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Katzenschnurren, Glücksgefühle und Sommerliebe Ein sommerlicher, zu Herzen gehender Katzenroman von der Autorin von »Auf Samtpfoten zum Glück« und »Katzenpfötchen im Schnee«. Das perfekte Geschenk für alle Katzen-Freunde!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Friedel Wahren
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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
Cover & Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»In unserem Büro sieht es aus wie bei einer polizeilichen Fahndung.« Irene hob den Kopf von der Tastatur ihres Computers und betrachtete besorgt die Fotos an der Pinnwand. Jedes Bild war überschrieben mit den Worten VERMISST oder BELOHNUNG oder WER HAT UNSEREN LIEBLING GESEHEN? »Man sollte ein Sondereinsatzkommando aufstellen! Da stimmt doch etwas nicht.« Edda nickte. »Ja, das fällt mir auch auf. Es werden kaum noch Tiere gefunden oder abgegeben, und zwar seit etwa zehn Tagen. Ob die entführt oder eingefangen werden? Oje, das will ich mir gar nicht vorstellen.«
»Wenn sie versehentlich in einer Scheune oder einem Stall eingesperrt werden, flitzen sie doch immer nach Hause, sobald sie wieder frei sind. Sicher nehmen manche Menschen auch streunende Katzen bei sich auf … und machen uns damit Konkurrenz. Aber diese verloren gegangenen Vierbeiner sind ja keine Streuner. Die fürchten sich nicht vor Menschen und haben zu jedem Vertrauen. Das ist das Problem! Hoffentlich geht es den Tieren dort gut.« Irene zog den Stapel mit handschriftlichen Adoptionsanträgen, Vermittlungen und Neuanmeldungen zu sich heran, um alles in den Computer einzuspeisen. Sie hatte darauf bestanden, dass die dort angelegte Tabelle um eine Spalte für die Nummern der implantierten Erkennungschips ergänzt wurde. So konnte jederzeit ganz schnell festgestellt werden, ob ein Hund oder eine Katze schon einmal in Passbrunn gewesen war oder nicht. Mit dieser Suchfunktion kamen sie erfahrungsgemäß am schnellsten voran. Leider gaben die Katzen- und Hundechips nicht automatisch den Standort durch. Ob irgendwann auch so etwas möglich wäre? Katzensuche per GPS?
Edda Kallmayer riss Irene aus ihren Gedanken. »Allein wenn ich die Fotos sehe, weiß ich, dass alle sehr geliebt und nun auch sehnlichst vermisst werden. Frauchen und Herrchen loben sogar Prämien für eine glückliche Heimkehr aus. Jedes Tier fehlt seinem Besitzer. Schau doch nur mal auf die Bilder der vergangenen zehn Tage! Acht Tiere sind in dieser Zeit in der unmittelbaren Umgebung verschwunden, und mir scheint es so, als seien dadurch acht Leben außer Takt geraten. Mir gibt das viel zu denken, und das nicht nur, weil ich dieses Tierheim leite. Mir tun beide leid, die Katzen und die Menschen.«
»Das verstehe ich gut.« Irene senkte den Kopf noch tiefer über die Tastatur und biss sich auf die Unterlippe. Wie immer versuchte sie einen plötzlich auftauchenden Gedanken in den Griff zu bekommen und sich zu beruhigen. Wenn sie als Mensch verschwände, würde niemand mit einem Fahndungsfoto nach ihr suchen oder gar einen Finderlohn ausloben. Niemand würde behaupten: Mein Leben ist weniger wert, seit Irene nicht mehr da ist. Im schlimmsten Fall fiele das so gut wie niemandem auf, und selbst hier im Tierheim wäre sie ersetzbar.
Als könne Edda Gedanken lesen, meinte sie unvermittelt: »Auch Menschen können vermisst werden. Ich beispielsweise wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte. Nicht nur deshalb, weil du mir viel Arbeit abnimmst, sondern auch, weil du mir vertraut bist und ich mich auf dich verlassen kann.«
Mit Edda waren alle vertraut, und alle liebten Edda, die jedem Menschen das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein. So war es auch Irene ergangen, als sie Edda vor zwei Jahren kennengelernt hatte.
Innerhalb weniger Stunden hatte sich damals aus einem anfänglichen Missverständnis ein großes und einvernehmliches Verständnis entwickelt, zumal Edda als Erstes von Irene wissen wollte, ob sie möglicherweise Angst vor Hunden habe. »Ja«, gestand Irene wahrheitsgemäß und nickte. »Vor allem vor großen Tieren.«
»Und trotzdem wollen Sie hier und heute einen Hund ausführen?« Ungläubig lachend stand Edda vor ihrer Besucherin.
»Ich will nur diesen Gutschein einlösen«, hatte Irene steif gesagt und dann von einer kopfschüttelnden Tierheimleiterin erfahren müssen, dass es so etwas weder hier noch irgendwo sonst gab. »Gutscheine zum Gassigehen! Und die auch noch unerfahrenen Leuten in die Hand gedrückt. Niemals! Da könnte ja jeder kommen! Und glauben Sie mir, meine Tiere vertraue ich nicht jedem an. Da muss erst ein Funke überspringen, und zwar von beiden Seiten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Obwohl es in dem Gespräch die ganze Zeit um Tiere ging, vor allem um Hunde, blitzte in dem Dialog und zwischen den Zeilen Eddas zweite Botschaft auf, und die lautete: Wir zwei könnten Vertrauen zueinander aufbauen. Sie sind ein wunderbarer Mensch.
Irene hatte einen Moment lang gebraucht, um all das zu verarbeiten. Das angeblich so fürsorgliche Abschiedsgeschenk ihrer Kolleginnen und Kollegen war also nichts als ein Fake, ein selbst gebastelter Gutschein fürs Tierheim in Passbrunn, eine Falle, in die sie als frischgebackene Rentnerin hineintappen und sich lächerlich machen sollte. Da hatte man sie also nach Strich und Faden verarscht. So viel zur ständig beschworenen Kollegialität.
Und sie hatte sich auch noch über die angebliche Sorge um ihr Wohlergehen gefreut. »Wir wollen, dass Sie des Öfteren an die frische Luft kommen«, hatte der verschlagene Jens behauptet und ihr leutselig zugezwinkert. Gut, dass sie da weg war!
»Warten Sie, ich zeige Ihnen unser Katzenhaus. Mit den Samtpfoten können Sie zwar nicht Gassi gehen, aber vielleicht wachsen Sie der einen oder anderen Katze oder einem Kater ans Herz.«
Müsste das nicht umgekehrt heißen?, hatte Irene damals gedacht. Sollten die nicht mir ans Herz wachsen? Dennoch war sie der hochgewachsenen Frau mit den schwarzen Locken brav gefolgt. Man wusste ja nie. Außerdem war sie seit einigen Monaten Rentnerin und verbrachte lange Tage mit nichts anderem als Gähnen und Langeweile. Hier verging wenigstens die Zeit.
Und dann kam Bruno.
Natürlich hätte sie mit ihm zusammenziehen können, aber sie fand es schöner, ihm hier zu begegnen, was sicher auch damit zu tun hatte, dass sie zu gern ihrer Wohnung entfloh, in der sie sich nie heimisch fühlte. Während ihrer Arbeitszeit hatte sie, die Soziologin und Verhaltensforscherin, die meiste Zeit im Büro verbracht, oft auch die Abende und die Wochenenden, und im heimischen Apartment gab es dann ja auch noch das Arbeitszimmer. Alle anderen Räume hinter der Tür, die zu ihrer Wohnung führte und an der ihr Name stand, erschienen ihr fremd und unvertraut.
Tatsächlich war es ihr zu Beginn ihres Ruhestands unendlich schwergefallen, von heute auf morgen nichts mehr zu tun. An die fast täglichen Besuche im Tierheim, die ihrem damaligen Leben Struktur gaben, klammerte sie sich wie an einen Strohhalm. Vermutlich hatte Edda genau das ihrer Besucherin mit dem erfundenen Gutschein fürs Gassigehen angesehen. Jetzt waren Edda Kallmayer und Irene Thannberg Freundinnen, und Edda hatte Irene vor noch gar nicht so langer Zeit zur stellvertretenden Leiterin ihres Tierheims gemacht. Dennoch nahm Irene auch weiterhin so wichtige Aufgaben wie die Platzkontrolle der vermittelten Tiere wahr. Was gab es Schöneres als eine glückliche Katze und ein dazugehöriges glückliches Menschenwesen?
Erneut fiel ihr Blick auf die Fotos an der Wand. Wo steckten die Katzen bloß alle?
Acht Tiere in zehn Tagen, das war ungewöhnlich viel für diese Gegend. Und bislang war dem Tierheim weder ein verunglücktes noch ein verletztes Tier gemeldet worden. Irene, die in ihrem früheren Leben eigentlich nie auf ihre Intuition geachtet hatte, fürchtete ein Verbrechen. Da war etwas im Busch! Jemand entführte Katzen oder lockte sie zu sich. Es ging ihm um … Erpressungsgeld oder gar …? Nein, daran wollte Irene lieber nicht denken.
Wie so oft schien Edda den gleichen Gedanken zu haben, denn sie beruhigte ihre Freundin. »In letzter Zeit habe ich nichts von Katzenfängern gehört und auch meine Leute bei der Polizei gefragt. Da ist nichts im Gang. Es gibt ja kaum noch Tierversuche mit Katzen, aber Bayern ist weiterhin der Spitzenreiter in Tierversuchen mit Labormäusen und Ratten. Die Menschheit wird hoffentlich doch noch verantwortungsbewusst.«
»Bei allen Kosmetikprodukten, die ich kaufe, achte ich darauf, dass sie ohne Tierversuche entwickelt wurden«, bestätigte Irene, gestand ihrem Gegenüber aber nicht, dass sie das erst so machte, seitdem sie hier im Quellenhof ein zweites und ein besseres Zuhause gefunden hatte.
Für sie gab es ein Leben vor und ein Leben mit Passbrunn, und die zweite Hälfte fühlte sich weitaus besser an. »Es ist ja nicht nur so, dass einem das Liebste fehlt«, meinte sie nun nachdenklich und sah auf die Adoptionsbögen jener Hunde und Katzen, die einen neuen Besitzer gefunden hatten – auch ein Hamster war dabei – und die nun hoffentlich von ganzem Herzen geliebt wurden. »Wenn jemand einfach so aus deinem Leben verschwindet, dann schaust du nur noch auf das Fehlende und nimmst nur noch das wahr, woran es dir mangelt. Was noch vorhanden ist, rückt in den Hintergrund, verliert an Wert, und die gefühlte Welt wird grau. Du denkst eigentlich nur noch daran, was nicht mehr da ist.«
Edda runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen? Woran beispielsweise denkst du dabei?«, fragte sie.
»An Bruno.« Irene seufzte.
»Tatsächlich? Ich dachte, ihr seht euch regelmäßig.«
»Nun ja, im letzten halben Jahr ging das sehr zurück. Du weißt doch, dass ich mich da in diesen Studiengang reingehängt habe, um wenigstens einmal im Leben etwas Sinnvolles zu tun.« Sie lachte. »Und gelernt – für mich und uns – habe ich vor allem an den Abenden und den Wochenenden. Da blieb für Bruno wenig Zeit.«
»Aber das ist vorbei. Schließlich hast du erfolgreich den Sachkundenachweis zum Tierschutz beim Veterinäramt bestanden. Jetzt kann ich dich jederzeit und überall guten Gewissens als meine Stellvertreterin angeben.«
»Übertreib es aber nicht!«
»Doch, ich hab nämlich vor, mit meiner ganzen Familie in Urlaub zu fahren, und dann hältst du hier die Stellung.«
»Kein Problem! Doch glaub mir, dann sorge ich wieder dafür, dass mir Zeit bleibt, um Kater Bruno zu besuchen. Auch wenn der jetzt in einer anderen Beziehung, in einer bunteren Welt lebt. Im Atelier eines Malers, bei einem Künstler.«
»Ein echter Glückskater.« Edda lächelte, und wenn sie lächelte, schien die Sonne aufzugehen. Wie schaffte sie das nur?
Irene übte es gelegentlich vor dem Spiegel, aber ohne Erfolg. In Eddas Lächeln war man zu Hause, aufgehoben, angenommen … endlich angekommen. In Eddas Lächeln lag ein Licht.
Das Telefon läutete, kein Haus-, sondern ein Ferngespräch, Edda meldete sich mit amtlichem Ton, und Irene spitzte die Ohren. Wurde etwa schon wieder eine Katze vermisst?
»Nein«, hörte sie Edda sagen.
»Nein, dafür sind wir nicht zuständig. Wissen Sie, was? Oft hilft in einem solchen Fall ein Gespräch unter Kolleginnen. Da kann schneller etwas geklärt werden als in einer großen Runde. Der Ball bleibt flach, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und überhaupt, vielleicht sind Sie ja auch gegen eine ganz andere Substanz allergisch.«
»Ja, das stimmt. In den vergangenen zehn Tagen sind tatsächlich auffällig viele Katzen verschwunden.«
»Nein, wie kommen Sie denn nur auf so etwas?«
»Auf mich wirkt es tatsächlich so, als würden Sie sich da in etwas hineinsteigern. Nur weil Sie irgendwann mal positiv auf eine Allergie gegen Katzenhaare getestet wurden.«
»Gut, Sie sprechen erst einmal mit ihr. In aller Ruhe. Und wenn Sie dann immer noch das Gefühl haben, dass wir unsererseits aktiv werden sollten, melden Sie sich einfach noch mal. Wollen wir uns darauf einigen?«
»Ja, schönen Tag noch. Ihnen auch.«
Kopfschüttelnd wandte sie sich an Irene. »Leute gibt’s! Stell dir vor, da sitzen zwei Kolleginnen zusammen in einem Büro – so wie du und ich –, und eine von denen ruft in der Kaffeepause hier an, um die andere zu denunzieren.«
Allmählich wurde Irene neugierig. »Was wirft sie der denn vor? Und was haben denn ausgerechnet wir damit zu tun?«
»Das frage ich mich auch.« Edda griff sich in ihr dichtes dunkles Haar. Sie lachte ungläubig und imitierte die klagende Stimme der Anruferin. »Bis vor zwei Wochen sind wir mindestens jeden dritten Tag auf einen Drink ausgegangen – oder auch mal ins Kino oder auf ein Konzert. Jetzt aber hat sie nie Zeit, rennt nach Hause, als würde dort der Traumprinz persönlich auf sie warten. Das macht er aber nicht, hab ich schon rausgekriegt. Und morgens hat sie Katzenhaare auf ihrem Pullover, ich kriege kaum noch Luft. Manchmal sind da auch Kratzspuren an Händen und Unterarmen. Ich hab sie gefragt, ob sie eine Katze hat. Da ist sie rot geworden und hat Nein gesagt. Das ist doch verdächtig.«
»Und wie!« Irene lächelte ironisch. »Verdächtig ist vor allem, dass die eine keine Zeit mehr für die andere hat. Es gibt übrigens ein sehr treffendes Wort dafür: Eifersucht.«
»Du als Soziologin hast es natürlich gleich erkannt. Unsere Anruferin allerdings hegt den Verdacht, dass ihre Kollegin Katzen entführt.«
»Deine Anruferin hat das Interview mit Cindy Plödereder gelesen. Du hättest verhindern sollen, dass unsere Weißwurst sich zu verschwundenen Katzen äußert … und schon gar nicht in der Zeitung.«
»Mag sein.« Edda nickte halbherzig. »Andererseits, es ist doch nur ein lokales Anzeigenblättchen und keine überregionale Zeitung. Als Cindy damit kam, hab ich erst mal Ja gesagt. Nur ein kleines Interview zur Stellung der Tierpflegerin. Insgeheim denke ich, wenn sie von außen ein bisschen Aufmerksamkeit kriegt, buhlt sie hier im Team nicht dauernd um Anerkennung.«
»Der Schuss ging ja wohl nach hinten los. Du hättest ihr verbieten sollen, über verschwundene Katzen zu reden.«
»Hast du Cindy schon mal etwas verboten? Dann macht sie es doch erst recht.«
»Aber das Wort Entführung. Kidnapping, Catnapping oder wie immer sie es nennt. Keiner dieser Begriffe hätte fallen dürfen. Und eine von uns hätte den Artikel gegenlesen müssen. Vermutlich kommen jetzt noch mehr Anrufe, denn das ist ja schon fast eine Einladung zum Denunzieren.« Irene klang besorgt und wippte auf ihrem Bürostuhl hin und her. »Überhaupt, wer hätte gedacht, dass ein so kleines Anzeigenblatt so viele Leser hat? Das wäre wirklich eine Studie wert.« Aus tief verwurzelter Gewohnheit entwarf sie im Hinterkopf einen komplizierten Fragebogen. Anzeigen schalten und lesen? Digital oder analog?
»Bloß nicht! Zum Forschen haben wir keine Zeit.« Edda blickte auf die Uhr. »Lieber setze ich Cindy ans Telefon. Wie weit bist du eigentlich mit deinen Einträgen?«
»Wenn du mich noch zehn Minuten arbeiten lässt, habe ich es.«
Als hätte es jemals im Quellenhof Passbrunn eine Zeitspanne von zehn Minuten gegeben, in der etwas zu Ende gebracht werden konnte. So auch diesmal nicht.
Genau sechs Minuten später schoss Cindy durch die Empfangshalle auf Irene zu. Sie registrierte es, nachdem sie aus alter Gewohnheit ständig für sich (und für andere) in Gedanken die Zeit stoppte. Diese Gewohnheit konnte sie einfach nicht ablegen, ebenso wenig, wie sie ständig Stufen zählen oder auf gepflasterten Plätzen die Stellen betreten musste, an denen die Steine aneinanderstießen. »Wo steckt Edda?«, rief Cindy ungeduldig.
»Schon gegangen.«
»Wohin? Ich muss sie sprechen!«
Gelassen hob Irene den Kopf. »Worum geht es denn genau?«
»Das kann ich nur mit Edda besprechen.« Dabei betonte Cindy das erste Wort, als ginge es dabei um ein Geheimabkommen zwischen ihr und der Leiterin des Quellenhofs. Irene nickte und beschloss wieder einmal, sich von dieser kleinen Weißwurst nichts sagen zu lassen. Wirklich ein passender Spitzname, der perfekt zu Cindy passte, die sich bevorzugt in allzu enge und schmuddelige weiße Klamotten zwängte und allen ein wenig zu dicht auf die Pelle rückte.
»Du weißt, dass ich Eddas Stellvertreterin bin. Also, was liegt dir auf der Seele?«
Cindy druckste herum und senkte den Kopf so tief, dass ihr Kinn Falten warf, als sie ihr Anliegen eher ihrem Bauch als Irene anvertraute. »Es geht um Birke. Da sind zwei Herren, die haben sie heute beim Gassigehen entdeckt und sich in sie verliebt. Und jetzt sind sie da und wollen den Hund mitnehmen.«
»Ach, du kennst die Herren? Sind sie des Öfteren hier? Haben die schon Erfahrungen mit Hunden oder Katzen aus unserem Tierheim?«
Genervt schüttelte Cindy den Kopf. »Darum geht es doch gar nicht. Hauptsache ist doch, Birke kommt weg. Die macht nur Stress mit den anderen Hunden und auch mit uns.«
Da war etwas dran. Die mittelgroße Mischlingshündin hatte in ihrem jungen Leben nicht viel Gutes erlebt. In Gegenwart von anderen Hunden duckte sie sich, winselte und klemmte die Rute zwischen die Hinterbeine. Bei Menschen, vor allem bei Männern, atmete sie schnell und hektisch, wobei sie zusätzlich winselte oder knurrte. Irene hatte sich schon oft gefragt, was der grauweißen Hündin bisher widerfahren sein mochte. Birke brauchte Menschen, die mit viel Verständnis und noch mehr Geduld und Liebe auf sie eingingen. Sie zweifelte, ob Cindy das alles bei den zwei Interessenten nachgefragt hatte. Schließlich war es ein offenes Geheimnis, dass Cindy über keine Menschenkenntnis verfügte und die Leute grundsätzlich falsch einschätzte.
»Na gut, dann schaue ich mir die Herren mal an.« Irene stand auf und dachte dabei mehr an die Hündin als an die zukünftigen Hundebesitzer.
Wäre es nach ihr gegangen, dann kam für Birke nur ein Paradies auf Erden infrage. Diese Hündin hatte vermutlich schon genug Leid erlebt.
»Aha, du traust mir also nicht zu, dass ich selbst entscheide.« Cindy klang vorwurfsvoll und beleidigt. »Edda hätte mir freie Hand gegeben.«
Das glaubst auch nur du, dachte Irene. Niemals hätte Edda Cindys Urteil getraut, weder bei Tieren noch bei Menschen. »Hast du den Hund schon geholt?«, fragte sie stattdessen.
»Nein, ich wollte als Erstes die Papiere ausfüllen.«
Irene betrachtete ihre eigene weiterhin unvollendete Arbeit. Na gut, zwei Adoptionsbögen mussten noch ins System eingespeist werden, das ging sicher auch später noch.
»Ich rede mit den Herren.«
»Meinetwegen.« Cindy verschwand und wackelte dabei unübersehbar mit ihrem Weißwursthintern. Alle im Tierheim wussten, dass die kleine Besserwisserin davon träumte, Tierarzthelferin zu werden und – wenn das Schicksal es besonders gut mit ihr meinte – von ihrem Arbeitgeber, dem Herrn Doktor, geheiratet zu werden. Einer der Tierpfleger hatte herausgefunden, dass Cindy auf verschiedenen Internetportalen unterwegs war und schon ein kleines Vermögen in ihre professionelle Partnersuche investiert hatte.
Wie sie sich wohl kleiden mochte, wenn sie sich Auge in Auge mit einem Mann verabredete? Und hatte sie tatsächlich ein Echtfoto von sich hochgeladen oder doch eher ein Bild per Photoshop bearbeitet? Aber dann käme es unweigerlich zum Schock beim ersten Rendezvous. Es bereitete Irene klammheimlich Freude, sich alle diese Situationen vorzustellen. Hoffentlich lernte die junge Kollegin bei ihren Aktionen, sich selbst und möglicherweise sogar andere etwas differenzierter wahrzunehmen.
Die zwei Anzugträger saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen und eleganten Reiterhosen in den Sesseln des Empfangsbereichs. Jeder hielt eine Gerte auf den Knien. Einer von ihnen hatte einen grauen Vollbart, der andere war an Kinn und Schädel glatt rasiert. Irene ging auf sie zu.
»Sie haben sich also in unsere Birke verliebt! Aber wer weiß, ob unsere schüchterne Birke auch an Ihnen Gefallen findet.«
Sie bemühte sich um einen freundlichen Ton, spürte aber schon, dass sie das Gespräch anders hätte beginnen sollen. Und erwartungsgemäß wurde zurückgeschossen. »Seien Sie doch froh, dass wir Ihnen das Vieh abnehmen. So haben Sie ein Maul weniger zu stopfen.«
»Darum geht es nicht.« Irene legte ihre Visitenkarte auf den Tisch. Dr. Irene Thannberg.
Der Bärtige griff danach und klang nicht mehr ganz so selbstbewusst. Ein Hoch auf meine Menschenkenntnis, dachte Irene mit verhaltenem Stolz. Sie hatte geahnt, dass die beiden sich von ihrem Doktortitel einschüchtern ließen.
Tatsächlich stellte der Glattrasierte die erwartete Frage: »Sie sind hier die Tierärztin?«
Irene überging die Bemerkung.
Im Gegensatz zu Cindy, die sich gern in medizinisches Weiß kleidete, trug Irene schwarze Jeans und eine rote Bluse. Sie sah nicht aus wie eine Ärztin.
»Welche Lebenssituation bieten Sie dem Hund? Haben Sie einen Garten? Wohnen Sie vielleicht in der Nähe eines Parks? Das wäre schön. Birke ist erst vier und braucht viel Bewegung.«
»Klar gehen wir mit ihr spazieren. Vor allem an den Wochenenden«, versicherte der Bärtige.
Irene stutzte und dachte laut: »Während der Woche sind Sie also beide ganztags beschäftigt?«
»Natürlich.«
»Und wer kümmert sich in dieser Zeit um den Hund?«
»Die hat dann das ganze Haus zehn bis zwölf Stunden für sich. Sturmfreie Bude! Das wird ihr gefallen.«
»Keinesfalls wird es das!« Irene klang streng und unerbittlich. »Das ist völlig unmöglich!«
»Sie empfehlen uns also einen Babysitter für den Hund?« Der Glattrasierte fand den Gedanken offenbar absurd. Er kicherte albern und fuhr sich mit flacher Hand über den frisch geschorenen Schädel.
Irene betrachtete die beiden Männer. Wieso trugen die eigentlich am helllichten Tag eine Peitsche mit sich herum? Hatten die etwa auch noch ein Pferd, das während der ganzen Woche auf sie warten musste, um dann perfekt zu funktionieren?
Wie bei allen Erstgesprächen lud sie nun auf dem Tablet ein Bild sowie eine Charakterbeschreibung des Hundes hoch.
»Sie hat so eine tolle Farbe. Also dieses Grau!« Der Bärtige geriet ins Schwärmen. »Ich finde, das passt genau zu der Tönung unseres neuen SUV«, fügte er hinzu, ohne den Text zu betrachten, und der Glattrasierte nickte zustimmend. »Also wenn die dann im Fond sitzt, das macht was her!«
Irene erstarrte innerlich.
Erwartungsvoll stand Cindy in der Tür, und Irene suchte ihren Blick. »Die beiden Herren brauchen keinen Hund«, stellte sie fest. »Na gut, ein edler Porzellanhund, das wäre noch möglich. Aber niemals ein Lebewesen, das Aufmerksamkeit und Zuwendung braucht. Das wird nichts mit der Vermittlung.«
»Aber wir waren uns mit Ihrer Mitarbeiterin schon so gut wie einig!«, widersprach der glänzende Schädel.
»Das letzte Wort in dieser Sache habe immer noch ich.« Irene richtete sich auf. »Wir geben unsere Tiere nur an gute Plätze und in gute Hände.«
Beide Männer begutachteten ihre Hände und spreizten die Finger. Ihre Ringfinger waren jeweils mit einem Siegelring geschmückt.
»Was haben Sie denn gegen unsere Hände?«, versuchte der Bärtige einen Scherz und hob die Hände in Unschuld.
Irene ignorierte die Geste. »Ich fürchte, Sie wissen gar nicht, was der Besitz eines Tiers bedeutet. Und ein Hund darf niemals zehn Stunden lang allein gelassen werden. Das geht nicht! Kein Hund hält das aus. Also, meine Herren, schönen Tag noch!« Sie drehte sich um und steuerte auf ihr Büro zu. Cindy folgte ihr.
Die beiden Herren ließen sich’s nicht nehmen, bei ihrem Abgang die Eingangstür des Tierheims besonders heftig zuzuknallen. Typisch!
Irene ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder. Jetzt erst einmal die Daten der noch nicht eingepflegten zwei gelungenen Adoptionen ins System eingeben. Und danach ein Spaziergang ins Katzenhaus. Hinter ihr hechelte Cindy wie ein atemloser Hund. Irene drehte sich um und wandte sich an die Tierpflegerin. »Sag mal, hast du denn nicht gesehen, dass die gar keine Ahnung von Tieren haben? Dass die sich einen Hund kaufen wollen, so wie sie sich auch ein Auto kaufen oder einen Teppich?«
»Ich fand sie nett«, murmelte eine zutiefst beleidigte Cindy.
Irene seufzte.
Oje, warum gab es in der Schule kein Fach für Menschenkenntnis?
Nicht einmal Edda hatte Irene verraten, dass der tägliche Besuch im Katzenhaus für sie ein Ritual war, das einfach dazugehörte. Sie musste sich doch vergewissern, wie es den Vierbeinern ging, die sie alle ins Herz geschlossen hatte. Aber sie begriff auch, dass die Kater und Katzen nicht gerade glücklich waren, zusammen mit Artgenossen in einem Zimmerchen mit Zugang zum vergitterten Gartenteil zu leben. Hatten doch die meisten von ihnen entweder eine Wohnung mit Balkon oder gar ein Haus mit Garten ihr Eigen genannt und sich ihr Kommen und Gehen nach Belieben einteilen können. Daher brauchten diese Katzen besonders viele Streicheleinheiten. Auf menschliche Ebene übertragen, war der Quellenhof für sie vergleichbar mit einem Internat. Feste Essenszeiten, und um neun Uhr abends wurde das Licht ausgeschaltet. Für Katzen, die am liebsten nachts unterwegs waren, eine gewaltige Umstellung.
Auch gab es hier trotz Irenes unermüdlichen Einsatzes zu wenig Kraulen, Streicheln und Kämmen … und Mäusemangel sowieso.
Dennoch ruhten sie auf eine Art und Weise in sich, von denen Hunde nur lernen konnten.
Hunde waren – so empfand es Irene – immer abwartend, ungeduldig, auf Befreiung, wenn nicht gar auf Erlösung hoffend. In jedem Menschen, der an ihnen vorüberging, vermuteten sie ihren Retter. Und mit diesem Anspruch bellten oder winselten sie den Besuchern auch nach.
Katzen dagegen schliefen zusammengerollt und träumten von paradiesischen Zeiten. Vermutlich waren sie in einem früheren Leben Yogameisterinnen oder Yogalehrer gewesen. Sie waren in sich selbst zu Hause und sahen der Zukunft gefasst und mit buddhistischer Gelassenheit entgegen. Von Katzen konnten die Menschen lernen.
Jetzt war es kurz nach Mittag, und alle hundertzwanzig Katzenklos standen gesäubert und mit frischer Streu versehen wieder in den Zimmern. Die dort ausgelegten Bettlaken und Kissenbezüge waren durch frische Wäsche ersetzt worden. Einige Vierbeiner umkreisten bereits aufmerksam und erwartungsvoll ihren Fressnapf. Ob ihnen das heutige Angebot wohl zusagen würde? Andere hatten ihre Mahlzeit schon verspeist, und den Samtpfoten einer dritten Gruppe war das servierte Menü eindeutig nicht gut genug. Hochnäsig, missbilligend und schmollend umrundeten sie ihre Näpfe.
Irene wusste schon, wer Fisch ablehnte, wer Trockenfutter bevorzugte und wer sich weigerte, auch nur einen Bissen Hühnerfleisch zu verspeisen. Katzen waren pingelig, Hunde dagegen fraßen alles und hörten erst auf, wenn der Napf leer war.
Auf dem Treppenabsatz zwischen Erdgeschoss und erstem Stock stand ein Korb mit schmutziger Wäsche, und genau dort hockte Emil, jener Kater, der gestern Abend gebracht worden war. Irene ging in die Knie und redete dem grau getigerten Vierbeiner gut zu. Er trug zwar seinen Namen am Halsband, leider aber nicht die Adresse seines Zuhauses. »Was machst du denn hier? Wie bist du denn aus deinem Zimmerchen entkommen?«
Emil sah sie mit großen grünen Augen an und schien leicht verdrossen die Gegenfrage zu stellen. »Na, warum wohl?«
»Der ist an der Putzkolonne vorbei und entwischt«, brummte Paul und richtete sich in seinem blauen Overall hinter den beiden auf. »Ich konnte ihn nicht gleich wieder einfangen. Inzwischen hat er sich selbst sein Plätzchen gesucht. Der Korb sollte daher hier stehen bleiben. Das ist besser für ihn. Meiner Meinung nach braucht er noch Eingewöhnungszeit, und auf der schmutzigen Wäsche scheint es ihm besonders gut zu gefallen.«
»Ja, da hast du recht.« Irene musterte Paul. Sie hatte sich damals dafür eingesetzt, dass er, der sich selbst als chronischen Berufsabbrecher bezeichnete, eine feste Anstellung bekam. Und alle hatten es noch keinen Augenblick lang bereut. Selbst Cindy kam mit dem verschlossenen und fast immer nachdenklich dreinblickenden Paul klar. Bevor er sich im Tierpark Straubing zum staatlich anerkannten Tierpfleger hatte ausbilden lassen – drei Lehrjahre, die er tatsächlich durchgehalten hatte –, war er Taxifahrer in München gewesen. Davor hatte er Philosophie, Sinologie und Theologie studiert. Er war inzwischen Mitte vierzig und hatte Edda und Irene beim Einstellungsgespräch freimütig gestanden, dass er sich auch deshalb für diesen Arbeitsplatz interessierte, weil er mit Menschen nicht so gut klarkam. »In Gegenwart von Männern und Frauen treffe ich fast immer den falschen Ton. Bei Kindern hält sich’s im Rahmen.«
Das hatte Irene damals nicht so gesehen. Wenn eine den falschen Ton traf, dann ganz gewiss Cindy.
»Hat Emil sich mit den anderen gestritten?«, wollte sie nun wissen und streichelte den Kater, der inzwischen verhalten schnurrte.
Paul schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was da ist. Vielleicht können die sich ja nicht riechen. Oder Emil ist von Haus aus ein Einzelgänger wie so viele Katzen.« Irene wartete darauf, dass er Und wie ich hinzufügte. Doch diese Bemerkung blieb unausgesprochen im Raum stehen.
»Hoffentlich wird er bald wieder heimgeholt«, tröstete sie Kater und Tierpfleger gleichermaßen. »Ich habe sein Porträt heute an die Zeitung geschickt und auf unserer Website veröffentlicht. Und zwar mit der Überschrift: Bitte holt mich nach Hause!«
Irene hatte keine Ahnung, was Paul davon hielt. Der ging nun auch in die Hocke und streichelte den Kater. Emil schnurrte ein bisschen lauter. »Lassen wir ihn doch vorerst im Wäschekorb wohnen, dann kann er mit dem ins Chefbüro umziehen. Dort hat er dann einen Raum für sich.«
»Einverstanden.«
Paul suchte Irenes Blick. »Gibst du diese Entscheidung an die anderen weiter?«
»Damit meinst du wohl vor allem Cindy.« Irene verstand.
»Genau, wenn eine mit ihr klarkommt, dann du.«
»Nicht immer.« Irene dachte an die Szene mit der Hündin Birke. »Ganz unter uns …«, verriet sie Paul. »Cindy hat sich vor Kurzem für ein Fernstudium zur Tierheilpraktikerin eingeschrieben. Das dauert zwei Jahre, und vermutlich tüftelt sie seitdem Nacht für Nacht sowie an den Wochenenden an Naturheilverfahren für Tiere, Ernährung, Fitness und Wellness für Katzen und Hunde herum.«
»Nicht zu fassen!« Paul wirkte total entgeistert. »Was will sie denn damit? Besser sollte sie erst mal an sich selbst Ernährung und Fitness optimieren. So, wie die aussieht! Und was erwartet sie sich bloß von dieser Ausbildung? Dass sie das alles hier umsetzen kann?«
»Dass ihr Traum Wirklichkeit wird«, antwortete Irene kryptisch und legte die Aufklärung gratis obendrauf. »Cindy will Tierarzthelferin werden, um dann den jungen und sehr attraktiven Tierarzt zu heiraten, der ihre Fähigkeiten bewundert. Und natürlich ist sie dann glücklich bis an ihr Lebensende.«
»Ach so. Ja dann. Wir brauchen wohl alle unsere Träume.«
Zum ersten Mal in all den Monaten, seit Paul bei ihnen war, fragte Irene sich, ob auch Paul Träume hatte. Sie wusste nichts von ihm, nur dass er sich eine Zweizimmerwohnung in Reisbach genommen hatte und allmorgendlich die dreieinhalb Kilometer mit dem Fahrrad zum Quellenhof fuhr. Dort zog er sich dann die Mütze vom Kopf, und das dunkelblonde Haar stand ihm wie Igelborsten um den Kopf. Hatte er Freunde, Familie, irgendjemanden, der auf ihn wartete? Oder ging es ihm so wie ihr, die allabendlich eine leere Wohnung betrat und den Anrufbeantworter ins Visier nahm? Vielleicht suchte jemand Kontakt zu ihr … was so gut wie nie der Fall war.
Paul war jung. Er konnte noch beizeiten vorsorgen. Für sie, Irene, war es wohl schon zu spät. Seit sie Paul kannte, fielen ihr immer wieder die Bibelsprüche ihrer Kindheit ein, vielleicht weil Paul auch mal Theologie studiert hatte. Sorget euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Der Evangelist Matthäus hatte gut reden. Klar, das Leben war mehr, bestand auch aus Freundschaft, Liebe, Zuneigung. Nur wie man sich das erwerben konnte, hatte der wackere Apostel nicht verraten.
Irene hatte nicht vorgesorgt. Hoffentlich war Paul ein bisschen klüger.
»Ich finde«, sagte er nun, »dass wir dem Kater Emil im Chefbüro auch Wasser, Futter und ein eigenes Klo anbieten sollten.« Gleich darauf machte er sich auf den Weg, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Ein Mann, ein Wort!
Aus den Augenwinkeln nahm Irene wahr, dass Edda gerade wieder auf den Hof fuhr. Allen war klar, dass sie Irene auch deshalb zu ihrer Stellvertreterin gemacht hatte, damit sie jeden Mittag heimfahren und ihren Mann und die Kinder bekochen konnte.
Irene dagegen genoss die Zeit, wenn sie allein im Büro saß, eine Kanne Tee trank und die Stullen, die sie morgens vorbereitet hatte, in aller Ruhe essen konnte. Heute allerdings hatte sie ihre Mittagspause verpasst, da Cindy ihr in die Quere gekommen war, um den Hund Birke ins Unglück zu stürzen. Und so eine wollte Tierheilpraktikerin werden. Unfassbar!
»Alles in Ordnung?«, fragte Edda.
Irene nickte. »Wir haben eine neue Schreibkraft.« Sie wies auf Emil, der es sich mittlerweile im Besuchersessel bequem gemacht hatte. Dass sie Birke eine schreckliche Zukunft erspart hatte, behielt sie für sich. Ob Cindy das Thema ansprechen würde?
»Schau mal!« Edda stellte ihre große Handtasche auf den Tisch und zog zwei Papierblätter heraus. »Es sind wieder Katzen verschwunden. Und schon wieder quasi vor unserer Nase. Diese neuen Suchmeldungen habe ich gerade von den Bäumen gepflückt. Entlang der Straße ist alles damit vollgepflastert.«
Sie platzierte das Foto eines schwarz-weißen Katers auf dem Tisch. Auffällig an ihm war sein fast weißer Kopf mit zwei dicken schwarzen Punkten, einer auf dem Nasenrücken, einer unterhalb der Unterlippe. Das Tier hatte eine Mimik, als wäre es mit seinem Schmollmund auf Schmusekurs. Irene schluckte. Den hätte sie vermutlich auch mitgenommen, zumindest mit ihm geschmust. »Ein hübscher Kerl!«
»Er heißt Findus.« Edda wies auf die Suchmeldung. Verschwunden seit gestern Abend. Und dann, gleich um die Ecke, fand ich mindestens zehn dieser kleinen Plakate. Unsere liebe Lucy hat sich vermutlich verlaufen. Wer immer sie findet, möge sie bitte sofort nach Hause bringen. Finderlohn.
Abgebildet war eine norwegische Waldkatze, braun-grau getigert und mit großen, fast gelben Augen.
Edda seufzte. »Gerade diese Tiere brauchen viel Bewegung. Ich will mir gar nicht vorstellen, dass Lucy entführt und in einer winzigen Wohnung gefangen gehalten wird.«
Irene betrachtete beide Bilder. »Du sagst, die Katzen sind seit gestern Abend verschwunden?«
»Exakt.«
»Da denke ich an das Telefonat von heute früh. Vielleicht ist da ja doch was dran. Also, ich ginge der Sache gerne mal nach.«
Edda bedachte ihre Freundin mit einem langen Blick. »Lass mich darüber nachdenken! Hab ich mir eigentlich die Nummer der Anruferin notiert? Vermutlich nicht. Da geh ich doch am besten gleich zur Zentrale, das Telefon dort speichert die letzten zehn Anrufer. Hoffentlich sind seitdem nicht zwölf eingegangen. Dann haben wir keine Chance mehr.«
Es war schon fast zwei Uhr mittags, als Irene endlich ihr Pausenbrot auspacken und an den Möhren- und Selleriestiften knabbern konnte. Dabei fühlte sie sich immer ein wenig den Kaninchen verwandt. Gelegentlich dachte sie bei sich, dass es sicher nicht normal war, sich so sehr mit dem Tierheim und dessen Insassen zu identifizieren, aber ihr tat es gut. Und darum ging es ja vor allem. In diesem, ihrem zweiten Leben.
Während sie in ihrem ersten Leben jeden Mittag die Kantine besucht hatte, kochte sie inzwischen abends für sich, wobei sie sich das Zusammenstellen von Gerichten erst mühsam hatte beibringen müssen, sich aber inzwischen auf ihr abendliches Ritual freute. Zu Beginn ihrer Kochaktionen war viel danebengegangen, falsch gewürzt gewesen oder auch verbrannt. Einmal hatte sie aus Versehen in den Zucker- statt in den Salztopf gegriffen. Diese Phase lag inzwischen glücklicherweise hinter ihr. Nun hielt sie sich genau an die Rezeptangaben, die aber waren fast immer für vier Personen berechnet. Und das war die Krux.
So nämlich war es nicht zu vermeiden, dass sie sich drei oder vier Tage lang das Gleiche vorsetzte und bei der letzten Portion jammerte wie ein verwöhntes Kind, weil es schon wieder etwas von gestern und vorgestern gab. Aber eine Kühltruhe für nur eine Person? Das lohnte sich doch nicht!
Neben ihrer Teetasse lagen nun die Fahndungsbilder mit den Überschriften Findus und Lucy. Sie heftete sie zu den anderen acht Gesuchten an die Pinnwand und betrachtete sie lange. Zehn Tiere in zehn Tagen. Alle gesund und gepflegt. Wurde etwa an jedem Tag eine Katze oder ein Kater entführt? Das hatte System. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Was genau noch mal war in dem Telefonat am Vormittag gesagt worden, das Edda so ungewöhnlich schnell abgewickelt hatte?
Irene erinnerte sich, dass ihr erster Gedanke beim Mithören Eifersucht gewesen war, und stellte sich nun zwei Kolleginnen vor, so eng miteinander vertraut wie sie und Edda. Oder möglicherweise noch vertrauter? Mit Edda war Irene nämlich noch nie abends ins Kino oder auf einen Absacker in eine Bar gegangen. Egal. Die zwei gedachten Kolleginnen im selben Büro mussten miteinander eng befreundet sein. Und ganz plötzlich entzog sich die eine der anderen, hatte angeblich abends keine Zeit mehr. An einem Mann liege es nicht, hatte die Anruferin behauptet, und bis auf die überstürzten abendlichen Aufbrüche ihrer Kollegin sei ja sonst alles normal, alles wie immer. Nun ja, sie kam eben nicht mehr wie aus dem Ei gepellt ins Büro. Aber sonst … es habe weder Unstimmigkeiten noch Streit gegeben.
Nur … was hatte das schon zu sagen? Zwischen Irenes Eltern gab es ebenfalls nie Unstimmigkeiten oder Streit. Vor allem allerdings deshalb, weil sie sich mit Bedacht aus dem Weg gingen. Es gab viele Wege der Entfremdung, und manche waren mit einem unechten Lächeln gesäumt.
Sie empfand es als ärgerlich, dass sie sich so intensiv mit einem Telefonat beschäftigte, das sie gar nicht selbst geführt hatte. Jetzt musste Schluss damit sein! Nun gut, einen Gedanken erlaubte sie sich noch: Warum musste jemand von heute auf morgen täglich so früh nach Hause? Als einleuchtende Erklärung bot sich lediglich all das an, was unter dem Begriff Fürsorge zusammengefasst werden konnte. Entweder kümmerte man sich um ein Tier oder um eine arme Verwandte, die rund um die Uhr gepflegt werden musste.
Gleich darauf verwarf Irene letzteren Gedanken. Für solche Fälle gab es Pflegeheime. Am wahrscheinlichsten hatte die nun unter Zeitdruck stehende Kollegin einen Hund oder eine Katze bei sich aufgenommen. Aber warum verschwieg sie das? Daran war doch nichts Verwerfliches! Es sei denn, bei dieser Aktion handelte es sich um etwas Illegales. Vielleicht Flüchtlinge? Aber die konnten sich selbst versorgen und mussten nicht gefüttert werden.
Seit etwa einem Jahr war Irene mit allen Fernsehkommissarinnen und -kommissaren vertraut, ein Laster, das sie sich in ihrem ersten Leben niemals erlaubt hätte. Nun hatte sie das prickelnde Gefühl, eine wichtige Fährte entdeckt zu haben. Nur so wurde ein Schuh draus. Eine überhastete allabendliche Heimkehr war eindeutig der Beweis dafür, dass dort Tiere versorgt werden mussten. Pflanzen konnten warten.
Sie sah Edda auf sich zukommen. »Hast du die Telefonnummer?«, fragte sie. »War sie noch gespeichert?«
»Ja.« Zögernd reichte ihr Edda einen Zettel.
»Dann ruf ich da mal an.«
»Willst du dir das nicht doch noch mal überlegen?«
»Warum?«
»Weil … ich habe kein gutes Gefühl. Für mich klingt das nach einer psychisch kranken Frau. Und wir haben weiß Gott genug kranke Tiere, um die wir uns kümmern müssen. Menschen gehören nicht in unsere Liga. Und außerdem … was willst du denn fragen? Etwa: ›Hallo, haben Sie zufällig Katzen entführt, und wenn ja, wie viele?‹«
Edda mit dem unglaublich großen Herzen, in dem doch immer Platz für alle war, egal, ob Mensch oder Tier, räumte der Anruferin von heute früh keinen Quadratzentimeter frei und bezeichnete sie auch noch mit abwertender Geste als Denunziantin. Was war da nur los?
Irene blieb standhaft. »Ich rede doch erst einmal mit der Frau, die bei dir angerufen hat. Denunziantin oder nicht. Und nicht mit der möglicherweise psychotischen Entführerin. Von der wissen wir ja nichts. Und überhaupt … wäre es kein riesiger Zufall, wenn wir einen Treffer landen und ausgerechnet bei der alle verschwundenen Tiere fänden? Du selbst sagst doch auch immer: ›Versuch macht kluch.‹«
Weiterhin skeptisch, hob Edda die Schultern. »Wie du meinst. Aber eins solltest du bedenken: Katzenhaare an der Kleidung sind kein stichhaltiger Beweis dafür, dass jemand Tiere stiehlt.«
»Ich will doch nur mit ihr reden.«
»Na gut, dann führst du eben dein Gespräch. Werde mal wieder Soziologin und starte eine Feldforschung zum Umgang mit Tieren.« Edda spielte damit auf Irenes frühere Existenz als Wissenschaftlerin an. »Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«
»Vielleicht die Adresse der Verdächtigen?«, fragte Irene und verfiel damit in den Ton einer Fernsehkommissarin. Gleich darauf bot sie schon den folgenden Schritt an. »Im Anschluss daran könnten wir zu der Wohnung fahren und checken, ob da Katzennetze in offenen Fenstern installiert sind oder gar ein Netz über dem Balkon hängt.«
»Es ist Sommer«, sagte Irene. »Da stehen viele Fenster offen. Und denk dran, auch Fliegengitter können Katzen am Weglaufen hindern. Wie willst du das jemals alles überprüfen?«
»Gib mir eine Chance! Danach gebe ich wieder Ruhe.«
»Du machst ja doch, was du willst.« Edda lachte. »Und genau das schätze ich an dir.«
Irene staunte. Dieses Bild also hatte man hier im Quellenhof von ihr? Nicht schlecht!
Zufrieden lehnte sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück und griff zum Telefon. Nach zweimaligem Läuten wurde abgehoben.
»Hallo, ich bin Doktor Irene Thannberg vom Tierheim in Passbrunn«, stellte sie sich vor. »Haben Sie heute Vormittag mit uns Kontakt aufgenommen?«
»Ja. Warten Sie! Ich gehe mit dem Telefon nach draußen, um meine Kollegin nicht zu stören.«
Nun war das Öffnen und Schließen einer Tür zu hören. Dann ein überraschter Aufschrei. »Toll, ich hätte nie gedacht, dass Sie zurückrufen! Super!«
»Erzählen Sie mir bitte noch einmal, worum genau es geht.«
»Wie, Sie haben noch nichts unternommen?«
»Was hätten wir denn tun sollen?«
»Nadjas Wohnung untersuchen«, flüsterte die Stimme, und erst jetzt stellte sich die Angerufene als Doris Ott vor. »Wissen Sie, ich mache mir Sorgen. Nadja hat für nichts mehr Zeit, nur noch für ihre Arbeit. Und dann rennt sie nach Hause, als würde dort ein Riesenstressfaktor auf sie warten … als hätten wir davon nicht schon genug.«
»Vielleicht verfolgt sie gerade eine spannende Fernsehserie«, bot Irene halbherzig an und spürte selbst, wie albern diese Vermutung klang.
»Nee, die guckt nur Mediathek.« Doris ging tatsächlich darauf ein und schien ihre Freundin in- und auswendig zu kennen.
»Wir wissen ja noch nicht einmal, wo diese Wohnung ist, geschweige denn, wie die Eigentümerin heißt«, gab Irene zu bedenken und fragte sich gleichzeitig, ob es ihr recht wäre, wenn sich jemand so in ihrem Leben auskannte.
»Nadja Herzog«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Und die Adresse gebe ich Ihnen auch sofort. Aber wie geht es dann weiter?«
Irene zögerte. »Nun, ich will Ihnen nicht zu viel versprechen, aber ich selbst führe heute nach Feierabend mal durch die Straße, in der Frau Herzog wohnt, und sähe nach, ob mir an dem Haus irgendwelche Anzeichen für Katzenhaltung auffallen. Sind Sie sich eigentlich sicher, dass es sich um Katzen handelt? Es könnten doch auch Meerschweinchen, Chinchillas, Hamster, Kaninchen, Frettchen, Minischweine oder Rennmäuse sein.« Irene bot alle Tierarten aus dem Tierheim an.
»Nadja liebt Katzen. Natürlich sind es Katzen!«
»Unter uns …«, bemühte Irene sich um einen vertrauensvollen Ton. »Wenn Ihre Freundin sich eine Katze hält, so ist das doch ihr gutes Recht. Solange sie sich um das Tier kümmert, ist alles in Ordnung.«
»Ginge es nur um eine Katze«, widersprach Doris Ott ungeduldig, »würde sie es mir sagen. Unter uns: Sie müffelt seit einiger Zeit auch ein bisschen. Vielleicht hat sie zwanzig Tiere? Ich habe Atemnot und eine Katzenallergie.«
Irene schluckte, denn plötzlich schrillten bei ihr alle Alarmglocken. Sie drehte ihren Schreibtischstuhl und betrachtete die Pinnwand mit den Fotos der zehn vermissten Katzen. Gab es da einen Zusammenhang?
»Nadja wohnt im zweiten Stock«, verriet Doris. »Mit einem Eckbalkon nach Südwest. Bis vor Kurzem haben wir dort abends oft gesessen und ein Glas Wein getrunken. Doch das ist nun alles vorbei.« Sie klang wehmütig, fast beleidigt. »Dicht an der Balkonecke steht ein Oleanderbäumchen. Also, machen Sie sich auf den Weg, und wissen Sie, was?«, schlug sie in verschwörerischem Ton vor. »Ich könnte versuchen, meine Kollegin noch etwas aufzuhalten, falls Sie Zeit für Ihre Recherchen brauchen.«
Irene fragte sich, wie Doris ihr Schreibtischgegenüber aufhalten wollte. Das müsste dann ja ein ganz spezieller Trick sein, da alles andere wie beispielsweise Essenseinladungen, Kino- und Konzertbesuche sowie Feierabenddrinks nicht gegriffen hatten.
»Nein, nein!«, wiegelte sie ab. »Unternehmen Sie nichts! Wir schauen erst mal von außen und melden uns dann wieder.« Oder auch nicht, dachte sie.
»Geben Sie mir Ihre Durchwahl? Kann ich Sie dann wieder anrufen?«, fragte Doris neugierig.
»Ja, aber frühestens morgen am späten Nachmittag. Ich muss erst einmal sehen, ob und wie ich das alles unter einen Hut kriege.«
»Hauptsache, Sie tun etwas!« Selten hatte jemand so erleichtert geklungen.