ist unerwartet.
Das praktische Bewusstsein erreicht selten die gerade erwähnte Ebene des diskursiven inneren Gesprächs. Das ist sehr wesentlich. Und es ist natürlich sehr gut, dass wir nicht andauernd über jeden Schritt, den wir tun, und über die Art und Weise, wie wir uns in der Welt bewegen, nachdenken müssen, denn andernfalls wären wir ja praktisch paralysiert. Wenn wir all unser Tun in der Welt jeden Tag neu lernen müssten, würde uns das daran hindern, überhaupt je etwas zu tun. Daher ist es gut, dass ein Großteil unserer Interaktion miteinander und mit der Welt durch Routinen, also durch unser praktisches und nicht durch unser diskursives Bewusstsein, bestimmt ist.
Manchmal werden wir uns darüber bewusst, dass wir auf regelgeleitete Art handeln. Das passiert zum Beispiel, wenn wir mit neuen Situationen konfrontiert sind, beispielsweise, wenn wir reisen und dabei in ein Umfeld kommen, dessen Regeln wir nicht kennen. Wie jeder weiß, der die Erfahrung schon gemacht hat, können dann alle möglichen Dinge geschehen. Zum einen muss man dann darüber nachdenken, wie man sich verhalten soll und welche Art von Verhalten dafür sorgen kann, dass man sicher bleibt und nicht in Situationen gerät, die ungemütlich sind. Das ist also eins der Dinge, die dann geschehen: Man beginnt, darüber nachzudenken, wie die Dinge unter ungewohnten Umständen funktionieren. Wenn sie anders funktionieren als unter sonstigen, normalen Umständen, kann man sich die Frage stellen, wie man herausfinden kann, wie sie funktionieren. Das ist also ein erster Punkt.
Zum anderen beginnen wir – sofern wir uns des eben skizzierten Prozesses überhaupt bewusst sind – zu begreifen, dass ein sehr großer Teil unseres Verhaltens regelgeleitet ist. Es wird von Regeln bestimmt, obwohl wir in den meisten Situationen weder über die Regeln selbst noch über die Tatsache nachdenken müssen, dass es sie gibt.
Das ist ein sehr wichtiger Schritt, und genau daran denkt Giddens, wenn er sagt, dass das praktische Bewusstsein für die meisten Alltagssituationen ausreichend ist, aber dass wir uns unter manchen Umständen darüber bewusst werden, dass wir etliche regelgeleitete Verhaltensweisen internalisiert haben. Tatsächlich nehmen wir, um hier einen Ausdruck von Giddens besonders hervorzuheben, »die Dinge als gegeben hin«. (Giddens 1984)
Ein weiterer Umstand, der uns veranlassen kann, uns vom praktischen zum diskursiven Bewusstsein hinzuwenden, liegt vor, wenn wir in Situationen kommen, in denen wir glauben, die Regeln zu kennen, in denen aber dann etwas Unerwartetes geschieht, etwas Unvorhersehbares oder etwas, dessen Konsequenzen wir unangenehm finden. Auch hier führt dies zu der Erkenntnis, dass unser Leben generell bestimmten Regeln folgt und dass wir verstehen sollten, was diese Regeln sind.
Eine wichtige Frage, die Giddens hier aufwirft und auf die wir noch zurückkommen werden, ist, wo all diese Regeln überhaupt herkommen. Wie kommen diese ganzen Verhaltensregeln ins Spiel? Ich werde gleich genauer darauf eingehen, aber zunächst einmal möchte ich über einen recht unglücklichen Ausdruck sprechen, den Giddens geprägt hat. Es geht dabei um einen Prozess, den er als »Strukturierung« bezeichnet (1984).
Was er damit meint, ist, dass wir Menschen die fraglichen Regeln durch unsere Praxis selbst machen und zementieren, aber dann vergessen, dass es sich dabei um menschengemachte Regeln handelt. Die Regeln erwecken nunmehr den Anschein, als operierten sie vollkommen unabhängig von der Gesellschaft. Der Punkt, an dem wir vergessen, dass wir selbst die Regeln machen, ist zumindest zum Teil genau das, was den Status quo so dauerhaft macht. Wieder nehmen wir die Regeln des Alltagslebens mit der Zeit als »gegeben« an. So laufen die Dinge nun mal und das sollten sie auch, das ist doch bloß gesunder Menschenverstand. Ich werde das später noch genauer erläutern, hier möchte ich aber gleich festhalten, dass nicht alle Mitglieder der Gesellschaft die gleiche Macht haben, diese Regeln zu bestimmen und ihre Einhaltung durchzusetzen – auch darauf werden wir noch detaillierter zurückkommen.
Woher kommt unser gesunder Menschenverstand? Wie lernen wir diese Regeln? Hier ist ein weiteres Zitat von Kate Crehan:
»In gewisser Hinsicht hat jeder von uns seine ganz eigene Version von gesundem Menschenverstand. Einen Großteil davon teilen wir [wie oben von mir erwähnt] mit anderen in unserer unmittelbaren Umgebung, während die Unterschiede umso größer sein werden, je weiter die anderen von uns entfernt sind. So wird in uns das Verständnis dieser Regeln erzeugt.« (Crehan 2016)
Wenig überraschend kommt der früheste Einfluss in dieser Hinsicht von unseren Eltern und unserer Familie. Offenbar finden diese Lernprozesse teilweise sogar schon im Mutterleib statt, aber damit will ich mich im Augenblick nicht befassen. Auf die Kernfamilie folgen dann Verwandtschaft, Freunde, Erziehungs- und Bildungssystem, Religion, Medien im allerweitesten Sinn, Kulturinstitutionen, die Dinge, die unsere Aufmerksamkeit wecken, und schließlich unsere eigene, mit der Zeit immer weiterwachsende Erfahrung.
Ich möchte hier einen Vorbehalt geltend machen, über den ich später noch mehr sagen werde. Unsere akkumulierte eigene Erfahrung nimmt im Lauf der Zeit einen immer festeren Charakter an. Wir glauben allmählich, zu wissen, wie die Welt funktioniert, und daher akzeptieren wir alles, was mit diesem sich herausbildenden Standpunkt übereinstimmt, viel eher als etwas, was unserer Konzeption von der Funktionsweise der Welt widerspricht. Diese Entwicklung ist jedoch insoweit Teil eines ununterbrochenen Prozesses, als wir ja immer besser verstehen wollen, wie die Welt funktioniert.
Wichtig ist in dieser Hinsicht auch die Unterscheidung zwischen Dingen, die wir aus erster Hand kennenlernen und verstehen können, und Information, die aus zweiter, dritter und vierter Hand durch diverse Medien vermittelt wird, also medialisierter Information, die ja eine immer größere Bedeutung bekommt. Verglichen mit dem, was wir durch diese anderen Informationsquellen erfahren, kommt unser Wissen über die Welt immer weniger aus erster Hand.
Entscheidend wichtig ist auch die Tatsache, dass nichts ungefiltert in unser Gehirn oder unseren Geist gelangt. Kommen wir hier zurück auf den Gedanken von Aristoteles: Seine Definition des gesunden Menschenverstandes als sechstem Sinn, der uns ermöglicht, den von den anderen Sinnen kommenden Informationen über die Welt eine Bedeutung zu geben, umgeht die wichtige Frage, wie denn dieser zusätzliche Sinn aufgebaut ist. Damit meine ich, dass unsere Akkulturation, der Prozess, durch den wir unseren gesunden Menschenverstand entwickeln, teilweise in der Herausbildung einer Reihe von Filtern besteht, die uns sagen, was wichtig ist und was nicht und wie wir die Stimuli der Außenwelt interpretieren sollen. Ein Teil davon kann richtig sein, ein anderer dagegen falsch.
Damit ist dieses Als-gegeben-sein-Hinnehmen und die schrittweise Verfestigung des gesunden Menschenverstandes ein sehr bedeutsames Phänomen. Es handelt sich um das, was ich gerade eben beschrieben habe, das heißt, dass wir beginnen, die Dinge herauszufiltern, die nicht so recht mit unserer Vorstellung von der Funktionsweise der Welt übereinstimmen, und dass wir alles ablehnen, was zu dieser Vorstellung in Widerspruch steht. Das ist meiner Meinung nach besonders und in zunehmendem Maß bei dem Phänomen der Fall, das mittlerweile als »Blase« oder als »Siloeffekt« bezeichnet wird und bei dem wir bei einem Großteil unserer Interaktion mit den Medien in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, und zwar meistens in eine, die wir bereits akzeptiert zu haben scheinen.
Wir sollten uns also jedes Mal, wenn wir Behauptungen wie »Wenn Ihnen X gefallen hat, werden Sie auch Y lieben« sehen, darüber im Klaren sein, dass wir hier einen Algorithmus vor uns haben, der genau diesen Steuerungseffekt hervorbringt. Das geschieht auf jede nur erdenkliche Art in den sozialen Medien, aber auch in den Massenmedien. Es verwandelt die Leute in Zuschauer von »linken« (CNN oder MSNBC) oder »rechten« (Fox usw.) Sendern und erzeugt die Tendenz, uns in einen Silo oder in eine oder mehrere dieser Blasen zu begeben, und genau das ist zunehmend der Fall.
Hier nun eine wichtige Frage: Denken wir hier an einen einzigen gesunden Menschenverstand, oder an mehrere Varianten? Nur zu oft ist ja das, was dem einen als offenkundige Tatsache gilt, für den anderen nur eine fragwürdige oder komplett falsche Behauptung. Es gibt also mehr als nur einen gesunden Menschenverstand und merkwürdigerweise verändern sich selbst scheinbar unbestreitbare Tatsachen im Lauf der Zeit. Sofern wir nur einigermaßen aufgeschlossen sind, haben wir ja auch selbst vielleicht zu einer bestimmten Zeit etwas geglaubt, später aber dann ganz anders darüber gedacht. Offensichtlich operieren verschiedene Varianten des gesunden Menschenverstandes zu ein und derselben Zeit. Genau das ist die Quelle von Kontroversen und inhaltlichen Auseinandersetzungen. Die Idee eines einzigen gesunden Menschenverstandes,
»der allen Menschen in jeder gegebenen Zivilisation gemeinsam ist, ist dem Geist der Gefängnishefte Gramscis gänzlich fremd. Genau wie für Marx ist auch für Gramsci jede Zivilisation derart durch Ungleichheit gespalten, dass wir keinerlei Verständnis für sie entwickeln können, ohne mit dieser Ungleichheit zu beginnen. Diese elementare Frage wird immer als Erstes vergessen: die Tatsache, dass es Herrscher und Beherrschte, Führende und Geführte gibt. Der gesunde Menschenverstand in all seiner multiplen Verwirrung ist das Produkt einer zutiefst gespaltenen Welt.« (Crehan 2016)
Es gibt also zu jeder bestimmten Zeit und an jedem bestimmten Ort zahlreiche Varianten des gesunden Menschenverstandes, die miteinander konkurrieren, und daraus ergibt sich für uns eine Reihe von Folgerungen. Als Erstes sagt diese Beobachtung uns, dass der gesunde Menschenverstand instabil ist. Er verändert sich im Lauf der Zeit, je nach Ort, von Gruppe zu Gruppe, von einer sozialen Klasse zur anderen, von einer Situation zur nächsten und so weiter. Sie sagt uns außerdem, dass der gesunde Menschenverstand formbar und anfällig für Manipulation ist. Nochmals: Er steht nicht ein für alle Mal fest, sondern kann sich verändern.
Setzen wir dieses Verständnis davon, was es mit dem gesunden Menschenverstand auf sich hat, zum politischen Handeln in Beziehung. Wie Kate Crehan schreibt, ist Gramsci letztlich an dem Wissen interessiert, »das politische Bewegungen mobilisiert, die in der Lage sind, radikale Veränderungen herbeizuführen«. (2016) Das war es, worauf es ihm ankam. Eines seiner zentralen Anliegen war der Versuch zu verstehen, warum die italienische Bevölkerung Mussolini und den Faschismus akzeptierte. Vor allem darum hatte er ein so großes Interesse an diesen Fragen.
Dann ist die wichtigste Art von Wissen eines, das das Potential hat, auf die Welt zurückzuwirken, sobald bewusste Kollektive es sich zu eigen machen. Als guter Marxist waren für Gramsci die wichtigsten kollektiven Akteure dieser Art Klassen. Er interessierte sich für den Klassenkampf.
Die Netze des dominanten Weltverständnisses, mit denen unsere Sozialisierung uns vom Tag unserer Geburt an umgibt, sind eine Realität, von der aus wir alle beginnen. Wir sind alle immer in gewissem Maß die Geschöpfe der herrschenden Meinungen, aber dennoch kommt es in bestimmten historischen Augenblicken zu radikalen sozialen Veränderungen. Wann und warum geschieht das? Ein roter Faden in Gramscis Gefängnisheften ist die Frage, welche Beziehung zwischen der herrschenden Meinung (was nur ein anderer Ausdruck für den gesunden Menschenverstand ist) und gesellschaftlicher Veränderung besteht. Wie hängt beides zusammen, falls es das überhaupt tut? Das war für Gramsci die zentrale Frage, während Marx sich mit ihr nie sonderlich intensiv beschäftigt hat. Daher wird Gramsci in vieler Hinsicht als der Kulturtheoretiker des Marxismus betrachtet.
»Ungeachtet all seiner Kritik« am gesunden Menschenverstand – und er stand diesem sehr kritisch gegenüber, da er ihn als Durcheinander und als in vielerlei Hinsicht ziemlich unausgegoren betrachtete – »lehnte Gramsci ihn keineswegs pauschal ab. Inmitten der chaotischen Wirrheit des gesunden Menschenverstandes, der sowohl eine Heimat als auch ein Gefängnis ist, erkannte er etwas, was er als buon senso, als Vernunft identifizierte.« (Crehan 2016) Wir fühlen uns also in unserem gesunden Menschenverstand heimisch, aber er stellt zugleich eine Fessel dar. Und außerdem enthält er einen Kern von Vernunft.
Der Ausdruck »etwas philosophisch nehmen« kann außer als Aufforderung zu Geduld oder Resignation auch wie bei Gramsci als Einladung zum Nachdenken und der reflektierten Erkenntnis angesehen werden, dass alles, was geschieht, letztlich rational ist und in diesem Sinne verstanden werden muss. Auf diese Weise kann die Vernunft aus dem gesunden Menschenverstand herausgeschält werden, aber das ist ein Prozess, von dem Gramsci sagt, er müsse bewusst in Gang gesetzt und von Intellektuellen zu etwas Kohärentem gemacht werden. Das ist für ihn ihre wichtigste Rolle.
Aber Gramscis Begriff des Intellektuellen ist sehr weit gefasst. Seiner Meinung nach kann jeder, dem die Möglichkeit dazu gegeben wird, ein Intellektueller sein, also eine Person, die über die Bedingungen ihrer eigenen materiellen Existenz und über die Frage nachdenkt, warum diese Existenz so beschaffen ist, wie sie es tatsächlich ist. Für Gramsci kann also jeder ein Intellektueller sein.
Die Rolle des Intellektuellen besteht darin, aus dem Durcheinander des gesunden Menschenverstandes die Vernunft herauszuarbeiten. Für Gramsci teilen sich die Intellektuellen in zwei große Kategorien auf. Die organischen Intellektuellen sind diejenigen, die mit ihrer Klasse verbunden bleiben und deren Interessen fördern. Das hat jedoch nicht unbedingt etwas mit der politischen Richtung zu tun. So würde ich etwa sagen, dass der klassische Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith ein organischer Intellektueller für seine Klasse (nämlich die der Bourgeoisie) war.
Außerdem gibt es die traditionellen Intellektuellen, und in der Beschreibung Gramscis sind das Leute, die als Apologeten, Interpreten und Unterstützer des Status quo fungieren. Unter diese Kategorie fallen auch die Wissenschaftler, die Marx als »Vulgärökonomen« bezeichnete und mit denen er in Diskussionen und Auseinandersetzungen verstrickt war. Die Rolle der organischen Intellektuellen besteht darin, aus dem gesunden Menschenverstand den Kern von Vernunft herauszuarbeiten.
Verlassen wir jetzt für den Augenblick einmal die abstrakte Ebene und sehen uns ein konkretes Beispiel für einen Aspekt des gesunden Menschenverstandes in den USA an, ein Beispiel, auf das wir später noch auf verschiedene Art zurückkommen werden. Ich habe dafür den amerikanischen Traum gewählt. Kommt einem, wenn man diesen Ausdruck hört, nicht sofort ein Bild in den Sinn? Wie sieht dieses Bild aus?
Es ist in etwa das folgende: Wenn man hart arbeitet und sich an die Regeln hält, hat man in »Amerika« (und natürlich nicht nur dort) auch Erfolg. Du musst hart arbeiten und dich an die Regeln halten und du wirst es schaffen, das ist ein Teil des Traums. Zusätzlich gibt es noch einen Maßstab dafür, was als Erfolg zu gelten hat. Erfolg nimmt hier fast immer die Form von Waren oder Geld an, da dies die Art von Belohnung ist, die ein kapitalistisches System den Menschen geben kann und muss.
So ist bei uns zum Beispiel immer von einem »Eigenheim« die Rede. Ich will hier nicht weiter in die Diskussion einsteigen, warum dieser bestimmte Erfolgsmaßstab, das heißt der Besitz eines Eigenheims in einer Vorstadt oder anderswo, zur Musterform und Illustration des amerikanischen Traums geworden ist. Es hatte jedenfalls sehr viel mit der Verbreitung des Massenkonsums zu tun. Der Ausdruck selbst, »American Dream«, wurde in den 1930er Jahren während der Weltwirtschaftskrise geprägt. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, war ein Großteil der Bemühungen darauf gerichtet, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Eine der Arten, auf die das bewerkstelligt werden konnte, war die Förderung nicht des kollektiven, sondern des individuellen Konsums. Also musste jeder sein eigenes Haus haben. Und in logischer Folge mussten dann alle auch noch ihren eigenen Eisschrank und jede Menge andere Geräte haben. Diese Dinge sollten nicht miteinander geteilt werden, denn dann wäre der Markt zu klein gewesen. Und so nahm der amerikanische Traum eine ganz bestimmte, kommodifizierte Form an.
Als Ausgeburt gesunden Menschenverstandes basiert der amerikanische Traum auch noch auf einigen weiteren selbstverständlichen Grundannahmen. Die erste behauptet, die USA seien eine Meritokratie, also ein System, in dem der Lebenserfolg der Menschen von ihren Talenten, Fähigkeiten und Bemühungen abhänge. Das ist eine der Annahmen, auf denen der Gedanke basiert, dass man es schaffen wird, wenn man nur hart arbeitet und sich immer an die Spielregeln hält. Es ist ein Ethos der individuellen Leistung. Man bekommt das alles selbst hin – der »self-made man«, die »self-made woman«.
All das sieht man auch in vielen anderen Gesellschaften. Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an die Eiserne Lady, Margaret Thatcher. Einer ihrer vielen denkwürdigen Sprüche war: »So etwas wie Gesellschaft gibt es gar nicht«, ein Satz, den sie sagte, als sie sich tatsächlich daran machte, die britische Gesellschaft zu zerstören. So etwas wie die Gesellschaft existiert gar nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und vielleicht noch deren Familien, falls das unter solchen Umständen überhaupt noch möglich ist.
Eine weitere stillschweigende Grundannahme besagt, die Regeln seien fair und allen bekannt oder könnten zumindest eruiert werden: Wir haben alle dieselben Chancen. Sobald diese Grundannahme verletzt ist, wird es ziemlich schwierig, noch vom amerikanischen Traum zu sprechen. Aber wenn wir davon ausgehen, dass all das tatsächlich der Fall ist, kann man uns vielleicht davon überzeugen, dass der amerikanische Traum tatsächlich eine tragfähige Konzeption von Gesellschaft ist.
Aber all das hat noch eine andere Seite. Es gibt zu diesem auf dem gesunden Menschenverstand basierenden Verständnis von der Funktionsweise unserer Gesellschaft auch noch ein negatives Gegenstück, das besagt: Wer in Amerika keinen Erfolg hat, arbeitet entweder nicht hart genug oder hält sich nicht an die Regeln oder beides. Wenn man also keinen Erfolg hat, und das ist das negative Gegenstück zu der propagierten Vorstellung vom amerikanischen Traum, dann trägt man an dieser Erfolglosigkeit selbst die Schuld. Das ist ein weiteres Ergebnis der individualisierten Vorstellung von der Funktionsweise der Gesellschaft. Alle Möglichkeiten sind da. Es stehen niemandem strukturelle oder systemische oder unfaire Hindernisse im Weg, und das gilt für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Denken wir einmal kurz über diese positiven und negativen Grundannahmen nach. Wie kann man hart arbeiten, wenn es keine Jobs gibt? Und das ist ja zunehmend der Fall, wenn wir an den Export von Arbeitsplätzen in letzter Zeit denken oder an die arbeitsplatzvernichtende Automatisierung oder die Tatsache, dass die Produktivität wächst, aber die Nachfrage nach Arbeit sinkt. Eines der Probleme könnte dann lauten: »Ich würde ja gerne hart arbeiten, aber ich kann einfach keine Arbeit finden.« Oder was ist, wenn die Jobs so schlecht bezahlt sind, dass man, obwohl man sehr hart und das manchmal sogar in mehr als einem Job arbeitet, trotzdem nicht über die Runden kommt? In diesem Fall verhindert die Entlohnungsstruktur, dass man Erfolg hat, egal wie viel Mühe man sich gibt.
Jedem, der sich für Fragen wie diese interessiert, sind die Bücher von Barbara Ehrenreich zu empfehlen, entweder Arbeit poor oder eines ihrer neueren Werke, in denen sie genau darüber berichtet, dass viele Leute sehr hart arbeiten, aber trotzdem wirtschaftliche Not leiden. Was ist, wenn die Regeln manipuliert und damit unfair sind?
Ich weiß, dass wir angeblich in einer post-rassistischen Gesellschaft leben, aber ich fürchte, dass es da doch noch einige Barrieren gibt. Wir leben jetzt zudem in einer feministischen Utopie, aber sollte man dann nicht mit 79 Cent genauso viel kaufen können wie mit einem Dollar? Oder was ist, wenn es ungeschriebene oder unausgesprochene Regeln gibt, durch die manche Leute diskriminiert werden? Oder wenn der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten nicht derselbe ist oder es familiäre Verbindungen und andere Faktoren gibt, die dafür sorgen, dass die Chancen alles andere als gleich sind, was aber doch, wie ich oben gesagt habe, das wichtigste Kennzeichen einer Meritokratie sein sollte?
Es gibt vom Center for Budget and Policy Priorities eine interessante Studie mit dem Titel Born on the Third Base. Das ist eine Analyse der Leute, die auf der Liste der Fortune 400 stehen. Das sind nicht die Fortune 500, wo es um Unternehmen geht, sondern es ist eine Auflistung der 400 reichsten Menschen der Welt. Die Studie untersucht auch, von welchem Punkt aus sie gestartet sind. Third Base bedeutet, dass man mindestens 50 Millionen Dollar geerbt hat. Damit hätte unser Präsident, Donald Trump, zumindest bis zu seinem sechsten Geburtstag nicht zur Third Base gehört. Aber die Studie geht auch hinunter bis zur First Base, wo man immer noch ziemlich wichtige Vorteile hat. Das wäre dann jemand wie Bill Gates, der ja einer der Poster-Boys für das Konzept des »self-made man« ist, der es ganz allein geschafft hat. Aber auch er konnte in Harvard studieren und sagt selbst, dass er eine Menge Vorteile hatte. Er wurde sehr stark von der Gesellschaft unterstützt, zum Beispiel durch die ganze Infrastruktur, die durch öffentliche Forschungs- und Entwicklungsprogramme finanziert wurde und auf der die private Computerindustrie dann aufbauen konnte.
Die Autoren der Studie gingen also durch diese Liste, und es stellte sich heraus, dass nur 35 der Personen unter den Fortune 400 nicht mindestens auf der First Base geboren wurden, auf der man ja bereits erhebliche materielle Vorteile genießt. Die meisten Leute wissen nicht einmal von der Existenz eines Spielfeldes und kommen erst recht nicht auch nur in die Nähe eines Schlagkreises. Aber diese frühen Vorteile oder Hürden, entweder im Hinblick auf Bildungsmöglichkeiten oder familiäre Verbindungen, können sehr wohl etwas mit dem Erfolg zu tun haben, den man hat, und zwar unabhängig davon, wie hart man arbeitet oder wie sehr man sich an die Regeln hält.
So ist es also um den amerikanischen Traum bestellt. Aber auch wenn wir die im gesunden Menschenverstand wurzelnde Vorstellung vom amerikanischen Traum für den Augenblick beiseitelassen, sollten wir uns noch eine Reihe von Fragen im Hinblick auf all die als selbstverständlich betrachteten Elemente des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Status quo stellen. Die erste ist, wer von dieser Auffassung von Gesellschaft profitiert. Wenn wir an den amerikanischen Traum glauben, laut dem man, um Erfolg zu haben, hart arbeiten und sich an bestimmte Regeln halten muss, die man nicht selbst geschrieben hat, denen man aber gehorchen muss – wer profitiert eigentlich von dieser Art von Gesellschaftsverständnis und wer hat das Nachsehen? Wer sind die Gewinner und wer die Verlierer?
Ferner könnte man auch einige Fragen zu den politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen eines solchen Verständnisses stellen. Was heißt das zum Beispiel für die Rolle des Staates? Wenn jeder für alles selbst sorgen muss, hat der Staat dann überhaupt noch eine Rolle bei der Unterstützung der Menschen? Und was ist mit der Zivilgesellschaft? Gibt es Dinge, die ihr Eingreifen erforderlich machen? Oder sollten wir uns einfach von den gnädigen Kräften des Marktes sagen lassen, wie alles zu funktionieren hat? Wenn wir den amerikanischen Traum in seiner typischen Formulierung übernehmen, hat das sehr ernste Folgen für unsere Vorstellung von der Rolle all dieser Institutionen. Also sollten wir darüber sorgfältig nachdenken. Unsere irrige Vorstellung vom amerikanischen Traum ist einer der Gründe, weshalb wir so viele Angriffe auf den Sozialstaat erleben, dessen Leistungen oft als Subventionen bezeichnet werden – Angriffe auf angeblich überzogene Ansprüche, die uns entzogen werden sollen, obwohl wir für sie bezahlt haben.
Wenn man glaubt, dass es von den eigenen Aktivitäten und Anstrengungen abhängt, ob man es schafft oder nicht, gibt es eigentlich gar keine Rolle für die Gesellschaft mehr. Die Menschen schaffen es oder nicht. Wie gesagt, hat die Antwort auf diese Frage einige Implikationen.
Lesern, die nichts gegen eine deftige Ausdrucksweise haben, rate ich, sich im Internet den Clip »American Dream« von George Carlin anzusehen, in dem er sagt: »Man nennt es den amerikanischen Traum, weil man schlafen muss, um daran zu glauben.«
Wenden wir uns jetzt der Beziehung zwischen dem gesunden Menschenverstand und der Macht zu. In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung des Kulturtheoretikers Stuart Hall recht aufschlussreich:
»Warum also ist der gesunde Menschenverstand so wichtig? Er ist es deshalb, weil er eine Ansammlung von Begriffen und Kategorien ist, auf deren Grundlage sich das praktische Bewusstsein der Massen herausbildet. Er ist die bereits vorhandene und selbstverständliche Grundlage, auf der kohärentere Ideologien und Philosophien um die Vorherrschaft kämpfen müssen, das Terrain, das neue Konzeptionen von der Welt berücksichtigen, infrage stellen und transformieren müssen, wenn sie die Vorstellungen der Massen von der Welt verändern und so historisch effektiv werden wollen.« (Hall 1986)
Worüber Hall hier spricht, ist die Tatsache, dass wir stark zementierte Vorstellungen über die Funktionsweise der Welt verinnerlicht haben. Wenn wir die Meinungen der Menschen verändern und sie dazu bringen wollen, anders über das Funktionieren der Welt zu denken, müssen wir uns mit diesen tief verinnerlichten und verankerten Vorstellungen über den Lauf der Welt auseinandersetzen. Hall verwendet seine Worte mit Vorbedacht. Wir müssen zur Auseinandersetzung und zum Kampf mit diesen Vorstellungen bereit sein. Dementsprechend schreibt Hall, Gramsci paraphrasierend, dass
»volkstümliche Meinungen, die Kultur eines Volkes […] als Fragen und Kampfterrain nicht sich selbst überlassen werden können. Sie ›stellen selbst materielle Kräfte dar‹ (aus den Gefängnisheften Antonio Gramscis).« (Hall 1986)
Somit ist dies für Hall ein sehr hart umkämpfter Bereich, was natürlich daran liegt, dass die Durchsetzung der eigenen Konzeption von der Funktionsweise der Welt eine sehr potente Form von politischer Macht ist. Wenn man die Menschen davon überzeugen kann, dass das eigene Verständnis davon, wie die Welt funktionieren sollte, das richtige ist, dann ist das eine äußerst mächtige politische Waffe.
Diese Form der Macht steht auch in Beziehung zu Gramscis wichtigem Konzept der Hegemonie. Sein Konzept ist nur eine spezifische Definition; es gibt andere Definitionen und einige davon sind uns geläufig, wie zum Beispiel die Aussagen, die USA seien der Hegemon der Weltpolitik – ein Punkt, über den man sicher debattieren kann, aber das ist nicht die Bedeutung, von der ich hier spreche. Hegemonie in dem Sinn, in dem ich das Wort hier gebrauche, bedeutet Regierung mit der Zustimmung der Regierten.
Die alternative Form der Regierung ist die durch Zwang. Wenn man sich in eine Elite hineinversetzt, die Menschen regieren will, welche dieser beiden Formen würde man dann vorziehen? Nun, hier wäre Hegemonie natürlich wesentlich besser, weil Regierung mit der Zustimmung der Regierten per definitionem keine Opposition und keinen Widerstand erzeugt. Wenn die Menschen damit zufrieden sind, regiert zu werden, warum sollten sie dann Einwände erheben? Warum sollten sie Widerstand leisten?
Wir sollten jedoch auch festhalten, dass diese beiden Formen einander keineswegs ausschließen, sondern auf einer kontinuierlichen Skala angesiedelt sind, da alle Regierungen sich das alleinige Recht auf die Ausübung von Zwang vorbehalten, falls keine Zustimmung erreicht werden kann. Diese Formen stehen also in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Aber wenn die Regierenden die Wahl haben, ziehen sie die hegemoniale Form der Anwendung von Zwang vor, da dieser Widerstand erzeugt.
Doch wie kommt es, dass Menschen damit einverstanden sind, regiert zu werden? Hier kommen wir von den erwähnten Beobachtungen wieder auf Fragen des gesunden Menschenverstandes zurück und stellen die Verbindung her. Es ist eine Frage der Legitimität. Die Beherrschten müssen glauben, dass die Herrschenden in ihrem Interesse handeln. Das ist die Grundlage, auf der Menschen zustimmen, regiert zu werden, und dann gestehen sie den Herrschern Legitimität zu. Tatsächlich wird der Zusammenbruch dieser Form von Regierung oft als Legitimationskrise bezeichnet – sie tritt dann ein, wenn die Legitimität zu schwinden beginnt.
Wie entwickelt sich der Glaube daran, dass die Regierenden im Interesse der Regierten handeln? Er entwickelt sich dadurch, dass Erstere beständig eine besondere Form des gesunden Menschenverstandes kultivieren und verstärken, laut der ihre Handlungsweise nicht einfach nur der Welt, wie sie ist, sondern auch der Welt, wie sie sein sollte, entspricht. Ich möchte hier unterstreichen, dass es sich dabei um ein kontinuierliches Projekt handelt, an dem ständig gearbeitet werden muss.
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels diskutieren wir eine Reihe von Fällen aus Geschichte und Gegenwart, die die Pole dieses Kontinuums illustrieren. Dabei argumentieren wir, dass für Gesellschaften, die vorgeben, demokratisch zu sein, ein Konsens, der auf einem ständig verstärkten, dem Common Sense entsprechenden Glauben an die Legitimität der Herrschenden basiert, nicht nur die wünschenswerteste Form der Regierung darstellt, sondern sogar notwendig für die Aufrechterhaltung ihres (egal wie berechtigten oder unberechtigten) Anspruchs ist, eine Demokratie zu sein. Für diktatorische oder despotische Regimes ist es weit weniger notwendig, auch nur zu behaupten, dass dieser Konsens besteht.
Alles, was in Widerspruch zu dieser Art von gesundem Menschenverstand steht, wird per definitionem buchstäblich undenkbar und damit – und ich verwende diesen Ausdruck mit Bedacht – zu Unsinn. Es ist unsinnig, gegen die Regierenden zu opponieren, wenn diese in unserem Interesse handeln – das ist der fundamentale Gedanke, der dem Funktionieren dieser Art von Regierung zugrundeliegt. Und er ist von vielen Philosophen erläutert worden, aber er besagt letztlich nur, dass die Regierenden im Interesse der Regierten handeln und dass es daher legitim ist, dass sie die Zügel der Regierung in der Hand halten.
Oder um erneut Kate Crehan zu zitieren: »Die Erzählungen, die hegemonial werden, sind meist jene, die die Welt so wiedergeben, wie sie vom Standpunkt der Herrschenden – und nicht von dem der Beherrschten – aussieht.« (Crehan 2016) Wir werden darauf noch zurückkommen. Hier noch ein weiteres Zitat von Stuart Hall:
»Erstens ist Hegemonie ein sehr besonderer, historisch spezifischer und vorübergehender Moment im Leben einer Gesellschaft. Es ist selten, dass dieser Grad an Einheit erreicht wird, der es einer Gesellschaft erlaubt, sich unter der Führung einer spezifischen Formation oder Konstellation sozialer Kräfte [das ist es, was Hall vor allem im Auge hat] einer gänzlich neuen historischen Agenda zu verschreiben. Solche Perioden der Einheit bestehen in der Regel nicht sehr lange.« (Hall 1986)
Es gibt hier keinerlei Automatismus. Die besagten Perioden müssen aktiv geschaffen und bewusst aufrechterhalten werden. Wenn das nicht geschieht, läuft die Hegemonie Gefahr, wieder zu zerfallen.
Wir können das auch an Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse beobachten, zu denen es recht häufig kommt, was zu Augenblicken führt, in denen sich interessante Möglichkeiten auftun. Hegemonie ist instabil und schwindet dahin, sobald die Herrschenden ihre Legitimität verlieren. Das kann geschehen, wenn die Beherrschten, und dafür gibt es alle möglichen Gründe, den Glauben verlieren, dass das Handeln der Regierung in ihrem Interesse ist. Das ist es, was ich als Legitimationskrise bezeichne. Das ist der Zeitpunkt, an dem Regierungen sogar die Fähigkeit verlieren, ungehindert Zwang einzusetzen.
Gramsci legt sehr klar dar, dass Regierungen erst einmal einen »Stellungskrieg« gewonnen haben müssen, bevor sie die Legitimation haben, Zwang einzusetzen. Das heißt, dass sie bereits als legitim betrachtet werden müssen, bevor sie unter anderem auch auf Zwangsinstrumente zurückgreifen können. Es kann also der Punkt kommen, an dem diese Legitimität beginnt, zusammenzubrechen, und man kann sich alle möglichen Gründe vorstellen, warum Menschen schließlich den Glauben, dass die Regierenden tatsächlich in ihrem Interesse handeln, verlieren. Ich würde sagen, dass wir uns jetzt, kurz nach der Jahreswende 2018/2019, in einem besonders kritischen Augenblick befinden. Ich weiß nicht, wie viele meiner Studenten überlegt haben, aus Sympathie für die im Kongress verhandelte Haushaltssperre heute Abend nicht zu kommen. Ich habe selbst einen Augenblick lang daran gedacht, aber dann beschlossen, doch zu kommen und das Seminar zu halten.
Wie dem auch sei, es gibt offensichtlich Momente, in denen sich scheinbar unerschütterliche Regierungsstrukturen als ziemlich fragil erweisen. Und wenn dies geschieht, ist das der Augenblick, in dem die Menschen beginnen, sich alle möglichen Fragen im Hinblick auf die Funktionsweise ihrer Gesellschaft zu stellen.
Legitimationskrisen stellen demnach für die Regierungsstrukturen und für die Eliten extrem bedrohliche Momente dar. Und Hall sagt ja, dies sei ausnahmslos der Fall. Menschen, die radikale Veränderungen anstreben, müssen also auf diese Augenblicke vorbereitet sein. Hier ein weiteres Zitat aus Crehans Buch:
»Wenn es zu grundlegenden sozialen Veränderungen kommen soll, muss es also eine kulturelle Transformation geben, das heißt einen neuen gesunden Menschenverstand, und mit ihm eine neue Kultur, die die Subalternen, also die, die beherrscht oder regiert werden, dazu befähigt, sich eine andere Realität vorzustellen.« (Crehan 2016)
Ein Teil der Macht des gesunden Menschenverstandes – und genau darum habe ich gerade vorhin das Wort »Unsinn« verwendet – besteht darin, jede Möglichkeit, anders über die Welt denken zu können, auszuschließen. Also darin, unsere geistige Fähigkeit, uns die Welt anders vorzustellen, zu unterdrücken.
Darum möchte ich hier einen Satz verwenden, den ich Mark Fishers Buch Kapitalistischer Realismus entlehnt habe (der ihn seinerseits Fredric Jameson und Slavoj Žižek zuschreibt): »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.« (Fisher 2013) Das ist ein emblematisches Beispiel für die Beschränktheit unserer Vorstellungskraft. Wir wissen, dass wir einer Reihe möglicher Katastrophen gegenüberstehen, und doch können wir uns nicht vorstellen, wie wir aus dieser Gesellschaftsform herauskommen können, die gegenüber ganzen Völkern, gegenüber sich selbst und sogar gegenüber dem Planeten so mörderisch ist.
Wie Crehan unter Rückgriff auf Gramsci schreibt, müssen wir es schaffen, einen neuen gesunden Menschenverstand zu formulieren, um den existierenden gesunden Menschenverstand zu bekämpfen und uns die Möglichkeit neuer Vorstellungswelten zu erschließen.
»Der große Nutzen von Gramscis Begriff des gesunden Menschenverstands besteht darin, dass er es uns ermöglicht, auf eine Weise über die Textur des Alltagslebens nachzudenken, der dessen Gegebenheit [das heißt die Tatsache, dass wir von Geburt an in es hineingeworfen werden] einschließt und sich damit auseinandersetzt, wie sie unsere Subjektivität, die Art, wie wir uns selbst sehen, herausbildet und uns zugleich als äußere und unverrückbare Realität gegenübertritt.« (Crehan 2016)
Hier sind wir dann wieder bei Giddens Begriff der Strukturierung.
Die Art und Weise, wie die Welt funktioniert, scheint nicht von uns selbst geschaffen worden zu sein. Stattdessen tritt sie uns als Materialität gegenüber, die wir nicht verändern können. Genau das ist es, was wir unbedingt bekämpfen müssen.
»Aber dies erkennt auch seine Widersprüchlichkeit, Fluidität und Flexibilität an. Ungeachtet seiner scheinbaren Unverrückbarkeit wird er [der gesunde Menschenverstand] beständig von der Art und Weise modifiziert, wie er von wirklichen Menschen an wirklichen Orten gelebt wird.« (Giddens 1984)
Also ist es von vitaler Bedeutung, diesen fluiden Charakter des Common Sense zu verstehen, der keineswegs so unveränderbar ist, wie man uns immer weismachen will.
In einem Werk von Edward Bernays findet sich eine interessante Meditation zu der Frage, wie all das funktioniert. Er sagte, »Wann immer etwas von allgemeiner Bedeutung unternommen werden soll, sei es in den Bereichen Politik, Finanzen, Industrie, Landwirtschaft, Wohltätigkeit, Bildung oder auf anderen Gebieten, dient Propaganda den unsichtbaren Herrschern als Mittel zur Durchsetzung.« (Bernays 2011) Bernays war ein interessanter Mann; seine Eltern waren die Schwester Sigmund Freuds und der Bruder von Freuds Frau und er hielt sich viel auf seine Kenntnisse über die Psyche des Durchschnittsbürgers zugute. Er bezeichnete sich schon früh selbst als den Vater der Public-Relations-Industrie und wollte den Ausdruck »Public Relations« sogar selbst erfunden haben. Er beteiligte sich schon sehr früh an wichtigen Aktivitäten in diesem Bereich, von denen wir einige beleuchten werden. Unter dem damaligen Präsident Woodrow Wilson war er neben Walter Lippmann und anderen Intellektuellen Mitglied der sogenannten Creel-Kommission, die dazu dienen sollte, eine äußerst widerwillige US-Bevölkerung dazu zu bewegen, der Beteiligung am Ersten Weltkrieg zuzustimmen. Wir kommen darauf noch zu sprechen.
Er war also an einer ganzen Reihe von Aktivitäten beteiligt. Eines seiner bekanntesten und dauerhaftesten Engagements war das für die Tabakindustrie. Dass so viele Menschen anfingen zu rauchen, ging in hohem Maß auf seinen Einfluss zurück. Später bedauerte er in einer Art autobiografischem Schuldbekenntnis, was er in diesem Bereich getan hatte, unter anderem seinen Beitrag zur Beseitigung einer der letzten Barrieren für den Verkauf von Zigaretten, indem er Frauen zum Rauchen brachte, insbesondere in der Öffentlichkeit. Dieser Vorgang ist eine sehr gute Illustration seiner manipulativen Haltung gegenüber der öffentlichen Meinung.
Eines der »Mega-Events«, die Bernays organisierte, war ein »Freiheitsmarsch« im Rahmen der Thanksgiving Day Parade des Kaufhauses Macy’s in New York. Dazu heuerte er dreißig »Debütantinnen« an – ich weiß nicht, ob das Wort heute noch jemandem etwas sagt. Das waren sozial hochgestellte, junge Frauen, die nun in die Gesellschaft eingeführt wurden. Sie marschierten in dieser Parade und jede von ihnen hielt eine kleine Freiheitsfackel in Gestalt einer Lucky Strike-Zigarette in der Hand. Das war die Art von Dingen, mit denen er sich beschäftigte.
Hier sind einige Zitate, die seine Ansichten illustrieren:
»Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land.Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben.« (Bernays 2011)
Heute würden manche das vielleicht den »tiefen Staat« nennen. Ich für meinen Teil nicht, aber andere schon. »Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken.« (Bernays 2011) Hier spricht er von sich selbst und anderen Strippenziehern, die die öffentliche Meinung (ein anderer Ausdruck für gesunden Menschenverstand) manipulieren.
»Ob es uns gefällt oder nicht, Tatsache ist, dass wir in fast allen Aspekten des täglichen Lebens, ob in Wirtschaft oder Politik, unserem Sozialverhalten oder unseren ethischen Einstellungen, von einer […] relativ kleinen Gruppe Menschen abhängig sind, die die mentalen Abläufe und gesellschaftlichen Dynamiken von Massen verstehen.« (2011)
Und Bernays war ein großer Befürworter solcher Verhältnisse. Seiner Meinung nach war das richtig so und hier ist der Grund dafür:
»Die Wahrheit ist mächtig, und sie soll sich durchsetzen. Wenn eine Gruppe von Menschen glaubt, eine Wahrheit erkannt zu haben, dann ist es nicht nur ihr Recht, sondern geradezu ihre Pflicht, diese Wahrheit zu verbreiten. Wenn ihnen beim Verbreiten dieser Wahrheit klar wird, und es sollte ihnen schnell klar werden, dass man sie massenhaft organisiert und effektiv verbreiten kann, dann werden sie dazu die Presse und andere Kommunikationsplattformen bestmöglich nutzen.« (2011)
Dementsprechend wurde er zu einem der Gründer der Public-Relations-Industrie und der Massenvermarktung und setzte die neu zur Verfügung stehenden Hebel zur Verbreitung der von ihm erkannten Wahrheiten ein.
»Propaganda wird nur dann unmoralisch, wenn ihre Urheber bewusst und gezielt Informationen verbreiten, die sie selbst als Lügen erkennen, oder wenn sie bewusst auf Wirkungen abzielen, die für die Öffentlichkeit nachteilig sind.« (2011) Aber natürlich wird das, was »für die Öffentlichkeit nachteilig ist«, von genau diesen Urhebern der Propaganda definiert und daher werden ihre Wirkungen praktisch niemals nachteilig sein – aber die Gefahr ist da, und er warnt davor.
»Kreativ inszenierte Ereignisse können mit anderen Ereignissen erfolgreich um Aufmerksamkeit konkurrieren. Berichtenswerte Ereignisse geschehen, soweit Menschen daran beteiligt sind, im Allgemeinen nicht zufällig, sondern sind bewusst geplant, um einen Zweck zu erreichen und unsere Meinungen und Handlungen zu beeinflussen.« (Bernays 1947)
Und bei vielen der Dinge, an denen Bernays beteiligt war, handelte es sich um prestigeträchtige öffentliche Großereignisse. Dementsprechend bezeichnete er sich später als den »Vater der PR«. »Public Relations« war einer von den von ihm eingesetzten Mechanismen. Wir kehren im zweiten Teil dieses Kapitels zu Bernays zurück, wo wir seine Arbeit in diesem Bereich in Beziehung zu Projekten zur Förderung der politischen und militärischen Macht der USA setzen.
Kommen wir jetzt ein wenig auf die Gegenwart zu sprechen. Ich zitiere dazu aus einem Artikel von Chris Hedges namens »Die permanente Lüge« und diese Zitate haben einen noch stärkeren Bezug zu dem, was gerade im Moment vor sich geht.