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Mick hatte eine Idee! Doch rechnete er nicht im Entferntesten damit, dass diese sein Leben schlagartig verändern würde. Woher sollte er auch wissen, dass ein Experiment beim Shoppen dafür sorgen könnte, dass er sich verliebt? Blöd nur, dass er kurze Zeit später plötzlich mit Isabell zusammenstößt. Mit einer Frau, die anschließend dafür sorgt, dass nichts mehr beim Alten bleibt. Isabell ist alleinerziehende Mutter, studiert und arbeitet nebenbei noch in einem Reisebüro. Durch diese Dreifachbelastung hat sie kaum Zeit sich mit Männern zu treffen. Außerdem hat sie mit denen in der Vergangenheit sowieso nur Stress gehabt. Auf einmal tauchen Probleme auf, die beide vorher nicht kannten. Wie aus dem Nichts fühlen sie sich in Erklärungsnot, weil es E-Mail-Kontakt mit einer weiteren Person des „anderen Geschlechts“ gibt. Doch wenn es beide machen, sollte es doch erlaubt sein. Vielleicht sogar erwünscht? Werden sie es schaffen, damit umzugehen? Finden sie eine Lösung? Vielleicht sogar eine gemeinsame? Oder muss diese Lösung zunächst gar nicht gefunden werden, da eine Aufklärung alles nur noch komplizierter machen würde? Brauchen sie ihre -bis dato unbekannten- E-Mail-Kontakte womöglich sogar, um in eine gemeinsame Zukunft starten zu können? Und überhaupt: Was bitte ist eigentlich dieses Schuhding?
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Kerry Greine, Ben Bertram
Schuhding ins Glück
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- gekürzte Vorschau -
Inhaltsverzeichnis
Titel
Verkaufsoffener Sonntag
Wirbelwind
Meine Auszeit
Immer in Eile
Hamburg, meine Perle
Mädels-WG
Alltagstrott
Realität
Billard mit Freu(n)den
Wie im Taubenschlag
War es richtig?
Keine Reaktion
Verarsche?
Sehnsucht nach …
Mittwochs-Unfall
Bibbern
Mein Anruf
Keine Nachricht und doch eine Nachricht
Auf geht’s
Zwei Kerle …
Bier und Wurst
Unglaubliche Nähe
Plötzlich alleine
Spontanität
Ausweinen
Lea
Verarsch dich selbst
Glocke aus Glas
Pizza allein
Aufklärungsarbeit
Bella muss helfen
Was mache ich jetzt?
Ach Eva
Merkwürdige Eva
Auf zum „Schuhding“
Eine richtige Familie
Impressum tolino
Mit einem Becher Kaffee in der Hand lief ich an diesem Sonntag durch das Hamburger Einkaufszentrum AEZ. Eigentlich war es an diesem Sommertag viel zu heiß, um shoppen zu gehen, und doch stiefelte ich hier herum und vertrieb mir die Zeit.
Alle meine Freunde machten heute einen auf Familie und vergnügten sich in den Hamburger Parks oder Schwimmbädern. Klar hätte ich mit dabei sein können, einige hatten mich gefragt, aber ich war lieber alleine, anstatt mir mit Pärchenfraktionen und schreienden Kleinkindern den Tag zu versauen. Den Satz „Mick, du bist ne Wurst“ hatte ich mir ganz sicher zehn Mal anhören müssen, und doch gefiel es mir deutlich besser, den Tag für mich alleine gestalten zu können. In die Sonne hätte ich sowieso nicht können, da ich mir gestern im Stadtpark so dermaßen den Pelz und meine Glatze verbrannt hatte und daher die Sonne für heute meiden wollte. Nein, sogar meiden musste.
Warum sich alle meine Freunde innerhalb der letzten zwei Jahre in Beziehungen gestürzt hatten, konnte ich ehrlich gesagt überhaupt nicht verstehen. Wir waren doch im besten Alter. Mit Mitte dreißig hätten wir gemeinsam die Welt, zumindest Hamburg und Umgebung, erobern können. Im letzten Monat bin ich 35 geworden und meine Geburtstagsfeier war eine recht merkwürdige Angelegenheit. Sie hätte glatt unter dem Motto „Fast allein unter Pärchen“ stattfinden können. Nur Manne war, wie ich, in keiner Beziehung, und ich fühlte mich fremd in meiner eigenen Wohnung. So verbrachte ich die meiste Zeit meines Geburtstages auf dem Balkon und führte mit Manne, manchmal auch mit Nico, Männergespräche. Wie sehr ich mein Leben genoss ohne eine feste Partnerschaft. Trotzdem fand ich es schade, dass meine Freunde nicht mehr so häufig mit mir on Tour waren. Mich lediglich aus diesem Grund in eine Beziehung zu stürzen, wäre albern gewesen. Wenn ich mich auf eine Frau einlassen würde, musste es schon eine ganz spezielle sein. Eine, die mir meine Freiheiten ließ und die nicht auf die Idee kam, mich einzuengen. Doch eine solche Frau musste wohl noch geboren werden.
Als ich mir eine neue Flasche Bier holen wollte und ins Wohnzimmer trat, fiel mein Blick auf Anne, die stillend auf dem Sofa saß und ihre Brust freigelegt hatte. Nackte Brüste gab es auf früheren Partys auch, damals jedoch auf eine andere Art. Auf eine, die mir sehr viel besser gefiel. Nicht Babys hatten auf diesen Feiern an den Brüsten gelutscht. Wir waren es und so manche Party endete in einer wilden Orgie. Klar waren wir heute ruhiger, alles hatte seine Zeit, aber musste mein fünfunddreißigster Geburtstag ein solch langweiliger werden? Als ich Nico und Manne fragte, ob wir uns aus dem Staub machen wollten, lachten sie. Tatsächlich hatten sie mich nicht ernst genommen und glaubten, dass ich einen Witz gemacht hatte. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, meine Freunde von der Flucht zu überzeugen. Nico konnte und wollte seine Frau und seine kleine Tochter nicht alleine lassen, und da es mein Geburtstag war, durfte ich die Feier sowieso nicht verlassen. Was blieb mir also anderes übrig, als mich zu betrinken, und so lag ich gegen dreiundzwanzig Uhr volltrunken in meinem Bett und stand nur wieder auf, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, die Kloschüssel zu umklammern.
Am Morgen nach meinem Geburtstag ging es mir erstaunlich gut, und als ich in die Küche kam, um mir einen Kaffee zu kochen, sah ich mich verwundert um. Alles war sauber, nichts stand herum. Auch im Wohnzimmer war nichts zu erkennen, was an eine Party erinnerte. Okay, eine Party war es ja nicht wirklich gewesen, doch immerhin wurde mein Geburtstag gefeiert. Eigentlich hätten an diesem Morgen nur die Spuren eines Staubsaugers gefehlt, aber dafür war es den Frauen meiner Freunde wohl zu spät gewesen. Schließlich waren sie gut erzogen und wollten meine Nachbarn nicht stören.
Während ich an meinen Geburtstag zurückdachte, besah ich mir die Auslagen der Schaufenster im Einkaufszentrum. Mein leerer Kaffeebecher landete im Müll, und so hatte ich die Hände frei, um mir bei meiner Bank einen Kontoauszug zu ziehen. Als ich sah, dass auch die letzten offenen Rechnungen an mich überwiesen worden waren, freute ich mich sehr. Tatsächlich war es die richtige Entscheidung, dass ich vor drei Jahren meinen Job geschmissen hatte und mich ganz meiner Leidenschaft, dem Fotografieren, gewidmet hatte. Es gab gutes Geld zu verdienen, ich war an vielen schönen Orten und hatte außerdem häufig Frauen vor der Linse, denen keine Aufnahme zu heiß sein konnte. Als Bezahlung kassierte ich, neben meinem Lohn, oft auch noch eine Belohnung, die mir meistens direkt im Anschluss überreicht wurde. Ja, es war cool. Andere mussten auf die Jagd gehen, um Sex erleben zu dürfen, während meine Mädels zu mir kamen.
An der Saftbar blieb ich stehen und gönnte mir einen Vital, der mir laut der Beschreibung auf der Getränkekarte helfen sollte, noch besser in den Tag zu starten. Die Wirkung zeigte sich nicht sofort, was mich aber auch nicht wirklich störte, da er verdammt lecker war. Mit frischen Vitaminen in meinem Körper machte ich mich auf den Weg in meinen Lieblingsladen. Das gerade auf dem Konto eingegangene Geld schrie quasi danach, ausgegeben zu werden. True Religion hieß das Geschäft, und trotzdem es relativ voll war, wurde ich nicht nur mit Namen, sondern auch noch mit einem Glas Sekt empfangen. Die Klamotten waren einfach cool, und es fiel mir extrem schwer, mich zu entscheiden. Zusammen mit Eva, die bereits seit längerer Zeit hier im Laden bediente, stand ich am Tresen und schaute mir die drei Hosen an, die in die engere Auswahl gekommen waren. Neben den Hosen sah ich ein Buch liegen. Ein Ringbuch, in das schon einige Gäste etwas hineingeschrieben hatten.
Eva erklärte mir, dass ihr Chef die Idee hatte, es auszulegen, um dadurch mehr über die Kunden und ihre Wünsche zu erfahren. Lob und Tadel sollten eingetragen werden. Man konnte aber auch seine E-Mail-Adresse hinterlassen, um auf diesem Wege immer mit einem Newsflash auf dem Laufenden gehalten zu werden.
„Welch Schwachsinn.“
„Habe ich auch zunächst gedacht. Doch es haben sich wirklich viele eingetragen.“
„Wirklich?“ Ich konnte es mir gar nicht vorstellen und begann damit, in diesem Büchlein zu blättern. Herrlich, was für Kommentare dort von irgendwelchen Kasperköppen abgegeben wurden. Ich amüsierte mich köstlich, da tatsächlich einige Menschen dieses Ringbuch dafür genutzt hatten, ihre Handynummer und einen Aufruf, dass sie gerne Kontakt zu anderen hätten, zu hinterlassen. Ganz ehrlich, so alleine und so untervögelt konnte man doch gar nicht sein! Ich verstand die Welt nicht mehr und schüttelte den Kopf, während ich es wieder aus der Hand legte.
Außerdem waren die Hosen um einiges wichtiger. Eine hatte ich bereits zur Seite gelegt, und so ging es nur noch darum, ob ich eine hellblaue Jeans mit Löchern und Rissen haben wollte oder doch die braune Chinohose nehmen sollte. Tatsächlich war ich hin- und hergerissen, und erst, nachdem Eva mir einen Sonderpreis für Stammkunden gemacht hatte, konnte ich mich entscheiden. Ich nahm beide! Die Hosen waren bereits in einer Papiertüte verstaut, als meine EC-Karte im Gerät steckte und dafür sorgte, dass ich mir weniger Gedanken darüber machen musste, was ich mit meinem verdienten Geld anstellen sollte.
Das Kartenlesegerät war noch immer am Rattern, als mein Blick wieder auf dieses dämliche Büchlein fiel. Wie konnte man sich nur dort verewigen? Ich verstand diese Menschen einfach nicht, und für mich war es nicht nachvollziehbar, wie man seine E-Mail-Adresse oder sogar seine Handynummer in aller Öffentlichkeit präsentieren konnte. Man bekam doch schon genügend Werbemails und wurde mit anderen Spam-Nachrichten nahezu dichtgeschissen. Auf diese Art auch noch freiwillig dafür sorgen, dass es mehr wurden? Nein, so dämlich konnte eigentlich keiner sein. Anscheinend doch, da es ja reichlich Menschen gab, die es ganz offensichtlich taten. Dieses Teil war schließlich der „lebende“ Beweis dafür. Noch immer irritiert über die Gedankenlosigkeit mancher Leute, verließ ich den Laden.
Das Starbucks war meine Anlaufstation, und mit einem Caramel Macchiato und einem Stück Marmorkuchen bewaffnet, suchte ich mir einen feinen Platz, von dem aus ich alles gut im Blick hatte. Es war wirklich ausgesprochen voll, obwohl doch draußen das geilste Sommerwetter überhaupt war. Meine Lippen waren noch nicht ganz im Schaum meines Macchiatos angekommen, als mein Handy mir etwas mitteilen wollte. Eine E-Mail hatte mich erreicht. Natürlich war es Werbung, und als ich in den Ordner meines E-Mail-Kontos gesehen hatte, erkannte ich, dass dort sechs weitere Spam-Nachrichten darauf warteten, gelesen zu werden. In meinem Fall warteten sie allerdings darauf, gelöscht zu werden.
Dann war sie da. Ich hatte eine Idee. Eine sehr geile sogar! Ja, ich wollte einen Test machen, ein kleines Experiment, und war gespannt auf das Ergebnis. Schnell legte ich mir eine neue E-Mail-Adresse an. Mitch.Becker war der Name, auf den diese Adresse lautete und mit dem ich herausfinden wollte, wie verrückt die Welt doch heutzutage war. Mein Kuchenteller war bereits leer, und nachdem ich den letzten Schluck meines Macchiatos getrunken hatte, ging ich zurück zu True Religion.
Leicht irritiert sah Eva mich an, und ihr Blick wurde noch um einige Nummern verwirrter, als ich mir das Ringbuch schnappte und neben meine jetzt eingetragene neue E-Mail-Adresse auch noch ein paar Worte schrieb.
„Hi Mädels, ich würde mich freuen, wenn mir jemand ein paar nette Sätze schreiben würde. Liebe Grüße und hoffentlich bis bald, Mitch“
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht verließ ich das Geschäft und war gespannt, ob und wann ich die erste E-Mail erhalten würde.
Manchmal hatte ich das Gefühl, ich verbrachte mein Leben im Dauerlauf. Immer musste ich Vollgas geben, um nur annähernd das zu schaffen, was meine tägliche To-do-Liste vorgab. So auch heute. Während ich über den Uni-Campus zur S-Bahn hetzte, wühlte ich in der großen Tasche, die ich mir über die Schulter gehängt hatte. Irgendwo hier drin, zwischen Stiften, Ordnern, Papieren und meinem Netbook, musste das Brot sein, das ich mir heute Morgen geschmiert hatte. Montags hatte ich keine Pause zwischen den Vorlesungen und meinem Job im Reisebüro eines Einkaufszentrums, da schaffte ich es gerade so, auf der Fahrt mit der S-Bahn eine Kleinigkeit runterzuschlingen.
„Verdammt!“, fluchte ich lautstark und senkte den Blick in die offene Tasche. „Wo ist diese Scheißbrotdose?“
Ein dumpfes Rumsen und ich wurde in meinem Lauf zurückgeworfen. Taumelnd versuchte ich das Gleichgewicht zu halten und bekam in letzter Sekunde mit einer Hand ein Absperrgitter zur Straße hin zu fassen. Meine Tasche rutschte mir vom anderen Arm, und bevor ich nach dem Umhängegurt greifen konnte, knallte sie auf den Boden. Filmreif verteilte sich der Inhalt über die komplette Breite des Bürgersteigs vor dem Bahnhof Dammtor. Ich hörte ein leises Knacken, das ich aber nicht zuordnen konnte, und eine mir unbekannte Stimme sprach mich zerknirscht an.
„Oh Mist. Das tut mir so leid. Ich hab dich zu spät gesehen und konnte nicht mehr bremsen. Warte, ich helfe dir.“
Ich sah auf. Vor mir stand eine junge Frau, ungefähr in meinem Alter, breitbeinig über einem Herrenfahrrad. Anscheinend war sie es, die meinen Lauf so unsanft gebremst hatte.
Umständlich versuchte sie, das rechte Bein über die Stange zu schwingen, und kam dabei gefährlich ins Trudeln. Reflexartig griff ich nach dem Lenker, bevor sie sich unter ihrem Gefährt noch begrub. Kaum stand sie wieder sicher auf dem Boden, lehnte sie das Rad an das Absperrgitter, das mich eben vor einem Sturz bewahrt hatte, und ging ohne ein weiteres Wort in die Hocke.
Gemeinsam krabbelten wir über den Gehsteig und sammelten meine Sachen ein.
„Gehören die auch dir?“, fragte sie und hielt mir eine Packung Tampons entgegen. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, und tief durchatmend nickte ich nur wortlos. Schnell nahm ich ihr die kleine Pappschachtel ab und stopfte sie ganz nach unten in meine Umhängetasche. In diesem Moment war ich mehr als dankbar, dass es kein Kerl gewesen war, der mich hier beinahe über den Haufen gefahren hatte. Ich weiß nicht, warum das so war. Ich meine, ich war wahrlich nicht prüde, aber trotz allem war es mir selbst vor anderen Frauen peinlich, wenn jemand mitbekam, dass ich meine Tage hatte. Mein Gegenüber hingegen schien das so gar nicht zu stören.
„Boah … Immer dieses monatliche Generve. Das ist so ätzend! Findest du das auch so furchtbar?“, fragte die Unbekannte.
„Hrmpf …“, brummte ich nur irgendetwas Undefinierbares und zog den Kopf zwischen die Schultern, als könnte ich mich dadurch verstecken. Vorsichtig blinzelte ich zu ihr hinüber, während ich nach meinem kleinen Notizblock griff, und musterte sie.
Feuerrote, kurze Locken. Ein Schal, der wie selbst gestrickt aussah und so lang war, dass er über den Boden schliff, war mehrfach um ihren Hals gewickelt. Kurz wunderte ich mich, wie sie es bei der sommerlichen Wärme mit diesem Teil aushielt. Sie schien sehr zierlich zu sein, sodass ich mir selbst in dieser hockenden Stellung fast schon groß vorkam. Dabei war ich ziemlich genau Durchschnitt mit meinen 1,69 Metern. Ihre Haut war blass und die kleine Stupsnase übersät von unzähligen rötlichen Sommersprossen. Sie sah ein bisschen aus wie Pippi Langstrumpf in erwachsen.
„Ist das nicht deins?“, fragte sie verwundert und deutete mit dem Kopf auf etwas neben mir. Mein Notizbuch. Noch immer schwebte mein Arm ausgestreckt darüber, während ich nur SIE angestarrt hatte.
„Öhm … doch.“ Herrje, Bella, jetzt reiß dich mal zusammen! Irgendwie schien mein Schädel unter dem Zusammenstoß gelitten zu haben. Oder dieser Wirbelwind von Mensch war es, der mich aus unerfindlichen Gründen durcheinanderbrachte. Ich konnte einfach nicht aufhören, sie anzusehen.
Dabei stand ich gar nicht auf Frauen. Zumindest nicht, wenn man von ein bisschen Geknutsche mit einer Klassenkameradin in der neunten Klasse absah. Aber irgendetwas hatte sie an sich, was mich faszinierte. Sie strahlte so viel Lebensfreude aus, Unbeschwertheit, dass ich mit meinem andauernden Termin-Gehetze fast ein wenig neidisch werden könnte. Termin …
„Scheiße!“ Ich sprang auf und sah mich hektisch um. Lag irgendwo noch etwas von meinem Kram?
„Ja, aber echt! Ich fürchte, der ist hin …“, stimmte die Rothaarige mir zu und sah mich betrübt an.
„Was? Ich rede von meiner Bahn. Durch den ganzen Mist hab ich sie verpasst, und jetzt komme ich zu spät zur Arbeit. Das dritte Mal schon in diesem Monat. Wenn das so weitergeht, schmeißt mein Chef mich doch noch raus, und das kann ich mir absolut nicht leisten. Verdammt, ich brauch den Job!“, jammerte ich.
„Oh … Und ich dachte, du meinst dein Netbook. Wenn du wegen ein bisschen Verspätung schon so fertig bist, dann ist das hier wahrscheinlich dein persönlicher Super-GAU, oder?“
Zerknirscht sah sie mich an und streckte mir mein Netbook entgegen. Oder besser gesagt das, was einmal mein Netbook war … Das Gehäuse war aufgesprungen und gerissen. An der Seite konnte ich ins Innere sehen – was auch immer da drin war, ich hatte keine Ahnung von Technik.
Vorsichtig, als könnte ich durch meine Berührung noch mehr kaputtmachen, nahm ich das Netbook in die Hand und klappte den Bildschirm hoch. Auch hier zog sich ein langer Riss quer drüber. Die Rothaarige hatte recht … Das war mein persönlicher Super-GAU.
Ich spürte, wie mir die Knie weich wurden, und ich ließ mich, mit dem Rücken an eine kleine Mauer neben dem Bahnhof gelehnt, langsam zu Boden gleiten.
Wortlos starrte ich auf das, was einmal mein Ein und Alles an Technik war. Ich besaß keine Stereoanlage, nur einen alten Fernseher mit DVD-Player und ein uraltes Nokia-Handy. Das hier, der kleine Haufen Elektroschrott, den ich in den Händen hielt, war das einzige technische Teil, auf das ich nicht verzichten konnte – wenn man von Haushaltsgeräten absah. Hier drin war meine Zukunft, und ich Vollidiot hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes weggeworfen.
Ich spürte, wie mir ein Arm um die Schultern gelegt wurde.
„Hey … Es tut mir wirklich so wahnsinnig leid“, murmelte die Rothaarige. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie sich neben mich gesetzt hatte, und obwohl ich sie bis vor fünf Minuten nicht kannte, fühlte sich ihre Umarmung gut an. Tröstlich und irgendwie vertraut.
„Vielleicht kann man ihn reparieren?“, fragte sie zögerlich.
Bitter lachte ich auf. „Ich hab wirklich null Plan von Computern, aber ich denke, so viel kann ich sagen: Der ist im Arsch!“
„Ich hab genauso wenig Ahnung wie du, aber fragen kostet ja nichts. Irgendwo wird es doch sicher einen guten Computerladen geben, der es zumindest versuchen kann. Und wenn er auch nichts machen kann … Es war meine Schuld, ich zahl dir den Schaden natürlich. Ich hab auch eine Haftpflichtversicherung!“
Seufzend stopfte ich das demolierte Netbook in meine Umhängetasche, bevor ich antwortete.
„Dass das Teil kaputt ist, ist eine Sache. Viel schlimmer ist, dass darauf meine Examensarbeit ist. Oder besser gesagt war … Die Arbeit von mehreren Monaten und noch dazu fast fertig. Ich wollte sie eigentlich in ein paar Wochen abgeben. Und jetzt … kann ich wohl von vorne anfangen.“
„Hast du etwa keine Sicherungskopie gemacht? Das Ganze auf einem USB-Stick gespeichert oder so?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Doch … habe ich. Aber die letzten Wochen waren so stressig, mein Tag hatte irgendwie immer zu wenig Stunden mit der Arbeit, dem Studium, meiner Tochter und allem, was sonst so anfiel. Da hab ich vergessen, die neueste Version zu speichern.“
Gedankenverloren sah ich auf die Autoschlange, die an der roten Ampel vor uns wartete.
„Oh Mann, ich lade hier meinen ganzen Scheiß bei dir ab, dabei hab ich mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Isabell, aber die meisten nennen mich Bella“, holte ich nach, was längst überfällig war.
„Schön, dich kennenzulernen! Also … Die Umstände nicht, schon klar, aber … Na ja … Ich bin Charlie. Also, eigentlich heiße ich Charlotte, aber so nennt mich nur mein Vater, wenn er sauer auf mich ist. Frag mich nicht, was meine Eltern sich dabei gedacht haben, mir so einen altbackenen Namen zu geben. Ich glaub, meine Uroma hieß so.“
„Wieso altbacken? Der Name ist wieder voll in! Im Kindergarten meiner Tochter gibt es gleich drei Mädchen, die Charlotte heißen.“
Ungläubig zog Charlie eine Augenbraue hoch.
„Wirklich? Wie furchtbar! Die armen Kinder!“, empörte sie sich und lachte dann schallend los. Ich konnte nicht anders, als loszuprusten. Diese ganze Situation war dermaßen skurril. Da werde ich von einem Wirbelwind auf einem Herrenrad umgefahren, mein lebenswichtiges Netbook wird geschrottet, ich saß auf dem dreckigen Bürgersteig vor dem Dammtor-Bahnhof mit einer mir völlig fremden Frau und doch hatte ich mich schon lange nicht mehr so zufrieden gefühlt. Es war, als würde Charlie mich mit ihrer Lebensfreude anstecken und alle Probleme in den Hintergrund drängen. Ich hätte noch ewig hier sitzen bleiben können, aber leider … Mein Lachen verstummte.
„Ich muss los. Meine Schicht bei der Arbeit fängt gleich an und ich komme eh schon zu spät“, erklärte ich Charlie.
Ernst sah sie mich an.
„Und was machen wir jetzt mit deinem Netbook? Soll ich es mitnehmen und zur Reparatur bringen? Oder willst du das selbst irgendwo abgeben? Und du musst mir noch deine Adresse oder zumindest die Telefonnummer geben, damit ich den Schaden meiner Versicherung melden kann.“
„Nein, ich versuch es mal bei dem PC-Heini im AEZ, da arbeite ich und kann mal eben rübergehen. Ja, meine Nummer …“ Ich zog mein Handy aus der Tasche meiner Lederjacke und suchte meine eigene Nummer heraus. Zum Glück war das nicht auch in der Umhängetasche, ansonsten wäre es vermutlich genauso Schrott wie das Netbook.
„Du kennst deine Handynummer nicht auswendig? Und was ist das überhaupt für ein altes Teil – du spielst ja noch Snake!“, fragte Charlie amüsiert. Sie hatte ja recht, das einzige Spiel, das mein altes Mobiltelefon konnte, war Snake. Eine kleine Schlange, die irgendwas einsammeln musste, ohne sich selbst in den Schwanz zu beißen. Einmal hatte ich es versucht, kurz nachdem ich das Telefon vor sechs Jahren gekauft hatte, aber ich war kläglich gescheitert und hatte es seitdem nie wieder probiert.
„Ich brauche keine Spiele auf dem Handy. Das Teil ist nur zum Telefonieren und ab und zu mal eine SMS verschicken.“
„Und was ist mit Facebook? Oder WhatsApp? Oder Tinder?“
„Was zum Henker ist Tinder?“
„Das ist eine Art Dating-App. Damit findest du Leute in deiner Umgebung, die dich interessieren könnten. Und wenn ihr wollt, könnt ihr dann miteinander schreiben und ein bisschen flirten. Oder ihr trefft euch auf einen Kaffee oder … Na ja, worauf man eben so Lust hat.“
Verwirrt sah ich Charlie an. Facebook hatte ich; genau genommen bestand circa 90 Prozent meiner sozialen Kontakte aus diesem Netzwerk, da ich für Treffen, Kneipenabende und Discobesuche gar keine Zeit hatte und viele einsame Abende auf meiner Couch verbrachte. Ja, das Leben als Alleinerziehende einer lebhaften Fünfjährigen ließ nicht viel Spielraum für ein Privatleben. Aber das wollte ich Charlie so nicht auf die Nase binden. Und eine Dating-App? Innerlich schüttelte ich mich.
„Aha … Nee, lass mal. So was ist nichts für mich. Mein Tag hat so schon zu wenige Stunden, da hab ich keine Zeit, mich auch noch auf Dating-Portale und deren Nutzer einzulassen. Vermutlich wollen die meisten eh nur einen One-Night-Stand, und das ist nicht mein Fall.“
„Warum nicht? Magst du keinen Sex? Also, so ab und zu mal wer Nettes zwischendurch, wenn ich Langeweile hab oder untervögelt bin … Doch, ich mag das.“
„Wenn ich so was wie Langeweile kennen würde, würde ich das vielleicht auch anders sehen. Aber so …“ Schnell wechselte ich das Thema, bevor ich hier noch weiter die Zeit vergaß. Die Arbeit rief, und das sogar so laut, dass mir schon die Ohren klingelten. „Ich muss jetzt wirklich los. Ich bring das Netbook nachher in den PC-Laden und melde mich dann bei dir, was er gesagt hat, ja? Ich fürchte zwar, er wird keinen Erfolg haben, doch einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.“
Nachdem wir unsere Handynummern ausgetauscht hatten, stand ich auf und klopfte mir vorsichtig die Jeans ab. Hoffentlich hatte ich mich nicht in einen Hundehaufen gesetzt, als ich mich hier hatte fallen lassen.
„Unterschätz diese Computer-Nerds nicht. Wenn es um PCs geht, könnten die meisten doch bei Big Bang Theory mitspielen“, versicherte sie mir augenzwinkernd. Dann drückte sie mir einen Zettel mit ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer in die Hand, den ich in meine Jackentasche stopfte.
„Gut, bring das Teil weg und ich melde mich heute Abend bei dir. Willst du zum Test noch mal meine Nummer anrufen? Oder glaubst du mir, dass ich dir die richtige gegeben habe? Immerhin muss ich den Spaß ja bezahlen.“
„Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich vertraue dir.“ Grinsend sah ich sie an. „Enttäusch mich nicht!“
Charlie warf mir einen so unschuldigen Augenaufschlag zu, dass ich laut lachen musste. „Können diese Augen lügen?“, fragte sie schelmisch.
„Nein, aber ich glaube, der passende Mund dazu kann es“, gab ich schlagfertig zurück.
„Ja, da könntest du recht haben“, stimmte sie achselzuckend zu und verzog die Lippen.
„Wenn ich jetzt nicht loskomme, muss ich gar nicht mehr bei der Arbeit aufkreuzen, fürchte ich.“
„Ja, klar. Düs los! Ich melde mich später.“ Bevor ich wusste, wie mir geschah, nahm Charlie mich in den Arm. Ein wenig überfordert von der stürmischen Verabschiedung, klopfte ich ihr auf den Rücken.
„Fein, dann … Bis nachher!“ Ich löste mich aus ihren Armen und wandte mich in Richtung Bahnhofseingang. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die nächste Bahn in Richtung Poppenbüttel, wo ich arbeitete, in drei Minuten abfuhr. Jetzt aber flott!
Das Wetter war viel zu schön, um nichts zu machen, und so schwang ich mich in mein Cabrio und fuhr, natürlich mit offenem Verdeck und lauter Musik, durch die Gegend. Raus aus der Stadt, rein in die „Wildnis“, wie ich das Umland von Hamburg so gerne nannte. Ich war ein Stadtmensch durch und durch, was mich allerdings nicht daran hinderte, mir regelmäßig meine Auszeiten auf dem Lande zu nehmen. Manchmal nahm ich meinen Kulturbeutel mit und blieb über Nacht in einem alten Gasthof. Genau wie heute, da ich Montag erst um vierzehn Uhr einen Auftrag zum Shooting hatte. Es war einfach toll, durch die Felder und Wälder zu spazieren und den Abend bei einem dick belegten Schinkenbrot und einem großen Bier ausklingen zu lassen. Die Zimmer hatten meistens noch nicht mal ein Fernsehgerät, und sehr häufig passierte es mir, dass mein Handy oder Laptop keinen Empfang bekam. Wildnis halt!
Nachdem ich einen alten und unter Denkmalschutz stehenden Gasthof ausgewählt hatte, checkte ich ein und ging auf mein Zimmer. Urgemütlich war es, ich mochte diese rustikale Art und freute mich auf die dicke Bettdecke, die eigentlich zu warm für diesen herrlichen Tag war. An der Wand hingen Bilder von der Jagd. Sie waren in Öl gemalt und passten hervorragend hier rein. Die Tapeten waren so alt, dass sie in den letzten dreißig Jahren mit Sicherheit drei Mal in Mode und noch sehr viel häufiger total out waren.
Heute ging ich, da ich relativ spät angekommen war, zunächst in der gemütlichen Gaststube etwas essen. Leider gab es kein Schinkenbrot, auf das ich mich schon die ganze Fahrt gefreut hatte. Doch die Alternative konnte sich sehen lassen. Meine Wahl fiel auf ein Mettwurstbrot, das so dick belegt war, dass wahrscheinlich auch zwei Personen davon satt geworden wären. Dazu Gurken in rauen Mengen. Blöderweise Salzgurken, was ich erst herausfand, als ich einen großen Bissen genommen hatte und verzweifelt nach einer Serviette suchte. Klar hatte ich eine neben meinem Teller liegen, eine große sogar. Leider war sie aus Stoff und somit nicht für den Zweck, wofür ich sie nutzen wollte, geeignet. Mir blieb nichts anderes übrig, als stark zu sein und das Gurkenstück zu kauen und herunterzuwürgen. Nachdem ich mit einem kräftigen Schluck Bier nachgespült hatte, war alles wieder gut, und ich kümmerte mich weiter um mein Mettwurstbrot.
Meine Vorfreude auf einen Spaziergang war riesig. Diese Stille, die mich dabei begleitete, ließ mich bei mir ankommen. In mir ankommen war vielleicht sogar der bessere Ausdruck, da ich durch meinen Job und die dazugehörigen Veranstaltungen, die irgendwie zu meinem Beruf dazugehörten, manchmal wirklich kaputt und ausgelutscht war. Hier im Wald war ich ein anderer Mensch, was mich oftmals selbst überraschte, mich dennoch nicht an meinem Tun zweifeln ließ. Nein, ich liebte mein Leben, bemerkte aber in den letzten zwölf Monaten immer häufiger, dass ich ohne meine Spontantrips in diese andere Welt eingehen würde. Neulich hatte ich mich tatsächlich dabei erwischt, dass ich mir auch eine Partnerschaft wünschte. Eine, wie meine Freunde sie hatten, was mich innerlich zusammenzucken ließ. Wie kam ich nur auf solche Ideen? Nein, dieses Leben war einfach nichts für mich. Nicht jetzt, nicht bald und sehr wahrscheinlich sogar niemals.
Es passte weder zu mir noch zu meinem Job als Fotograf. Erst letzte Woche hatte ich eine wirklich schöne fünfundzwanzigjährige Frau vor meiner Kamera. Sie wollte Aktbilder, was eigentlich relativ normal in unserer Branche war. Nicht ganz so normal war es jedoch, dass sie ausschließlich ihre Muschi fotografiert haben wollte. Während ich dabei war, alles vorzubereiten, machte sich das Mädel gleichzeitig bereit. Direkt vor meinen Augen begann sie, sich zu reiben. Dann fingerte sie sich und hörte erst damit auf, als es so aussah, wie sie es sich vorher vorgestellt hatte. Ich schoss ein paar hundert Fotos von ihr und machte erst eine Pause, als sie mich aufforderte, Eiswürfel zu holen. Mit dem Eis strich sie sich über ihre Brüste, und wir sahen gemeinsam zu, wie sich ihre Nippel, die eben noch relativ klein und schlapp waren, aufrichteten und zu harten und hohen Gebilden wurden. Wieder legte ich los. Ich fotografierte auf Teufel komm raus und wurde dabei zugegebenermaßen ganz schön geil.
„Ich möchte noch ein paar Fotos.“
„Klar, wie sollen sie sein?“
„Bilder von mir, direkt nach dem Sex!“ Ich sah ihr in die Augen und überlegte, ob ich einen Vorschlag machen sollte. Bevor ich meine Überlegungen abgeschlossen hatte, konnte ich bereits ihre Zunge auf meinen Lippen spüren, was mich dazu veranlasste, dem Wunsch nachzukommen. Dienst am Kunden war wahrscheinlich die richtige Beschreibung, die ich wenige Augenblicke später in „Dienst im Kunden“ umbenennen musste. Wir hatten Spaß und vergnügten uns wie in einem heißen Porno.
„Jetzt mach die Bilder. Schnell, knipse meinen Mittelteil. Genau so will ich meine Muschi auf den Fotos haben.“ Ich drückte auf den Auslöser und startete eine Serie. Dann waren wir fertig, und meine Kundin verschwand ebenso rasch aus meinem Leben, wie sie hineingekommen war.
Meine Runde durch den Wald war fast beendet. Heute konnte und wollte ich die Natur noch nicht verlassen, was mich dazu veranlasste, auf einen kleinen Weg abzubiegen, der mich direkt auf eine Lichtung führte. Es war wunderschön, und wieder konnte ich in meine Traumwelt, die manchmal sehr viel schöner als meine reale Welt war, eintauchen. Um mich herum hörte ich gefühlte tausend verschiedene Vögel, die allem Anschein nach nur für mich ein Lied sangen. Ein großer Chor, der meine Gedanken fliegen ließ. Erst als ich neugierig auf mein Handy sah, erkannte ich, dass es bereits zweiundzwanzig Uhr war. Doch ich wollte noch nicht los und blieb noch eine Stunde auf der Wiese sitzen. Ich begleitete die Sonne dabei, wie sie langsam unterging und die Nacht einläutete. Im Dunkeln machte ich mich auf den Rückweg und war sehr stolz darauf, dass ich trotz meines miesen Orientierungssinns den Weg zum Gasthof fand.
Jetzt noch meinen Laptop anwerfen, um nachzusehen, ob ich neue Aufträge bekommen hatte, wollte ich nicht mehr. Ich war müde und kaputt, wahrscheinlich von der guten Landluft, und daher führte mich mein Weg nach einer kurzen Katzenwäsche direkt ins Bett. Ich hatte einen tollen Tag mit einem nahezu perfekten Abschluss. Nein, ich brauchte keine Frau an meiner Seite. Kindergeschrei und vollgeschissene Windeln sowieso nicht. Alles, was ich heute noch brauchte, war eine Mütze voll Schlaf und vielleicht schöne Träume, die mich begleiteten.
Einen kleinen Spalt war die Pforte ins Traumland bereits geöffnet. Nur noch einen Schritt, einen Schubser, dann wäre ich dort gewesen, wo ich schon seit zehn Minuten sein wollte. Leider fiel die Tür vom Traumland wieder zu, was nicht an der Tür, sondern ausschließlich an meinen beknackten Gedanken lag. Meine Neugier hatte über die Müdigkeit gesiegt und mich aus der schönen Einschlafphase gerüttelt. Ganz plötzlich hatte ich dieses verfickte Buch im Kopf. Dieses dämliche Ding, in das ich ja unbedingt meine extra dafür angelegte E-Mail-Adresse und diesen blinden Satz eintragen musste. Jetzt hatte ich den Salat. Anstatt im Land der Träume zu versinken, beschäftigte ich mich mit einem solchen Bullshit. Leider half es nichts, mich einfach umzudrehen. Ich war erstens zu neugierig und zweitens auch zu wach, um wieder einzuschlafen. Da ich meine E-Mails niemals über mein Handy abrufen wollte, weil ich sonst noch häufiger bei der Arbeit gestört worden wäre und ich außerdem noch mehr Freizeit durch Arbeitszeit getauscht hätte, musste ich meinen Laptop anwerfen. Ich war gespannt, ob sich irgendeine untervögelte Frau gemeldet hatte und was mich ansonsten so auf diesem Account erwartete. Immerhin gab es Mitch Becker erst seit knapp neun Stunden, und niemand auf der Welt hatte einen Grund, diese imaginäre Person anzuschreiben.
Angezeigt wurde mir eine E-Mail im Posteingang. Ich wurde direkt von meinem Anbieter mit Werbung begrüßt. Und dann auch noch mit einer solch schönen.
„Lieber Herr Becker, Weight Watchers lädt Sie zu einer netten, kleinen Herausforderung ein, bei der Sie nur gewinnen können: Wenn Sie mit Weight Watchers Online in 1 Monat nur 3 Kilo abnehmen, ist dieser Monat umsonst. Machen Sie mit, das schaffen Sie locker! Verführerisch ist auch das Angebot von MIRIALE: 2-teiliges Lingerie-Set jetzt nur 5 €!“
Gerade als ich meinen Account schließen wollte, allerdings versehentlich auf Aktualisieren gedrückt hatte, rutschte eine weitere Nachricht hinein.
„Please respond!!!Hello friend!
I would like to contact you personally for an important proposal that could of interest to you.
I send this email only to know if this email address is functional.
I have something very important to discuss with you. Contact me for details by: Email: fernrodyup12@aol … „
with your direct contacts.Kind regards.
Antonio Vinal.“
Wie auch immer diese Person so schnell an meine E-Mail-Adresse gekommen war, blieb mir ein Rätsel. Allerdings hatte ich meine Neugier besiegt, fühlte mich besser und konnte endlich ins Traumland verschwinden.
„Es tut mir so leid! Es tut mir so leid!“ Hektisch stürmte ich in das Reisebüro und ließ im Laufen meine Jacke von den Schultern gleiten.
„Eine Radfahrerin hat mich umgefahren und meine Tasche ist ausgekippt und jetzt ist mein Netbook Schrott!“, erklärte ich völlig außer Atem, während ich an meiner Kollegin Miriam vorbei ins Hinterzimmer stürzte. Meine große Umhängetasche landete auf einem Stuhl am Pausentisch. Eilig hängte ich meine Jacke über einen der Garderobenhaken, drehte mich um und wollte zurück in den Kundenbereich des Büros, als Miriam mich in der Tür aufhielt.
„Hey, ganz ruhig! Alles gut, es ist sowieso nichts los im Moment. Entspann dich erst mal, und erzähl in Ruhe, was passiert ist.“ Sie schob sich an mir vorbei und ging in die kleine Küche. Dort nahm sie einen Becher aus dem Schrank und goss einen Kaffee ein.
„Hier, setz dich und trink. Emily ist vorne, die sagt uns Bescheid, wenn es voll werden sollte. Du klingst, als hättest du einen Scheißtag gehabt bisher.“
Das ist Miriam, wie ich sie kannte. Egal, was los war, sie hatte immer ein offenes Ohr für die Probleme anderer Leute. Auch wenn wir nur Kolleginnen waren, ich mochte sie sehr, und so erzählte ich ihr, was der Grund für meine Verspätung war.
„Oh Mann … Das ist ja mal richtig ätzend. Und was machst du nun? Wenn deine Examensarbeit weg ist? Musst du dann echt von vorne anfangen?“
„Nicht ganz, einen Teil davon hab ich auf meinem USB-Stick zu Hause liegen. Aber den Rest … Ja, ich fürchte, den muss ich neu machen.“ Verzweifelt ließ ich den Kopf hängen und starrte auf den Kaffeebecher in meinen Händen.
„Hey, warte es ab. Vielleicht ist der Typ vom PC-Laden drüben ja besser, als du denkst, und kann deine Arbeit retten.“
„Mhm … Ja, ich hoffe es!“
Emilys Kopf tauchte in der Tür zur kleinen Küche auf.
„Kundschaft, Mädels“, sagte sie nur und verschwand wieder. Das war unser Zeichen, die Arbeit rief. Ich hatte heute auch wirklich viel zu tun. Mein Schreibtisch quoll über und einige Kunden warteten auf Reiseangebote und Vorschläge. Wenn ich das alles bis zum Feierabend abarbeiten wollte, musste ich mich ernsthaft sputen. Ich griff noch schnell mein Handy aus der Jackentasche und folgte Miriam in den Verkaufsraum.
Wie schon vermutet, kam ich erst eine knappe halbe Stunde nach meinem offiziellen Feierabend aus dem Büro. Aber dafür hatte ich fast alles abgearbeitet und sogar ein paar neue Aufträge von Kunden dazubekommen.
Jetzt noch schnell in den PC-Laden und dann nichts wie ab nach Hause!
„Tja … Das kann ich so nicht sagen. Dafür muss ich ihn erst auseinandernehmen und sehen, inwieweit die Festplatte etwas abbekommen hat. Ich behaupte aber mal, es sieht eher schlecht aus.“
Entsetzt sah ich den Mann auf der anderen Seite des Tresens an, der mein geliebtes Netbook in seinen Händen hin und her drehte und die äußeren Schäden begutachtete.
„Sie sollten einen Computer immer in einer Tasche transportieren. Wir haben hier ganz tolle im Angebot, die gegen Stürze gepolstert sind. Denken Sie mal darüber nach, ob Sie sich nicht etwas in der Richtung anschaffen wollen.“ Der Verkäufer legte mein Stück Elektroschrott auf den Tresen und deutete auf eine Wand hinter sich, an der Laptoptaschen in allen Größen und Farben hingen. Ich trat einen Schritt näher und erschrak, als ich an einer wirklich schicken lila Tasche mit Schmetterlingen darauf das Preisschild entdeckte. Knapp 150 Euro für eine Laptoptasche? Davon konnte ich zwei Wochen meine Lebensmittel bezahlen!
„Ist ja super! Aber wenn Sie mein Netbook nicht repariert bekommen, brauche ich wohl auch keine teure Tasche mehr dafür, oder?“, antwortete ich kiebig. So was konnte ich ja leiden. Die Verkäufertypen, die einem Eskimo einen Kühlschrank aufschwatzen wollten. Innerlich stellten sich mir die Nackenhaare auf. Wo war ich nur gelandet? Sollte ich wirklich mein geliebtes Netbook in die Hände dieses Unsympathen geben? Ich zweifelte noch, ob meine Entscheidung die richtige war, als er mir eine Auftragsbestätigung über den Tresen schob.
„So, hier kommen Name und Adresse rein, und dann schau ich morgen gleich mal, was ich machen kann. Melden Sie sich doch Mitte der Woche mal, dann kann ich Ihnen mehr sagen.“ Meine wirklich zickige Bemerkung überging er einfach. Vielleicht hatte er selbst gemerkt, dass sie eher unangebracht war in der derzeitigen Situation. Ich füllte das Formular aus und verließ den Laden.
Ein paar Türen weiter kam ich an meinem liebsten Klamottenladen vorbei.
Im True Religion fand ich eigentlich immer etwas, und da ich sowieso dringend eine neue Jeans brauchte und mein Bus nach Hause erst in zwanzig Minuten wieder fuhr, ging ich hinein.
„Hi, Süße! Dich hab ich ja seit Wochen nicht gesehen. Na, willst du mich nur besuchen oder brauchst du was?“, wurde ich von Eva, die gerade einen riesigen Berg Klamotten auf Kleiderbügel hängte, begrüßt. Eva war eine ehemalige Klassenkameradin und die einzige Person, die ich als meine Freundin bezeichnen konnte. Alle anderen hatten sich im Laufe der letzten Jahre aus meinem Leben verabschiedet, da mir einfach die Zeit fehlte, die Kontakte aufrecht zu halten. Eva war die Einzige, die verstand, dass ich es manchmal wochenlang lediglich schaffte, mich via SMS oder Facebook zu melden – und die damit auch kein Problem hatte.
„Ich brauch mal wieder eine neue Jeans. Diese hier gibt an den Knien schon auf.“
„Ja, das kommt vom ständigen Über-den-Boden-Krabbeln. Das Los aller Mütter mit kleinen Kindern. Dann schau ich doch mal. Dunkel oder hell? Größe 26/32?“ Eva war wirklich gut in ihrem Job. Sie konnte die Größe des Kunden auf einen Blick abschätzen, und bei ihr konnte ich mich darauf verlassen, dass sie mir nur Hosen heraussuchte, die mir auch stehen würden. Ich sagte ihr meine ungefähre Vorstellung, was ich suchte, und sie verschwand im hinteren Teil des Ladens.
Um mir die Zeit zu vertreiben, blätterte ich in dem kleinen Ringbuch, das auf dem Tresen lag. Eine Art Gästebuch, wie ich es sonst eher von Hochzeiten, Hotels oder Restaurants kannte. Ich wunderte mich darüber, wie viele Leute sich bereits verewigt hatten, und musste mir so manches Mal das Lachen verkneifen, als ich sah, was so alles darin stand.
- Ende der Buchvorschau -
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Bildmaterialien © Copyright by Covergestaltung: Grittany Design www.grittany-design.de Motivbild: © oneinchpunch © mavil Lektorat: Ira Ludewigs Korrektorat: SW Korrekturen e.U. [email protected]
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ISBN: 978-3-7393-8439-9