Religion in der modernen Welt - Herbert Schnädelbach - E-Book

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Herbert Schnädelbach

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Beschreibung

Die gesammelten Schriften von Herbert Schnädelbach zur Religion: streitbar, klug und ganz in der Tradition der Aufklärung stehend. Spätestens seit seinem »atheistischen« Artikel in der ZEIT von Anfang 2000, der auf große Resonanz stieß, ist der Philosoph Herbert Schnädelbach einer breiteren Leserschaft als ebenso scharfsinniger wie gelassener Kritiker der Religion bekannt. In diesem Band legt er nun seine gesammelten, aktuellen und zum Teil noch unveröffentlichten Schriften zur Religion vor. Die Themen reichen vom Verhältnis zwischen Religion und kritischer Vernunft, der politischen Theologie des Monotheismus, der Wiederkehr der Religion bis zur knappen Antwort auf die Frage: »Wo ist Gott?«

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Herbert Schnädelbach

Religion in der modernen Welt

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Sachbuch

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Inhalt

Meinen Kritikern gewidmetVorwort1. Aufklärung und ReligionskritikAufklärung als ReligionskritikReligiöse Aufklärung›Religion‹›Aufklärung‹ModerneAufklärung im ChristentumReligionskritik heute?2. Religion und kritische Vernunft3. Mit oder ohne Gott? Ansichten des Atheismus0 Der Titel1 ›Atheismus‹2 Atheismuskritik2.1 Atheismuskritik politisch oder: Was bedeutet ›postsäkular‹?2.2 Atheismuskritik moralisch2.3 Atheismuskritik anthropologisch oder: Die Wiederkehr der liberalen Theologie2.4 Atheismuskritik philosophisch3 Fazit4. Der fromme Atheist5. Monotheistische Offenbarungsreligionen als Quelle von Intoleranz und Gewalt?1236. Zur politischen Theologie des Monotheismus1. ›Politische Theologie‹2. Säkularisierung und Politisierung3. Dezisionismus als politische Theologie4. Creatio ex nihilo5. Offenbarung6. Legitimität7. Rechtstheoretischer Nihilismus8. Souveränitätstheoretische Gewaltenteilung7. Wo ist Gott?8. Jenseits des Christentums9. Die Wiederkehr der Religion10. Zur Bedeutung der Religion.1. Zehrt der freiheitlich säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen, die er selbst nicht mehr garantieren kann?2. Kann religiöses Denken in der wissenschaftlichen Kultur der Gegenwart eine Sensibilität für Versagtes wachhalten und auf Zerstörungen, die diese Kultur angerichtet hat, hinweisen?3. Was würde es für unsere Kultur bedeuten, wenn wir uns unserer religiösen Wurzeln entledigten? Können wir das überhaupt?4. Umgekehrt gefragt: Was bedeutet ein Wiedererstarken von Religion für unsere Kultur?5. Die nicht gestellte Frage lautet: Was fehlte, wenn die Religion fehlt?11. Glühbirnen am platonischen Ideenhimmel.12. In der Höhle des Löwen. Zur Diskussion zwischen Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas13. Der Fluch des ChristentumsDie ErbsündeDie Rechtfertigung als blutiger RechtshandelDer MissionsbefehlDer christliche AntijudaismusDie christliche EschatologieDer Import des PlatonismusDer christliche Umgang mit der historischen WahrheitChristentum heute?Nachschrift 2009Drucknachweise

Meinen Kritikern gewidmet

Vorwort

Dieser Band vereinigt Texte, die bei sehr verschiedenen Anlässen entstanden sind und deswegen auch unterschiedlichen Textsorten angehören. Was sie verbindet, ist der Versuch, angesichts der vielbeschworenen »Wiederkehr der Religion« und in dem damit verbundenen Stimmengewirr zur Klärung der Frage beizutragen, was es damit wirklich auf sich hat und wie es zu beurteilen ist. Damit stehe ich freilich nicht allein, denn zu den Leitmotiven dieser Textsammlung, wie sich nämlich Religion und Moderne, Glaube und Vernunft oder Glauben und Wissen zueinander verhalten, ist inzwischen eine Vielzahl von Publikationen erschienen mit Titeln, die sämtlich diese Problemstellungen variieren. Mit der Religion kam auch der Atheismus wieder auf die Tagesordnung, obwohl er, wie die Religion selbst, bis vor wenigen Jahren überhaupt kein lohnenswertes Thema mehr zu sein schien. Die Kompetenz, in diesem Bereich überhaupt mitzureden, wurde mir einfach zugemutet, und zwar durch das breite Echo, das meine Streitschrift Der Fluch des Christentums, die 2000 in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienen war (Text 13), in der Öffentlichkeit fand; dadurch wurde ich in die Rolle eines ernstzunehmenden Religionskritikers gedrängt, die auszufüllen ich gar nicht beabsichtigt hatte. Was ich in den daran anschließenden Debatten lernen konnte, bestärkte mich darin, dies zu akzeptieren und mich nach Kräften der Fragen anzunehmen, die sich mir stellten oder mir gestellt wurden.

Der Titel von Text 1 könnte auch als Buchtitel dienen; er entstand als Beitrag zu einer Konferenz der Akademie der Wissenschaften zu Turin über »Das Erbe der Aufklärung«. Damit ist Text 2 verwandt, der für eine Tagung der Evangelischen Akademie Loccum über »Die Vernunft und die Religion« geschrieben wurde, wobei es um eine Erörterung der Regensburger Vorlesung des Papstes Benedikt XVI. ging. – Die Texte 3 und 4 widmen sich der »Wiederkehr des Atheismus«, für die vor allem die Bestseller von Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Daniel C. Dennett stehen, und bezweifeln, dass dasjenige, was diese hitzigen Autoren bekämpfen, dem gerecht wird, was Atheismus im 21. Jahrhundert bedeutet; auch Aspekte der gegenwärtigen Atheismuskritik werden hier untersucht. Der Text 3 wurde auf einer interdisziplinären Tagung des religionswissenschaftlichen Instituts der Universität Innsbruck vorgetragen.

Seit dem 11. September 2001 ist nicht nur der Islam in den Ruf geraten, Intoleranz und Gewalttätigkeit zu erzeugen und zu schüren; auch der Monotheismus überhaupt wird inzwischen in gleicher Weise verdächtigt, und damit befasst sich der Text 5, der für eine Konferenz des Hannah-Arendt-Instituts an der Technischen Universität Dresden verfasst wurde. In analoger Weise widmet sich der Text 6 der bemerkenswerten Renaissance der Lehren von Carl Schmitt und untersucht die religionsgeschichtlichen Wurzeln seiner »Politischen Theologie«. – Dann folgen kleinere Texte (7–12), die jeweils auf konkrete Anfragen und Anlässe einzugehen und dabei auch ein breiteres Publikum außerhalb der philosophischen Expertenkultur zu erreichen versuchten.

 

Dieses Buch ist nicht als Ergänzung meiner wissenschaftlichen Publikationsliste gedacht. Die verschiedenen Entstehungsbedingungen der Texte sind auch der Grund, dass sich inhaltliche Wiederholungen nicht vermeiden ließen; man hat eben nicht alle Tage etwas ganz Neues zu sagen. Immer wieder werden die Philosophen aufgefordert, den »Elfenbeinturm« zu verlassen und sich unserer Tagesfragen anzunehmen. Dann aber stellen sich ihnen Kompetenzprobleme, denn die Vorstellung, dass sie zu allem und jedem etwas zu sagen hätten, ist durch das Bild, das man sich vor allem in Deutschland von der Philosophie macht, weit verbreitet. Sie ist aber auch eine Falle für die Philosophen selber und verpflichtet sie, auf die Grenzen ihrer tatsächlichen Kompetenz zu achten. So habe ich keine eigene Religionsphilosophie zu bieten, sondern nur das, was ein nachdenklicher, irreligiöser Sympathisant der Religion dazu zu sagen hat und womit er sich der Fachkritik aussetzt. Insgesamt findet er den leichtfertigen und gedankenlosen Umgang mit diesen kulturellen Beständen empörend, der sich vor allem in der modernen Funktionalisierung und Instrumentalisierung des Religiösen zeigt; vielfach wird nur noch darüber diskutiert, wozu es gut sei – als sozialer »Kitt«, als Sicherung der kulturellen Identität, als Grundlage der Moral, als Basis der »Wertevermittlung«, als Gelegenheit für bestimmte ästhetische Erlebnisse und, nicht zuletzt, als kommerziell verwertbares Warenlager; auf die Inhalte kommt es dann kaum noch an. Das aber hat vor allem das Christentum nicht verdient, denn in das, was wir in dieser Tradition heute noch vorfinden, ist jahrhundertelanges Nachdenken mit höchster intellektueller Energie und selbstkritischem Wahrheitsanspruch eingegangen, wodurch hier die Theologie selbst zu einem Motor der abendländischen Aufklärung wurde (vgl. Text 2). Die Tatsache, dass man immer weniger bereit ist, die Religion wirklich ernst zu nehmen, und sich dafür lieber an ihre jeweils verwertbaren Teilaspekte hält, kann man als Anzeichen dafür nehmen, dass wir uns nicht in einer »postsäkularen« (Habermas) Gesellschaft befinden, was eine nennenswerte »Wiederkehr der Religion« bedeutete, sondern dass sich in unseren Tagen ein postreligiöses Zeitalter ankündigt.

Hamburg, im Dezember 2008

Herbert Schnädelbach

1.Aufklärung und Religionskritik

Sich des Erbes der Aufklärung zu erinnern, um es lebendig zu erhalten, dazu besteht auch heute Anlass genug. Es war niemals unumstritten, und vor allem in Deutschland forderte es immer erneut Stimmen heraus, die lautstark verlangten, sich seiner zu entledigen. Hier war es lange Zeit üblich, abfällig über die Aufklärer, ihren naiven Glauben an die Vernunft und ihr plattes Nützlichkeitsdenken zu reden; das »tiefe« deutsche Wesen schienen sie gründlich verfehlt zu haben, und so gehörte die Aufklärungskritik stets zum Kernbestand der Ideologie des deutschen Sonderwegs. [1][1]Noch in der NS-Zeit galt bei uns die Aufklärung als typisch westlich und als Ausdruck des undeutschen Geistes, den zu bekämpfen man in den Weltkriegen endlich Gelegenheit fand. Dies schien nach 1945 endgültig abgetan zu sein, aber die Sorge um die Zukunft der Aufklärung [2]regte sich erneut. In den 70er und 80er Jahren verschaffte sie sich nachdrücklich Gehör, als der kulturkonservative Widerstand gegen eine vermeintliche Kulturrevolution von links, verbunden mit undeutlichen postmodernistischen Überzeugungen und Ansätzen einer radikalen Vernunftkritik all das, wofür die Aufklärungstradition einmal gestanden hatte, endgültig in den Orkus der geschehenen Geschichte zu verabschieden versuchte. Die »Wende« um 1990 hat hier vieles verändert; die Kontrahenten von damals sind offensichtlich zusammengerückt, denn die Globalisierung hat auch den Streit um die Aufklärung erfasst: Der ist nicht länger eine Affäre innerhalb des Westens, wo die Parteien des Pro und Contra seit jeher mit völliger Selbstverständlichkeit das für sich in Anspruch nahmen, was wir alle der Aufklärungstradition an politischen und kulturellen Freiheiten verdanken. Dieses Erbe gilt heute erneut als typisch westlich, aber eben nicht mehr im innereuropäischen, sondern im globalen Maßstab. Dass der Widerstand dagegen vor allem mit religiösen Motiven artikuliert wird, sollte uns nicht dazu verleiten, sie für die wahren Ursachen dieses Konflikts zu halten; erst durch den Zusammenstoß von Tradition und Moderne in der islamischen Welt selber entstand der Islamismus, der sich zunehmend als aufklärungsresistent erweist und vehement gegen die kulturelle Modernisierung ankämpft. Ähnliches gilt für den christlichen Fundamentalismus, wenn freilich der antimodernistische Widerstand hier in der Regel im Umkreis dessen verbleibt, was im Westen in rechtlicher Hinsicht Konsens ist. So scheint sich auf den ersten Blick die europäische Situation des 17. und 18. Jahrhunderts wiederhergestellt zu haben: Die Verteidiger der Aufklärung sehen sich erneut einer Front gegenüber, die sich im Zeichen »wahrer« Religion ihrem Projekt entgegenstellt; das Thema ›Religionskritik‹ gewinnt so eine neue und zunächst ganz unerwartete Aktualität.

Aufklärung als Religionskritik

Wenn man fragt, wie sich Aufklärung und Religionskritik zueinander verhalten, liegt eine Anwort ziemlich nahe: »Aufklärung ist Religionskritik; beides ist wesentlich dasselbe.« Dafür spricht einiges. In Deutschland nahm man der viel verachteten Aufklärung vor allem ihren Atheismus übel. Dass die aufgeklärten Pfarrer zu Weihnachten statt über das Wunder in der Krippe über die Vorzüge der Stallfütterung gepredigt hätten, nahm man ja mit verächtlichem Lächeln noch hin, aber Gott zu leugnen – das ging doch zu weit. [3]Atheisten konnten ja mit dem Gottesgnadentum der deutschen Obrigkeiten nichts anfangen, und so galten sie als potentiell staatsgefährdend; Hegel hatte zeitlebens diesen Vorwurf zu fürchten, und Ludwig Feuerbach war nicht der Einzige, der deswegen von der Universität entfernt wurde. Auch später war für die gottlose Aufklärung kein Platz, denn natürlich war der »Herrgott« mit den deutschen Batallionen, oder der Religion Hitlers zufolge: »die Vorsehung« mit der arischen Rasse. So wollten auch die Nazis auf Religion nicht verzichten; sie ließ sich viel zu gut benutzen. Aufklärung war ihre Sache nicht, obwohl der Dr. Goebbels sie im Namen seines Ministeriums führte – » … für Volksaufklärung und Propaganda« – als ob Propaganda nicht das genaue Gegenteil von Aufklärung wäre.

Aufklärung mit Religionskritik gleichzusetzen war aber nicht nur eine Sache der deutschen Ideologie; man kann dafür auch sehr hohe Autoritäten zitieren: z.B. Hegel. Der Phänomenologie des Geistes zufolge verwickelt sich die Aufklärung notwendig in den »Kampf mit dem Aberglauben«. [4]Ihr Prinzip ist die »reine Einsicht«, zu der sich der abstrakte Verstand heraufgearbeitet hat, und was ihr gegenübersteht, ist der einfache, aber inhaltsreiche Glaube, der im Lichte der »reinen Einsicht« als Glaube ohne Einsicht, d. h. als bloßer Aberglaube erscheinen muss. Im Ergebnis fällt nach Hegel der Glaube der »reinen Einsicht« zum Opfer; die Aufklärung gewinnt jenen Kampf, aber die Preise sind hoch: Nicht nur ist das Jenseits leergeräumt, die Transzendenz beseitigt, sondern Hegel behauptet sogar, dass der jakobinische Terror die unvermeidliche Folge der siegreichen Aufklärung gewesen sei. Hegel stimmt damit in den breiten Chor der von 1789 Enttäuschten ein, die nach den Erfahrungen der terreur in merkwürdiger Verkennung der realen Ursachen die Aufklärungsbewegung und darunter vor allem die Aufklärungsphilosophie für den revolutionären Umsturz verantwortlich machten – als hätte es nicht genügend handfeste Gründe für den Zusammenbruch des Ancien Régime gegeben. Hegel unterscheidet sich von solchen ideologischen Common-Sense-Erklärungen nur dadurch, dass er in der Phänomenologie des Geistes für sie auch noch ein dialektisch-geschichtsphilosophisches Begründungsschema bereithält. Darauf ist er später nicht zurückgekommen, aber dass die Aufklärung als Kultur des abstrakten Verstandes die Religion »ausgeleert« [5]und sie damit um ihre Substanz gebracht habe, das hat Hegel in verschiedenen Zusammenhängen immer erneut wiederholt. Von den reaktionären Restaurationsdenkern unterscheidet sich Hegel freilich dadurch, dass er die Aufklärung als einen unvermeidlichen Durchgangsprozess auf dem Wege der Selbstentfaltung der Vernunft in der Geschichte versteht und nicht als einen Betriebsunfall, den man rückgängig machen könnte; insofern eröffnet Hegel die Reihe der Aufklärungskritiker, die die Aufklärung über sich selbst aufzuklären versuchten.

Dass die Aufklärung selbst primär Religionskritik sei, haben nach Hegel noch viele andere Autoren vertreten, und zwar in einer Zeit, in der man sich daran gewöhnt hatte, mit ›Aufklärung‹ nurmehr eine inzwischen abgeschlossene Epoche zu bezeichnen – parallel zu franz. les lumières, engl. the enlightenment, ital. i lumi; der Sache nach aber meinten sie dasselbe, wenn sie die Sache der Aufklärung vertraten. Ich nenne Ludwig Feuerbach und seine Diagnose der Religion als Selbstentfremdung des Menschen, die nun endlich beendet werden könne. In diesem Sinne ist dem jungen Karl Marx zufolge die »Kritik der Religion … die Voraussetzung aller Kritik … Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks … Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion ist.« [6]Die Aufklärung als Religionskritik möchte hier nicht nur über die Religion aufklären, sondern über die Zustände, in denen die Menschen Religion nötig haben; die Gesellschaftskritik versteht sich hier als Fortsetzung der Religionskritik mit anderen Mitteln.

Zwei revolutionärer Umtriebe ganz unverdächtige Gewährsleute sollen hier zumindest noch genannt werden. Auguste Comte vertritt mit seinem Dreistadiengesetz, dem zufolge in der gesellschaftlichen Entwicklung der mythisch-religiöse Ursprungszustand durch eine metaphysische und die dann durch die wissenschaftliche, vom Positivismus bestimmte Phase abgelöst werde, ein ganz ähnliches Modell: Auch wenn von Aufklärung hier nicht die Rede ist, soll die Metaphysik als die höhere Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes aus der Mythen- und Religionskritik hervorgegangen sein, um dann ihrerseits der Kritik durch die positive Wissenschaft zum Opfer zu fallen. – Comtes Entwicklungs»gesetz« finden wir bei Max Weber zurückgenommen in die Dynamik der »abendländischen Rationalisierung«, die auch die Religion betrifft; dies aber nicht in Form ihrer simplen Abschaffung, sondern als ein Prozess, der die Religion selbst im Innersten durchdringt und ihren Rückzug ins Private erzwingt: »Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.« [7]Dieser moderne, mit den etablierten Großreligionen unvereinbare » Polytheismus« [8]ist, nach Weber, das inhaltliche Gegenstück zur Privatisierung des Religiösen. Dabei zitiert er John Stuart Mill zustimmend, dem zufolge der Polytheismus die unvermeidliche Konsequenz der empirischen Betrachtung der Welt ist. Genau dies aber hatte die neuzeitliche Aufklärungsphilosophie stets gefordert, und so besteht auch nach Max Weber ein enger Zusammenhang zwischen Aufklärung und Religionskritik.

Religiöse Aufklärung

Hegel und Comte unterscheiden sich vor allem durch ihre jeweilige Datierung der Aufklärung; während Hegel sie mit dem Beginn der »neuen Zeit« [9]anfangen lässt, verlegt Comte die Ablösung des mythisch-religiösen Stadiums durch das metaphysische schon in die griechische Antike. Tatsächlich bringt bereits die entstehende Philosophie das wohl schlagkräftigste religionskritische Argument hervor – das des Anthropomorphismus; bei Xenophanes heißt es: »Die Äthiopen stellen sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vor, die Thraker dagegen blauäugig und rothaarig. Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben.« Und doch fügt er hinzu: »Es herrscht nur ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Aussehen den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.« [10]So ist Xenophanes wohl der früheste Zeuge für das, was Aufklärung als Religionskritik von jeher auch sein wollte: Berichtigung und Reform des Religiösen und nicht einfach Religionsvernichtung. Die Philosophiegeschichte von Heraklit bis Hegel war immer zugleich eine Geschichte der philosophischen Gotteslehre, d. h. eines meist sogar expliziten Monotheismus, und der stand nicht im Widerspruch zum traditionellen Wissenschaftsverständnis – im Gegenteil: Man brauchte die Gottesbeweise, um in einer »Ersten Philosophie« das System des Wissens begründen und abschließen zu können.

So wird deutlich, dass das einfache Bild von der Aufklärung, das Hegel, Feuerbach, Marx und Comte entwerfen, unzureichend ist; sie war niemals nur der Religion einfach entgegengesetzt, sondern Aufklärung als Religionskritik fand von jeher im Bereich des Religiösen selbst statt. Es ist wohl eine Frage von Definitionen, ob es sinnvoll ist, Religion vom Mythos zu unterscheiden, aber Tatsache ist, dass die monotheistischen Offenbarungsreligionen – also das Judentum, Christentum und der Islam – als »Gegenreligionen« gegen den Mythos als Weltbild und Lebensorientierung auftraten. [11]Sie verstanden sich als Aufklärung zumindest in dem Sinn, dass sie den Mythos als Illusion, Verblendung, Irreführung, Lüge, Götzendienst und Priesterbetrug zu entlarven versuchten; das ganze Arsenal religionskritischer Topoi, das die Aufklärungsbewegung der Neuzeit gegen die etablierte Religion einsetzen wird, finden wir bereits hier vollständig versammelt. Diese Kritik dessen, was wir mit einem Kampfbegriff des 17. Jahrhunderts ›Polytheismus‹ nennen, [12]war verbunden mit einer durchgreifenden Entdämonisierung, ja wenn man will: Entzauberung der Welt, was in Weber’scher Terminologie auf einen gewaltigen Rationalisierungsschub hinauslief. Man hat gezeigt, dass der antike Antijudaismus wesentlich Anti-Monotheismus war, der sich aus der Enttäuschung und Erbitterung darüber speiste, dass er auf die Schließung der Tempel und das Ende der Kulte und Riten hinauslief; tatsächlich bedeutete die Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion eine ungeheure Verarmung der Vielfalt des spätantiken religiösen Lebens bis hin zum Ende der olympischen Spiele. So kann man die Klagen über die kulturellen und psychischen Kosten der Rationalisierung, mit denen sich Max Weber in Wissenschaft als Beruf zu befassen gezwungen sieht, schon bei den spätantiken »Heiden« belegt finden. Thomas Mann hat in der Erzählung Das Gesetz eindrucksvoll beschrieben, warum die Juden zum Goldenen Kalb zurückkehrten, als Mose gerade bei Gott weilte, um die Gesetzestafeln zu empfangen: Der Monotheismus war ihnen einfach zu anstrengend.

Die Geschichte der religionsinternen Aufklärung muss auch im Bereich des Christentums fortgeschrieben werden. Es ist die Offenbarungsreligion, die am nachhaltigsten eine Theologie ausbildete, und zwar im Sinn einer Reflexion und rationalen Durcharbeitung des Geglaubten. Was das Judentum betrifft, so kann man diesen Vorgang wohl erst ins 18. Jahrhundert datieren, trotz einiger Vorläufer im hohen Mittelalter. Was im Islam Theologie genannt werden könnte, beschränkt sich wohl auch weiterhin auf die Auslegung von Texten, die im Koran versammelt sind und unmittelbar als Gottes Wort gelten. Darum müssen Moslemkinder in den Koranschulen die Suren in arabischer Sprache auswendig lernen, obwohl sie davon kein Wort verstehen. [13]Da sich die christliche Dogmatik in ihrer Entwicklung nur wenig an die biblischen Texte gebunden fühlte und zudem sehr viel Stoizismus, Gnostizismus und Neuplatonismus in sich aufsog, um in der Konkurrenz der hellenistischen Philosophien mithalten zu können, erwies sich das Christentum als viel weniger aufklärungsresistent als der Islam. Es ist eben ein Unterschied, was als der Gegenstand des Glaubens gilt: eine göttliche Person, von deren Wirken verschiedene Texte verschieden berichten, wie es in der Bibel der Fall ist, oder ein einzelner unberührbarer und aller Kritik entzogener Text wie der Koran. (Hier stimmen übrigens die christlichen Fundamentalisten mit dem Islam überein.) Die Scientia christiana in der wesentlich durch Augustinus geprägten Gestalt war eine grandiose Mischung aus Offenbarungsreligion und Metaphysik, die für sich selbst einen hohen Rationalitätsanspruch erhob und sich sogar Wissenschaft (scientia) nannte; nur einige Mysterien wie das der Schöpfung, Inkarnation und Auferstehung blieben dem gläubigen Für-wahr-Halten vorbehalten. Die Folge war, dass in dieser Kultur der gleichzeitigen rationalen Beschäftigung mit dem metaphysischen und dem religiösen Erbe die profanen und die sakrosankten Elemente auseinanderstrebten, und so ist die uns vertraute Unterscheidung von Philosophie und Theologie schon eine Leistung der Hochscholastik. Gleichwohl verstand sich die christliche Theologie stets als ein wissenschaftliches und damit der Kritik zugängliches Unternehmen; man behauptet somit nicht zu viel, wenn man sie als die im Christentum selbst institutionalisierte Religionskritik bezeichnet. So erklären sich auch die permanenten Probleme, die der Vatikan seit jeher mit den eigenen Leuten an den Universitäten hat, trotz der grundsätzlich gewährten Freiheit der Theologie. Besonders hervorzuheben ist das Maß, in welchem die Theologen beider Konfessionen die rationale und historische Bibelkritik, die von der Aufklärungsbewegung ausging, zu ihrer eigenen Sache machten. Entmythologisierung als theologisches Unternehmen – dieses aufklärerische Programm Rudolf Bultmanns wird an Radikalität wohl nur übertroffen durch Karl Barth, dem zufolge die wahre Theologie überhaupt erst nach der Religionskritik beginnt; die vollendete Profanität »nach der Aufklärung« (Hermann Lübbe) erscheint hier als der allein geeignete Resonanzboden für die Offenbarung.

›Religion‹

So nötigen uns historische Betrachtungen zu einer differenzierten Sicht des Verhältnisses von Aufklärung und Religionskritik; klarer und eindeutiger wird sie allerdings erst, wenn wir uns nicht länger mit einem eher intuitiven Verständnis von ›Aufklärung‹ und ›Religion‹ zufriedengeben. Das lateinische Wort ›religio‹, für das es weder im Griechischen noch im Hebräischen ein genaues Äquivalent gibt, bedeutet bei Cicero die gewissenhafte Erfüllung der kultischen Pflichten und religiösen Gesetze, und er leitet es von lat. relego – wieder durchgehen, wieder durchlesen ab. Laktanz und Augustinus hingegen beziehen sich auf lat. religo – zurückbinden, festbinden – und geben der religio die Bedeutung von Bindung und Gebundenheit der Seele an Gott; im Mittelalter erscheint deswegen die Religion auch als Tugend. So nimmt in der christlichen Tradition die ›religio‹ die Stelle ein, die Cicero der pietas zuweist, was bedeutet, dass hier eine durchgreifende Subjektivierung des Religiösen vor sich geht, sodass dann im Protestantismus mit Religion die gesamte christliche Lebensform gemeint ist. Dieser Prozess setzt sich vor allem im 18. Jahrhundert mächtig fort, denn hier wird es üblich, zu unterscheiden zwischen der wahren Religion, die eine Sache des inneren Menschen sei, und dem äußeren Herkommen der Dogmen, Riten und Gebräuche, d. h. der Gegensatz zwischen dem antiken und dem christlichen Religionsbegriff wird hier noch einmal kritisch gegen die christliche Überlieferung gewandt. Endpunkte dieser Entwicklung lassen sich bei Kant und Schleiermacher ausmachen. Nach Kant ist »Religion … (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote« [14], und »alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um gottgefällig zu werden, … bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes« [15]; da es nach Kant nur auf Religion im subjektiven Sinne ankommt, wird sie hier reduziert auf eine Fußnote zur Moral – eine Deutung, die die liberale protestantische Theologie bis ins 20. Jahrhundert bestimmte. Schleiermacher sieht hingegen das Wesen der Religion im »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« und im »Geschmack fürs Unendliche«, womit er sich bekanntlich Hegels besonderen Zorn zuzog; dies hinderte ihn freilich nicht daran, eine höchst einflussreiche evangelische »Glaubenslehre« zu schreiben. [16]

Die Subjektivierung der Religion, die sich in der Geschichte dieses Begriffs nachzeichnen lässt, wird freilich seit dem Spätmittelalter begleitet von einer Rede von ›religio‹ im Plural (Cusanus); es wird unterschieden zwischen der eigenen Religion und anderen Religionen und über die Einheit der Religionen nachgedacht. Damit rückt das Religiöse aus der Teilnehmer- in die Beobachterperspektive; so wird auch der fremde Blick aufs Eigene möglich – eine wesentlich kognitive Voraussetzung für religiöse Toleranz. Bis dahin war es freilich noch ein weiter Weg, und es bedurfte noch einer starken Abschwächung der lebensweltlichen Macht des Christentums, bis der Hass auf Juden und Moslems und die Verachtung der »wilden Heiden« der Fähigkeit wich, diese Andersheiten zumindest zu ertragen. Meine These ist, dass sowohl die Subjektivierung der Religion wie auch ihre objektivierende Vergegenständlichung zu einem interessanten Phänomen unter anderen Phänomenen als Ergebnisse von Aufklärung im inneren Bereich der Religion selbst anzusehen sind. Um das plausibel zu machen, müssen wir den Aufklärungsbegriff selber präzisieren. [17]

›Aufklärung‹

›Aufklärung‹ als chronologischer Epochenbegriff scheidet dabei sofort aus; diese Bezeichnung besagt nur dann etwas, wenn man zuvor etwas darüber gesagt hat, was Aufklärung der Sache nach ist. Anders ist es mit den historischen Aufklärungsbegriffen, mit denen eine erzählbare Geschichte bezeichnet wird, und zwar sowohl eine große und eine kleinere Version. Die kürzere Fassung ist die von Hegel und von Comte: Aufklärung erscheint hier als eine historisch abgeschlossene Episode, auf die man nunmehr zurückblicken kann; in diesem Sinne bezieht sich auch Hermann Lübbe in seinem Buch Religion nach der Aufklärung und unter anderen Titeln auf die erfolgreiche Aufklärung als etwas Abgeschlossenes und Vergangenes. Die »große Rahmenerzählung« (Lyotard) der Aufklärung hingegen erstreckt sich von der »Amöbe bis Einstein« (Popper) oder vom Animismus bis zur Atombombe (Horkheimer/ Adorno), und dies mit offenem Ausgang; hier erscheint die Aufklärung als das eine große Erziehungs-, Bildungs-, Zivilisierungs- und Modernisierungsprojekt, wobei die zeitgenössischen Vertreter dieses Modells freilich nicht mehr glauben, dass es sich dabei um eine Veranstaltung der Gottheit (Lessing) oder der Natur (Kant) mit der Menschheit handelt. Nicht erst die Dialektik der Aufklärung, sondern schon Nietzsche und die lebensphilosophische Kulturkritik und dann erneut der Postmodernismus haben glaubwürdig gemacht, dass es sich bei dieser großen Version des Aufklärungskonzepts um ein naives und selber wenig aufgeklärtes Trugbild, ja um einen neuen Aberglauben handelt; wie »dialektisch«, d. h. selbstwidersprüchlich und selbstzerstörerisch Aufklärung geraten kann, hat uns das blutige 20. Jahrhundert vor Augen geführt.

›Bildung‹, ›Erziehung‹, ›Zivilisierung‹, ›Modernisierung‹, ja selbst ›Rationalisierung‹ – all diese Begriffe sind viel zu unspezifisch, um den strukturellen Kern von Aufklärung freizulegen; mit Kant kommen wir hier einen Schritt weiter. Bekanntlich definiert er: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« [18]Lassen wir zunächst das »selbstverschuldet« beiseite, weil es eine ganze Reihe von schwierigen Fragen aufwirft, so können wir festhalten: Kant bezieht die Aufklärung von vornherein auf das Ziel der Mündigkeit, des Erwachsenwerdens, der vernünftigen Selbständigkeit, der Selbstbestimmung. Damit ist klar, dass jener Ausgang aus der Unselbständigkeit nicht etwas sein kann, was dem Unmündigen einfach widerfährt, denn das stünde im Widerspruch zu dem, was Aufklärung bewirken soll; es wäre so, als wollte man seinen Kindern befehlen: »Nun seid endlich mal selbständig!« Man kann Mündigkeit nicht erzeugen, sondern nur die Bedingungen dafür schaffen, dass sie möglich wird. So war in den »emanzipatorischen« Zeiten der deutschen Bildungsreform der 60er und 70er Jahre von der »Erziehung zur Mündigkeit« die Rede, wobei man wohl unterschätzte, wie schwierig so etwas ist; im Übrigen machte man sich wohl auch nicht klar, dass man im Römischen Recht emanzipiert, d. h. aus dem manicipium des pater familias entlassen wurde, sich also gar nicht selber emanzipieren konnte. Man kann sicher jemanden über dies und jenes aufklären, aber damit meinen wir nur die Übermittlung von Informationen; die ist ohne Zweifel unentbehrlich, wenn Aufklärung gelingen soll, aber sie ist eben keine zureichende Bedingung und im Fall der Indoktrination und Propaganda sogar kontraproduktiv. Jemanden aufklären genügt nicht, sondern man muss sich selbst aufklären, d. h. den Mut und die Kraft finden, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Dazu kann man niemanden zwingen, aber man kann dazu ermuntern; darum sagt Kant: »Sapere aude!« Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. [19]

Mit Kant können wir festhalten, dass Aufklärung, wenn sie gelingt, ein reflexiver oder selbstreferentieller Prozess ist, der nicht von außen herstellbar ist, zu dem man aber auffordern kann; damit ist die Aufklärung als ein Prozess bestimmt, den Menschen zu ihrem Projekt machen können. In diesem Sinne formuliert Kant: »Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.« [20]Dabei müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die Kant anführt, um zu begründen, warum er die Unmündigkeit für »selbstverschuldet« hält. Nachdem die »Natur« die Menschen »längst von fremder Leitung frei gesprochen hat«, können sich die Unmündigen und erst recht ihre Vormünder nicht darauf herausreden, sie seien eben »von Natur« unmündig. Das zeugt nach Kant nur von »Faulheit und Feigheit«. Dann liegt es auch nicht am »Mangel des Verstandes«, wenn jener »Ausgang« ausbleibt, sondern am Mangel der »Entschließung und des Mutes«. Solche Schuldzuweisungen haben damals Hamann sehr erbittert; in einem Brief protestierte er dagegen und bestand darauf, dass die Schuldigen die selbsternannten Vormünder sind; im Übrigen schrieb er: »Mit was für Gewissen kann ein Raisonneur (und) Speculant hinter den(m) Ofen und in der Schlafmütze den Unmündigen ihre Feigheit vorwerfen, wenn ihr blinder Vormund ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer [von dem Kant selbst gesprochen hatte – H. S.] zum Bürgen seiner Infallibilität und Orthodoxie hat.« [21]Der bloße Appell an individuellen Mut in politischen Verhältnissen, in denen, wie in Preußen, die Freiheit nach Lessing ausschließlich darin bestand, dass man straffrei Dummheiten über die Religion sagen durfte, musste Hamann geradezu zynisch erscheinen, und wir können ihm dabei bei aller Kantverehrung nicht einfach unrecht geben. Freilich verortete Kant die Möglichkeit »der Entschließung und des Mutes«, sich seines Verstandes »ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, genau in dem Raum, den Friedrich II. bereits eröffnet hatte – nämlich in dem der Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«, [22]während im Übrigen galt: »Räsoniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!«, [23]aber genau dieser Freiraum wurde von seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm II. wieder kassiert, was Kant Publikationsverbot einbrachte. Man kann Kant gegen Hamann nur durch den Hinweis verteidigen, dass er nicht behauptet hatte, die Frage der Redefreiheit selber sei damals nur eine Sache der »Entschließung und des Mutes« gewesen.

Um die Bedingungen anzugeben, unter denen es Menschen möglich wird, den Prozess der Aufklärung zu ihrer eigenen Sache zu machen, genügt es somit nicht, auf Faulheit, Entschlusslosigkeit und Feigheit zu sprechen zu kommen; soziale und institutionelle Bedingungen gehören dazu, auf die sich Kant selbst bezieht. Er erkennt, dass es »für jeden einzelnen Menschen schwer« ist, »sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten … Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur die Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.« [24]Die gesetzlich gewährte Redefreiheit ist nur deshalb für die Aufklärung erforderlich, weil sie nur als ein kommunikativer Vorgang in der Öffentlichkeit vor sich gehen kann; Gedankenfreiheit, wie sie Schillers Marquis Posa fordert, [25]allein genügt nicht. Dass alle autoritären und totalitären Regime der Welt diesen Prozess zu fürchten haben, hat der vorsichtige Kant zumindest angedeutet: »Wenn denn die Natur … den Hang und Beruf zum freien Denken (,) ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es für sich selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.« [26]Tatsächlich ist für alle Despoten diese Rückwirkung der Rede- auf die Handlungsfreiheit viel zu gefährlich, und deshalb pflegen sie als Erstes, die öffentliche Kommunikation durch ihr Medienmonopol zu behindern und zu zerstören. In den westlichen Demokratien passiert Ähnliches sogar im Rahmen der Verfassung; man denke nur an die Telekratie des Silvio Berlusconi.

Verstehen wir somit Aufklärung als einen selbstreferentiellen und kommunikativen Prozess mit dem Ziel vernünftiger Selbständigkeit in individueller und politischer Hinsicht, der nur dann in Gang kommt, wenn Menschen ihn zu ihrem eigenen Projekt machen, dann müssen wir uns zugleich von der einlinigen Fortschrittsgeschichte verabschieden, in die die Aufklärungsidee im 18. Jahrhundert eingelassen war. Dass der Ausdruck ›Aufklärung‹ im 19. Jahrhundert und danach fast nur noch historisch und abfällig gebraucht wurde, ist ein Beleg für die Dialektik der Aufklärung, d. h. für ihr Doppelgesicht. Wie bei allen Menschenkindern hat auch für Kulturen das Erwachsenwerden Kosten; es bedeutet den Abschied von Träumen und liebgewordenen Illusionen, Ernüchterung, Enttäuschung, aber auch Disziplin und Selbstbeherrschung als Preis für die eigene Selbstbestimmung. Die Klage über diese Preise der Freiheit und die Weigerung, sie zu zahlen – das ist die Romantik; sie macht die Kostenrechnung der Emanzipation auf und ist wesentlich dafür verantwortlich, dass die aufgeklärte Moderne bis heute von vielen primär als das Resultat kalter und menschenfeindlicher Rationalisierung angesehen wird – als »ehernes Gehäuse«, von dem Max Weber gesprochen hatte. [27]Häufig ist das freilich leere Rhetorik, weil da die ganze Fülle der Freiheiten und sozialen Sicherungen, die uns die moderne Welt bietet, zwar als selbstverständlich genossen, aber eben nicht erwähnt wird. Romantik als Modernitätsverweigerung gibt es von rechts wie von links, als Nostalgie und als revolutionäre Hoffnung; gleichwohl gehört auch sie in die Aufklärungsgeschichte und ist ernstzunehmen in dem Maße, in dem sie die Aufklärung über sich selbst aufzuklären vermag.