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Herbert Schnädelbach

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Beschreibung

Immanuel Kant ist nicht nur der wirkungsmächtigste Philosoph des ausgehenden 18. Jahrhunderts, er ist der klassische Philosoph der Moderne. Herbert Schnädelbach führt in Kants Gesamtwerk ein: in seinen Ausführungen zu Aufklärung und Wissenschaft, zu Metaphysik und kritischer Vernunft, zu praktischer Vernunft und Urteilskraft und er zeichnet die Nachwirkungen des großen Denkers bis heute nach. Eine knappe, gut verständliche Einführung, die sich besonders an Studenten im Grundstudium richtet.

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Seitenzahl: 224

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Herbert Schnädelbach

Kant

Eine Einführung

Reclam

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961342-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019511-6

www.reclam.de

Inhalt

Kant, der klassische Philosoph der ModerneWissenschaft und AufklärungWas ist Aufklärung?Aufklärung durch Wissenschaft?Kritische VernunftDing an sich und ErscheinungRezeptivitätExperimentelle MetaphysikWissen und GlaubenSinnlichkeit und VerstandRaum und ZeitDenkenVerstand und VernunftPraktische VernunftSein und SollenNatur und FreiheitPflicht und NeigungDer Kategorische ImperativRecht, Politik, GeschichteReligionMenschliche VernunftEine Grenze des Systems – die UrteilskraftObjektive Zweckmäßigkeit: Das LebendigeSubjektive Zweckmäßigkeit: Das Schöne und ErhabeneWas ist der Mensch?Nach KantDer »deutsche Idealismus«Kant-Bewegung und NeukantianismusWas uns von Kant trenntDer »kritische Weg« heuteLiteraturSiglen (für Kants Schriften)Zitierte LiteraturKommentierte Bibliographiea) Textausgaben (sämtlich mit der Angabe der originalen Seitenzahlen)b) Hilfsmittelc) Biographiend) Einführungene) Zu einzelnen WerkenSchlüsselbegriffeZeittafel

Kant, der klassische Philosoph der Moderne

Im Jahr 2004 jährte sich der Todestag Immanuel Kants zum 200. Mal, und auf vielfältige Weise wurde seiner gedacht. Was für ein Name – kantig und erzprotestantisch! Nicht herzerwärmend wie die Namen Mozarts oder Goethes, sondern ehrfurchtgebietend und einschüchternd. Kant ist schwer und dunkel: Wer weiß schon, was das Wort »transzendental« bedeutet oder was er mit dem legendären »Ding an sich« meinte? Und dann erscheint Kant vielen als der Philosoph mit dem erhobenen Zeigefinger, der die Pflicht um ihrer selbst willen eingefordert haben soll – typisch deutsch also – und deswegen sogar in die Geschichte des Präfaschismus eingeordnet wurde. (Vgl. Ebbinghaus 81 ff.) In jüngerer Zeit wurde er überdies als rationalistisches Monstrum hingestellt, dessen Lebenslauf zeige, wohin zu viel Vernunft führt. (Vgl. Böhme/Böhme)

Überhaupt dienen die skurrilen Geschichten über den alten und senil gewordenen Kant bis heute dazu, sich seiner zu erwehren und aus seinem Schatten zu entfliehen: »Seht, er war auch nur ein Mensch!« So ist das öffentliche Andenken an ihn wohl mehr Pflicht als Neigung, eine publizistische Verpflichtung, die dem allgemeinen Kulturkalender folgt, und da wäre es blamabel, wenn man eine Geistesgröße vergessen hätte.

Ganz anders verhält es sich im philosophischen Diskurs; die daran teilnehmen, braucht man nicht an Kant zu erinnern. Hier ist er allgegenwärtig, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht leicht zu erklären ist. Nimmt man einmal Platon aus, für den Ähnliches gilt, so fällt auf: Keiner unserer »Großen«, von Aristoteles bis Hegel, Nietzsche und Heidegger, kann so unumstritten beanspruchen, im Kontext unseres eigenen Denkens zu Wort zu kommen, wie Kant, und darum füllen Arbeiten über ihn ganze Bibliotheken; nicht die Forschung erhält Kant am Leben, sondern Kant die Forschung und damit zahllose Forscher in Amt und Brot. Goethe und Schiller sagten dazu: »Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung / Setzt! Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu tun.« (Goethe I, 210) Sein Werk hat alles überlebt, was seitdem als philosophische Revolution daherkam, und trotz seiner Verwurzelung im 18. Jahrhundert bewies es immer erneut, dass es unüberholbar ist. Nicht dass wir alle seine Antworten und Auskünfte einfach übernehmen könnten, aber was Kant sagte, fordert bis heute ständiges Gehör; kein anderer Philosoph wurde so oft »überwunden«, um sich danach bald wieder unüberhörbar zu Wort zu melden.

Was nicht veralten will, nennen wir »klassisch«. In diesem Sinne ist Platon der klassische Philosoph schlechthin; durch ihn wissen wir überhaupt erst, was Philosophie ist. Wir lesen ihn nicht wegen seiner positiven Theorien, die schon sehr lange nicht mehr zu überzeugen vermögen, sondern wegen der rätselhaften und unausschöpflichen Kraft seiner Schriften, unser eigenes Fragen anzuregen und zu bereichern. Überhaupt sind wohl die Fragen der Philosophie bestes Teil. Kant schreibt dazu: »Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle« (B 82), und er erbrachte selbst diesen Beweis in Form der berühmten vier Fragen, auf die sich ihm zufolge das gesamte »Feld der Philosophie« bringen lässt: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« (Log A 25) Das sind klassische Fragen, weil nicht zu sehen ist, wie man es als Philosophierender unterlassen könnte, sie zu stellen. Im Unterschied zu Platon können wir aber bei Kant das, was er lehrte, nicht einfach auf sich beruhen lassen; seine Antworten gehen uns unvermindert an, und darum blieb es keinem bedeutenden Philosophen seit Kants Lebzeiten erspart, sich auch dann zuerst einmal mit ihm zu befassen, wenn er sich von ihm abwenden wollte. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Philosophiegeschichte in die Zeit »vor Kant« und »nach Kant« einzuteilen, und wir denken alle, wenn wir nicht bloß Philosophiehistoriker sein wollen, »nach Kant«, d. h. unter Bedingungen, die er ermittelt und zu respektieren gelehrt hat.

So ist Kant der philosophische Klassiker unserer Epoche – der klassische Philosoph der Moderne. Und doch ist Kant nicht modern im Sinne dessen, was gerade in Mode ist; sein Denken ist nicht der »letzte Schrei«, nicht der Inbegriff des Neuesten und Fortgeschrittensten, denn manches davon hat sich inzwischen als zeitbedingt und wissenschaftsgeschichtlich überholt erwiesen. »Moderne« kann hier nur als der Zustand gemeint sein, den unsere Kultur im Zuge der Neuzeit schließlich angenommen hat. Es ist Kants epochale Leistung, erkannt zu haben, was Modernität für unsere Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns bedeutet, und dies betrifft die Art der Fragen ebenso wie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Beantwortung. Wir können heute relativ unumstritten drei Strukturmerkmale angeben, die moderne Kulturen kennzeichnen: vollständige Reflexivität, Profanität und Pluralität, und bei Kant lässt sich beobachten, wie sich diese Trias in geradezu unwiderstehlicher Weise auch im Innenraum einer Philosophie durchsetzt, die an der Zeit ist und ihre Zeit in Gedanken erfasst.

Seitdem es Menschen gibt, leben sie als Kulturwesen, aber das wussten sie sehr lange Zeit nicht. Kulturen sind reflexiv, wenn sie sich vom bloß Natürlichen zu unterscheiden wissen und damit als Kulturen erfassen; die Unterscheidung zwischen der Menschenwelt und einem »Draußen« wird in elementarer Form bereits in den Mythologien getroffen, und sie ist auch die Wurzel des uns geläufigen Begriffs der Natur. (Vgl. Schnädelbach 1991, 517 f.) Vollständig reflexiv sind Kulturen, wenn sie sich bei ihrer Selbstinterpretation nicht länger auf etwas beziehen können, was Kultur und damit menschlicher Verfügung entzogen wäre – seien es Dämonen, Götter oder »die« Natur. So ist in der Moderne die Kultur in allen Dingen ganz auf sich selbst verwiesen; sie ist ihr eigenes Subjekt, denn es gibt hier keine höhere Instanz als das kulturelle »Wir«. Dass Kant gleichwohl die klassischen philosophischen Fragen in der Ich-Form formuliert, steht dazu nicht im Widerspruch, denn das »Wir« besteht ja, wenn es nicht selbst wieder zur einer mythischen Größe erhoben wird, faktisch aus lauter Einzelnen, die nur deswegen ›wir‹ sagen können, weil sie auch ›ich‹ zu sagen vermögen. So beginnt die Philosophie der Neuzeit seit René Descartes (1596–1650) ganz selbstverständlich mit dem seiner selbst bewussten Ich-Sagen: »Ego cogito, ergo sum (Ich denke, also bin ich)«, und dies ist der Raum der philosophischen Reflexion, in der sich die Reflexivität moderner Kulturen spiegelt; die Philosophie in einer Kultur, die sich anschickt, ihre eigene Subjektrolle zu übernehmen, ist notwendig Philosophie der Subjektivität.

Dabei wird zunächst der methodische Ausgang vom individuellen Bewusstsein nicht als Gefährdung der Allgemeingültigkeit der philosophischen Ergebnisse angesehen, weil man bis ins 19. Jahrhundert glaubt, von einer allgemeinen Menschennatur ausgehen zu können, die garantiert, dass das, was ich als Individuum im Medium des »Ich denke« über mich sicher wissen kann, auch für alle anderen gilt; in diesem Sinn spricht auch Kant vom »Bewußtsein überhaupt« (Prol A 82) als dem Garanten des philosophischen Wir-Sagens. Erst durch einen weiteren Aufklärungsschritt wurde es zum Problem: durch den Historismus, der erkennt, dass das, was Menschen über sich wissen, stets durch die jeweiligen historischen und kulturellen Verhältnisse bedingt ist, in denen sie leben; so ersetzt er das kantische »Bewußtsein überhaupt« durch das »historische Bewusstsein«, das als Bewusstsein vom Historischen sich selbst als ein historisches erfasst. (Vgl. Schnädelbach 1983, 51 ff.)

Dieser methodische Individualismus ist freilich keine bloß theoretische Veranstaltung. Wenn man sich fragt, was einen Philosophierenden dazu bewegen könnte, sich gegen allen Common Sense zunächst einmal ganz auf sein Ego und sein Bewusstsein zurückzuziehen, dann finden wir bei Descartes die Antwort: Es ist der Zweifel – nicht um des Zweifels willen, sondern auf der Suche nach einem Wissen, das auch subjektiv gewiss ist. Subjektive Gewissheit aber meint Autonomie im Wissen, unabhängig von der Macht der Traditionen und Autoritäten, und damit etwas eminent Praktisches, nämlich vernünftige Selbstständigkeit in allen Dingen. So ist die subjektive Vernunft als Prinzip der neuzeitlichen Philosophie notwendig zugleich kritische Vernunft, die nichts gelten lassen möchte, was sie nicht selbst einzusehen vermag. Kant zeigte dann, dass dies notwendig die Selbstkritik der Vernunft einschließt, dass es also keine vernünftige Philosophie ohne Vernunftkritik geben kann; deswegen die gigantische Arbeit seiner drei »Kritiken« – der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft. So reicht die vollständige Reflexivität der Kultur, die sich um 1800 im Westen durchzusetzen beginnt, in Kants Werk bis in die innere Struktur dessen hinein, was die Philosophie als unsere Vernunft zu explizieren versucht.

Vollständig reflexive Kulturen sind zugleich profane Kulturen. Profan ist das Weltliche, das, was im Vorhof des Heiligen verbleibt, und dies ist bei den Prinzipien kultureller Moderne wirklich der Fall. Hier ist die politische Macht nicht mehr von Gottes Gnaden; sie geht vom Volk aus. Das Rechtssystem vollstreckt nicht länger göttliche Gebote, sondern von Menschen gesetztes Recht, und selbst im Bereich der Moral ist Religion Privatsache. Auch die autonom gewordene kritische Vernunft ist profan; die Philosophen der Neuzeit verstehen sie nicht mehr wie die Stoa und die Scholastik als einen Widerschein der göttlichen Weltvernunft, sondern als eine bloße Naturtatsache; sie mag zwar von Gott geschaffen sein, aber das hat keine Bedeutung mehr für ihre Selbstauslegung. Diese Autonomie der kritischen Vernunft bedeutet jedoch zugleich ein Problem und eine Last. Kant vergleicht die Vernunftkritik mit einem Gerichtsverfahren. (Vgl. B 779) Da es sich dabei um eine Kritik der Vernunft durch die Vernunft selbst handelt, muss sie die verschiedenen Rollen des Angeklagten, Anklägers, Verteidigers und Richters selbst übernehmen; externe Instanzen sind nicht im Spiel. Diese Merkwürdigkeit ist der Preis für die vollständige Reflexivität der Vernunft unter Bedingungen der Profanität, und er erhöht sich zudem durch die Tatsache, dass es, wenn man das Prinzip der kritischen Vernunft ganz konsequent durchführt, keine Objektivität mehr geben kann, die nicht in der selbstgewissen Subjektivität gründete – eine ziemlich halsbrecherische Situation. Die neuzeitlichen Philosophen vor Kant waren davor noch zurückgeschreckt, und sie suchten Halt für ihr Denken bei Gott als einem höchsten und notwendigen Wesen, dessen Existenz sie glaubten beweisen zu können. Wir können heute kaum noch ermessen, welchen Schock Kants Nachweis für die Mitwelt bedeutete, dass Gottesbeweise prinzipiell unmöglich sind; es ging dabei weniger um den Gott der Bibel als um den Zusammenbruch einer Weltdeutung, die sich die Perspektive des Absoluten zugetraut hatte. Nach Kant haben wir nur unsere eigene subjektive Vernunft, die als fehlbare ständig der Kritik bedarf; und sie allein muss jetzt die Lasten tragen, die wir uns mit unseren Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit und Objektivität aufbürden.

Kant selbst ist der kritische Abschied von dem, was er als dogmatische, d. h. nicht begründbare Metaphysik hinter sich lassen musste, sehr schwer gefallen; dass es keinen Gott geben könne, war für ihn wie für seine Zeitgenossen ein nicht fassbarer Gedanke, und das galt auch für die Unsterblichkeit der Seele sowie für die Willensfreiheit, die bis heute ins neuzeitliche Weltbild deswegen so gar nicht hineinpassen will, weil sie die Naturgesetze außer Kraft zu setzen scheint. Heinrich Heine verglich Kants Widerlegung der Gottesbeweise mit der Französischen Revolution und fand die Hinrichtung des Königs harmlos dagegen, denn jetzt gelte: »der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute«, und doch sei Kant schließlich umgefallen und habe, um seinen alten Diener Lampe (und wohl auch sich selbst) zu trösten, den toten Gott nachträglich wieder ins Spiel gebracht. (Vgl. Heine, 250 f.) Diese Legende ist seitdem häufig wiederholt worden, ohne dadurch wahrer zu werden. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind nach Kant keine Prinzipien, auf die sich Wissenschaft und Moral begründen ließen, sondern sie sind nur Postulate, d. h. notwendige Gedanken, die sich uns unwiderstehlich aufdrängen, wenn wir uns als Wesen verstehen, die zu wissenschaftlicher Erkenntnis und zu moralischem Handeln fähig sind. Dass Kant »redlich« ist, sich nichts vormacht und nichts erschleicht, wofür ihm die Gründe fehlen, hat sogar Nietzsche anerkannt, der sonst zu Kant ein ziemlich zwiespältiges Verhältnis unterhielt. Von Kant unterscheidet uns Heutige nur, dass uns der Verlust des Gottesglaubens und der Erwartung eines ewigen Lebens nichts mehr auszumachen scheint; wir können damit ganz gut leben. Und wie ist es mit der Freiheit? Neuerdings wollen die Neurowissenschaftler sie uns ausreden (vgl. Roth/Singer), und solange wir uns dagegen sträuben, bleiben wir gute Kantianer.

Vollständige Reflexivität einer Kultur bedeutet aber nicht nur Profanität, sondern auch Pluralität. Wenn Kulturen sich erst einmal als Lebenszusammenhänge begriffen haben, die ohne göttliche Offenbarung und Weisung auskommen müssen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Weltdeutungen und Handlungsnormen selbst zu erfinden und zu verantworten; die aber sind dann notwendig umstritten, denn es sind ja immer viele, die sich daran beteiligen wollen. Moderne Kulturen sind darum Kulturen ohne eine »natürliche« oder gottgewollte »Mitte«, die menschlicher Verfügung entzogen wäre; in diesem Sinne sind sie dezentriert, und sie erhalten sich nur im Zusammenspiel und häufig genug im Konflikt der verschiedenen kulturellen Mächte und Instanzen. Genau in diesem Sinne hat Heinrich Rickert Kant in einem Buch, das zu dessen 200. Geburtstag im Jahre 1924 erschien, als Philosophen der modernen Kultur gefeiert. Darin entwirft er in ausführlichem Rückgriff auf Max Webers Modell der abendländischen Rationalisierung ein Bild der modernen Kultur und spricht Kant das folgende Verdienst zu:

»Kant hat als erster Denker in Europa die allgemeinsten theoretischen Grundlagen geschaffen, die wissenschaftliche Antworten auf spezifisch moderne Kulturprobleme überhaupt möglich machen, und insbesondere läßt sich dartun: sein Denken, wie es sich in seinen drei großen Kritiken darstellt, ist in dem Sinn ›kritisch‹, das heißt scheidend und Grenzen ziehend gewesen, daß es dadurch im Prinzip dem Prozeß der Verselbständigung und Differenzierung der Kultur entspricht, wie er sich seit dem Beginn der Neuzeit faktisch vollzogen, aber in der Philosophie vor Kant noch keinen theoretischen Ausdruck gefunden hatte.« (Rickert 141)

Verselbstständigung und Differenzierung der Kultur meint das, was Max Weber als Ausdifferenzierung und Autonomisierung von Handlungssystemen und Wertsphären, Lebensformen und Weltbildern beschrieb, an deren Ende der »Polytheismus der Werte« steht, also ein Pluralismus letzter und oberster Lebensorientierungen, in dem sich die menschliche Vernunft zurechtfinden muss. (Vgl. Weber 474 ff., insbes. 500; auch Habermas I, 225 ff.)

Dass moderne Kulturen kein Zentrum mehr aufweisen, von dem her alle Teilbereiche gesteuert werden könnten, wird seit ihrer Entstehung als »Entzweiung«, »Entfremdung« oder »Verlust der Mitte« beklagt; in unserer Tradition war hier vor allem Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) der Wortführer. So wurde er zum Stammvater der deutschen Romantik und ihrer Träume von Ganzheit und Versöhnung, die bis in unsere Gegenwart fortdauern. Dabei ist die Romantik selbst ein modernes Phänomen. Sie setzt die Erfahrung der Modernität voraus; sie verleugnet sie nicht einfach, möchte sie aber hinter sich lassen. Darum sind romantische Visionen in der Regel weniger bloß nostalgische Beschwörungen eines Vergangenen als vielmehr Vorgriffe auf eine Utopie. Die Philosophie des deutschen Idealismus, die nicht schon mit Kant, sondern erst mit Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) beginnt und in Hegels System (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770–1831) ihren Gipfelpunkt erreicht, kann man nicht als romantisch bezeichnen; sie kommt aber mit der Romantik darin überein, dass sie die Moderne zwar auf den Begriff bringt, sie aber zugleich in die Perspektive ihrer Überwindung rückt. Kant hingegen erscheint hier wie bei allen Hegelianern bis hin zu Adorno als »Reflexionsphilosoph« (vgl. Hegel 2, 25 ff. und 287 ff.), d. h. als ein Denker, der vor der eigentlichen Aufgabe der Philosophie, das Wahre als das Ganze zu begreifen (vgl. Hegel 3, 24), resigniert und sich verstockt in seiner Subjektivität eingerichtet hat.

Inzwischen sollten uns spätestens die Erfahrungen des Totalitarismus von jenen romantischen Ganzheitssehnsüchten geheilt haben; ihre Anhänger übersehen meist, dass hier nur freiheitsfeindliche Ideologien wie der moderne Fundamentalismus ein Angebot machen können. Wir haben gelernt, dass es die Pluralität, ja sogar die Gegensätzlichkeit der Prinzipien ist, die in der modernen Kultur unsere Freiheiten garantiert; und die Vorstellung, sie müssten sich sämtlich aus einem einzigen Superprinzip ableiten lassen, das womöglich noch von der politischen Macht verwaltet wird, sollte uns schrecken. In der modernen Kultur mit ihrer Pluralität der Prinzipien besteht unsere Freiheit in einer Pluralität von Freiheiten; diese gründen selbst in einer Reihe fundamentaler Unterscheidungen, die in ihrer Gegensätzlichkeit die Modernität unserer Kultur ausmachen. Aus dem, was ist, folgt nicht, was sein soll; also hat die Wissenschaft nicht die Kompetenz, uns zu sagen, was wir tun sollen. Moral und Politik stehen auf eigenen Füßen, und die Diktatur von Theoretikern ist ausgeschlossen, was umgekehrt Wissenschaftsfreiheit bedeutet. Moral und Politik bedürfen ihrerseits keiner religiösen Basis, was wiederum die Religion von der Zumutung entlastet, die Menschen Mores lehren zu sollen. Die Künste sind nicht länger die Mägde von Religion und Moral, und ihre politische Instrumentalisierung, an der in prämodernen Zeiten niemand Anstoß nahm, gilt jetzt als ästhetischer Frevel. All dies hat Kant wie keiner vor ihm auf den Begriff gebracht und auf Argumente gegründet, die auch heute noch standhalten; auch darum ist er der klassische Philosoph der Moderne.

Die Frage ist freilich, ob die moderne Pluralität nicht doch eines inneren Zusammenhaltes bedarf; in der Tat kann sie nicht das letzte Wort sein, wenn wir den möglichen Konflikt zwischen den verschiedenen Prinzipien bedenken, der oft genug in offenen Krieg übergeht. Kants Moralprinzip, der Kategorische Imperativ, bietet hier einen Ausweg. Er wurde seit Hegel (vgl. 2, 461 ff.) immer wieder als formalistisch gescholten, und es wurde behauptet, man könne mit ihm alles und jedes, und sei es das Verbrechen, moralisch rechtfertigen und zur Pflicht erheben. (Vgl. Ebbinghaus, insbes. 85 ff.) Dies schien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erklären, warum die kantianischen Deutschen Hitler pflichtbewusst bis in den Untergang folgten. Tatsächlich ist der Kategorische Imperativ formal, er lässt uns unsere jeweiligen Handlungsgrundsätze, die er »Maximen« nennt, fordert uns aber auf zu prüfen, ob wir sie als allgemeingültige Gesetze denken und wollen könnten, und nur dann seien sie moralisch. Das hat mit Formalismus nichts zu tun, denn bei solcher Prüfung scheiden viele Maximen als unmoralisch aus. Das Formale der kantischen Ethik aber hat den Vorteil, dass es uns die Entscheidung darüber, wie wir leben wollen, selbst überlässt, und uns nur dazu verpflichtet zu überlegen, ob dies mit der freien Entscheidung anderer, die anders ausfällt, verträglich ist oder nicht. Aus solchen Überlegungen ergibt sich ihm zufolge der Gedanke einer formalen Rechtsordnung, die die Menschen nicht bevormundet, sondern nur den Frieden unter ihnen garantiert. So ist Kant der Philosoph des Friedens unter Bedingungen der Moderne, d. h. einer Friedensordnung, die Pluralität eröffnet und lebbar macht.

Diese Einführung versucht, an Kants Philosophie am Leitfaden der großen Unterscheidungen heranzuführen, die sein Denken bestimmten; in ihnen meldete sich die kulturelle Moderne im begrifflichen Medium zu Wort: »Wissenschaft und Aufklärung«, »Ding an sich und Erscheinung«, »Sinnlichkeit und Verstand«, »Verstand und Vernunft«‚ »Natur und Freiheit«, »Sein und Sollen«, »Pflicht und Neigung«, »Moral, Recht und Politik«, »Wissen und Glauben«, »Die Vernunft und der Mensch«. Sie alle haben immer wieder die »Kantüberwinder« herausgefordert, weil sie doch nicht das letzte Wort der Philosophie sein könnten; dabei übersahen sie stets, dass die kantischen Gegensätze sämtlich die Endlichkeit unserer Vernunft ausdrücken. Das hegelsche Argument, wer Endlichkeit gedacht habe, sei doch schon darüber hinaus, weil man schon Unendlichkeit gedacht haben müsse, um Endlichkeit denken zu können, hat bis heute manche überzeugt, und so glaubten sie, über Kant hinausgehen zu können. Dagegen ist zu sagen: Endlichkeit verweist unter Bedingungen der Moderne nicht mehr der Sache nach, sondern höchstens grammatisch auf die Unendlichkeit. Die Tatsache, dass wir verstehen, was ›unendlich‹ bedeutet, ermächtigt uns noch nicht dazu, unsere Vernunft in dem Sinne für unendlich zu halten, dass wir mit ihr den Gottesstandpunkt einer absoluten Perspektive aller Perspektiven einnehmen könnten. Kant selbst gestand sogar zu, dass wir gar nicht umhinkönnen, das Ganze, das Unendliche, Absolute denkend ins Auge zu fassen, aber wir können nicht damit Erkenntnisansprüche verbinden oder gar unser Leben danach einrichten.

Wissenschaft und Aufklärung

Was ist Aufklärung?

Dass das Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärung ein Leitproblem der Philosophie Kants darstellt, liegt nicht auf der Hand. In unserer kulturellen Zeitrechnung fällt seine Lebenszeit in das Jahrhundert, das sich kurz vor seinem Ende selbst als das »Zeitalter der Aufklärung« (Aufkl A 491) bezeichnete. ›Aufklärung‹ wird seitdem meist als Epochenbegriff verwendet; dann erscheint die Aufklärung als ein historisches Phänomen und damit als eine abgeschlossene Angelegenheit. (Vgl. zum Folgenden auch Schnädelbach 2004, 66 ff.) Was aber ist Aufklärung der Sache nach? An Kants berühmter Auskunft, sie sei der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Aufkl A 481), mag der Ausdruck »selbstverschuldet« irritieren, aber ihr Bezug auf Mündigkeit bringt es auf den Punkt. Nimmt man noch seine These »Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung« (Denk A 329) hinzu, so wird klar: Aufklärung ist nicht bloß die Sache einer Epoche, sondern sie findet überall dort statt, wo Menschen beginnen, sich ihres »Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (Aufkl A 481) und »vernünftige Selbständigkeit« (Mittelstraß 13) im Denken und Handeln anzustreben.

Das war nicht erst bei Descartes der Fall, mit dem wir in der Regel die Philosophie der Neuzeit beginnen lassen und der berichtet, er habe nach vielen Erfahrungen mit der Bildung und Wissenschaft seiner Zeit sich »so gut wie gezwungen« gefunden, seine »Leitung selbst zu übernehmen« (Descartes, Abh 13); schon Sokrates sagt im Dialog Kriton: »Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Satze (lógos), der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt.« (Platon, Kriton 46b) Damit stellte er sich gegen die Mächte der Tradition, die ihn als Gottlosen und Jugendverderber zum Tode verurteilten, und setzte ganz auf sich selbst und die eigene Einsicht; viele haben auch nach ihm genau dies mit ihrem Leben bezahlt. Die Zeitgenossen wussten nicht zu unterscheiden zwischen ihm und den Sophisten, die ihnen wegen ihrer skeptischen und kritischen Haltung gegenüber den herkömmlichen Überzeugungen und Lebensformen verhasst waren; Protagoras als ihr erster Wortführer hatte sich dem Schicksal des Sokrates durch Flucht entzogen. So spricht man allgemein von der »sophistischen Aufklärung«; die Sophisten waren keineswegs spitzfindige Wortverdreher und philosophische Scharlatane – diesen Ruf verdanken sie erst der Polemik Platons gegen sie –, sondern »starke Geister« (Nietzsche III, 730), die es wagten, sich nicht mehr auf die traditionellen Ansichten, sondern auf ihr eigenes Urteil zu verlassen.

Dass die Aufklärung im nicht bloß historischen Sinn das Reflexivwerden von Kulturen anzeigt, gilt generell. Die neuzeitliche Aufklärung unterscheidet sich freilich von der sophistischen dadurch, dass sie eine systematische Verbindung mit der Wissenschaft eingeht. Die Sophistik wandte sich ausdrücklich von dem ab, was damals als Wissenschaft galt, d. h. von der kosmologischen Spekulation der sogenannten Vorsokratiker, und forderte die Menschen auf, sich endlich um ihre eigenen, die menschlichen Angelegenheiten zu kümmern. Protagoras hatte mit seinem berühmten Satz »Der (jeder) Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, und der nichtseienden, daß sie nicht sind« (Platon, Theätet 152a), dies grundsätzlich zu rechtfertigen versucht; wenn das, was ist und wie es ist, jedem Menschen anders erscheint, ist eine allgemeine Wissenschaft vom Seienden, wie sie die Naturphilosophen vor ihm versucht hatten, sinnlos. Auch Sokrates, wie wir ihn durch Platon kennen, ist an der Natur nicht interessiert: »Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.« (Platon, Phaidros 230 d) Der platonische Sokrates erkennt aber, dass das Geschäft der Aufklärung bodenlos ist, wenn es auch im Bereich der Menschenwelt nur bei dem lógos bleibt, der diesem oder jenem als der jeweils beste erscheint, ohne auch wirklich der beste zu sein; darum sucht er unablässig nach der richtigen Bestimmung dessen, wodurch Haltungen und Handlungen der Menschen fromm, tapfer, gerecht usf. sind, und das ist ihm zufolge das Fromme, Tapfere, Gerechte etc. selbst. Hier entsteht das, was wir als Platons Ideenlehre kennen und was sich dann später auch über den von der Sophistik und Sokrates ignorierten Bereich der theoretischen Philosophie erstreckt. So versuchte Platon in seiner Philosophie, das Erbe der sophistischen und sokratischen Aufklärung mit den Ansprüchen auf Wissenschaftlichkeit zu verbinden.

Kant befindet sich in einer ähnlichen Situation wie vor ihm Platon. 1781, also drei Jahre vor seinem berühmten Aufklärungsaufsatz, schreibt er in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft:

»Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« (A XI)

Kritik, kritische Prüfung und Beurteilung – das ist die Praxis derer, die nach dem Vorbild von Sokrates und Descartes auf ihrer eigenen Einsicht und damit auf dem Prinzip der subjektiven Autonomie im Wissen bestehen; nach Kant ist diese Haltung zur Signatur seines Zeitalters geworden. Was aber sind die Maßstäbe der Kritik, die Kriterien der Beurteilung? Zerstört sich die Aufklärung nicht selbst, wenn sie an dieser Stelle nur die individuellen oder kollektiven Meinungen und Vorlieben der Kritiker aufzubieten hat? Die sophistische Aufklärung hatte ja genau deswegen im Skeptizismus geendet, d. h. in der systematischen Überzeugung des eigenen Nichtwissens, die zwar als Grundlage der eigenen bequemen Lebensführung akzeptabel sein mag, aber keine triftigen Argumente mehr vorzubringen hat gegen das, was mit Machtanspruch den subjektiven Meinungen entgegentritt. Kants Vernunftkritik ist nichts anderes als die Untersuchung der Kriterien, nach denen die Vernunft selbst all das »frei und öffentlich« prüft, um so das zu ermitteln, dem sie »unverstellte Achtung« entgegenzubringen vermag, und das müssen objektive, für alle vernünftigen Wesen gültige Maßstäbe sein.

Aufklärung durch Wissenschaft?

Gleichwohl war die neuzeitliche Aufklärung von vornherein nach dem Prinzip »Aufklärung durch