Katzenpfötchen im Schnee - Katharina Gerwens - E-Book

Katzenpfötchen im Schnee E-Book

Katharina Gerwens

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Beschreibung

Katzenglück unterm Weihnachtsbaum Kaum ist die pragmatische Irene in Rente, stellt sie fest, dass ihr Leben unerfüllt ist. Kurzerhand übernimmt sie ein Ehrenamt im Tierheim Quellenhof: Sie prüft, ob es den adoptierten Katzen in ihrem neuen Zuhause gut geht. Während erste Schneeflocken vom Himmel fallen und sich das Tierheim auf den großen Adventsbasar vorbereitet, besucht sie die Katzen und lernt deren Besitzer kennen. Doch als ihr Lieblingskater Bruno vermittelt wird, ist Irene untröstlich … wie gut, dass im Tierheim alle zusammenhalten und Irene schließlich ein ganz besonderes Weihnachtsfest bescheren … Ein wunderbar weihnachtlicher Katzenroman von der Autorin von »Auf Samtpfoten zum Glück« und ein perfektes Weihnachtsgeschenk für alle Katzen-Fans!

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Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Friedel Wahren

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Stocksy / © MELANIE DEFAZIO;

Garfield by FinePic®, München

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Inhalt

Cover & Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Danksagung

1. Kapitel

Sie war es nicht gewohnt, dass ihr entgegengefiebert wurde, möglicherweise sogar sehnsüchtig. Und dass Bruno sie auch heute wieder erwartete, erfüllte sie mit Freude. Allein dafür hatte es sich gelohnt, die Wohnung zu verlassen. Und das war gut, denn sie konnte ja nicht tage-, wochen- oder gar jahrelang allein in ihren vier Wänden hocken. Da würde man ja seltsam mit der Zeit. Und sie kannte wahrlich viele seltsame Menschen. Darüber hätte sie mal ein Forschungsprojekt anleiern sollen, über die zunehmende Verschratung allein lebender Personen. Was hätten die Kollegen im Institut die Augen verdreht, wenn sie das vorgeschlagen hätte!

Zu spät. Sie, Irene, wurde natürlich nicht komisch. Sie hatte eine Aufgabe; sie wurde erwartet. Von Bruno.

Früher, als sie noch in der Forschung tätig gewesen war, hatte niemand auf sie gewartet. Allenfalls ihr penibel aufgeräumter Schreibtisch im Institut ihres Arbeitgebers und möglicherweise auch der Abteilungsleiter, der – auf der Türschwelle stehend, quasi im Vorübergehen – wichtigtuerisch eine Abhandlung oder ein Statement anmahnte. Aber mit einem Lächeln oder mit Blumen in der Hand war sie dort kein einziges Mal empfangen worden, nicht einmal an ihren Geburtstagen und auch nicht in ihren eigenen vier Wänden. Der Mann, mit dem sie kurzzeitig verheiratet gewesen war, hatte dort nie sehnsuchtsvoll auf sie gewartet.

Zugegeben, das mit den Blumen hatte Bruno bisher auch noch nicht geschafft, aber das verzieh sie ihm.

Sie freute sich auf Bruno ebenso, wie er sich auf sie zu freuen schien. War nicht allein dies schon eine Form von Glück? Über Glück und vor allem darüber, wie man es halten und behalten konnte, wurde auch viel zu wenig geforscht. Dabei war Glück doch eigentlich ein großes Wunder, und ihr war es widerfahren.

Irene Thannberg fragte sich oft, warum sie nicht schon früher diesen Weg gegangen war, wenigstens an den Wochenenden oder im Urlaub. Ihr Leben wäre um einiges erfüllter gewesen. Sinnvoller auf jeden Fall als alle diese Expertisen und Broschüren, die sie im Lauf der Jahre publiziert hatte. Selbst in ihrer freien Zeit hatte sie daran geschrieben und Erkenntnisse zu Papier gebracht, die dann doch so gut wie niemand las. Welche Lebenszeitverschwendung!

Während ihrer Arbeit im Forschungsinstitut hatte sie als sogenannte Expertin soziologische Untersuchungen begleitet und deren Ergebnisse in Punktetabellen, wissenschaftlichen Gutachten und Anregungen festhalten müssen, aber kein einziges Mal hatte sie das befriedigende Gefühl gehabt, ihre Vorschläge würden ernst genommen oder auch nur ansatzweise berücksichtigt.

Eins ihrer Projekte beispielsweise hatte sich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen befasst und in einem zweiten Schritt das Kaufverhalten von Menschen erforscht, die viel beziehungsweise wenig Geld besaßen. Diejenigen mit weniger Geld hatten sich als weitaus großzügiger erwiesen als die Wohlhabenden, was möglicherweise auch daran lag, dass die Einkommensschwachen so wenig zu verlieren hatten.

Bruno besaß gar kein Geld. Und er war besonders großzügig.

Mit ihren Filzpantoffeln betrat sie den Flur zu seinem Aufenthaltsraum und ging vor dessen Tür in die Hocke. Er schoss auf sie zu und begrüßte sie mit einem lautstarken »Miau«!

»Da bin ich«, erklärte sie, kroch auf allen vieren in sein Zimmer und lehnte sich im Schneidersitz an die Wand. Der getigerte Kater rieb den Kopf an ihrem Knie, drehte sich auf den Rücken, streckte alle Pfoten von sich und schnurrte. Sie atmete tief durch. Draußen im Freigehege rekelten sich Brunos Mitbewohner in der Oktobersonne. Irene lächelte und sonnte sich in ihrem Glück. Hoffentlich blieb er ihr noch lange.

Das war das einzig Traurige am Quellenhof. Wer hier wohnte, befand sich auf einer Durchgangsstation in ein hoffentlich besseres Leben und sollte so bald wie möglich vermittelt werden. Aber Bruno war nicht mehr der Jüngste, ebenso wie Irene nicht mehr die Jüngste war. Das Alter war in diesem Fall ihrer beider Glück. Familien wollten vor allem niedliche kleine Katzenbabys, die bei ihnen aufwuchsen und mit ihnen groß wurden, keine ausgewachsenen Kater mit festen Gewohnheiten und katzentypischen Macken. Bruno hatte durchaus seine Macken. Er biss ihr in den kleinen Finger, wenn er Futter wollte, und wehe, sie spurte nicht. Und wenn er unter dem Kinn gekrault werden wollte, stupste er mit dem Kinn an ihre Hand oder kratzte sie an der Wade. Aber sie, Irene, hatte ja auch so ihre Marotten. Und Bruno war nun mal Bruno. Sie verzieh ihm alles. Sogar Laufmaschen.

Wie gut, dass er schon mindestens elf Jahre alt war.

»Warum nimmst du ihn nicht zu dir?«, hatte Edda, die Leiterin des Tierheims, neulich wieder gefragt.

»Ich habe nur drei Zimmer und einen winzigen Balkon. Bruno braucht Auslauf. Er will sich austoben.«

»Er ist doch schon ein älterer Herr. Was er wirklich braucht, sind Ruhe und Gesellschaft.«

Irene hatte den Kopf geschüttelt. »Ich bin doch nur noch sehr selten daheim. An zwei Tagen in der Woche bin ich für euch unterwegs, und an den anderen Tagen besuche ich ihn. Ihn und meine anderen Lieblinge.«

Edda Kallmayer verstand. »Da ist was dran. Denn wenn er tatsächlich zu dir zieht, geht ihr womöglich beide nicht mehr vor die Tür. Und du würdest uns hier fehlen. Übrigens konnten wir gestern Lucy und Felix vermitteln.«

Irene hob den Kopf. »Als Paar?«

»Ja, zum Glück. Sie wohnen jetzt auf einem alten Bauernhof, der von den neuen Besitzern renoviert wird. Dort gibt es einen großen Garten, in dem sie nach Lust und Laune herumspringen und Mäuse jagen können. Zudem ein paar baufällige Scheunen und eine Katzenklappe an der Tür zum Wintergarten.«

»Wie lange waren sie eigentlich hier? Schon immer, oder?«

»Fast ein ganzes Jahr.«

Irene hob die Brauen. »Hoffentlich finden sie sich noch zurecht. Hier war ihr Lebensraum ja überschaubar.«

Edda schüttelte den Kopf. »Meine Güte, was du immer denkst! Glaub mir, Tiere sind schlau. Sie finden ihren Weg. Und gerade Katzen kommen mit so gut wie jeder Situation klar, auch wenn sie eigentlich keine Veränderungen mögen. Wäre es bei den Menschen doch nur auch so!«

Irene schluckte. War etwa sie damit gemeint? Dabei empfand sie sich selbst – im Vergleich zu früher – als inzwischen extrem wandlungsfähig. Kaum wiederzuerkennen.

»Kannst du sie in etwa zwei Wochen mal besuchen?«

»Wen?«

»Lucy und Felix natürlich. Oder ist dein Terminplan schon voll?«

Was hätte Irene darauf antworten sollen? Dass sie für Katzen jeden anderen Termin hintanstellte? Dass es keine anderen Termine in ihrem Leben gab? Edda Kallmayer verfügte über ein großes und geräumiges Herz. Zusätzlich zu Mann und Kindern hätte eine Fünfzimmerwohnung darin Platz gefunden, ach was, ein ganzes Schloss. Manchmal schien sie Irene für reichlich verschroben zu halten.

Was nicht verwunderlich war, bestätigte sich Irene insgeheim. Schließlich hatte sie ihr Leben lang nur am Schreibtisch gesessen und das Verhalten anderer Menschen und deren Reaktionen katalogisiert und beschrieben. Aus ihrer Soziologinnenperspektive waren die zweibeinigen und aufrecht gehenden Erdbewohner Lebewesen mit der Fähigkeit, zu sprechen und zu schreiben, und somit interessante Untersuchungsobjekte. Mit ihr selbst allerdings hatten diese Menschen so gut wie nichts zu tun. Erst jetzt kam sie näher mit ihnen in Kontakt. Das fand sie hochinteressant, gelegentlich aber auch aufregend und gefährlich.

Kollegen hatten ihr seinerzeit, als sie noch im Institut gearbeitet hatte, einen Mangel an Zugewandtheit unterstellt. »Du bist doch gar nicht in der Lage, dich in andere hineinzuversetzen«, hatten sie ihr an den Kopf geworfen. Da war was dran, aber, ehrlich gesagt, wollte sie sich gar nicht in andere hineinversetzen. Wie sonst hätte sie ihre distanzierte Beobachtungsgabe und ihren untrüglichen Blick für sachliche Unstimmigkeiten entwickeln können? Inzwischen kam ihr diese Fähigkeit sogar zugute. Ihr wurde das beste Gespür für Kontrollbesuche bei den vermittelten Tieren bescheinigt. Gnadenlos brachte sie die Faktoren auf den Punkt, die in der neuen Lebenssituation ihrer Schützlinge den Regeln widersprachen. Dadurch gewann sie allerdings nicht nur Freunde.

Auch deswegen suchte Edda immer wieder Irenes Rat. Als sei diese allein aufgrund ihres Studiums und ihres Doktorgrads eine Expertin für alles und jedes. Das tat gut, obwohl sie sich eingestehen musste, dass sie von den Jugendlichen, die ihre Sozialstunden im Quellenhof ableisteten, nicht die geringste Ahnung hatte. Oftmals schüttelte sie den Kopf über deren Sprache. Vor Kurzem hatte sie zwei Jungen beim Stallausmisten belauscht und so gut wie kein Wort verstanden. »Okay, in der Bude gibt’s schon manchmal den Screenitus, aber hier draußen krieg ich echt Ameisentitten.« »Mein Mietmaul hat echt volle Kanne versagt. Der hätte mich rauspauken müssen.«

Aufklärung kam von Edda. Screenitus: Computerkoller; Ameisentitten: Gänsehaut; Mietmaul: Rechtsanwalt. Da musste man erst mal draufkommen.

Noch immer fragte sie sich, wer von ihren Ex-Kollegen den Einfall gehabt hatte, ihr dieses eigenwillige Abschiedsgeschenk zu überreichen. Entweder hatte man sich in der Kaffeepause darauf geeinigt, sie zu ärgern, oder man hatte ihr durch die Blume sagen wollen, dass man gar nichts von ihr und über sie wusste und auch nichts wissen wollte. Vielleicht war es einfach nur Gedankenlosigkeit gewesen.

Letzteres hätte am ehesten gepasst.

Das Geschenk war nicht nur an eine Topfblume geheftet gewesen, sondern die edlen Spender und soziologisch geschulten Kollegen hatten sich erkennbar auch von ihrem Geiz leiten lassen. An einem Blatt der Anthurie – es hätte auch ein Kaktus sein können, aber der machte vielleicht nicht so viel her und hatte keine Blätter – hing ein Umschlag mit Gutschein: »Zehnmal Gassigehen mit einem Hund aus dem Tierheim Quellenhof«.

»Damit du mal an die frische Luft kommst«, war der Kommentar der etwas zu laut lachenden Kollegen, und sie hatte einen nach dem anderen verständnislos gemustert und leise »Super« gemurmelt. Damit waren wohl alle quitt.

An diesem Tag hatte Irene zum letzten Mal ihr Arbeitszimmer betreten, und zwar, um es leer zu räumen. Erstaunlich, wie wenig doch von gut achtunddreißig Jahren übrig blieb. Eigentlich nichts … ein brummender Computer mit abgegriffener Tastatur, eine angeschlagene Teekanne und zwei Tassen, Bücher, die in die hauseigene Bibliothek zurückgetragen werden mussten, sowie ein Berg grauer Materialien. Auf dem Titelblatt dieser Broschüren prangte ihr Name. Seit Jahren schon hatte niemand mehr nach diesen Publikationen gefragt. Also hätte sie sich das Schreiben der Texte ersparen können.

Eigenartigerweise stieß genau das ihr bitter auf. So viel Zeit, Geduld, Ausdauer und Ehrgeiz steckten in diesen Expertisen und Monografien. Nächtelang hatte sie sich die Haare gerauft, um sperrige Erkenntnisse elegant zu formulieren und auf den Punkt zu bringen. Was nun von ihrer Arbeit übrig blieb, war – ganz nüchtern betrachtet – lediglich ein Haufen Altpapier.

Mit dem bitteren Geschmack der Enttäuschung im Mund und der Anthurie im linken Arm hatte sie an jenem Spätnachmittag im September diesem Teil ihres Lebens für immer den Rücken gekehrt und begriffen, dass sie sich eigentlich auf nichts freuen konnte. Das schmerzte am meisten.

Anfangs hatte sie es mit Ausschlafen, Lesen und Musikhören probiert, war gelegentlich in ein Museum, ins Kino oder ins Theater gegangen. Nach einem halben Jahr jedoch wusste sie: Das konnte nicht alles sein!

Doch dann trat Bruno in ihr Leben, und mit ihm eröffneten sich neue Horizonte.

2. Kapitel

An einem Frühlingstag, wie er verheißungsvoller nicht sein konnte, fuhr sie dann tatsächlich zum Tierheim, um den lächerlichen Gutschein mit den Unterschriften ihrer sieben Kolleginnen und Kollegen einzulösen. Aber dort wusste niemand etwas damit anzufangen. Sie schob das Büttenpapier mit der Karikatur eines grinsenden Hundes und einer tanzenden Katze über die Theke und sah sich erwartungsvoll um.

»Sie sind doch keine Jugendliche, die Sozialstunden ableisten muss. Wer hat Ihnen denn das gegeben? So was habe ich noch nie gesehen.«

Das war der erste Satz, den Edda an Irene richtete. »Da steckt doch sicher was anderes dahinter. Vielleicht nur ein schlechter Scherz?«

Verständnislos starrte Irene Thannberg die Leiterin des Tierheims an. »Sie meinen, jemand hat sich einen Scherz mit mir erlaubt?«

»Exakt.«

»Und jetzt?« Ihre Stimme bebte vor Empörung. Wie konnte man es wagen, sie zum Narren zu halten?

»Jetzt sind Sie hier, und das hat sicher einen Sinn. Mal sehen, welchen.« Resolut strich Edda Kallmayer ihr dichtes dunkles Haar zurück und nahm die Besucherin erwartungsvoll in Augenschein.

Schulterzuckend griff Irene nach ihrer Tasche und wandte sich dem Ausgang zu. »Dann war das wohl ein Missverständnis.«

»Nein, bleiben Sie! Das wäre ja noch schöner. Jetzt haben Sie schon den langen Weg hierher auf sich genommen.« Die Leiterin des Tierheims lächelte, und es hatte den Anschein, als strahle allein deshalb die Sonne gleich ein bisschen heller. »Wissen Sie, was? Ich zeige Ihnen unser Haus und unsere Gäste. Haben Sie überhaupt schon jemals etwas mit einem Hund zu tun gehabt? Kennen Sie sich mit Hunden aus?«

»Nein«, gestand Irene. »Und, ehrlich gesagt, fürchte ich mich auch ein bisschen vor großen Hunden.«

Edda Kallmayer lachte. »Wenn ich das heute Abend am Familientisch erzähle … Na gut, dann stelle ich Ihnen erst einmal die Katzen vor. Die sind ja nicht so groß.«

Und so nahm Irenes große Liebe ihren Lauf. Bereits beim ersten Blickkontakt mit den Samtpfoten schmolz ihr Herz, bei jedem weiteren Tier noch mehr. Bei Bruno hatte sie es dann ganz verloren.

»Unser Problemkind«, erklärte Edda und ging vor dem Kater in die Hocke. »Er ist ein bisschen schwierig. Wer weiß schon, was er in seiner Jugend alles erlebt hat? Auf Menschen lässt er sich nicht so ohne Weiteres ein. Allerdings auch nicht auf andere Katzen. Wenn die etwas von ihm wollen, zieht er sich zurück.«

Schwierig bin ich auch, dachte Irene und betrachtete den getigerten Kater, der zusammengerollt in einer Ecke lag, ein Ohr aufrichtete und die Besucherin mit schläfrigen Augen anlinste. Von ihm fühlte sie sich verstanden.

»Wenn Sie wollen, können Sie sich ein bisschen neben ihn setzen«, flüsterte die Leiterin des Tierheims und schob ein dickes Kissen in Brunos Nähe.

»Ich will ihn ja nicht gleich überfallen«, wehrte Irene ab, rückte das Kissen ein Stück vom Kater weg, nahm vorsichtig Platz und gurrte in seine Richtung. »Hallo, Bruno …«

Der Vierbeiner hob den Kopf und gähnte ausgiebig.

»Soll ich dich morgen wieder besuchen?«

Bruno reckte sich.

»Na bitte«, diagnostizierte die Soziologin und fügte ihre Wunschdeutung hinzu. »Er will mich also wiedersehen.«

»So deute ich das auch.« Edda Kallmayer nickte und schien sich zu freuen. »Alles wird gut.«

»Meinen Sie?« Irene wusste nicht, ob sie eher über diesen Satz oder darüber staunte, dass sie seit vielen Wochen mal wieder einen festen Termin hatte. Hier gab es jemanden, der sich über ihren Besuch freute. Ein wunderbares Gefühl.

Seitdem kam sie an mindestens drei Tagen in der Woche und besuchte ihn, Lilly und Charlie, die mittlerweile auch ihr Herz erobert hatten.

Inzwischen war sie seit über einem halben Jahr feste freie sowie ehrenamtliche Mitarbeiterin des Quellenhofs und konnte sich ein Leben ohne Katzen und ohne Edda sowie deren Team gar nicht mehr vorstellen. Überhaupt verblasste ihr früheres Bürodasein angesichts der nun ausgefüllten Tage. Gelegentlich hegte sie den Verdacht, dass sie sich in einen recht glücklichen Menschen verwandelt hatte. Ihr Leben war sinnvoll. Aber so richtig darüber nachzudenken, traute sie sich doch noch nicht.

Aber ihr Leben war erfüllt.

Sie wurde erwartet.

Sie kam mit Katzen ins Gespräch und bildete sich ein, ihnen die Wünsche von den Augen ablesen zu können. Zumindest gaben ihre drei Lieblinge Bruno, Charlie und Lilly ihr dieses Gefühl.

Abends saß sie manchmal mit dem Team des Tierheims zusammen, und es ging um praktische Fragen. Wer macht nächste Woche den Empfang? Wer teilt Putz- und Futterdienste ein? Wer vereinbart Termine für Tiervermittlungsgespräche? Wer übernimmt die anstehenden Platzkontrollen?

Diese Aufgabe blieb immer häufiger an Irene hängen. Darin war sie die Beste, und darauf war sie stolz. Und sie hatte mittlerweile gelernt, ganz unverkrampft mit anderen zu reden.

Das war fürwahr ein schwieriger Prozess gewesen, und Bruno hatte sie darin unterstützt, aber so würde sie das natürlich niemals weitersagen. Nicht einmal die für alle Themen des Lebens offene und verständnisvolle Edda weihte sie in dieses Geheimnis ein.

Brunos Art, einfach da zu sein, abzuwarten, zu nicken und zu schnurren, half ihr, ihren Mitmenschen zu begegnen. So nickte auch sie, hielt sich zurück, wartete ab, suchte aufmerksam den Blick ihres Gegenübers, konzentrierte sich auf dessen Hier und Jetzt.

All das hätte sie viel früher wissen müssen. Es war doch eigentlich so einfach, mit anderen Kontakt aufzunehmen. Aber sie hatte es von einer Katze lernen müssen.

Kurz nach Erlangung ihrer Doktorwürde, zu einer Zeit, als sie sich selbst für die aufgeklärteste, wissendste und abgeklärteste Soziologin der Welt hielt, hatte sie gelegentlich auch ihre eigene Person wie ein Forschungsobjekt belauert und war erstaunt gewesen, dass sie sich in Gegenwart anderer unbeholfen fühlte und überall aneckte.

Sie war gern allein und lebte gern allein vor sich hin, selbst als sie noch mit Arend verheiratet gewesen war, einem überschaubaren soziologischen Fall, der sich nie beklagt hatte und für den das alles einigermaßen stimmig gewesen zu sein schien.

Umso mehr hatte es sie verwundert und überrascht, als er nach nur wenigen Jahren des Nebeneinanderherlebens von Scheidung gesprochen und ihre Ehe mit zwei Billardkugeln verglichen hatte, die zwar eine Zeit lang auf dem grünen Filz des Tischs nebeneinanderher rollten, ohne sich zu behindern, aber auch ohne sich gegenseitig Anstöße zu geben. Von positiven Anstößen hatte er erst gar nicht reden wollen. Außerdem hatte er in ihrer emotionalen Kälte gefroren. Und jetzt waren sie beide mit ihren symbolischen Kugeln an die Bande gestoßen und änderten ihren Lauf.

Statt auf seinen Vorschlag zur Scheidung einzugehen, hatte sie ihn erstaunt angesehen. »Seit wann spielst du denn Billard?«

Kurz nach diesem Gespräch verließ Arend die gemeinsame Wohnung und suchte sich eine rundliche rosafarbene Frau mit warmem Lächeln, gegen die Irene sich innerlich nur zur Wehr setzen konnte, indem sie sie Miss Piggy nannte. Einmal war ihr dieser Name in deren Gegenwart herausgerutscht, und die Neue an Arends Seite hatte großherzig darüber hinweggelächelt. Tierisch nett, wie sie nun mal war. Miss Piggy kannte sich aus mit freundlichem Miteinander. Sie fiel nirgends unangenehm auf, eckte niemals an. Wie denn auch? Alles an ihr war schließlich weich und rund und warm. Neben dieser Frau fror man nicht.

Irene dagegen war groß, dünn, schwarzhaarig und eckig sowohl in ihren Worten als auch in ihren Taten. Mit Fremden kam sie gut zurecht. Da gab es nicht das Gespenst einer herzustellenden Nähe. Fremde waren und blieben Studienobjekte, und sie hatte nicht umsonst achtunddreißig Jahre lang menschliches Verhalten erforscht.

Inzwischen wusste sie auf Anhieb, was sie zu beachten hatte. In ihrer Eigenschaft als Katzenplatzkontrolleurin entkam ihr keiner. Wer Katzen bei sich aufnahm, sollte nach Irenes Kriterien ohne Fehl und Tadel sein. Alle Miss Piggys dieser Welt beäugte sie mit besonderer Wachsamkeit.

Auch an diesem Tag stand ein Hausbesuch an. Den hatte sie gestern Abend mit ihrer toughen und zupackenden Forscherinnenstimme vereinbart und sich über das fast verschreckt klingende Geraune am anderen Ende der Leitung gewundert. »Wieso müssen Sie denn kommen? Es geht ihr doch gut. Luna bekommt alles, was sie braucht.«

»Sie haben vertraglich zugestimmt, dass ein Mitarbeiter des Tierheims vorbeischauen kann. Es ist ein Erstbesuch.« Irene war sachlich geblieben, wie sie immer sachlich blieb. »Ich komme nur kurz rein, werfe einen Blick auf Luna und bin schon wieder weg … wenn alles in Ordnung ist.«

»Es mangelt ihr an nichts«, hatte die neue Katzenmama geflüstert, und das klang fast ein bisschen biblisch, wie Irene fand.

»Wunderbar. Dann haken wir alle Punkte ab, und schon bin ich wieder verschwunden. Morgen um sieben?«

»Wollen Sie dann auch mit Luna sprechen?« Die Angerufene klang ängstlich.

Irene verdrehte die Augen. »Logisch. Sie hat mir sicher viel zu erzählen.« Dann legte sie kopfschüttelnd auf. Als könnten Katzen hinter dem Rücken ihrer Frauchen und Herrchen Beschwerden vorbringen! Na, das würde ja lustig werden bei Frau Schlössl.

An diesem Mittwoch goss es wie aus Kübeln, und es wurde während des ganzen Tages nicht hell. Es war der 24. November. Irene trug ihren gelben Friesennerz, einen Regenhut und Gummistiefel. Sie hätte den Termin verschieben sollen. An solchen Tagen jagte man keinen Hund vor die Tür, aber sie funktionierte und hielt diszipliniert ihre Termine ein. Ob die Gassigeher im Quellenhof auch heute angetreten waren?

Katzen brauchten niemanden, der sie spazieren führte und ihren Kot aufsammelte. Katzen gingen selbstständig auf ihr eigenes Klo und verscharrten danach verschämt ihre Losung. Warum hatte noch niemand einen Hund in diese Richtung erzogen? Die waren angeblich doch so schlau!

Sie würde mit Edda Kallmayer darüber sprechen. Edda wusste alles über Tiere … und auch so einiges über Menschen.

Frau Schlössl wohnte in keinem Schloss, auch wenn ihr Gartenhäuschen wasserschlossähnlich von tiefen Pfützen umgeben war. Irene war dankbar, dass sie Gummistiefel trug. Mit anderen Schuhen wäre sie knöcheltief eingesunken, und garantiert hätte sie sich dann mit den nassen und kalten Füßen eine Erkältung geholt. Sie läutete an einem Klingelschild, das mit »Regina Schlössl« beschriftet war.

Das Auftreten der robusten Mittvierzigerin, die die Tür aufriss und verbindlich lächelte, entsprach so gar nicht dem Bild einer Schlossherrin, eher wirkte sie wie eine ganz normale Hausfrau.

Die Abgeordnete des Tierheims zückte ihre Visitenkarte. Dr. Irene Thannberg, das Logo sowie die Kontaktdaten des Quellenhofs standen darauf, das machte doch immer etwas her. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sich Frau Schlössl vor, um den Namen auf dem Kärtchen zu lesen. »Kommen Sie doch bitte herein!«

Es gab Tee und Lebkuchen. Auf der Badezimmermatte tropften Irenes Gummistiefel vor sich hin, Regina Schlössl hatte ihr dunkelblaue Filzpantoffeln hingeschoben. »Damit Sie keine kalten Füße bekommen.« Sie war ungewöhnlich fürsorglich, und Strähnen ihres langen und unordentlich hochgesteckten dunkelblonden Haars fielen ihr immer wieder ins Gesicht. Mit fahrigen Bewegungen strich sie sie dann zurück. Vielleicht hatte sie in einer Frauenzeitschrift gelesen, dass das sexy wirkte, schoss es Irene durch den Kopf.

Jetzt schenkte die Gastgeberin grünen Tee ein und entschuldigte sich mit Blick auf das Gebäck. »Klar, bis Weihnachten sind es noch vier Wochen, aber ich bringe mich gern rechtzeitig in Stimmung. Kaum ist es so weit, ist es vorbei und wieder zwölf Monate weit weg. Leider!« Ihre Finger zitterten leicht, als sie eine Kerze anzündete. »Deshalb beginne ich immer schon Mitte November mit dem Backen. Sonst kriege ich ja nicht genug zusammen für den Weihnachtsbasar im Quellenhof. Schauen Sie, da kommt Luna!«

Mit gespitzten Ohren und aufmerksamen Blicken stolzierte die schwarz-weiße Luna in das kleine Wohnzimmer und verbreitete augenblicklich eine hochherrschaftliche Atmosphäre. Irene hatte sich auf der Fahrt gefragt, ob Luna sie überhaupt wahrnehmen würde. Sie selbst erkannte die Kleine sofort. Schließlich war sie es gewesen, die ihr den Namen gegeben hatte. Sie erinnerte sich noch genau. Es musste ihr zweiter oder dritter Besuch im Quellenhof gewesen sein, als das Tier von der Feuerwehr gebracht worden war. »Die haben wir am Straßenrand aufgelesen. Sie scheint verletzt zu sein.«

Tatsächlich war die rechte Hinterpfote gebrochen gewesen und musste geschient werden. Die damals noch namenlose Luna hatte laut gefaucht und war mit ausgefahrenen Krallen auf ihre Retter losgegangen. »Halten Sie sie fest!«, hatte die Tierärztin einen der Helfer gebeten, und während Luna sich in den dicken Handschuh eines Feuerwehrpraktikanten verbissen hatte, hatte sie eine Betäubungsspritze aufgezogen, die das verletzte Tier in tiefen Schlaf versetzte.

»Sieht so aus, als sei sie mit einem Fahrrad kollidiert«, hatte Edda Kallmayer gemutmaßt. »Manche machen sich einen Spaß aus der Jagd auf Tiere.«

Irene, die wie bestellt und nicht abgeholt inmitten des Behandlungsraums gestanden hatte, war von einer Welle der Empörung überrollt worden. »Verklagen muss man die! Ins Gefängnis stecken.«

»Erst mal finden«, gab Edda ihr pragmatisch recht. »Bleibst du bei ihr, bis sie wieder aufwacht?«

Was für eine Frage.

Das Foto der Fundkatze wurde einen Tag später ins Internet gestellt und auch in den lokalen Zeitungen veröffentlicht. Aber niemand meldete sich.

»Sie wird also vorerst bei uns bleiben. Aber wie sollen wir sie nennen?«, hatte Edda Kallmayer zehn Tage später Irene gefragt. »Gib du ihr einen Namen!«

Und so war aus Luna Luna geworden, denn die Katze hatte an der Brust einen hübschen Fellfleck in Form eines Halbmondes. Irene war davon überzeugt, dass nur sie das bemerkt hatte.

Jetzt würdigte Luna sie keines Blickes, ließ aber auch ihr neues Frauchen links liegen und wanderte schnurstracks auf einen Schuhkarton voller Papierkügelchen zu. Die fegte sie auseinander, warf sie in die Luft und legte Irene schließlich ein aus grauem Garn gehäkeltes Spielzeug in Mäuseform vor die Füße. Ein Geschenk. Eine Abendgabe.

»Das habe ich ihr gebastelt und mit Baldriantropfen getränkt«, gestand Frau Schlössl. »Sie ist ganz verrückt danach. Aber dass sie es Ihnen bringt? Damit hätte ich nie gerechnet. Sie ist sonst sehr vorsichtig bei Fremden. Na ja, Sie sind sich ja nicht wirklich fremd.«

Irene nickte. »Klar, ich gehöre schließlich zum Team des Tierheims.« Sie setzte ihre Teetasse ab und erkundigte sich inquisitorisch nach Lunas Stuhlgang und dem Standort des Katzenklos. Beides war in Ordnung. Ein leichtes Beben ihrer inzwischen geschulten Nasenflügel genügte, und schon wusste sie, dass das Katzenklo regelmäßig gereinigt wurde.

Außerdem war es Luna anzusehen, dass sie sich wohlfühlte und sich jeden Wunsch erfüllen ließ. Ihr Fell glänzte, und inzwischen saß sie auf den Hinterpfoten, hielt die Vorderpfötchen brav zusammen und hatte den Schwanz um den Körper geringelt. Mit aufgerichteten Ohren beobachtete sie die Besucherin. Mir geht es bestens, schien sie zu sagen. Danke der Nachfrage. Ich habe meinen Platz gefunden.

»Luna gefällt es bei Ihnen«, bestätigte Irene. »Das sehe ich ihr an.«

»Wenigstens das«, murmelte Frau Schlössl und schluckte. »Wissen Sie …«, begann sie und verstummte. Irene hatte ganz kurz die Befürchtung, dass sie ihr etwas sehr Persönliches anvertrauen wollte. Bloß nicht!, dachte sie. Keine Intimitäten! Ich will nichts wissen. Schließlich bin ich nur wegen Luna hier.

»Ja, das war’s dann wohl schon«, stellte sie in munterem Ton klar. »Vielen Dank für die Einblicke in Ihre Zweisamkeit. Meine Stiefel sind inzwischen bestimmt auch wieder trocken.«

Ungefragt ging sie ins Bad, schlüpfte aus den Filzpantoffeln und stieg in die Gummistiefel. Sie griff nach ihrem Friesennerz an der Garderobe.

»Warten Sie!«, murmelte Frau Schlössl. »Wollen Sie Luna nicht bald mal wieder besuchen?«

Irene schwieg. Wozu?, hätte sie früher brüsk gefragt und streng geguckt. Jetzt gab sie sich abwartend. Das war eindeutig Brunos Schulung.

Regina Schlössl griff sich ins Haar, löste die Spange und flocht es nachlässig zu einem Zopf. »Ich … ich habe doch gesehen, wie sehr sie sich freut.«

Die auf der Türschwelle hockende Katze erhob sich majestätisch, reckte sich und strich mit erhobenem Schwanz um Irenes Füße. Was sollte sie da noch sagen? »Ja, also, wenn Sie meinen, dann komme ich gern wieder mal vorbei«, hörte sie sich sagen und staunte über sich selbst.

»Vielleicht noch vor Weihnachten? Dann backe ich uns Plätzchen, noch viele weitere Sorten.« Frau Schlössl klang glücklich.

Luna sah zu den beiden Frauen auf und schnurrte.

»Ja, ich komme gern wieder vorbei«, log Irene und wandte sich demonstrativ an die Katze. »Bald schon bin ich wieder hier.«

»Können wir gleich einen Termin ausmachen?« Frau Schlössl aktivierte ihr Smartphone und rief den Kalender auf.

Halbherzig wühlte Irene in ihrer riesigen Handtasche nach dem elektronischen Terminplaner. Sollte sie so tun, als hätte sie ihn vergessen? Damit war das Problem nicht gelöst, möglicherweise würde die Schlössl dann nach ihrer privaten Telefonnummer fragen. Und das wäre noch fataler gewesen.

Man einigte sich auf die nächste Woche, gleiche Zeit, gleicher Ort. Dass das aber bloß nicht zur Gewohnheit wird, hätte Irene um ein Haar verlauten lassen.

3. Kapitel

Kaum saß Irene wieder hinter dem Steuer ihres Wagens, ärgerte sie sich. Sie hätte nicht zusagen sollen. Worauf ließ sie sich da ein? Termine mit wildfremden Leuten! Das ging eindeutig zu weit. Außerdem verwirrte sie das Ganze. Bis auf Arend vor gefühlten hundert Jahren hatte noch niemand freiwillig ihre Nähe gesucht, und bis heute fragte sie sich, wie das mit Arend und ihr überhaupt hatte geschehen können. War sie lediglich eine Zwischenstation auf seinem Weg zu seiner warmen, weichen Miss Piggy gewesen? Erst die kluge Frau Doktor mit Promotionsurkunde und dann die stets gut gelaunte rosafarbene Schmusefrau?

Die Scheibenwischer liefen auf Hochtouren und verscheuchten den Regen, nicht aber Irenes Ärger über sich selbst.

Vermutlich war es purer Trotz gewesen, sich auf Arend einzulassen. Sie wollte sich, ihrer ungläubigen und kopfschüttelnden Mutter, der Welt und vielleicht auch diesem viel zu schönen Mann beweisen, dass sie beziehungsfähig war. Und er? Was hatte er in ihr gesehen? Eine Vorzeigefrau? »Meine Frau ist Wissenschaftlerin«, hatte sie ihn oft sagen hören. Und tatsächlich hatte in diesem Satz so etwas wie Stolz mitgeklungen. Vielleicht hatte er in ihr jedoch ein Objekt gesehen, das er umwandeln konnte. Hatte er mit ihr so etwas wie bei My Fair Lady im Sinn gehabt? War sie seine Eliza Doolittle, der er in diesem Fall statt Gossenslangs und schlechten Benehmens ihre kantige Unbeholfenheit abtrainieren wollte, um sie in einen Ausbund an Charme zu verwandeln? Sozusagen in eine Miss Piggy für Intellektuelle?

Nein, so dumm konnte nicht einmal er gewesen sein. Und überhaupt … sollte Arend tatsächlich etwas Ähnliches im Sinn gehabt haben, dann hatte er auf ganzer Linie versagt. Der Regen ließ etwas nach, nicht aber ihr Ärger.

Als wäre es in ihrem Leben jemals um Charme gegangen. Vielmehr hatte sie sich ganz und gar der Wissenschaft verschrieben. Allein ihre Kompetenz, ihre Expertise und ihre Vorträge waren gefragt gewesen … nicht aber ihre Person. Kein einziges Mal. Als wäre sie unsichtbar oder trüge eine Tarnkappe. Niemand hatte sich nach ihren Vorlesungen mit Fragen an sie gewandt. Sie wurde vergessen und übersehen. »Ich habe die gleiche Wichtigkeit wie ein Overheadprojektor«, hatte sie einst anlässlich einer Geburtstagsfeier von Arend behauptet, als jemand von ihr wissen wollte, welche Rolle sie in diesem Institut spielte. Die Freunde und Kollegen ihres Mannes hatten sie komisch angesehen und nicht einmal gelacht. Arend hingegen hatte sie in die Seite gestoßen. »Du musst dich wichtig nehmen und wichtig machen!« Was für ein Ratschlag! Tatsächlich nämlich empfand sie sich während all der Jahre ihres Arbeitslebens wie ein Gegenstand, der für geraume Zeit in Anspruch genommen wurde und Aufmerksamkeit erhielt, dann aber wieder abgeschaltet wurde und um den sich anschließend niemand mehr kümmerte. Es ging lediglich ums Funktionieren. Sie lächelte, als sie an diese Szene zurückdachte, und war sich sicher, dass sie inzwischen – rein kommunikationstechnisch gesehen – durch einen Beamer ersetzt worden wäre.

»In spätestens zwei Stunden ist alles vorbei.« Mit genau dieser distanzierten Haltung hatte sie sich auf andere Menschen einlassen können. Denn was waren schon zwei Stunden?

Und jetzt das! Ein freiwilliger Besuch in Lunas Pfützenschloss in der Falkenstraße am Stadtrand. Und zudem wünschte sich die Schlössl offensichtlich lediglich ihre Gegenwart, nichts sonst, keine quantitative oder qualitative Forschung, keine Expertise und vermutlich erst recht keine Evaluation der aktuellen Situation. Was erwartete Regina Schlössl bloß von ihr? Würde sie sie etwa um ihre Meinung zu einer neuen Frisur bitten? Irene schaltete in den fünften Gang.

Wenigstens hatte sie in ihren Kalender nur »Luna« als Terminanlass vermerkt. Und sie würde Luna besuchen, weil sie es versprochen hatte, aber nur noch ein einziges Mal. Luna ging es gut, und sie, Irene, hatte wirklich genug anderes zu tun, als schlecht frisierte Frauchen und zufriedene Katzen zu besuchen.

Mit dieser Entscheidung fuhr sie ihr Auto in die Tiefgarage und fühlte sich schon etwas besser.

Sie ließ ihre Stiefel zum Abtropfen vor der Wohnungstür stehen. Eigenartig verloren wirkten die dort. Zwei solitäre gelbe Säulen. Vor den anderen Wohnungstüren in dem Sechsparteienhaus standen jeweils große und kleine Paare, mindestens drei, nur die Leute über ihr brachten es auf fünf. Wie einsam ihre zwei Gummistiefel dagegen vor sich hin trockneten! Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ganz schnell noch ihr einziges Paar Stöckelschuhe danebenzustellen, damit die gelben Stiefel sich nicht so verloren fühlten und Vorübergehende denken sollten: Oh, die Thannberg hat Besuch! »Jetzt reicht’s aber«, ermahnte sie sich, schloss rigoros die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel zweimal um.

Aus dem Wohnzimmer blinkte es regelmäßig. Sie betrat den Raum und schob die Gardine am Fenster beiseite. War draußen auf der Straße ein Unfall passiert? Aber so sah es nicht aus. Vor dem Haus war alles ruhig. Keine Passanten, keine Autos und erst recht keine Polizeiwagen. Doch woher kam das Blinken?

Es dauerte einige Augenblicke, bevor ihr bewusst wurde, dass es ihr Anrufbeantworter war, der da leuchtete.

Seit gefühlten hundert Jahren war das nicht mehr passiert. Nicht umsonst hatte die Wissenschaftlerin Irene Thannberg die Leute rechtzeitig dazu erzogen, Anfragen zu Vorträgen ausschließlich über das Institut oder ihre Website zu richten. Auch als Rentnerin wurde sie immer wieder zu Expertenrunden geladen, ließ sich aber schon lange nicht mehr darauf ein. Sie hasste Telefonate und Auseinandersetzungen mit körperlosen Stimmen. Nicht zu wissen, was der andere gerade machte, während sie mit ihr oder ihm über Inhalte und Honorare verhandelte, war ihr nicht geheuer. Vielleicht verdrehten ihre Gesprächspartner gelangweilt die Augen, starrten an die Decke, legten am Computer eine Patience, bohrten in der Nase oder feilten sich die Finger- oder gar die Zehennägel. Körperlose Stimmen am Telefon waren nicht einschätzbar, und was sich nicht einschätzen ließ, entzog sich jeglicher Kontrolle.

Ärgerlich drückte sie auf die Wiedergabetaste. Da hatte sich sicher ein Depp verwählt. Hauptsache, das lästige Blinken verschwand. Es störte die Harmonie ihres Wohnzimmers.

Schon hörte sie Edda Kallmayers Stimme, die nicht ganz so forsch und tough klang wie sonst, eher so, als sei sie mit einem »Verzeih mir bitte!« unterlegt. »Irene« (Räuspern), »wir haben ja schon öfter darüber gesprochen. Jetzt ist es so weit. Wir haben einen Platz für Bruno.«

Irene schluckte und ließ sich aufs Sofa fallen. Ihre Beine zitterten. Na gut, sagte sie sich, nun ist es also tatsächlich so weit. Leben hieß Abschiednehmen, Fortgehen und Ankommen. Daran führte kein Weg vorbei. Sie wunderte sich über ihre äußere Ruhe, während in ihrem Innern gleichzeitig ein Protest aufwallte, gefolgt von unbändiger Wut. »Nein«, hörte sie sich krächzen. »Nein, das ist unmöglich! Das darf nicht sein!«

Und dann griff sie selbst zum Telefon. Aber um diese Zeit, halb neun am Abend, war im Quellenhof natürlich niemand mehr erreichbar. Alle Tiere schliefen oder sollten schlafen, sämtliche Lichter waren gelöscht, und das Personal war nach Hause zurückgekehrt. Dennoch beschwor sie den Anrufbeantworter, als wäre er ein lebendiges Gegenüber. »Ihr könnt ihn doch nicht weggeben, ohne mich zu fragen. Er gehört doch zu mir. Ich nehme ihn auch zu mir. Ja, Bruno kommt zu mir. Basta. Und macht das bitte augenblicklich rückgängig!«

Lorenz Erlenburg erklomm die dreiundneunzig Stufen zu seiner Atelierwohnung. Der Kater wog nur dreieinhalb Kilo, dennoch fühlte sich die Tasche mit dem Inhalt namens Bruno an, als beherberge sie Hanteln mit einem Gewicht von mindestens einem halben Zentner. Dieses Tier machte sich ganz schön schwer.

Es war allein der Blickkontakt gewesen, weswegen Lorenz sich für den getigerten Vierbeiner entschieden hatte. Ich weiß, wie du dich fühlst, schien der Kater ihm zu signalisieren. Wir haben beide schwere Zeiten hinter uns. Das verbindet.

»Den oder keinen«, hatte Lorenz spontan zu der Frau gesagt, die mit ihm durch das Katzenhaus gegangen war. Er wollte das Geschäft so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann wieder nach Hause zu seinen Leinwänden.

Die Mitarbeiterin des Tierheims, die sich ihm als Edda Kallmayer vorgestellt hatte und hier eindeutig das Kommando führte, hatte kurz gezögert, sich das dunkle Haar zurückgestrichen und laut gedacht. »Bruno ist ja nicht mehr der Jüngste. Und sollten wir da nicht erst Frau Thannberg informieren?«

»Wieso denn? Sie sagten doch, dass in diesem Trakt nur Katzen wohnen, die auch vermittelt werden. Warum soll da noch jemand befragt werden?«

»Das stimmt.«

»Na bitte, wo liegt dann das Problem? Der oder keiner. Wir haben doch schon einen Draht zueinander.« Lorenz war in die Hocke gegangen, und Bruno schnurrte tatsächlich.

»Eine unserer ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen hat ihn besonders ins Herz geschlossen.«

»Na gut, dann soll die ihn eben nehmen.« Lorenz erhob sich und wandte sich zum Gehen.

Eine untersetzte Tierpflegerin in einer engen weißen Hose und einem noch engeren weißen T-Shirt kam dazu. Sie trug ihr dunkles Haar straff zurückgebunden, was ihren Gesichtszügen etwas Maskenhaftes verlieh. »Irene nimmt ihn nicht. Das haben wir doch oft genug besprochen.«

»Gut, dann nehme ich ihn.« Lorenz zückte seinen Geldbeutel. »Was kostet er? Und kann ich bei Ihnen auch so was wie eine Reisetasche für ihn kaufen? Wie heißt er noch mal?«

»Bruno.«

»Ach ja.«

Kurz darauf packte Lorenz die Katzentasche nebst schweigendem Inhalt auf den Beifahrersitz seines Citroën. Jetzt habe ich endlich Ruhe, dachte er erleichtert.

Wochenlang hatten seine wenigen Freunde ihn beschworen, sich ein Tier zuzulegen. Gleichgültig, ob Hund oder Katze. »Du führst zu viele Selbstgespräche und drehst dich dabei in immer verrückteren Kreisen. Wenn du mit einem Vierbeiner sprichst, bleibst du hoffentlich mit deinen Gedanken auf dem Boden der Tatsachen. Zumindest holen Hund oder Katze dich immer wieder ins Hier und Jetzt zurück. Außerdem wirken Haustiere inspirierend.«

Pah! Wenn Lorenz eins nicht brauchte, so war es Inspiration. Sein Kopf war voll mit Bildern.

Daran dachte er, während er die Treppen hinaufstieg. Die Tasche in seiner rechten Hand war vor allem eins … schwer. Darin bewegte sich gar nichts.

Auf dem Absatz des dritten Stockwerks setzte er Bruno mitsamt der Transportbox ab und spähte durch die durchsichtige Plastikscheibe ins Innere.

Da saß das Tigerchen mit eng angelegten Ohren, fletschte die Zähne und fauchte ihn an. Oje!

Konnte es sein, dass der Kater über die Reise hierher nicht glücklich war? Andererseits … wer wurde schon gern verschleppt?!

»Das wird schon«, hatte Edda Kallmayer ihm versichert. »Bruno ist nicht mehr der Jüngste und braucht etwas Anlaufzeit. Dafür aber kommt er selbst mit den schwierigsten Zeitgenossen klar.«

»Selbst mit Irene«, hatte die Tierpflegerin hinzugefügt und ihm ihre Karte gegeben. »Ich heiße Cindy Plödereder. Falls mal was ist.«

Jetzt allerdings fragte sich Lorenz, ob ausgerechnet das eine Aussage gewesen war, die ihn hätte warnen müssen. Hatte die Leiterin des Tierheims etwa auch ihn als komplizierten Menschen eingestuft, der ein Tier an seiner Seite brauchte, um den Boden unter den Füßen nicht ganz zu verlieren? Ausgerechnet ihn, den – leider – noch nicht berühmten Maler. Lorenz Erlenburg brauchte keinen Therapiekater. Er brauchte lediglich ein Lebewesen in seiner Nähe.

Mit Frauen hatte er es auch schon versucht, aber die, die er kennengelernt hatte, redeten so viel, mischten sich in sein Leben ein, wollten ständig aufräumen und wissen, was er dachte.

Als er vor der Wohnungstür in seinem Dachgeschoss stand, setzte er die Tasche mit dem Kater ab und schob den Schlüssel ins Schloss.

»Willkommen in meinem Reich, Bruno, alter Knabe!«, murmelte er und schritt mit seinem neuen Mitbewohner in die Küche. Frau Kallmayer hatte die kompakte Cindy mit dem lustigen Nachnamen Plödereder damit beauftragt, einige Dosen von Brunos Lieblingsfutter auszugeben, auch als Muster, damit er genau das weiterhin kaufte. Lorenz öffnete eine Dose, füllte einen Napf, stellte ein Schälchen mit Wasser in gebührendem Abstand daneben, ging in die Knie und zog den Reißverschluss zu Brunos Transportbox auf. »Nun komm heraus, und sieh dich um!«

Bruno fauchte, musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen und streckte sich im Anschluss an die beeindruckende Demonstration seines Unwillens. Dann gähnte er. Lorenz sah die vier scharfen und spitzen Fangzähne seines neuen Mitbewohners. Der machte nicht gerade den Eindruck, als wolle er freiwillig seine geschützte Höhle verlassen. »Dann eben nicht«, brummte der Maler. »Ich hätte dir gern alles gezeigt. Aber du tust ja so, als wäre ich ein Monster. Bin ich aber nicht.«

Im Bad wusch er sich die Hände und betrachtete sehr lange sein Spiegelbild. Er sah doch wirklich nicht so aus, als müsse sich irgendjemand vor ihm fürchten, schon gar nicht ein kleiner Kater. Völlig normal sah er aus, wie nun mal ein Mann mit Ende fünfzig aussah. Sein graues Haar war schon recht schütter, auf dem Hinterkopf schien es sich bereits einer Tonsur anzunähern. Sein Friseur riet ihm immer mal wieder, sich doch den Schädel zu rasieren. Aber so lief zurzeit ja fast jeder herum. Lorenz wollte keinesfalls zu diesen modischen Gecken gehören. Dann lieber ein mäuschengrauer Haarkranz, wie auch Mönche ihn trugen.

Über seine randlose schmale Lesebrille hinweg beäugte er sich weiterhin kritisch. Der inzwischen auch schon graue Schnurrbart passte zu seinem ovalen Gesicht, und als er sein Spiegelbild anlächelte, fand er sich sogar richtig sympathisch. Das war ihm sonst immer nur nach der Fertigstellung eines guten Bilds aufgefallen. Und jetzt einfach so. Dicht vor dem Spiegel.

Na gut, der kleine Bruno sollte erst mal sein neues Zuhause erkunden. So viel Aufregung an einem ganz normalen Nachmittag, dachte Lorenz liebevoll und staunte über sein Verantwortungsgefühl. Er betrat sein lausig kaltes Atelier mit der Fensterfront gen Norden, schaltete den Radiator ein, der gerade mal als Frostwächter durchgehen konnte, und befasste sich mit der Vorstufe zu einem neuen Werk. Draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben.

Etwa zwei Stunden später, er hatte lange vor der leeren Leinwand meditiert und dann mit Kohlestift die ersten Linien gezogen, kehrte er in die Küche zurück, um sich aufzuwärmen und Tee zu kochen. Seine Finger waren rot und fühlten sich klamm an. Damit wollte er den Kater lieber nicht anfassen, auch wenn Bruno einen Pelz trug.

Ende der Leseprobe