Katzenberge - Sabrina Janesch - E-Book
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Katzenberge E-Book

Sabrina Janesch

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Beschreibung

Der Hass, die Angst und die Liebe.

Eine junge Frau, halb Deutsche, halb Polin, fährt durch die im Nebel versunkene niederschlesische Landschaft: Nele Leibert ist auf dem Weg zum Grab ihres Großvaters. Ihre Gedanken schweifen in die Vergangenheit. Ihr geliebter „Djadjo“ war eigensinnig und der Nachtseite des Lebens ausgeliefert. Unablässig kämpfte er gegen die Dämonen, die die Deutschen in Schlesien zurückließen. Noch seine Enkeltochter steht im Bann der Geschichte. Nur eine Reise ins Gestern kann den Fluch bannen. Und so begibt sich Nele Leibert bis nach Galizien, an den Rand der Zeit. Dabei wird sie vom Erbe ihres Großvaters und einem schrecklichen Verdacht heimgesucht ... 

Magisch, suggestiv und präzise erzählt Sabrina Janesch von nicht vergehender Schuld, von unheimlicher Heimat und einer wagemutigen Reise.

"Federleicht pendelt der Roman zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und beschwört dabei das Leben dreier Kriegs- und Nachkriegsgenerationen herauf. So führt die Lektüre mit ihrer elegischen und stark berührenden Wirkung tief in die Geschichte Europas zurück: Als Spurensuche nach den Wurzeln der Verwundungen, aber auch als Suche nach den Möglichkeiten einer besseren Zukunft." Hanns-Josef Ortheil.

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Seitenzahl: 368

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Sabrina Janesch

Katzenberge

Roman

Aufbau-Verlag

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Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0113-3ISBN PDF 978-3-8412-2113-1ISBN Printausgabe 978-3-351-03319-4

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung heilmann, hißmann, hamburgAndreas Heilmann, unter Verwendung eines Motivs vonplainpicture/Millenium/Mark Pennington

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Impressum

Inhaltsübersicht

Frühmorgens im Oktober aus ...

Der Frühling war plötzlich ...

Großvater sagte, als man ...

Auf dem Bahnhof von ...

Großvater sagte, durch die ...

Großvater sagte, er habe ...

Großvater sagte, am Waldrand ...

Großvater sagte, allein zu ...

Großvater sagte, in der ...

Als Janeczko im Dunkel ...

Die Küche war eiskalt ...

Die Frau im Bahnhofshäuschen ...

Großvater sagte, als Großmutter ...

Großvater sagte: Noch am ...

Als er am Abend ...

Als ich vom Schloss ...

Großvater sagte, der Weg ...

Wydrza? Die Frau im ...

Großvater sagte, die Flüchtlinge ...

Endlich bist du da! ...

Großvater sagte, es habe ...

Die Luft am nächsten ...

Großvater sagte, der erste ...

Manchmal schweigt sie einfach ...

Großvater sagte, er habe ...

Etwas quietschte laut auf...

Großvater sagte, nach jenem ...

Bist du dir sicher ...

Großvater sagte, die Überquerung ...

Wie heißt das Kaff ...

Großvater sagte, sein Geburtsort ...

Das Sofa war mit ...

Ich beeile mich, noch ...

Danksagung

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|5|mojej Rodzinie

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|7|Frühmorgens im Oktober aus dem Haus zu treten, noch dazu, wenn der schlesische Nebel über den Feldern des Katzengebirges liegt, ist meistens ein sicheres Zeichen von Schlafwandlerei. Wem würde es sonst einfallen, die Wärme der Daunendecken zu verlassen und sich der Kälte und der Feuchtigkeit auszusetzen, die nach wenigen Minuten unter den Mantel kriechen und die Haut mit einem eisigen Film bedecken.

In den Schwaden verschwinden die Tümpel und Bäche, die sich durch das Land ziehen; man läuft Gefahr, kopfüber in den Morast zu den Fröschen und Kröten hinunterzustürzen, die sich bereits in der Winterstarre befinden und keinen Laut von sich geben. Hat man es dennoch geschafft, auf dem Fahrrad die kleine Anhöhe zu erreichen, die die Dörfer Osola und Bagno voneinander trennt, und blickt hinunter, wogt dort in der Senke eine weiße See. Auf ihrem Grund liegen Höfe und Ländereien, kleine Weiler und Flussläufe.

Der Nebel umschließt auch die Wochenendhäuser, samt ihren Terrassen, Pavillons und Badeteichen, die man neuerdings auf den Wiesen erbaut hat. Sie kommen den alten Höfen immer näher, umkreisen sie, treiben sie zusammen.

Man muss den Weg, der durch Lärchenhaine ins nächste Dorf führt, Meter für Meter genau kennen, um nicht von der Anhöhe abzukommen oder versehentlich in den Eichenwald abzubiegen, der gleich hinter dem letzten Haus der Siedlung beginnt. Das obere Ende des Waldes verschwindet unter der bleichen Haut, und unten, am Waldboden, wo sich sonst Hartriegel und Wacholderbüsche ineinanderranken, |8|fließt der Nebel um die Stämme und verwischt ihre Konturen. Zu Füßen des Eichenwaldes, getrennt nur durch einen Bach und einen Schotterweg, liegt das letzte Gehöft der Siedlung. Es ist in einer Mulde versteckt, die weder vom Nachbardorf Osola noch von der Siedlung Morzęcin Mały aus eingesehen werden kann; nicht einmal der nächste Nachbar hat Einblick in das Hufeisen, das Wohnhäuser, Stallungen und Scheune bilden.

Um die Gärten stehen dichte Reihen von Sauerkirschbäumen und verkrüppelten, kleinwüchsigen Kiefern, so dass man den Hof erst bemerkt, wenn man unmittelbar vor dem grün lackierten Tor steht. Gleich hinter dem Tor wächst ein Walnussbaum, der seine Zweige über den Weg ragen lässt. Im Oktober verteilt der sonst unscheinbare Baum seine grünen Kugeln gleichmäßig über den Innenhof und die Einfahrt. Während ich das sperrige Herrenfahrrad festhalte, öffne ich das Tor von innen. Mit meinem ganzen Körpergewicht stemme ich mich gegen das Fahrrad, um es über Grasbüschel, faulende Eichenblätter und Walnussschalen zu schieben.

Das vordere Rad ertastet die Mitte des Weges und spürt einigen Schlaglöchern nach. Dann sitze ich auf und fahre zögerlich an der Stelle vorbei, wo sonst die Gerippe der Sauerkirschbäume und Kiefern zu sehen sind – mein Blick reicht nur bis zu meinem Lenker und dem Stück Weg direkt darunter. Ich fahre aus Versehen auf die Grasnarbe und kippe beinahe um. Für einen Moment halte ich an und lausche, aber es ist nichts zu hören. Ein paar Meter neben mir meine ich, einen Schatten gesehen zu haben, den Einen, Unerhörten, der aufmerksam jede meiner Bewegungen verfolgt. Mein Herz schlägt schneller, und meine verschwitzten Hände umschließen die Griffe.

Eine unwirkliche Stille liegt über den Gehöften. Ein jedes ist taub für die aus dem Nebelmeer kommenden Geräusche. So entgeht ihnen, dass sich etwas ganz und gar Außergewöhnliches ereignet: Jemand, der nicht gesehen, nur gehört |9|werden kann, fährt halsbrecherisch über die niederschlesischen Dörfer und das Land, das zwischen ihnen liegt.

Schon verlasse ich die Feldwege der Siedlung und erreiche den asphaltierten Weg, der nach Bagno führt. Jetzt geht es nur noch geradeaus. Ich fahre schneller, der Nebel zerfließt an meinem Gesicht, ab und zu jage ich an einem dunklen Schatten vorbei. Der einzige Beweis meiner Existenz ist das Klappern des Fahrradgestells, das niemand hört außer mir selber. Den Schatten sehe ich nicht mehr, was aber nicht heißt, dass er verschwunden ist. Seit jeher war er ein Meister darin, sich zu verstecken und im unmöglichsten aller Momente wieder aufzutauchen. Ich suche die Schemen der Büsche nach ihm ab, aber es ist nichts zu erkennen.

Jedes Ereignis, jede noch so kleine Begebenheit, die abweicht von den genauestens bekannten und sorgfältig studierten Abläufen des Alltags, wird in den Dörfern registriert und findet Eingang in die dörflichen Annalen.

Die gesammelten Merkwürdigkeiten verändern sich mit der Zeit, sie werden nicht nur mehr, sondern auch immer phantastischer. Vor allem werden sie so lange weitergetragen, bis man sich sicher sein kann, dass es niemanden in der gesamten Gemeinde gibt, der nicht wüsste, dass an einem nebligen Oktobermorgen in aller Herrgottsfrühe – nicht einmal die Hähne sollen gekräht haben, ein ungutes Zeichen – jemand auf einem Herrenfahrrad traumgleich über die Felder in Richtung Friedhof gefahren ist, einen blutroten Nelkenstrauß in der linken Hand haltend und immer wieder einen Beutel zurechtrückend, der anscheinend unter den Mantel geschoben worden war.

Nach nur wenigen Wochen wäre aus der fahrradfahrenden Person am Horizont eine Art Wiedergänger geworden, dessen Geist es hin zum Friedhof treibt. Und die Nelken wären längst keine Nelken mehr, sondern gefrorene Blutkristalle, und das Bündel mindestens ein geraubtes Kind. |10|Ich hatte warten müssen, bis auch die letzten Gäste der Tauffeier, die in der Nacht stattgefunden hatte, gegangen oder eingeschlafen waren. Zu Anfang des Festes hatten Onkel Darek, Onkel Szymek und Onkel Józek in der Ofenstube gesessen, wobei sie ihre Frauen ans entgegengesetzte Tischende verbannt hatten. Tante Gosia, Tante Zosia und Tante Aldona steckten die Köpfe über dem Neugeborenen zusammen, das in einer Wiege vor dem Tisch lag und von seiner Mutter geschaukelt wurde. Maciek, der stolze Vater, stand mit mir zusammen in der Küche, stemmte die Arme in die Seiten und betrachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen Titus. Keiner wusste genau, wie man mit ihm verwandt war, aber aus einem diffusen Pflichtgefühl heraus hatte man den kahlköpfigen Siedler aus Morzęcin Mały dennoch eingeladen. Er war betrunken erschienen und hing schlaff auf seinem Stuhl. Onkel Józek entwand ihm immer wieder die Wodkaflasche und schob ihn unmerklich auf seinem Stuhl in Richtung Tür.

Bereits zu Anfang hatte er mir seinen Stammplatz am Kopf der Tafel geräumt und gesagt: Setz dich da hin, Nelunia, das ist der Ehrenplatz. Ich hatte erwidert, dass ich das niemals akzeptieren könne, außerdem könnte man von dort so schlecht aufstehen.

Genau! Dieses Mal kommst du uns nicht so leicht davon, jaktwjamka!, hatte Onkel Józek triumphierend gesagt und auf eine bauchige Karaffe geklatscht. Er hatte die Angewohnheit, an alles, was er zu mir sagte, sein Wie-deine-Mutter anzuhängen, was er mit den Jahren so sehr verknappt hatte, dass es niemand mehr verstanden hätte – aber mittlerweile wusste sowieso jeder, dass er fand, seine Nichte sei die exakte Kopie seiner etwas sonderbaren Schwester. Maciek hatte gelacht und ihm zugerufen, dass er gnädig sein solle, bestimmt sei es nicht so einfach, wenn man einen deutschen Vater habe. Ich verdrehte die Augen. Dieses Themas würden sie niemals, bei keinem Besuch, überdrüssig werden: |11|das arme Mädchen, das in Deutschland aufwachsen musste, und alles nur, weil seine Mutter das Weite und einen von denen gesucht hatte.

Trägt halt jeder sein Kreuz. Manche sind eben etwas schwachbrüstig und vertragen nicht so viel! Maciek strich sich über seinen Bart, zwinkerte mir komplizenhaft zu und füllte meinen Becher mit Weinbeerenschnaps. Gebrannt aus den Früchten der eigenen Rebe! Er wies auf das Fenster und die Ranken dahinter, und ihm zuliebe tat ich, als wüsste ich nicht, dass der Schnaps aus den sauersten Früchten ganz Polens hergestellt worden sei. Schlimmer als der Schnaps war nur der Wein, doch der war glücklicherweise noch nicht fertig. Ich hob mein Glas zu den feixenden Männern: Na zdrowie, wujkowie. Auf eure Gesundheit, Onkels.

Es wurde eine lange Nacht: Warten, bis die Schweinshaxen aufgegessen waren, die Mayonnaiseeier und die gebackenen Pilze; warten, bis man alle Lieder, die man kannte, und auch solche, die man nicht kannte, gesungen hatte; bis man allen Wodka und allen Selbstgebrannten ausgetrunken hatte. Dann stand der Tag am Horizont.

Ich hatte mich so lautlos wie möglich vom Diwan erhoben und war behutsam über Onkel Szymek gestiegen. Alle viere von sich gestreckt, schnarchte er auf dem Küchenboden. Von Zeit zu Zeit, wenn ihn ein besonders großer Schnarcher schüttelte, rieselte eine Erbse aus seinem Haarschopf, der den gleichen hellbraunen Ton hat wie mein eigener. Bis auf Oma Maria, die bis zu ihrem Tod pechschwarze Haare gehabt hatte, besitzen in meiner Familie alle dieselbe Haarfarbe.

Auf dem Höhepunkt der Feier hatte sich Onkel Szymek die Kartoffelsalatschüssel wie einen Helm auf den Kopf gesetzt – ohne zu sehen, dass sie noch nicht ganz leer war –, sich auf die geschwollene Brust geschlagen und in meine Richtung deklamiert: Sattel das Pferd, wir reiten zurück in die Ukraine, nach Galizien! Dann war ein großer Klecks |12|Mayonnaise auf seine Nase getropft, und seine Frau Gosia hatte es mit einem Stück Bratkartoffel weggestippt. Wozu denn, hatte sie gelacht, du hast doch gehört, wie mühselig das ist.

Am Abend vor der Feier hatte ich alles Nötige zurechtgelegt: den Mantel, den ich überziehen, den Beutel, den ich darunter verbergen würde, und den Nelkenstrauß, von dem alle gedacht hatten, er sei für Tante Aldona. Ich musste nur noch lautlos durch den Flur und über die Veranda schleichen und die Eingangstür, die man vergessen hatte abzuschließen, leise hinter mir zufallen lassen. Auf dem Treppenabsatz blieb ich einen Moment stehen und sog begierig die frische Luft ein. An dem Morgen, als ich den Hof und Großvaters Grab verließ, um in die Vergangenheit zu fahren, roch sie nach aufgewühltem Humus.

Die Hunde vergessen zu bellen, als ich das Fahrrad gegen die Klostermauer des Dorfes Bagno lehne und den Sitz des Beutels zwischen Pullover und Mantel überprüfe. Das Fahrrad lasse ich an der mit gelben Flechten überzogenen Mauer stehen, auch wenn sich: Ich bin mit dem Fahrrad zum Himmel gefahren, noch so gut anhört. Jeder, der diesen Weg kennt, würde sofort begreifen, dass das nur eine Lüge sein kann, denn er ist voller spitzer Kieselsteine und steil. Seine Ränder sind nicht befestigt, man läuft Gefahr, abzustürzen und, nur unerheblich abgefedert von dem am Hang wuchernden Kamillengestrüpp, im Hof des Steinmetzen Garniecki an seinen schönsten Grabsteinen zu zerschellen, die er im Vorgarten aufgestellt hat.

Als Kind hatte ich Großvater gefragt: Djadjo, warum heißt die Straße zum Friedhof Weg zum Himmel? Und er hatte geantwortet, weiß ich nicht, Nelunia, aber es ist wahrscheinlich, dass entweder die Kirche oder der gottverdammte Hundesohn Garniecki ihn so genannt hat. Beide, hatte er gesagt, würden damit ihre Interessen verfolgen. |13|Nur dass Garniecki leichter zu durchschauen sei und dass er, Großvater, lieber von wilden Tieren aufgefressen werden wolle, damit kein Leib übrig bliebe, über den dieser Stümper eine seiner Kreationen stellen könne.

Schade würde nur eines sein: Dass er, wenn er dann aufgefressen wäre, etwa von einem Wolf oder einem Bären, nicht auf dem Hügel über Bagno liegen könne. Denn dies, hatte Großvater gesagt, sei der einzig friedvolle Ort in ganz Schlesien.

Die Nebelwand bekommt langsam Risse, Licht dringt hindurch, und ich erkenne die Akazien, die zu den Seiten des Friedhofseingangs stehen. Im Frühling hingen ihre weißen Blüten in Trauben herunter und polsterten den Weg mit Myriaden von Blütenblättern. Die bepuderten Dolden fielen den Damen auf die schwarzen Hüte und den Herren auf die schwarzen Anzüge, verteilten sich über die kurz zuvor polierten Schuhe und wanderten langsam die Hosenbeine hinauf. Großvater lag im Sarg und kümmerte sich nicht darum.

Das gusseiserne Tor quietscht, als ich es öffne, und für eine Sekunde bin ich mir sicher: Spätestens jetzt sind alle wach, unten in Bagno, spätestens jetzt fahren alle aus ihren Betten, springen in ihre mit Kaninchenfell ausgekleideten Gummistiefel und werden auf direktem Wege zum Friedhof eilen. Und wen, anstelle des Leibhaftigen, werden sie vorfinden? Nele Leibert, leibhaftig zwar, aber nicht mit dem Teufel im Bunde, auch wenn mein Schicksal es nahegelegt hätte.

Ich lausche einen Moment, aber nichts tut sich unten im Dorf, kein Geschrei, kein Gepolter, als kämen Menschen mit Laternen und Knütteln, Knoblauch und Kreuzen den Hügel heraufgerannt. Eventuell bin ich der einzig überlebende Mensch nach einem kapitalen Unfall, der sämtliche Bewohner, Tiere wie Menschen, ausgelöscht und den Nebel heraufbeschworen hat, aber bevor ich mir meine Verzagtheit |14|eingestehen kann, setzen sich meine Füße wieder in Bewegung.

Die Erde ist sandig und leicht. Bevor es den Friedhof gab, durchzuckt es mich, wuchsen hier oben sicherlich keine Akazien und kein Wacholder, der sich jetzt um die älteren Grabsteine windet. Sie sind kleiner als gewöhnliche Grabmale, so als wollten sie vortäuschen, Feldsteine zu sein, die eher zufällig die Form von Kreuzen angenommen haben. Die ersten polnischen Trauernden in Schlesien hatten sich nicht getraut, mehr Raum als unbedingt nötig mit ihren Grabmalen einzunehmen.

Es ist kein besonders alter Friedhof, die ältesten Steinkreuze, halb verwittert, wurden 1946 aufgestellt. Als hätte es hier vorher keine Menschen, keine Sterblichen gegeben. Jedenfalls keine polnischen. Großvater hatte dafür nur ein Schulterzucken übrig, ein Rotzhochziehen, einen unwirschen Schlag auf den Tisch: Man fährt keine tausend Kilometer, um sich dann zum Sterben hinzulegen. Kein Fisch sei der Mensch, kein Aal, der sich durch unzählige Flussläufe kämpft, einzig, um am Ziel prompt zu vergehen. Charakterlos und katholisch habe er das gefunden, nach Schlesien zu kommen, wo es noch nach den Deutschen stank, und ermattet zu entschlafen – ohne einen Finger zu rühren, um die Erde urbar zu machen, wie nach einer langen Zeit der Pestilenz, die das Land überzogen hatte. Nein. Er, Großvater, hatte gewusst: Seine Zeit war noch lange nicht gekommen. Bevor er seinen Atem aushauchte, würde er ihn in den toten, verbrannten Leib, der Schlesien war, geblasen haben.

Das Grab ragt noch immer ein bisschen höher auf als die anderen. Ich habe es erreicht und drapiere den Nelkenstrauß mit fahrigen Händen einen Schritt vor der wuchtigen Granitplatte, bevor ich ihn auf ihre Mitte lege. Auf dem Grab stehen Großvaters Name und seine Geburts- und |15|Todesdaten: 1920 und 2007. Zweifelsfrei, es handelt sich um sein Grab, und auch die Tatsache, dass etwa zweieinhalb Meter oberhalb seines Kopfes ein Grabstein aus der Werkstatt Garnieckis prangt, widerlegt dies nicht. Großvater wurde weder von einem Wolf gefressen noch von einem Bären, der sich in die deutsch-polnischen Grenzwälder verirrt hatte. Großvater liegt hier, gerade einmal getrennt von mir durch einen, vielleicht zwei Kubikmeter Erde. In der Ferne tauchen aus dem sich verflüchtigenden Nebel die ausgedehnten Wälder auf, ich sehe Rauch von den Häusern aufsteigen, kann mit meinem Blick die Biegungen des Weges verfolgen. Ich kenne jedes Kreuz, jeden Anger. Ich spüre, wie mein Herz gegen den Beutel pocht, und kann ihn trotzdem nicht hervorholen. Nele, Nelunia, beruhige ich mich, und eigenartigerweise klingt die Stimme in meinem Kopf wie die meiner Mutter.

Mein Blick zielt erneut auf die Akazien am Eingang des Friedhofs, sucht nach Bewegung, einer heimlichen Beobachtung. Ich kann nichts erkennen. Viel ist geschehen, Großvater, seit diesem Frühling, Großvater. Innerhalb weniger Wochen hat man mich für verrückt erklärt, für heilig befunden, für sentimental, schwachsinnig, depressiv, neurotisch, am Ende hat man mich tot geglaubt oder zumindest sterbenskrank. Für etwas sonderbar hat man mich schon immer gehalten, aber seit ich von meiner Reise zurückgekehrt bin, Großvater, hält man mich für eine auratische Erscheinung. Obwohl man mich berühren, spüren kann, glaubt man mir meinen Körper nicht.

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|16|Der Frühling war plötzlich gekommen. An einem verregneten Montagabend im April hatte Tante Aldonas Stimme aus der Telefonmuschel gedröhnt: Djadjo ist tot, immer wieder, weil die Verbindung so schlecht war: Dja-djo ist to-ot!

Das ist nicht möglich, hatte ich gestottert, wie kannst du denn dann anrufen? Als ob zeitgleich mit seinem Tod Schlesien hätte zu atmen aufhören müssen. Schlesien war Großvater, Großvater war Schlesien, und Schlesien, mit Großvater, tot.

Nele, hörst du mich? Wir haben es in allen Dörfern von Skokowa bis Trzebnica bekannt gemacht. Kaum war er heute morgen tot, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, fingen wir an, Zettel, Kartons, Plakate zu beschriften und auszuhängen, aber eigentlich war es gar nicht nötig, denn schon, als wir das erste unten im Dorf aufgehängt hatten, wussten es bereits auch die Leute in den Nachbardörfern und in den Dörfern rund um die Nachbardörfer.

Wann immer sie mit dem weißen Trabi in die Dörfer gefahren seien, angehalten hätten an der größten Kreuzung oder vor der höchsten Scheune, seien die Bauern von den Feldern gekommen, hätten ihre Mützen abgenommen, die Hände an den Hosen abgewischt und gesagt: Nehmt eure Schilder mit. Dass Janeczko tot ist, wissen wir, wir kommen auch ohne Einladung. Dann hatten sie ihre Mützen wieder aufgesetzt und waren zurück auf die Felder gegangen, zu ihren Traktoren, die sich wie vorzeitliche Ungetüme gegen den Horizont abzeichneten.

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