Kartoffelkäfer und Himbeergeist - Kerry Greine - E-Book
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Kartoffelkäfer und Himbeergeist E-Book

Kerry Greine

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Beschreibung

Cathy hat mit der Hamburger Spießergesellschaft abgeschlossen und lebt ihr eigenes Leben, weitab des Mainstreams. Das Einzige, was ihr am Herzen liegt, ist ihre Grafikagentur und der naturbelassene Kleingarten, den sie für sich und ihre Hündin Watson gepachtet hat. Tommy ist alles andere als begeistert, dass er sich einen ganzen Sommer lang um die Kleingartenparzelle seiner Eltern kümmern soll. Er hat schon lange die Nase voll von diesen Hobbygärtnern und würde den Sommer viel lieber mit seinen Freunden am Strand verbringen und rauschende Partys feiern. Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und die in verschiedenen Welten leben. Wen wundert es also, dass sie gleich bei ihrer ersten Begegnung heftig aneinander rasseln? Doch warum lassen beide die Gedanken an den anderen keine Ruhe?

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Kerry Greine, Ben Bertram

Kartoffelkäfer und Himbeergeist

 

 

 

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- gekürzte Vorschau -

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Kleingartenidylle

Hundekacke

Ach nö

Endlich Feierabend

Maulwürfe

Die Arbeit auf dem Dach

Sonntags im Garten

Laura

Ich bemerkte

Mit jedem Schritt

Emu-Girl

Tommy

„Ein Gott“

Hin- und hergerissen

Himbeergeist

Im Spätherbst

Mein Blick

Scheiße!

Einen Kartoffelkäfer

Eine Woche

Noch immer

Nicht heulen!

Drei Mal

Endlich

Ich hatte

Was zum Henker

Der Sand

Per Handzeichen

Tatsächlich

Die ganze Nacht

Krankfeiern

„Verpiss dich!“

Papa werden

Das Mittagessen

Im Bikini

Sommerfest

Ingo saß

Wie ein Luftballon

Wundern

Der Duft

Meine Hand

Ich erwachte

Epilog(e)

Impressum tolino

Die Kleingartenidylle

… war schon lange nicht mehr mein Ding!

Meinen Eltern zuliebe saß ich heute Nachmittag trotzdem auf der Terrasse ihrer Gartenlaube, die ebenso spießig war wie die gesamte Kleingartenanlage, in der wir uns befanden. Diese Scholle war das Leben meiner Eltern, und ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich diese langweilige Gartenidylle als Kind gehasst hatte. Während meine Freunde ins Schwimmbad gehen durften, musste ich Rasen mähen. Wenn Klassenkameraden am Wochenende mit ihren Familien an die Ostsee fuhren, hockte ich in der Parzelle und zupfte Unkraut. Als ich in meinem eigenen kleinen Beet Gemüse angepflanzt hatte, fraßen es die Karnickel weg, bevor ich zur Ernte schreiten konnte. Ich muss so ungefähr 13 gewesen sein, als ich mich für viele Jahre vom Kleingartenverein, und somit auch vom Garten meiner Eltern, verabschiedete. Bestimmt zwei Jahrzehnte machte ich einen Bogen um diesen Ort, und erst in den letzten paar Jahren, kam ich ab und an vorbei, um sie in ihrer Einöde zu besuchen.

Dass mich heute irgendetwas erwarten würde, war mir bereits klar, und doch hatte ich nicht mit einem solchen Mist gerechnet. Ich hatte keine Chance, aus der Nummer rauszukommen, und so willigte ich ein, obwohl ich ebenso viel Lust dazu hatte wie eine Kuh zum Gummitwist.

Die ersten Alarmglocken hatten geläutet, als ich den gedeckten Kaffeetisch auf der Terrasse meiner Eltern entdeckt hatte. Es gab heute nicht den obligatorischen Butterkuchen, den wir sonst entweder aus der Hand oder mit diesen praktischen, jedoch völlig umweltfeindlichen Plastikgabeln aßen. Auf dem Tisch stand das gute Gartenporzellan, das nur für besondere Gelegenheiten genutzt wurde. Die Pappteller blieben im Schrank und somit ebenso ungenutzt wie die alten Kaffeebecher, die ausnahmsweise durch die guten Kaffeetassen ersetzt worden waren. Meine Mutter hatte für den heutigen Anlass gebacken. Sogar doppelt und so gab es außer dem leckeren Marmorkuchen auch eine Erdbeertorte. Dick belegt und natürlich mit Erdbeeren aus der eigenen Ernte.

Der Kaffee war noch nicht fertig und so machte ich gemeinsam mit meinem Vater eine Gartenbegehung. Als wir am Kirschbaum vorbeikamen, zupfte ich an den Zweigen und eroberte mir auf diesem Wege vier oder fünf der leckeren rot schimmernden Kugeln. Der Blick meines Vaters verriet mir, dass er meine Aktion mitbekommen hatte. Es war dieser strafende Blick, den ich schon als Kind gehasst hatte und mit dem ich immer angesehen worden war, wenn ich in unserem Garten, der sein Heiligtum war, irgendetwas nicht vorschriftsmäßig getan hatte. Überraschenderweise erntete ich heute, neben dem Blick meines Vaters, keinen oberlehrerhaften Satz dazu. Leicht verwundert ging ich weiter und stoppte vor dem kleinen Gartenteich, den mein alter Herr vor einigen Jahrzehnten angelegt hatte. Er war überfüllt mit Wasserschnecken, die sich nicht nur auf den Blättern der Seerosen, sondern auch auf den Steinen am Rande des Teiches niedergelassen hatten. Fische konnte ich nicht erkennen und so griff ich nach einem herumliegenden Zweig und hielt diesen ins Wasser. Vielleicht waren sie daran interessiert und kamen vom Grund nach oben, um ihre Neugierde zu befriedigen.

„Tommy, du weißt, dass weder die Fische noch ich es mögen, wenn du im Teich herumstocherst. Außerdem besteht die Gefahr, dass du mit dem spitzen Ast die Teichfolie beschädigst und er leer läuft.“

„Sorry, Dad. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Zu widersprechen machte keinen Sinn, da mein Vater zu seinem Garten eine sehr innige Beziehung hatte und alles, was gegen die von ihm gesetzte Norm sprach, verurteilte.

Heimlich pflückte ich mir eine Erbsenschote, öffnete diese und ließ den kleinen grünen Inhalt in meine hohle Hand kullern. Ich hatte es als Kind geliebt, die Erbsen direkt vom Strauch zu verhaften, und weiß noch genau, dass ich stolz wie Oskar gewesen war, wenn ich von meinem Vater nicht dabei ertappt worden war. Ich musste eine gute Erbsenstrategie gehabt haben, da ich mich an kaum einen Einlauf meines Vaters erinnern konnte. Auch jetzt hatte er mich nicht erwischt, und nachdem ich die geöffnete Schote heimlich in einer Ecke hatte verschwinden lassen, steckte ich mir meine Beute in den Mund. Mit vor Stolz geschwellter Brust stand ich hinter dem Rücken meines alten Herrn und wusste einige Sekunden später nicht, wie mir geschah. Die Dinger waren bitter und sorgten dafür, dass sich ein fast betäubend wirkendes Gefühl auf meiner Zunge breitmachte. Ich spuckte mir den grünen Brei in meine rechte Hand und freute mich darauf, den ekligen Geschmack gleich mit Wasser, besser noch mit Kaffee, hinunterzuspülen.

Mit schnellem Schritt schob ich mich an meinem Vater vorbei und machte mich auf den Weg zur Gartenlaube.

„Das war wohl nicht so lecker?“ Mit fragendem Blick sah er mich an, und ich wunderte mich, woher er es wusste.

„Was meinst du?“ Ich war neugierig.

„Tu mal nicht so. Schon als Kind hast du geglaubt, dass ich es nicht mitbekommen habe, wenn du dir heimlich etwas stibitzt hast. Damals warst du nur klüger. Vielleicht lag es daran, dass du einfach mehr Zeit im Garten verbracht hast! Wie auch immer, zumindest hast du früher Erbsen genascht und sie nicht mit Bohnen verwechselt. Außerdem solltest du wissen, dass die Erntezeit für Erbsen noch nicht mal angefangen hat.“ Mein Vater amüsierte sich prächtig, während ich zur Laube lief und dort die Wasserflasche ansetzte.

Der Garten war einfach nicht mehr meine Welt. Nicht dass ich mich hier komplett unwohl fühlte, aber ich hatte Besseres zu tun, als mir meine Zeit mit Unkrautjäten, Rasenmähen, Holzlattenstreichen oder irgendwelchen anderen anstrengenden Arbeiten zu versauen. Meine Eltern waren anders. Schon während ihrer Berufstätigkeit verbrachten sie jede freie Minute in ihrem Domizil. Sie genossen es, nach Feierabend in den Beeten zu wühlen und bis in den späten Abend hinein mit anderen Gartenfreunden zu schnacken. Die Winterzeit war die Hölle für sie. Trotzdem versuchten sie auch dann, sofern das Wetter mitspielte, irgendetwas im Garten zu erledigen. Häufig ging es im Winter um Innenausbauten der Hütte, die jedes Jahr durch Umbauarbeiten verändert wurde. Erlaubt war dabei, was Spaß machte, und da meine Eltern seit einer gefühlten Ewigkeit ihre Parzelle besaßen, wurde vom Vorstand des Kleingartenvereines das eine oder andere Auge zugedrückt.

Den ekligen Geschmack hatte ich inzwischen heruntergespült, und ich half meiner Ma, die restlichen Sachen auf den fast fertig gedeckten Tisch zu stellen. Während meine Mutter mit dem Kaffee auf die Terrasse kam, saß mein alter Herr bereits auf seinem Stammplatz und wartete darauf, bedient zu werden. Es war ein stilles Abkommen, das die beiden seit Jahrzehnten geschlossen hatten und pflegten. Mit Haushalt, zu dem in diesem Fall auch Tischdecken und Kochen gehörte, hatte mein Vater nichts am Hut. Von Beginn der Ehe an wurde er verwöhnt und brauchte sich an all diesen Tätigkeiten nicht zu beteiligen. Bei mir war es anders, und mein alter Herr verurteilte es sogar, wenn ich nach einem gemeinsamen Essen nicht sofort aufsprang und das dreckige Geschirr in die Küche trug. Natürlich blieb er sitzen! Wenn er dann doch aufstand, setzte er sich mit seiner Zeitung in den Lesesessel und beobachtete über den Zeitungsrand hinweg unser Treiben. Er gehörte zur alten Schule, besser gesagt zu der Generation, in der diese Art des Handelns noch üblich war.

Endlich saßen wir alle drei am Tisch, und während ich genervt davon war, dass sich die ersten Insekten an unserem Kuchen laben wollten, begann meine Mutter mit dem Auffüllen. Sie hatte sich wirklich große Mühe gegeben und die Kaffeetafel sogar mit Blumen aus dem eigenen Garten hübsch dekoriert. Erst jetzt fiel mein Vater darüber, und als meine Ma dabei war, ihm Kaffee einzuschenken, sah er sie entsetzt an und sagte:

„Sind die etwa aus unserem Garten?“

„Was meinst du, Karl?“ Erschrocken über den schroffen Ton meines Vaters, antwortete meine Mutter ohne nachzudenken.

„Die Kuchen werde ich wohl kaum meinen!“ Ich überlegte, mich einzumischen, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte. Eine Rüge von mir hätte meinen alten Herren in diesem Moment auf hundertachtzig gebracht, was ganz sicher ein gemütliches Kaffeetrinken unmöglich gemacht hätte.

„Ach, du meinst die Blumen? Schatz, zu einem hübsch gedeckten Tisch gehören doch auch ein paar Blümchen.“

„Dein ‚Schatz‘ kannst du dir sparen. Komm jetzt bloß nicht wieder so an. Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn Blumen nur für Dekozwecke abgeschnitten werden. Hoffentlich hast du sie wenigstens aus dem hinteren Teil des Gartens genommen.“ Meine Mutter blieb still. Eine Antwort wäre in diesem Moment auch nicht clever gewesen, da sie den Strauß vorne aus dem Beet gepflückt hatte. Dieses Beet im vorderen Bereich war nichts weiter als ein Angeberbeet. Zumindest empfand ich es so, da es weder von der Terrasse noch vom großen Rasenstück einzusehen war. Es diente lediglich dazu, vorbeigehenden Spaziergängern oder anderen Gartenfreunden zu zeigen, was für tolle Blumen in diesem Garten wuchsen.

Ruckzuck wurde mein Vater wieder friedlich und das Kaffeetrinken konnte beginnen. Ich war erstaunt, dass er in seinem weisen Alter endlich so vernünftig war, sich nicht mehr lange über eigentliche Belanglosigkeiten aufzuregen. Meine Mutter wirkte verunsichert und schaffte es nicht mal, mir in die Augen zu schauen. Ich wusste nicht, warum es so war, denn es kam mir nicht so vor, als hätte ihre Unsicherheit noch etwas mit dem Einlauf meines alten Herrn zu tun. Irgendetwas schien im Busch zu sein, da war ich mir sicher! Und doch hatte ich keine Ahnung, was genau mich gleich erwarten würde.

Hundekacke

„Ihr dämlicher Köter hat schon wieder auf den Gehweg vor dem Haus gekackt!“ Eine wütende Stimme brüllte mich quer über die Straße hinweg an, kaum dass ich aus meinem alten Passat Kombi gestiegen war. Innerhalb von Sekunden schwoll mir der Kamm. Mein bekloppter Vermieter! Der hatte mir ja gerade noch gefehlt zu meinem Glück. Am liebsten wäre ich sofort wieder eingestiegen und weggefahren, hätte ihn einfach ignoriert, aber ich konnte nicht. Ich musste dringend auf die Toilette, bevor meine Blase platzte. Doch Herr Krause versperrte mir den Weg ins Haus.

Augenrollend öffnete ich die Kofferraumklappe und entließ meine Hündin aus ihrer Transportbox.

„Hier, Watson! Fuß!“, befahl ich ihr, und mein brauner Wuschel blieb artig neben mir, bis wir auf der anderen Straßenseite ankamen.

„Nehmen Sie das Vieh an die Leine! Sofort!“, schrie Herr Krause los. Ich wusste, er hatte Angst vor meiner Hündin. Dabei war sie das gutmütigste Tier der Welt und noch dazu ein kleiner Schisser. Sie hatte eine Heidenangst vor Männern, sie wäre Herrn Krause also ebenso wenig zu nahe gekommen wie er ihr, lieber ergriff sie in solchen Momenten die Flucht und versteckte sich irgendwo.

Bei Frauen war sie ganz anders, die würde sie glatt zu Tode kuscheln. Wenn sie jemanden mochte, war sie genauso verschmust, wie ihr weiches zottiges Fell es versprach, und wurde manchmal regelrecht aufdringlich, wenn sie der Meinung war, jetzt wäre Schmusezeit. Das waren allerdings auch ihre einzigen Macken.

„Sitz!“ Ein Wort genügte und die Hündin plumpste auf ihr Hinterteil. Ich nahm sie an die Leine und band sie locker am Zaun des Vorgartens an, obwohl ich wusste, dass das nicht nötig sein würde. Abgesehen von ihrer Angst vor Männern war Watson super erzogen und gehorchte aufs Wort. Wenn ich sagte, sie solle sitzen bleiben, tat sie das auch. Doch ich glaubte, ich hatte Herrn Krause erst einmal genug provoziert. Falls ich noch weiter gehen würde, käme bestimmt gleich Dampf aus seinen Ohren wie in einem Comic. Es war ja nicht so, als wollte ich ihn nicht auf die Palme bringen. Seitdem er vor anderthalb Jahren das Haus, in dem meine Wohnung lag, geerbt hatte, machte er mir das Leben zur Hölle. Er fand immer irgendeine dämliche Kleinigkeit, an der er sich hochziehen konnte. Im Moment war es ein Hundehaufen, der unübersehbar vor seinen Füßen die Platten des Gehwegs zierte.

Kritisch musterte ich das Häufchen und zog eine Augenbraue hoch.

„Das da?“, fragte ich pikiert und zeigte mit dem Finger darauf. Dann lachte ich schallend los.

„Sorry, Herr Krause. Schauen Sie sich doch Watson mal an. Wenn dieses Fitzelchen aus meiner Hündin käme, würde ich mir echt Sorgen machen. Welcher Hund auch immer das produziert hatte, er kann nicht größer als eine Ratte gewesen sein.“ Kritisch schaute er zu Watson, die es sich auf dem Gehweg gemütlich gemacht hatte und lang ausgestreckt in der Sonne lag.

„Aber das MUSS Ihr Köter gewesen sein! Wer sonst? Heute Morgen, als ich aus dem Haus gegangen bin, war es noch nicht da. Und jetzt …“

„Herr Krause!“, unterbrach ich ihn, auch wenn mir eine kleine Stimme sagte, dass es manchmal besser wäre, die Klappe zu halten und sich nicht ausgerechnet mit der Person anzulegen, bei der man sowieso schon auf der Abschussliste stand. „Meine Hündin ist gute 60 Zentimeter hoch und wiegt 35 Kilo. Glauben Sie mir, ihre Haufen sehen anders aus. Und außerdem, als ICH heute Morgen aus dem Haus gegangen bin, stand Ihr Wagen noch in der Einfahrt. Ich war also – mitsamt meinem Hund – vor Ihnen weg. Watson kann es gar nicht gewesen sein, da ich erst jetzt wiederkomme. Und leider muss ich auch dringend weiter.“ Allmählich machte sich meine Blase immer schmerzhafter bemerkbar, und so nahm ich die Leine vom Zaun und verschwand an meinem Vermieter vorbei im Haus. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie er fast einen Satz in die Büsche machte, als ich mit dem Hund vorbeiging.

Nachdem ich mich erleichtert hatte, kochte ich mir erst einmal einen Tee und setzte mich mit meinem Becher an den Küchentisch.

„Was mach ich denn nur, Watson? Ich weiß, der Arsch plant etwas. Wenn ich nur rausbekommen könnte, was …“ Nein, ich führte keine Selbstgespräche. Zumindest redete ich mir das ein. Ich sprach ja schließlich mit meinem Hund.

Schwanzwedelnd saß sie neben mir und sah mich aus ihren treuen hellbraunen Augen an. Den Kopf ein wenig schief gelegt, lauschte sie meinen Worten. Obwohl ich manchmal das Gefühl hatte, sie horchte nur, ob bei meinem Gefasel bestimmte Schlüsselwörter fallen würden. „Essen“ oder „raus“ zum Beispiel. Am schönsten war ihre Reaktion, wenn das Wort „Garten“ fiel. Dann hüpfte sie wie ein Flummi durch die Wohnung, von mir zur Tür und wieder zurück, immer hin und her. Und wenn ich – ihrer Meinung nach – nicht schnell genug war, drehte sie sich im Kreis um sich selbst und begleitete ihren Tanz mit einem herzzerreißenden Jaulen.

Während ich an meinem Pfefferminztee nippte, wanderten meine Gedanken zurück in die Vergangenheit.

Als ich die Wohnung vor vier Jahren bezogen habe, hatte ich mich so gefreut. Schnuckelige drei Zimmer im Dachgeschoss eines Zwei-Parteien-Hauses mit Garten. Im Erdgeschoss hatte meine Vermieterin Luisa gewohnt, Herrn Krauses verwitwete Schwester. Sie war so ganz anders als ihr Bruder. Warmherzig, freundlich, aufgeschlossen, tierlieb. In der Zeit, die wir hier gemeinsam unter einem Dach verbrachten, hatten wir uns angefreundet. Sie war wie eine Oma für mich, so eine Bilderbuchoma, die sonntags Kuchen backte und immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer hatte. Den Garten hinter dem Haus haben wir uns geteilt, ich durfte ihn jederzeit mitbenutzen und für Watson hatte sie stets ein Leckerli parat.

Wie oft haben wir an heißen Sommertagen im Schatten unter dem Apfelbaum gesessen, Tee getrunken und die Aussicht auf die Blütenpracht in den Beeten genossen. Es war einfach himmlisch!

Als sie vor anderthalb Jahren plötzlich starb, war ich unendlich traurig. Sie stand mir so nahe, und bis heute fuhr ich regelmäßig nach Ohlsdorf zum Friedhof, um sie zu besuchen. An ihrem Grab konnte ich ablesen, dass es außer mir kaum Leute gab, die dort hinkamen. Es war verwildert und von Unkraut überwuchert. Wenn ich da war, zupfte ich genau so viel aus, dass man die Inschrift auf der Grabplatte wieder sehen konnte. Alles andere ließ ich stehen, ich wusste, sie hätte es so gewollt. Wir hatten, was das anging, die gleiche Einstellung. Natur pur war einfach schöner als Beete nach Norm.

„Wer entscheidet eigentlich, was Unkraut ist und was nicht?“, fragte Luisa immer, wenn wir in ihrem Garten gesessen hatten. „Der Mensch hat nicht das Recht, darüber zu richten, wie eine Blume zu sein hat.“ Ich wusste, damit meinte sie nicht nur Pflanzen, sondern das Leben im Allgemeinen. Sie war der Meinung, dass man niemanden nach seinem Äußeren oder seiner Art zu leben verurteilen darf. Vermutlich war das damals auch der Grund, warum sie mir die Wohnung im Obergeschoss gegeben hatte und nicht einem der anderen Bewerber.

Als die Besichtigung war, kamen ungefähr zwanzig Leute, rausgeputzt und frisch geföhnt, in Anzug, Krawatte und die Damen mit Kleidchen. Und dann war da ich: löcherige schwarze Jeans, schwarzes Tanktop, schwarz gefärbte strubbelige Haare und an diversen sichtbaren Stellen gepierct. Luisa musterte mich lange schweigend, und obwohl ich es aufgrund meiner Optik durchaus gewohnt war, angestarrt zu werden, war mir ihr Blick unangenehm. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, sie würde tiefer sehen, als mein Äußeres es hergab. Sie schaute hinter die Maske in meine Seele.

Irgendwann löste sie sich von den um ihre Gunst buhlenden Bewerbern und kam zu mir herüber.

„Hi, ich bin Luisa. Und du bist Cathrin?“, fragte sie schlicht und streckte mir ihre runzelige Hand hin. Sie muss meine Perso-Kopie auf den eingereichten Unterlagen gesehen haben, woher hätte sie sonst meinen Namen wissen können?

„Cathy reicht“, antwortete ich nur. Noch immer hielt sie meine Hand.

„Du gefällst mir. Hast du dich umgesehen? Willst du die Wohnung?“ Ich hatte nur stumm genickt, woraufhin sie sich zum Makler und den anderen umdrehte und resolut sagte:

„Okay, Sie können dann gehen. Die Wohnung ist vermietet.“

Durch die Erinnerung ein wenig wehmütig geworden, seufzte ich. Mittlerweile war alles anders. Bereits drei Monate nach Luisas Tod war ihr Bruder unter mir eingezogen, und seitdem machte er mir das Leben zur Hölle.

Ich nahm den letzten Schluck von meinem Tee und stellte den Becher in die Spülmaschine, ich musste unbedingt raus hier. Seit Luisa nicht mehr war, fühlte ich mich zunehmend unwohl in meiner Wohnung, die mir auch gleichzeitig als Büro diente. Ich griff nach meiner Umhängetasche und sprach Watsons liebstes Zauberwort aus.

„Wollen wir in den Garten?“, fragte ich und sofort war sie auf den Beinen. Lachend nahm ich sie an die Leine, nur für den Fall, dass Herr Krause noch immer vor dem Haus zugange war.

„Aber erst zum Baumarkt“, teilte ich meiner Süßen mit und verließ die Wohnung.

Schon scheiße, wenn man sich in seinem Zuhause so gar nicht wohlfühlt und ständig flüchtet. Ich wusste genau, woran es lag, doch ich wusste nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.

Ach nö

… war mein Gedanke, nachdem ich die Bitte meiner Eltern erfahren hatte.

Klar wusste ich schon vor meinem Erscheinen und spätestens als ich die Torten gesehen hatte, dass irgendetwas Besonderes in der Luft lag. Ich konnte die Anspannung und Aufregung meiner Mutter, während wir am Kaffeetisch saßen, förmlich greifen, und doch ahnte ich nicht im Entferntesten, dass meine Eltern auf eine solche Idee kommen könnten. Sie kannten meine Einstellung schließlich ganz genau. Ebenso, wie sie meine Meinung zu den nervigen Nachbarn wissen mussten.

Das Alter der beiden hatte ich gar nicht wirklich auf dem Zettel. Ich war zwar älter geworden, meine Eltern blieben für mich allerdings irgendwie zeitlos. Als sie mir ihre Idee präsentierten, fand ich sie total cool. Doch warum war ich es, der für den verrückten Plan meiner Eltern hinhalten musste? Gab es nicht genügend durchgeknallte Gartenfreunde, die nichts außer ihrer kleinkarierten Kleingärtner-Welt im Kopf hatten?

Zum Glück kam mir eine Idee! Ob sie funktionieren würde, wusste ich natürlich nicht. Aber ich musste jede noch so kleine Chance nutzen, um diese ehrenvolle Aufgabe, die mir meine Eltern großzügig anvertrauen wollten, nicht annehmen zu müssen.

„Ich bin doch gar nicht gut genug dafür. Erinnert euch mal, wie dusselig ich mich früher immer angestellt habe. Denkt daran, was ich alles falsch gemacht hab und wodurch ihr dann viel mehr Arbeit hattet. Der verbrannte Rasen, weil ich in der Hitze gemäht hatte, die ausgerupften Setzlinge, die ich mit Unkraut verwechselt hatte, und ganz zu schweigen vom Chemie-Klo, das ich auf dem Kompost geleert hatte, und wie sehr noch Tage später der Garten stank.“

„Damals warst du ein Kind, lieber Tommy. Heute wirst du es sicher hinbekommen und viel sorgfältiger sein!“ Der Ton meines Vaters deutete an, dass er keine Widerrede dulden würde, aber ich konnte mich einfach nicht ergeben, ohne alles versucht zu haben.

„Ich habe doch kaum Zeit für Gartenarbeit. Mein Beruf, der Sport, mein zusätzliches Joggen und dann bin ich ja immer noch auf der Suche nach meiner Traumfrau. Ihr seid es schließlich, die sich so sehnlichst ein Enkelkind wünschen.“ Mit dem Enkelkind hatte ich gepunktet, da war ich mir sicher. Außerdem fand ich, dass meine anderen Gründe ebenfalls genügend Aussagekraft gehabt haben mussten. Was sollte mein alter Herr hierauf erwidern können?

„Papperlapapp! Das ist doch bloß inhaltsloses Gerede von dir. Eine Frau willst du ja gar nicht, da dir dein Dasein ohne Verantwortung viel zu gut gefällt. Das Thema Enkelkinder haben deine Mutter und ich seit einer Ewigkeit abgeschrieben. Seit wann spannt dich dein Beruf eigentlich so ein? Bisher hast du immer gesagt, dass du dort ein leichtes Leben hast. Und Sport und Joggen könntest du die nächsten drei Monate dann sowieso ad acta legen, da du deinen Bewegungsdrang hier ausleben wirst.“

Tatsächlich war es so, dass meine Eltern mich ansonsten in Ruhe ließen. Sie waren rüstig genug, um ihr Rentnerdasein ausgiebig zu genießen, und auf Hilfe von mir nicht angewiesen. Dieses Mal war es anders! Sie brauchten mich, und zwar dafür, weil ihr geliebtes Baby auch während ihrer Abwesenheit gepflegt werden musste.

Ich willigte also ein! Jedoch nicht, ohne noch einen letzten Versuch zu starten. Nein, sie sollten sich keine Alternative zu mir überlegen, sondern sich lediglich Gedanken darüber machen, ob es tatsächlich so lange sein musste.

„Müsst ihr wirklich für drei Monate nach Mallorca? Genügt nicht einer, um die Insel anzusehen? Um auszuprobieren, wie es euch dort gefällt? Ihr wart gefühlte zwanzig Jahre nicht im Ausland und wisst gar nicht, ob ihr da klarkommt.“

„Tommy, einmal in meinem Leben für drei Monate nach Mallorca war schon immer mein Wunsch. Endlich habe ich deinen Vater überreden können, mit mir dorthin zu fahren. Bitte, mach mir meinen Traum nicht kaputt. Es sind doch nur drei Monate, die du dich um unseren Garten kümmern musst.“ Meine Mutter sah mich flehend an und nach diesen Worten konnte ich ihr ihre Bitte selbstverständlich nicht abschlagen.

Es sind doch nur drei Monate! Die Worte meiner Mutter liefen als eine Art Dauerschleife durch meinen Kopf und machten mir Angst. Drei Monate bedeuteten, dass ich mindestens zwölf Mal den Rasen mähen musste. Wenn es heiß war, täglich sprengen, verwelkte Blumen abschneiden, mich um die Obst- und Gemüseernte kümmern und immer wieder Unkraut zupfen. Wahrscheinlich hatte ich in meiner gedanklichen Aufzählung diverse Dinge vergessen, die ebenso wichtig und unumgänglich waren.

„Wann fahrt ihr los?“

„Am 1. Juli.“ Mehr sagte mein Vater nicht.

„Dann seid ihr wann wieder da?“

„Direkt nach drei Monaten. Am 30. September landen wir wieder in Hamburg.“ Meine Mutter strahlte während ihrer Antwort. Mir war mein Strahlen vergangen. Tatsächlich hatte ich den ganzen Sommer über einen Garten zu hüten. Ich konnte weder an die Ostsee fahren noch meine Wochenenden auf Sylt verbringen. Ich würde selbst innerhalb der Woche am Abend kaum Zeit dafür haben, mit Freunden in irgendwelchen Strandbars zu hocken oder gemütlich am Elbstrand zu grillen. Zumindest nicht ohne schlechtes Gewissen, da ich immer das Gefühl hätte, den Garten zu vernachlässigen.

Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Die Grillevents mit meinen Freunden konnte ich natürlich in diesem Sommer auch in die Parzelle meiner Eltern verlegen. Wenn ich dann noch einen kleinen Pool kaufen würde, hätten wir garantiert fast ebenso viel Spaß wie am Elbstrand. Vielleicht gab es sogar einige in meinem Bekanntenkreis, die als Dank dafür beim Rasenmähen oder bei anderen notwendigen Arbeiten helfen würden. Am Wochenende eine 24-Stunden-Party im Kleingartenverein bei Sonne, Bier, einem rund um die Uhr laufenden Grill und cooler Mucke war ein gar nicht so schlechter Plan.

Wenn ich schon den Gärtner für meine Eltern spielen musste, wollte ich zumindest etwas Spaß dabei haben! Natürlich durften sie es nicht wissen. Da sie sich aber Hunderte von Kilometern von mir entfernt aufhielten, würden sie von den ganzen Aktionen nichts mitbekommen. Vermutlich würden die Gartennachbarn und anderen Spießer aus dem Verein meinem Vater anschließend Bericht erstatten. Doch dann stand Aussage gegen Aussage, und wenn ich den Garten am 30. September in einem vernünftigen Zustand zurück übergeben würde, wäre alles gut.

Während ich auf dem Nachhauseweg war und mich darüber freute, dass meine Eltern glücklich waren, hatte ich mich mit dem Gedanken an die Gartenpflege ein wenig angefreundet. Ganz sicher würde ich in den nächsten zehn Tagen bis zu deren Abflug täglich Anrufe meines Vaters erhalten. Es würden Telefonate werden, in denen er mir immer und immer wieder meine Aufgaben erläuterte. Da musste ich jetzt durch! Ebenso, wie ich am Tag vor der Abreise eine Liste in die Hand gedrückt bekommen würde, auf der alles bis ins kleinste Detail aufgelistet war. Außerdem war ich mir ganz sicher, dass sich eine Abschrift dieser Liste – gut platziert – in der Gartenlaube befinden würde.

Zu sehr war mein Vater auf seinen Garten fixiert und darum besorgt, dass irgendetwas nicht so gemacht werden könnte, wie er es wollte.

Meine Vermutung war richtig. Zumindest fast, da wir nicht nur einmal täglich, sondern meistens mindestens zweimal am Tag telefonierten. Morgen war der 1. Juli, was bedeutete, dass ich mich heute Abend im Schrebergarten einzufinden hatte. Mein Vater drückte mir tatsächlich drei DIN-A4-Zettel in die Hand, und gemeinsam gingen wir die Punkte durch, während wir dabei eine Runde durch den Garten drehten. Meine Mutter blieb zu Hause und packte die restlichen Sachen. Da sie meinen alten Herrn aus über vierzig Jahren Ehe nur zu gut kannte, wollte sie sich seine wissenschaftlichen Ausführungen mir gegenüber lieber ersparen.

Fast drei Stunden später drückte mein Vater mir das Schlüsselbund in die Hand. Jedoch nicht, ohne mir einen strengen Blick und den Satz, dass ich mich im Kleingartenverein zu benehmen hätte, mit auf den Weg zu geben.

Gemeinsam verließen wir den Garten und schlenderten noch eine ganze Zeit am Alsterlauf entlang. Wir wohnten nur wenige hundert Meter auseinander; und ich ging noch kurz mit zur Wohnung meiner Eltern. Nachdem ich mich von meiner Mutter verabschiedet hatte, machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Endlich Feierabend

… dachte ich erleichtert. Schon den ganzen Tag sehnte ich mich danach, dass das Wochenende beginnen würde. Ich hatte am heutigen Tag noch eine dringende Änderung eines Auftrags zu erledigen, der mich deutlich mehr Zeit gekostet hatte, als ich eingeplant hatte.

Normalerweise war es kein Problem, ich konnte von überall aus arbeiten, da ich als selbstständige Grafikerin hauptsächlich meinen Laptop und mein Zeichentablett brauchte. Doch bei diesem Auftrag, einer Kinderbuchillustration, waren in fast jedem der Bildchen noch Sachen zu ändern, weil mein Auftraggeber es sich immer wieder anders überlegte. Daher musste ich diesen schönen Sommertag im Büro in meiner Wohnung verbringen, damit ich ihm jede Änderung sofort mailen konnte.

Nachdem ich meinen Laptop heruntergefahren hatte, schloss ich seufzend den Deckel und packte meine Sachen zusammen. Meine Kollegin Laura war schon vor drei Stunden verschwunden und genoss mit Sicherheit längst die Sonne am Elbstrand oder machte sich bereits fertig, um heute Abend feiern zu gehen. Innerlich schüttelte ich mich. Ich wusste, Laura verbrachte ihre Wochenenden gerne so, doch für mich war es die absolute Horrorvorstellung, mich in Discos herumzutreiben und mich dabei im sexy Zwirn irgendwelchen geifernden Kerlen zu präsentieren. Die typische Hamburger Schickeria, die sich in den angesagtesten Klubs der Stadt herumtrieb, konnte mir so was von gestohlen bleiben. Ich hatte von dieser ganzen Möchtegern-High-Society-Scheiße mehr als genug in meinem Leben gehabt, dahin wollte ich nie wieder zurück.

Da blieb ich lieber, wo ich jetzt war. Ich hatte mir mein Leben abseits des Mainstreams aufgebaut, und ich liebte es, nicht nach irgendwelchen schwachsinnigen Regeln der Gesellschaft zu leben. Selbst die schwachsinnigen Regeln des Kleingartenvereins versuchte ich gekonnt zu ignorieren und hatte mir das Regelwerk noch nicht einmal angesehen, als ich den Garten Anfang letzten Jahres gepachtet hatte. Sie waren mir aber auch egal, da ich nicht aufgrund der Gesetze, sondern wegen der Natur die kleine Parzelle besaß.

Ich genoss es, meine Abende und Wochenenden in meinem ureigenen Paradies zu verbringen. Zumindest war mein Garten für mich ein Paradies. Der Vorstand des Kleingärtnervereins sah das anders. Ich war quasi das schwarze Schaf der Siedlung, nur weil mein Garten anders war als die spießigen Parzellen meiner Nachbarn. Doch warum sollte ich mich anpassen? Mein Garten war anders, weil ICH anders war. Bei mir gab es keine Regeln und Gesetze, meine Blumen durften wuchern, sich ausbreiten, mein Rasen war eine Wiese und meine Büsche entsprachen zwar nicht der vorgeschriebenen Maximalhöhe, boten dafür aber einen wunderbaren Sichtschutz. So hatte ich meine Ruhe, wenn ich auf meiner Terrasse saß, Watson neben mir, und konnte lesen, ohne von den Blicken Vorbeilaufender genervt zu werden.

Auf dem Weg zum Kleingartenverein hielt ich noch schnell am Supermarkt an und besorgte mir eine Kleinigkeit zum Abendessen. Ein abgepacktes Sandwich und ein fertig geschnippelter Salat würden mir reichen. Außerdem müsste im Gefrierfach des kleinen Kühlschranks in meiner Gartenlaube noch eine Großpackung Eis sein.

Als ich an der Kasse in der Schlange stand, bemerkte ich wieder einmal, wie ich angestarrt wurde. „Guck mal, die Gothiktante da“, hörte ich hinter mir jemanden murmeln und wusste, er meinte mich. „Gothiktante“ war noch harmlos, da hatte ich schon deutlich Schlimmeres gehört. Warum auch immer die Leute dachten, ich wäre eine Goth oder Emo, wie ich auch gern genannt wurde. Nur, weil ich schwarze Klamotten liebte und meine Haare schwarz mit einem Streifen Knallpink gefärbt waren? Weil ich in der Augenbraue und an der Unterlippe gepierct war? Okay, und die Zunge, aber das sah ja niemand. Ich wusste nicht einmal so recht, was sich hinter diesen Begriffen verbarg oder wo der Unterschied zwischen beiden lag. Ich zog mich an und färbte mir die Haare, weil ich es leiden mochte. Selbiges mit meinen Piercings. Na gut, und ein bisschen auch, um mich von der vermeintlich „richtigen“ Gesellschaft abzuheben, ich war halt kein normaler Durchschnittsbürger. Ich war ich und ich war stolz darauf.

Solche Reaktionen meiner Mitmenschen fand ich einfach nur anstrengend, und sie führten nicht unbedingt dazu, dass ich meine Meinung, nicht dazugehören zu wollen, änderte. Ich genoss mein Einsiedlerleben mit meiner Hündin. Ich hatte alles, was ich brauchte, und im allergrößten Notfall ein paar Leute, auf die ich zurückgreifen konnte, sollte ich mal wirklich etwas nicht allein schaffen. Innerlich rollte ich mit den Augen und versuchte einfach, nicht hinzuhören. Der Kunde hinter mir ließ sich gerade darüber aus, dass ich bestimmt „so eine faule Hartz-4-Empfängerin sei, die lieber auf ihrem knochigen Arsch saß und dem Steuerzahler auf der Tasche lag, anstatt sich einen Job zu suchen“.

Nach einigen weiteren Beleidigungen warf ich aus dem Augenwinkel einen Blick über die Schulter. Der Kerl, der diese gequirlte Scheiße von sich gab, war mit Glück gerade mit dem Abi fertig. Vermutlich hatte er noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet, vielmehr wirkte er, als würden Mami und Papi ihm zu Hause Zuckerwatte in den Arsch schieben.

Endlich durfte ich bezahlen und verließ den Supermarkt. Watson saß brav vor der Eingangstür und wartete schwanzwedelnd, bis ich bei ihr angekommen war. Im Auto wäre es viel zu warm für meine Süße gewesen, deshalb hatte ich sie vor der Tür an einem der Fahrradständer angebunden. Als ich mich aufrichtete, sah ich den Kerl von eben wieder, der gerade mit seinem Kumpel aus dem Laden kam.

„Alter, das kann ich mir nicht leisten“, sagte er in diesem Moment seinem Freund. „Mein Dad hat meine Kohle gekürzt. Er ist der Meinung, ich könnte mir ja selbst was dazuverdienen. Ich muss jetzt mit 500 Euro Taschengeld im Monat auskommen.“ Mehr hörte ich nicht, aber das musste ich auch nicht.

Aufatmend ließ ich mich rücklings auf die Wiese vor meiner kleinen Hütte fallen und starrte in den Himmel. Ein paarmal atmete ich tief durch, ließ den Duft der Blumen und des Rasens in meine Lunge strömen und spürte, wie alle Anspannung von mir abfiel. Hier war mein wahres Zuhause. Ich hatte die kleine Parzelle letztes Frühjahr angemietet, nachdem Herr Krause in Luisas Wohnung gezogen war und mir als Erstes verboten hatte, den Garten hinter dem Haus weiter zu nutzen.

Ich brauchte einfach das Grün um mich herum, das Gefühl nasser Erde an meinen Händen, die körperliche Betätigung und den Geruch der Natur. Eigentlich wäre ich auf dem Land vermutlich besser aufgehoben, doch bisher hatte ich mich nicht dazu durchringen können, mir „meinen“ Ort im Hamburger Umland zu suchen. Aber wenn das Verhältnis zu Herrn Krause sich weiterhin so drastisch verschlechterte, würde ich es wohl demnächst mal in Angriff nehmen müssen. So konnte es auf jeden Fall nicht bleiben. Gestern Abend hatte er mich wieder einmal abgefangen, um mir zu erklären, dass ich meinen Müll nicht sorgfältig trennen würde und außerdem vergessen hätte, meine Joghurtbecher auszuwaschen. Anscheinend hatte er ernsthaft meine gelben Säcke kontrolliert, woher sonst konnte er das wissen? Meiner Meinung nach suchte er einfach nur immer neue Gründe, mich zu schikanieren, und lange wollte ich mir das nicht mehr gefallen lassen.

Kurz überlegte ich, ob ich mich über mein Sandwich und meinen Salat hermachen sollte, doch ich hatte noch keinen Hunger. Also machte ich mich zuerst an die Arbeit. Das Dach meiner Laube war kaputt und ich musste es vor dem nächsten Regen reparieren. Ich suchte die Leiter aus dem Schuppen und hievte die Rolle Dachpappe samt Werkzeugkasten auf das Dach der Hütte. Zum Glück hatte es nur eine ganz leichte Dachneigung, sodass die Gefahr abzustürzen recht gering war.

Von hier oben hatte ich einen guten Überblick über die umliegenden Gärten. Grinsend ließ ich meinen Blick schweifen, irgendwie sahen sie alle gleich aus mit ihren Angeberbeeten und den frisch gemähten, saftig grünen Rasenflächen. Ich sah auf meine eigene Parzelle hinunter. Gänseblümchen und Löwenzahn wucherten auf meiner Wiese und bis hierher konnte ich das Summen der Bienen und Zirpen der Grillen hören. Ob sie sich nur in meinem Stückchen blicken ließen? Vermutlich wurden sie in anderen Gärten mit Insektenspray zu Tode gejagt.

Herr Müller neben mir war gerade dabei, seine Harke in den Schuppen zu räumen, er machte anscheinend Feierabend mit der Gartenarbeit, damit er pünktlich zur Tagesschau zu Hause vor dem Fernseher saß. In der Parzelle gegenüber von Herrn Müller sah ich Herrn Teske mit einem mir unbekannten Mann durch den Garten gehen. Herr Teske deutete auf einzelne Pflanzen und Büsche und schien dem anderen etwas zu erklären, so wie er dabei herumgestikulierte.

Stimmt, ich hatte zufällig mitbekommen, dass die Teskes den Sommer über verreisen wollten. Er hatte es neulich Herrn Müller erzählt, und die beiden hatten so laut gesprochen, dass ich gar nicht anders konnte, als das Gespräch zu belauschen. Drei Monate wollten sie unterwegs sein, und Herr Teske hatte sich Sorgen gemacht, dass sein Sohn mit der Pflege seines Gartens überfordert sein könnte. Ich hatte mich königlich darüber amüsiert. Vermutlich wäre sogar der beste Profigärtner damit überfordert, Herrn Teskes Vorzeigebeete nach seinen Wünschen zu erhalten. Der Kerl war der absolute Oberspießer hier im Verein. Sein Garten wirkte, als müsste man die Schuhe ausziehen, um den Rasen betreten zu dürfen, nicht, dass man noch einen Grashalm abknickte.

Ich wusste, ich – beziehungsweise meine Parzelle – war ihm ein ganz besonderer Dorn im Auge. Was ich als märchenhaft verwunschen und romantisch bezeichnete, war für ihn vermutlich verloddert, ungepflegt und absolut asozial. Obwohl er im Gegensatz zu Herrn Müller von nebenan noch harmlos war. Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft sich dieser oder sein Kumpel Ingo beim Vorstand des Kleingartenvereins über mich beschwert hatten.

Ich beobachtete, wie die beiden die Parzelle verließen und den Weg entlangkamen. Wie immer, wenn Herr Teske bei mir vorbeiging, wurden seine Schritte ausgreifender, und er legte deutlich an Tempo zu. Als wäre mein Garten ansteckend, rannte er fast schon daran vorbei, nicht dass mein böses Unkraut noch auf ihn oder sein Spießertum übergriff.

Maulwürfe

… hatten im Garten meiner Eltern nichts zu suchen.

Irgendwie schienen diese Viecher es zu wissen und machten in den letzten Jahren immer einen großen Bogen um die Parzelle meiner Eltern. Wie hätte es auch ausgesehen, wenn dieser englische Rasen, der aussah, als würde er mit der Nagelschere geschnitten werden, diese hässlichen schwarzbraunen Erdhäufchen auf sich tragen müsste?

Immerhin hatten meine Eltern so eine Art Naturgarten. Eine besondere Art dieser Gattung, da in der Parzelle 82 die Natur das machen musste, was mein alter Herr ihr vorgab und zuließ. Braune unförmige Hügel auf sattgrünem kurz geschorenem Rasen war ein absolutes No-Go und die Natur schien es zu wissen. Allem Anschein nach war mein Vater nicht nur mir gegenüber eine Respektsperson. Auch der Gartengott, dessen Namen ich nicht kannte, der ganz sicher aber ein entfernter Verwandter von Neptun dem Wassergott war, wagte sich nicht an Dinge, die er in anderen Gärten für sein Leben gern verbreitete. Ähnlich verhielt es sich mit Kaninchen! Selbstverständlich hatten meine Eltern einen Schutzzaun eigens für, besser gesagt gegen die kleinen Nager, rings um ihre Gartenparzelle angebracht. Dies hatten jedoch auch die Nachbarn, bei denen sich die Kaninchen allerdings nicht darum scherten. Bei den anderen buddelten sie sich unter den Zäunen hindurch oder fanden andere Wege, um in den Garten zu gelangen. Meine Vermutung war, dass nicht der Maschendraht, sondern mein Vater als Respektsperson ausschlaggebend war. Die Karnickel hatten Schiss vor ihm, und es hätte ganz sicher auch genügt, wenn mein alter Herr ein Hinweisschild mit der Aufschrift Betreten für Kaninchen verboten angebracht hätte.

Heute, an meinem ersten Gartenaufpasstag, hatte ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht. Während ich mit dem Rad durch die Gartenkolonie fuhr und dabei lächelnd die Schilder betrachtete, auf denen stand, dass Hunde anzuleinen waren und Radfahrer absteigen mussten, umkurvte ich einen freilaufenden Hund. Er saß auf dem Weg direkt vor einer Parzelle, von der ich nicht viel erkennen konnte. Wahrscheinlich würde der Besitzer seinen Garten als Bio-Garten bezeichnen. Mir schoss auf Anhieb der Ausdruck naturbelassen durch den Kopf, und ich amüsierte mich darüber, welch unterschiedliche Begriffe es für ein und dieselbe Sache gab. Mein alter Herr zum Beispiel hätte diese Parzelle bestimmt als verwildertes Assi-Grundstück beschimpft. Allerdings nur dann, wenn er gut drauf war. Ansonsten wären ihm ganz sicher noch andere Bezeichnungen für einen aus seiner Sicht zugewucherten und ungepflegten Garten eingefallen.

Ich scherte mich eher weniger darum, da ich andere Sachen auf meinem Zettel hatte. Es war Samstag, und mein Plan war es, mich in einer Stunde mit meinen Freunden zum Frühstück im Schweinske Fuhlsbüttel zu treffen. Da der Kleingartenverein zwischen meiner Wohnung und dem Schweinske lag, wollte ich einen kurzen Zwischenstopp einlegen, um den Rasen zu sprengen.

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ISBN: 978-3-7393-7313-3