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Als Malwine Brunner tot im Schwimmbecken der Bad Griesbacher Therme treibt, steht für die Kripo in Passau fest: Die alte Dame ist eines natürlichen Todes gestorben, schließlich lernte sie gerade erst Schwimmen. Der herbeigerufene Arzt tippt auf Herz-Kreislaufversagen. Doch Adolf Schmiedinger bleibt misstrauisch und finanziert auf eigene Kosten eine Obduktion. Das Ergebnis macht auch Kommissarin Franziska Hausmann stutzig, und sie beschließt, der Sache selbst nachzugehen. In Kleinöd interessiert man sich jedoch gerade für andere Dinge als den Tod der alten Brunnerin. War die verstorbene Agnes Harbinger wirklich eine Heilige, wie die Schwester des Pfarrers behauptet? Und was hat es mit der angeblich wundertätigen Quelle auf sich? Und dann gibt es auch noch eine weitere Leiche ...
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ISBN 978-3-492-98365-5 © Piper Verlag GmbH, München 2012 © dieser Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: Lorraine Logan / www.shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Zwei Jahre später
Danksagung
Prolog
Reflexartig hatte der Bademeister den Notrufknopf gedrückt und nach einem Arzt gerufen. Irgendetwas stimmte da nicht: Seine erste und einzige Privatschülerin lag rücklings und mit weit aufgerissenen Augen im sechsunddreißig Grad warmen Wasser. Verzückte Verwunderung umspielte ihre bläulichen Lippen, und er war davon überzeugt, dass sie etwas Außerordentliches gesehen haben musste. Allerdings befand sich in der großen Schwimmhalle niemand außer ihnen beiden. Nicht einmal ein verirrter Spatz.
Es war Mittwoch, der 2. September, und die Uhr an der gekachelten Stirnwand der Halle zeigte fünf vor zwölf. Bereits um drei Minuten nach zwölf traf einer der Kurärzte ein, untersuchte die Frau im schwarzen Badeanzug, schloss ihr die Augen und stellte ungerührt den Totenschein aus.
»Benachrichtigen Sie die Angehörigen, die Leiche kann abgeholt und bestattet werden«, meinte er.
Der Bademeister schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann doch nicht sein.« Er ging zu seinem Spind und kam mit einem Attest zurück. »Schauen Sie, diese Frau war erst kürzlich beim Kardiologen, die ging wirklich auf Nummer sicher. Und hier haben wir ein Attest, das sie zum Hochleistungssport befähigt. Das hat sie mir stolz vorbeigebracht. ›Maximale Belastung von zweihundert Watt, die aerobe Schwelle mit Anstieg des Laktats im Blut erfolgte erst bei einhundertsechzig Watt‹.«
Der Kurarzt hob die Augenbrauen. »Was wollen Sie denn damit andeuten, Sie Besserwisser?«
»Die Frau ist vergiftet worden«, erklärte der Bademeister. »Ich rufe jetzt die Polizei.«
»Machen Sie doch, was Sie wollen«, murmelte der drahtige Kerl mit dem grauen Stoppelhaar und der randlosen Brille, wusch sich in aller Ruhe die Hände und ging zurück in die Kantine zu seinem Mittagessen.
Dem Bademeister war der Appetit vergangen. Fassungslos saß er neben der Toten und schüttelte den Kopf. Wie hatte sie ihm das nur antun können? Ausgerechnet jetzt, wo sie beide so wunderbare Fortschritte gemacht hatten …
Kapitel 1
Um viertel nach zwei läutete in der Polizeidienststelle Landau das Telefon. Hauptkommissarin Franziska Hausmann warf ihrem jüngeren Kollegen Bruno Kleinschmidt einen fragenden Blick zu, doch der war mit der Kaffeemaschine beschäftigt und zelebrierte gerade die Zubereitung seines mittäglichen Cappuccinos, indem er zwei Tassen vorwärmte, die Bohnen frisch mahlte und die Milch mit heißem Dampf aufschäumte.
»Polizeistation Landau, Mordkommission, Hauptkommissarin Hausmann am Apparat«, meldete sich Franziska formvollendet.
»Frau Hausmann, stellen S’ sich des mal vor, da hat mich grad ein Kolleg aus Bad Griesbach angerufen und mir g’sagt, ich soll die Brunnerin überführen, Sie wissen scho, die Malwine. Die ist da einfach so g’storben und soll jetzt beerdigt werden. Ham die g’sagt. Aber garantiert steht da noch ihr Auto rum, und in ihrem Auto sitzt g’wiss ihr Hund, dieser Joschi. Und ich weiß ned – können Sie nicht mal mit denen reden? Des geht doch alles viel zu schnell!«
Franziska hatte die Stimme sofort erkannt. Sie gehörte dem Polizeiobermeister Adolf Schmiedinger aus Kleinöd.
»Ich? Und warum?« Verärgert hob sie die Augenbrauen. »Wieso haben die eigentlich bei Ihnen angerufen? Eigentlich müssten doch die Angehörigen informiert werden.«
Schmiedinger seufzte. »Des is a lange G’schicht. Also, der Brunnerhof ist vor a paar Wochen eingemeindet worden. Der g’hört jetzt zu uns. Und weil die Malwine keine Angehörigen mehr hat, ist jetzt die Gemeinde für ihre Bestattung zuständig. Aber wenn ich des dem Bürgermeister sag – nachad ist die alte Brunnerin im Handumdrehen beerdigt, und keiner weiß, wie und warum sie so plötzlich verstorben ist. Deswegen ruf ich Sie an. Da stimmt g’wiss was ned.«
»Das war grundsätzlich die richtige Entscheidung, Herr Kollege. Was sagt denn der Arzt?«
»Der Kollege aus Bad Griesbach hat mir den Totenschein vorg’lesen. Da steht Herzversagen.«
»Nun, dann wird es wohl so sein.« Franziska seufzte und beobachtete Bruno, der das Milchhäubchen auf seinem Cappuccino mit Kakao bestäubte.
»Ja, aber des kann ned stimmen!« Adolf Schmiedingers Stimme kippte. »Die war pumperlg’sund, der ging’s endlich amal so richtig gut. Gestern hab ich sie noch g’sehn, wie sie mit ihrem Joschi hier bei mir vorbeispaziert ist. Und so freundlich hat sie gegrüßt und g’meint, ich sollt mir doch auch a Hunderl zulegen. Einen aus dem Tierheim in Passbrunn, weil die doch so besonders gut erzogen san …«
Franziska, die ahnte, dass ein ausführlicher Vortrag folgen würde, unterbrach ihn schnell: »Was genau kann ich denn jetzt tun?«
Am anderen Ende der Leitung wurde aus tiefster Seele geseufzt, und die Kommissarin sah den Polizeiobermeister vor sich, wie er allein in seiner winzigen Kleinöder Station saß und vor Verzweiflung schwitzte, ja, sie roch ihn förmlich und hielt deshalb ihre Nase über den dampfenden Cappuccino, den Bruno vor sie hingestellt hatte.
»Die dürfen die Brunnerin ned einfach so beerdigen. Da stimmt was ned«, wiederholte der Polizeiobermeister.
»Wer ist die?«
»Na, die Gemeinde, also der Bürgermeister. Bittschön, können S’ ned irgendwas tun?«
Franziska zögerte. Ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der erste Eindruck, das spontane Gefühl des »Da-stimmt-was-nicht«, oft richtig war, und je mehr sie darüber nachdachte, umso eigenartiger erschien auch ihr dieser plötzliche Todesfall.
Malwine Brunner! Erst hatte sie ihren Sohn verloren, dann den Mann, schließlich die Schwester – und jetzt lebte sie selbst nicht mehr. Die letzte ihres Stammes, wie es im Dorf geheißen hatte – und die Bäuerin mit dem größten Landbesitz.
»So alt war die Malwine Brunner doch gar nicht, oder?«
»Naa, noch ned amal siebzig«, bestätigte Adolf Schmiedinger.
Franziska schwieg und biss sich auf die Lippen. Sie dachte an den Totenschein und fragte sich, ob der Herzinfarkt vielleicht nur ausgesehen hatte wie ein Herzinfarkt. Letztlich konnte das nur mit einer Obduktion geklärt werden.
Sie spürte förmlich die Ungeduld am anderen Ende der Leitung und versprach: »Okay, ich rede mit dem Staatsanwalt.«
Als habe Schmiedinger nur auf diesen Satz gewartet, fiel er ihr keuchend ins Wort: »Ja, aber schnell, ned dass die die sofort beerdigen oder gar feuerbestatten. Ist alles scho passiert, wie Sie wissen.«
»Ich rufe ihn gleich an, versprochen. Innerhalb der nächsten Stunde melde ich mich wieder bei Ihnen.«
»Dann mach ich jetzt erst mal nix?« Adolfs Stimme klang gleichermaßen ängstlich wie erwartungsvoll.
»Exakt.«
»Kleinöd?«, fragte Bruno wenig später und verdrehte die Augen. »Ich fass es nicht. Dreihundertsiebenundzwanzig Einwohner und jedes halbe Jahr ein Kapitalverbrechen! Als hätten die ein Abo auf unsere Ermittlungsdienste. Wer ist jetzt dran?«
»Malwine Brunner.« Franziska nahm einen Schluck Cappuccino. »Aber gestorben ist sie in Bad Griesbach. Und das gehört zu Passau.«
»Super, dann geht uns das nichts an. Lass bloß die Finger davon.« Bruno durchmaß das Büro mit ausladenden Schritten. »Ich hab meine nächsten Weekends schon verplant.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Franziska und beobachtete ihren Kollegen, der in seinen Designerjeans und Edelschuhen sowie einem perfekt gebügelten Hemd durchs Zimmer flanierte wie auf einer Strandpromenade. Vermutlich hatte er die kommenden Wochenenden auf dem Golfplatz verplant oder jobbte nebenher als Model.
Alles an ihm war vollkommen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Franziska sich nichts sehnlicher gewünscht, als Bruno einmal mit einem Pickel zu sehen, mit fettigem Haar oder Herpesbläschen, weniger vollkommen, vielleicht mit schmutzigen Fingernägeln, einem abgerissenen Knopf, staubigen Schuhen. Aber Bruno war immer tadellos. Tadellos gepflegt und tadellos gekleidet. Ein Mann aus einer anderen, einer besseren Welt, den es in die Niederungen des Landauer Kommissariats verschlagen hatte.
Sie seufzte und wählte die Nummer des Staatsanwalts.
»Eine Obduktion? Nein, wirklich nicht. Seien Sie mir nicht böse. Das geht nicht, erst recht nicht, wenn es schon einen Totenschein gibt und der Arzt die Leiche freigegeben hat. Was meinen Sie, was der Bundesrechnungshof dazu sagen würde? Nein, für so was kann ich unsere Steuergelder nun wirklich nicht hergeben. Das hält keiner Prüfung stand.«
Um fünfzehn Uhr dreißig an diesem 2. September wählte Franziska die Nummer der Polizeiaußenstelle in Kleinöd. Adolf Schmiedinger meldete sich sofort.
»Ja?« Seine Stimme klang erwartungsvoll.
Franziska schluckte. »Es tut mir leid, der Staatsanwalt sieht keinen Handlungsbedarf.«
Schmiedinger schien nicht gleich zu verstehen, was sie meinte. »Und was heißt des nachad?«
»Dr. Steller stimmt einer Obduktion nicht zu. Seiner Meinung nach dürfen öffentliche Gelder nicht so verschwendet werden.«
Schmiedinger schnappte nach Luft. »Verschwendung, der hat echt von Verschwendung geredet? Ich glaub’s ned! Wissen S’, was Verschwendung ist? Dass diese Bildhauerin bei mir nebendran, dass die einen Staatspreis nach dem andern kriegt und immer wieder geehrt wird für ihre grauslichen Skulpturen. Ja, die weiß gar ned mehr, wohin mit all dem Geld … Aber bei der ist es dann Kultur, und für Kultur kann man Geld rausschmeißen, aber wenn da so eine arme Mitbürgerin, die keine Verwandten mehr hat und nach der kein Hahn kräht, also wenn so eine wie die Malwine hinterrücks umgebracht wird, dann wird kein Cent ausgegeben, um den Mörder zu fassen!« Er hustete vor Wut und behauptete dann kühn: »So ein Kurarzt, der hat doch noch nie eine Tote gesehen, der kennt doch gar ned die Sprache der Gewalt. Sicher hat der nur festgestellt, dass die Brunnerin hin ist, und dann schnell Herzversagen aufgeschrieben – aber warum hat ihr das Herz versagt? Des ist doch die Frage!«
»So sehe ich das auch«, stimmte ihm Franziska zu. »Wir könnten eine Privatobduktion anordnen, aber die kostet Geld.«
»Wieviel?«
»Mit tausend Euro kann man da schon rechnen.«
»Ha, die nehm ich doch von meinen Steuergeldern«, triumphierte Adolf. »Die vom Innenministerium ham mir nämlich für dies Jahr einen Sachkostenzuschuss von zweitausend Euro genehmigt, und von dem hab ich noch nix verbraucht. Weil ich so ein sparsamer Depp bin und immer denk, ich muss für unseren verschuldeten Staat sparen. Den Zuschuss, den ruf ich dann ab – und bis dahin streck ich das Geld vor. So viel ist mir die Malwine allemal wert. Und wie geht’s jetzt weiter?«
Franziska, die den Polizeiobermeister an dieser Stelle eigentlich hätte aufklären müssen, dass so ein Sachkostenzuschuss wohl kaum für eine Obduktion verwendet werden durfte, sah ihren Kollegen Bruno kopfschüttelnd am Schreibtisch sitzen und wusste: Wäre der vor knapp zwei Stunden ans Telefon gegangen, hätte er den Schmiedinger Adolf samt all seiner Bedenken abgewürgt und sich vermutlich nicht einmal den Anlass des Anrufs genauer angehört. Und sie hätte nichts von dem Gespräch erfahren.
Jetzt erst recht, dachte sie trotzig und schlug ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung vor: »Wenn das so ist, stelle ich auf meine Verantwortung eine Verfügung zur Privatobduktion aus und setz mich mit unserem Gerichtsmediziner in Verbindung. Auf Herrn Wiener ist Verlass. Wenn da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist – Gustav Wiener wird es herausfinden. Ich denke, es ist am besten, wenn er direkt ins Klinikum Passau fährt. Immerhin sind die Kollegen aus Passau für diesen Fall zuständig. Ich würde mich darum kümmern, dass die sterblichen Überreste der Frau Brunner auch tatsächlich dorthin gebracht werden. Was halten Sie davon?«
»Ja, das ist gut, dankschön.« Er seufzte. »Wenn sie die Malwine bloß ned vorher verbrennen. Weil, dann ist alles zu spät.«
Noch am gleichen Nachmittag wurde der Leichnam in einen Zinksarg gelegt und durch ein Beerdigungsunternehmen von Bad Griesbach nach Passau überführt.
Er hatte sie noch nie zu Hause angerufen, was vor allem daran lag, dass er eine absolut romantische Vorstellung vom Heim anderer Menschen hatte. Er rief so gut wie niemanden zu Hause an. Geborgen stellte er sich die Feierabende der anderen vor: wenn man heimkam, und da war schon jemand und hatte Licht gemacht.
Dr. Gustav Wiener selbst hatte nie ein solches gemütliches Zuhause besessen, und je älter er wurde, desto mehr idealisierte er das Heim der anderen, stattete es mit weichem Licht, warmen Räumen und der Gewissheit des Behütetseins aus.
Während seiner spärlichen Freizeit zappte er sich in seiner lieblos eingerichteten und ungemütlichen Wohnung per Fernbedienung durch die Werbespots sämtlicher Fernsehprogramme. Einzig dort gab es heile und glückliche Familien.
Jetzt saß er in der Cafeteria des Passauer Klinikums und starrte ihre Karte an. Mit grünem Filzstift hatte sie darauf vor sechs Stunden ihre privaten Telefon- und Handynummern notiert und ihn eindringlich gebeten: »Rufen Sie mich sofort an, immer und zu jeder Zeit.« Aber was hieß das schon? Konnte er sie auch jetzt noch anrufen? Um zehn Uhr abends?
Er hatte sich drei Stunden lang mit der Leiche beschäftigt, und dabei war ihm klar geworden, dass nun die gesamte Brunnerfamilie durch seine Hände gegangen war: erst der Sohn Hermann, dann Hermanns Vater Hannes und nun auch die Mutter. Einzig der Ehemann von Malwine war nicht gewaltsam ums Leben gekommen. Dabei hatten sicher auch die Brunners auf ihrem abgelegenen Hof irgendwann einmal mit ihrer Familienidylle begonnen und sich ein gemütliches Heim geschaffen.
Der Gerichtsmediziner seufzte. Die Realität des Familienlebens war vermutlich nicht annähernd so stabil wie in seiner gedanklichen Konstruktion. Kaum gab mal einer nicht acht, schon brach das Unglück herein. Bei diesem Gedanken war Gustav Wiener froh, sich dieser Gefahr erst gar nicht ausgesetzt zu haben. In den spärlichen Rendezvous seiner Vergangenheit hatte er auf dieses Gefühl der Nähe und des unendlichen Glücks gewartet und gehofft, es möge über ihn kommen wie eine gewaltige Welle makelloser Empfindungen – aber entweder akzeptierten die Frauen ihn nicht so, wie er war, oder bei ihm selbst entstand in ihrer Gegenwart ein hohles und leeres Gefühl, sodass er insgeheim dachte, es könne, ja, es müsse noch was Besseres kommen.
Inzwischen war es zweiundzwanzig Uhr und fünf Minuten. Der Gerichtsmediziner hatte zwar in Landau eine Wohnung, aber kein Zuhause. Daher mietete er sich für die Nacht in einem Hotelzimmer ein. Mit einem Weißbier light saß er nun als einziger Gast in der Lobby und starrte auf sein Handy. Konnte er es wirklich wagen, um diese Zeit noch anzurufen?
Einzig die Vorstellung, dass sich die Dinge hinter seinem Rücken beschleunigen, dass sich Schmiedingers schlimmste Erwartungen bestätigen und jemand tatsächlich die Leiche abtransportieren und feuerbestatten könnte, und das alles, bevor der Autopsiebefund amtlich wäre, ließ ihn das für ihn fast Unmögliche tun. Er holte tief Luft, tippte eine Zahlenfolge in sein Handy und wartete ab.
»Ja, Hausmann?« Ihre Stimme klang angespannt.
»Ich bin’s, Gustav Wiener.«
»Und?«
Augenblicklich bekam er ein schlechtes Gewissen. Vermutlich hatte er doch ihre Feierabendidylle zerstört. Er beschloss, es kurz zu machen, und berichtete so sachlich wie möglich: »Die Frau ist zwar an Herzversagen gestorben, aber dieses Herzversagen wurde gezielt herbeigeführt. Und zwar auf ziemlich hinterhältige Weise. Da hat sich jemand nicht nur Zeit genommen, nein, die ganze Geschichte wurde von langer Hand geplant. Malwine Brunner ist systematisch vergiftet worden. Ich weiß bloß noch nicht, womit, da muss ich noch ein paar Untersuchungen machen. Dann erfahren Sie Einzelheiten.«
»Und nun? Was schlagen Sie vor?« Ihre Stimme klang schon ein wenig freundlicher.
Gustav Wiener entspannte sich. Die Tote barg ein Rätsel, aber er würde es lösen. Und zwar mithilfe der Kommissarin. »Beschlagnahmen Sie die Leiche, und lassen Sie sie so schnell wie möglich nach Landau schaffen.« Vertraulich fügte er hinzu: »Die vom Klinikum haben mir übrigens vorhin mitgeteilt, dass die Gemeinde Kleinöd bereits ein hiesiges Institut mit der Bestattung beauftragt hat. Als könnten sie es nicht erwarten. Außerdem scheint es gar keine Verwandten mehr zu geben. Sie sehen also, die Ängste Ihres Polizeiobermeisters sind durchaus berechtigt. Ich bleibe über Nacht in Passau. Wir sehen uns dann morgen.«
Er sah die Kommissarin vor sich, wusste genau, wie sie nun die Augenbrauen hob und die Stirn in Falten legte. Und er wusste auch: Franziska Hausmann würde sich dieses Falls annehmen. Er hörte, wie sie beim Einatmen die Luft durch die Zähne zog. Dann fragte sie: »Morgen? Bei Ihnen im Krankenhaus?«
»Ja.« Er nickte.
Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war. Er verließ das Hotel und suchte sich ein griechisches Restaurant mit Donaublick. In der Fensterfront sah er sein Spiegelbild, seinen einzigen Vertrauten, erhob sein Glas und nahm einen großen Schluck von dem harzigen Retsina, den er sich bestellt hatte.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt, Herr Staatsanwalt«, sagte Franziska, griff zu ihrem Weinglas und lehnte sich gemütlich zurück. Lautlos prostete sie ihrem Mann zu und stellte in sachlichem Ton klar: »Jetzt muss der Steuerzahler wohl doch ran. Meines Wissens ist Mord keine Privatsache mehr.«
Zufrieden nahm sie wahr, wie Dr. Steller am anderen Ende der Leitung den Ton der gerade laufenden »Tagesthemen« drosselte.
»Was für ein Mord?«
»Der, für den ich heute Mittag die Anordnung einer gerichtlichen Obduktion von Ihnen wollte.«
»Die ich Ihnen nicht gegeben habe, wenn ich mich recht entsinne. Es gab doch schon einen Totenschein, oder?«
»Ja, aber meinem Kollegen erschien der plötzliche Tod dieser rüstigen Dame reichlich suspekt. Und deshalb hat er auf eigene Kosten eine Privatobduktion veranlasst. Das Ergebnis liegt nun vor. Die Frau ist vergiftet worden.«
Dr. Steller räusperte sich. »Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, dass es sich um die Mutter oder Frau eines Kollegen handelt?«
»Die sind nicht miteinander verwandt«, belehrte Franziska ihn. »Wussten Sie eigentlich, dass nur zwei Prozent aller Todesfälle gerichtlich untersucht werden?«
»Ich habe davon gelesen. Das heißt aber auch, dass achtundneunzig Prozent aller Menschen eines natürlichen Todes sterben.«
»So kann man es auch sehen«, murmelte Franziska.
»Was wollen Sie?« Dr. Steller klang ungeduldig.
»Beschlagnahmen Sie die Leiche, lassen Sie sie nach Landau bringen, und beauftragen Sie mich mit den Ermittlungen.«
»Das geht nicht. Der Tatort liegt im Landkreis Passau, und wir sind da nicht zuständig.«
»Ja, sie ist vielleicht in Bad Griesbach verstorben – aber vergiftet wurde sie in Kleinöd. Glauben Sie mir, Frau Brunner ist systematisch vergiftet worden, über Wochen hinweg – das hat der Gerichtsmediziner herausgefunden.«
»Frau Hausmann, es gibt für alles Regeln.« Der Staatsanwalt klang genervt. »Und daran halten wir uns. Und eine dieser Regeln heißt: Der Fundort der Leiche ist maßgeblich für die Zuständigkeit der Ermittlungsbehörde. Und jetzt: Gute Nacht.«
Ehe Franziska noch etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt.
Sie schenkte sich ein zweites Glas Rotwein ein und tigerte wütend durch die Wohnung. »Was bildet der sich eigentlich ein?«
»Schreib ihm eine Mail, in der du darauf bestehst, dass in diesem Fall ermittelt wird«, schlug ihr Mann vor. »Und beruhige dich. Das ist doch nicht normal, dass du dich so um einen Fall reißt. Sei doch froh, wenn es bei euch im Büro mal ein bisschen ruhiger ist. Bruno ist da sicher meiner Meinung.«
»Ja, das glaube ich gern. Aber weißt du, ich kannte die Tote. Das geht mir nah. Und außerdem bin ich dem Schmiedinger so einiges schuldig. Seit Jahren versprech ich ihm einen Praktikanten, und dann vergesse ich es immer wieder. Und jetzt braucht er meine Unterstützung. Verstehst du, da will ich ihn nicht hängen lassen. ›Zuständigkeit der Ermittlungsbehörde‹«, wiederholte sie. »Zuständig sind die vielleicht, aber nicht engagiert.«
»Bleib doch mal cool«, meinte Christian. »Und außerdem: Wenn du Malwine Brunner kanntest, dann bist du sowieso befangen und solltest gar nicht ermitteln. Bitte, beruhige dich.«
Kapitel 2
Nichtsahnend war die Witwe Malwine Brunner auch an diesem 2. September in ihrem Auto mitsamt dem Hund Joschi, der ordnungsgemäß angeleint auf dem Beifahrersitz hockte und weder winselte noch bellte, die gut dreißig Kilometer nach Bad Griesbach gefahren und hatte sich in der Kabine für Damen umgezogen.
Vor den großen Panoramafenstern des Thermalbads zeigte sich der beginnende Herbst in seinen schönsten Farben. Nun lag sie rücklings, bekleidet nur mit einem schwarzen Badeanzug, in dem fast sechsunddreißig Grad warmen Wasser und wartete auf ihren ganz persönlichen Bademeister. Im flachen und muschelförmigen Becken nebenan kreischte die Besatzung des örtlichen Kindergartens, umrundet von Betreuerinnen, die immer wieder vergeblich »pscht« zischten.
Malwine Brunner war im Erwachsenenbecken die Einzige, und sie genoss ihr Privileg.
Kaum war ihre ältere Schwester Agnes gestorben und begraben gewesen, hatte die Witwe Malwine Brunner beschlossen, ihr Leben radikal zu ändern. Es begann damit, dass sie das Zimmer ihrer Schwester frisch streichen ließ und anschließend mit all jenen erinnerungsbefrachteten Dingen vollstellte, die sie traurig machen würden und die sie nicht mehr sehen wollte. Dazu gehörten Fotos von Sohn, Mann und Schwester, die ersten und so unbeholfen wirkenden Zeichnungen ihres geliebten Kindes sowie dessen wuchtiger Personalcomputer, mit dem er sich so leidenschaftlich beschäftigt hatte. Dort lagerte sie Agnes’ Sammelsurium an medizinischen Handbüchern und Nachschlagewerken zur Traumdeutung. Die Gummistiefel ihres Mannes und seine gesteppten Joppen, sein Rasierzeug und sein Aftershave, das er nur an Festtagen benutzt hatte. Und nachdem all das geschehen war, hatte sie die Tür dieses Zimmers verschlossen und sich unglaublich frei und stark genug gefühlt.
Nun würde sie sich ihren allergeheimsten Lebenstraum erfüllen: Sie würde schwimmen lernen. Zunächst hatte sie sich im Dorf und vor allem im Blauen Vogel umgehört und sich letztlich für Bad Griesbach entschieden. Dort war sie in der Kurverwaltung vorstellig geworden: »Ich bräuchte einen privaten Bademeister, einen, der nur mir das Schwimmen beibringt.«
»Warum nehmen Sie nicht am Gruppenunterricht teil? Das ist weitaus billiger«, hatte die freundliche Dame in der Information vorgeschlagen und nach Prospekten gesucht.
Wie hätte Malwine ausgerechnet dieser jungen Frau erklären sollen, dass sie einmal in ihrem Leben etwas ganz für sich allein haben wollte?
»Naa«, hatte die achtundsechzigjährige Kleinöder Bäuerin deshalb furchtlos klargestellt, tief Luft geholt und dann nachdrücklich den Kopf geschüttelt. »Ich will einen Lehrer nur für mich allein.«
»Darf es auch eine Lehrerin sein?«
Und auch an dieser Stelle war Malwine sich treu geblieben und hatte standhaft auf ihrem innigsten Wunsch beharrt: »Wenn’s eh so teuer ist, nehm ich doch lieber einen Mann.«
Ihr ganz persönlicher Bademeister war achtundvierzig Jahre alt und trug sein Haar so kurz geschoren, dass man meinen konnte, er habe eine Glatze. An seinem linken Ohrläppchen baumelte ein sicherheitsnadelähnliches Schmuckstück mit zwei Perlen: einer blauen und einer weißen. Die Nationalfarben der Bayern. Ihr Schwimmlehrer hatte kein Gramm Fett am Körper, und jedes Mal, wenn sie ihn sah, dachte sie, dass sie ihm mal ihr selbstgebackenes Brot mitbringen sollte, dick mit Griebenschmalz bestrichen, vergaß es dann aber immer wieder.
Jeden Montag und Mittwoch brachte er ihr zwischen zwölf und vierzehn Uhr das Schwimmen bei. Sie hatte zwanzig Doppelstunden gebucht, was genau fünf Wochen entsprach. Anschließend würde sie ihren Lehrer feierlich um ein Zeugnis bitten. »Heutzutage ist man ohne Nachweise und Qualifikationen nichts wert«, hatte neulich jemand im Radio gesagt.
Doch bis zur Zeugnisausstellung stieg der Bademeister zu ihr ins Becken, legte ihr eine Hand unter den Bauch und eine auf den Po (»Nicht das Kreuz durchdrücken!«) und achtete darauf, dass seine nicht mehr ganz junge Schülerin Arme und Beine synchron und rhythmisch bewegte. Er lobte sie und zeigte sich begeistert angesichts ihrer Lernbereitschaft und ihres Talents. »Wenn Sie als Kind schon schwimmen gelernt hätten, Sie wären besser gewesen als die kleine van Almsick, Olympiasiegerin wären Sie geworden, Schwimmweltmeisterin! Die erste Goldmedaille für Niederbayern!«, hatte er sogar einmal behauptet.
Malwine verehrte ihn.
Brust- und Rückenschwimmen hatte er ihr schon beigebracht, nun standen noch Kraulen und Schmetterlingsstil auf dem Programm.
Ihr Leben lang hatte sie es vermutet, und nun durfte sie es am eigenen Leib erfahren: Schwimmen war wie Fliegen. Und engelgleich flog sie durch das wunderbar warme Wasser der Therme von Bad Griesbach, und fast immer gehörte das große Becken ihr allein – ihr und ihrem Bademeister.
Erst in diesem Sommer, erst nach dem Tod ihrer Schwester Agnes, war Malwine das ungeheuerliche Ausmaß ihrer Freiheit bewusst geworden, und sie begann zu begreifen, dass alle vorangegangenen Abschiede notwendig gewesen waren, damit sie, Malwine, einen Neuanfang wagen konnte.
Nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohns waren nur sie und ihre Schwester Agnes Harbinger übrig geblieben. Agnes war nie verheiratet gewesen, zog ihr linkes Bein nach und verfügte über die Fähigkeit, Dinge vorherzusagen, Heilungen zu vollziehen und Wunder zu vollbringen. Das zumindest behauptete die Schwester des Pfarrers, die akribisch jedes Handauflegen und jede Weissagung der Harbinger Agnes in ihrem Notizbüchlein festgehalten hatte.
Diese Dokumentationen hatten aber auch zur Folge gehabt, dass Martha Moosthenninger sich ständig auf dem Hof der Brunnerin herumtrieb, mit erhabenem Eifer notierte, wie deren Schwester Agnes die Welt verbesserte und anreisende Besucher tröstete, heilte und in eine rosige Zukunft entließ. Fast ein Jahr lang hatte die Schwester des Pfarrers empfangsdamengleich vor dem Ordinationszimmer der Wunderheilerin gesessen und von angereisten Patienten Namen, Daten und Beschwerden, egal ob körperlicher oder seelischer Art, erfragt und zwischendurch Malwine Befehle erteilt, was und wie viel sie zu kochen habe.
»Koch halt gleich für mich und meinen Bruder mit, der Herr wird’s dir danken – außerdem bleibt dann meine Küche sauber«, pflegte sie zu sagen, und Malwine hatte lange gebraucht, bis sie es gewagt hatte, dem einmal zu widersprechen.
Ihre unausgesprochene Angst, die Sintflut oder ein Erdbeben katastrophalen Ausmaßes würde über sie hereinbrechen, wenn sie Nein sagte, war in dem Moment wie weggeblasen gewesen, als Martha Moosthenninger eines Aprilmorgens im Stechschritt die Küche betreten und dem friedlich auf seiner Decke schlafenden Hund Joschi mit den schwarzen Stiefeletten einen Fußtritt gegeben hatte.
»Geh mir aus dem Weg, du alte Töle! Und du, Malwine, kochst uns jetzt sofort einen Kamillentee. Die Agnes hat’s g’sagt. Gleich kommt ein Bedürftiger – der braucht das Getränk.«
»Da ist der Herd! Ich koch euch gar nix mehr!«, hatte Malwine gerufen und sich zu ihrem zitternden Hund unter den Tisch verkrochen. »Ich bin doch ned eure Dienstmagd!«
Martha Moosthenninger hatte selten so verwirrt geschaut, war aber seitdem vorsichtiger gewesen. Hatte »Bitte« und »Danke« gesagt, eingekauft, die Spülmaschine ein- und ausgeräumt und insgesamt Respekt gezeigt. Trotzdem, es war anstrengend gewesen, sie den ganzen Tag um sich zu haben: Martha und Agnes, beide von einer Mission erfüllt, die Malwine zunehmend suspekt erschienen war.
Des ist jetzt alles vorbei, dachte Malwine im warmen Wasser der Griesbacher Therme und lächelte. Endlich war sie mit ihrem Leben zufrieden.
Die schrill kreischenden Kinder aus dem muschelförmigen Becken hatten sich mitsamt ihren Betreuerinnen verzogen. Still war es. Wunderbar still. Nur das Wasser plätscherte leise. Gleich würde ihr Bademeister kommen. Malwine drehte sich auf den Rücken, sah in das lichtdurchflutete Oberlicht und verspürte einen eigenartigen Schmerz in der Brust. Als griffe jemand nach ihrem Herzen. Und als sie erneut zur Decke blickte, lächelte ihr Sohn ihr zu und reichte ihr die Hand.
»Hermann, mein Hermann«, murmelte sie – und das sollten ihre letzten Worte sein.
Meinrad Hiendlmayr bog an diesem Mittwoch, dem 2. September, um sechzehn Uhr zehn von der frisch asphaltierten Straße in den holperigen Feldweg ein, der zum Wohnhaus führte, als ihn ein eigenartiges Gefühl befiel.
Dabei sah alles noch genauso aus, wie er es am Morgen verlassen hatte: Das Küchenfenster war gekippt, die Rollos an den südlichen Wohnzimmerfenstern waren bis zur Hälfte heruntergelassen, um ein Ausbleichen der braunen Ledermöbel im Inneren des Raumes zu verhindern.
Draußen zwischen Hintereingang und Garten stand immer noch das kleine Zelt über dem Bohrloch. Dem »Loch des Anstoßes«, wie sie es genannt hatten.
Er stieg aus seinem Wagen und dachte: Wenn Joschi jetzt angelaufen kommt, ist alles in Ordnung.
Aber Joschi kam nicht. Und Malwine auch nicht.
Meinrad Hiendlmayr war achtundzwanzig Jahre alt und lebte seit einigen Monaten auf dem Hof der Brunnerin. »Du bist ein Verfolgter des Glücks«, hatte sie gesagt, als sie sich kennenlernten, und gelacht. »Genau wie ich. Das Glück verfolgt uns, aber es erreicht uns nicht.«
Um siebzehn Uhr saß er immer noch auf der Bank vor dem Haus und behielt die Straße im Blick. Vielleicht kamen sie ja noch, hatten sich einfach nur ein bisschen verspätet. Aber er ahnte schon, dass es keine harmlose Erklärung für das Verschwinden von Malwine Brunner geben würde.
Zehn Minuten später entdeckte er den grünweißen, schon leicht derangierten VW-Bus des Polizeiobermeisters und hielt den Atem an. Möglicherweise hatte Schmiedinger nur zufällig hier zu tun und würde nicht auf den Hof der Brunnerin abbiegen. Doch da kam der Wagen schon den Schotterweg hochgerumpelt. Schnaufend stieg Adolf Schmiedinger aus. Er stellte sich nicht vor, sondern ging fragend auf Meinrad zu: »Wer sind Sie denn?«
»Ich wohne hier.«
»Hier bei der Malwine Brunner?«
»Ja.« Meinrad nickte hilflos. »Ist was passiert?«
»Wusst ja gar ned, dass die jetzt doch einen Knecht hat«, murmelte Schmiedinger mehr zu sich selbst. »Im Ort hat’s geheißen, die wohnt da allein, aber so ein großes Anwesen ist natürlich allein gar ned zu bewirtschaften.«
Der Polizeiobermeister setzte sich zu dem jungen Mann auf die Bank, räusperte sich und sagte: »Die Malwine ist g’storben, heut um zwölf Uhr mittags. Jetzt ist es so, dass die doch immer ihren Hund mitnimmt, und der saß halt in ihrem Auto …« Er bemerkte Meinrads erschrockenen Blick und fügte schnell hinzu: »Keine Angst, den haben meine Kollegen dort natürlich gleich rausg’holt und g’füttert, der Autoschlüssel war ja in Malwines Tasche, und die Tasche war in ihrem Schließfach in der Umkleidekabine, und der Schlüssel zum Schließfach war an ihrem Handgelenk. Den hat der Bademeister ihr noch schnell abgenommen, nachdem der Arzt den Tod bescheinigt hat und sie im Zinksarg abgeholt worden ist.«
Er holte tief Luft, nachdem er alle wichtigen Informationen so schnell wie möglich von sich gegeben hatte. Seufzend wühlte er in seiner Uniform nach einem Taschentuch und tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Meinrad zitterte.
»Ich hätt ned glaubt, dass ich hier doch noch einen lebenden Menschen antreff. Täten Sie vielleicht mit mir nach Bad Griesbach kommen und den Hund und das Auto überführen?«
Meinrad nickte.
Kapitel 3
»Warum hältst du dich da nicht einfach raus? Du hast doch selbst einmal gesagt, dass die Leut dort keinen Schutzengel haben. Und dann willst ausgerechnet du deren Welt in Ordnung bringen! Du als Schutzengel! Das ist eine Rolle, die nun überhaupt nicht zu dir passt. Ehrlich, ich versteh dich nicht.«
»Eben, gerade deshalb muss ich mich kümmern. Weil es sonst niemand macht.« Franziska packte ihre Tasche. »Außerdem bin ich’s dem Schmiedinger schuldig. Ich hab ihm meine Unterstützung versprochen, und ich stehe zu meinen Versprechen.«
Bruno zog die makellos gebräunte Stirn kraus: »Was willst du damit sagen?«
Sie sah ihn lange an. »Nichts.« Dann verließ sie ihr Büro und wusste, über dieses »Nichts« würde er mindestens einen halben Vormittag lang nachdenken.
Im Fuhrpark ließ sie sich einen älteren BMW mit Automatik zuteilen, legte das eingeschaltete Handy auf den Beifahrersitz und machte sich auf den Weg.
Wie oft schon war sie diese Strecke gefahren? Und immer wenn sie gedacht hatte, hier draußen bleibt alles gleich, hier steht die Zeit still, nahm sie Veränderungen wahr. Wie jetzt. Dort war ein Baum gefällt, hier ein Carport errichtet worden, Vorgärten waren in den vergangenen Monaten von steinernen Mäuerchen gesäumt worden, und auf den grünen, teppichgleichen Rasenflächen fast aller Gärten hatten sich große runde Planschbecken breitgemacht, deren beste Zeit – heiße Sommertage voller Kindergeschrei – sich für dieses Jahr dem Ende neigte. Heute war sowieso kein Badewetter.
Schon tauchte Kleinöd vor ihr auf. Rechter Hand hinter dem Ortsschild stand noch immer die Weide. Wie in einem Flashback sah Franziska sich zum ersten Mal herkommen, und instinktiv verglich sie das Bild von damals mit dem, was sie nun sah. Die Weide war um einiges gewachsen, und direkt gegenüber dem ausladenden Baum stand nun ein nagelneues gläsernes Gewächshaus mit Solarzellen auf dem Dach. Direkt auf dem Grund und Boden des Bürgermeisters. Sie stellte sich vor, wie Waldmoser sich dort auf sein Rentnerdasein vorbereitete und Orchideen züchtete – oder Kakteen. Sie seufzte. Genau, Kakteen mit ganz vielen Stacheln. Das passte zu ihm.
Polizeiobermeister Adolf Schmiedinger hatte sich außerdienstlich mit ihr treffen wollen, auch um der von ihm veranlassten Privatobduktion noch mehr Gewicht zu verleihen. »Das muss fei alles genau auseinanderg’halten werden«, hatte er am Telefon erklärt. »Der Fall Malwine Brunner ist meine ganz persönliche Angelegenheit, und darüber red ich nicht im G’schäft. Kommen S’ doch bittschön in den Blauen Vogel.«
Um diese Zeit war Schmiedinger der einzige Gast des Wirtshauses. Franziska, die insgeheim nach ihm und seinem ständigen Vertrauten Eduard Daxhuber Ausschau gehalten hatte, erkannte ihn erst mit Verzögerung. Später gestand sie sich ein, dass es auch daran gelegen haben mochte, dass sie sich einen Polizeiobermeister Adolf Schmiedinger ohne Freund Daxhuber eben kaum vorstellen konnte.
Grundlegende Dinge hatten sich geändert. Das sah sie in dem Augenblick, als sie ihrem Kollegen die Hand reichte. Richtig gepflegt sah er aus, zwar nicht viel schlanker, aber dafür straffer. Er trug ein gebügeltes Hemd, eine ordentlich sitzende Uniform, sein Haar war kurz geschnitten und vielleicht sogar leicht getönt? Sie wollte nicht zu auffällig hinsehen. Außerdem roch er neutral bis angenehm, der säuerliche Schweißgeruch, der ihn immer umgeben hatte, war verflogen.
Schweigend gab er ihr die Hand, schob seine Apfelschorle beiseite und versicherte ihr: »Ich hab’s noch keinem g’sagt. Der Bürgermeister wird’s wohl wissen, der hat ja schon mit einer Beerdigungsfirma in Passau geredet – aber die anderen … Ned amal dem Daxhuber Ede.«
»Das war klug von Ihnen.« Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Es gibt ein paar Probleme. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich habe keine Handhabe, wir dürfen nicht ermitteln, es sei denn, die Passauer Kollegen ersuchen um Amtshilfe.«
»Das tun die g’wiss ned. Die waren ja schon so stur, als ich ned glauben wollte, dass die Malwine an einem Herzinfarkt g’storben ist. ›Da hat jemand nachgeholfen‹, hab ich nur g’sagt, wie man das so sagt im ersten Schreck, und wissen S’, des hat denen überhaupts ned passt, da ham die erst recht auf stur geschaltet.«
»Aber Sie hatten recht«, meinte die Hauptkommissarin. »Wenn Sie nicht auf Ihr Gefühl gehört hätten, wäre vermutlich niemals herausgekommen, dass die arme Frau Brunner vergiftet worden ist.«
Er hob die Augenbrauen: »Wirklich? Mit richtigem Gift?«
Franziska nickte. »Ich habe mit dem Rechtsmediziner gesprochen.«
»Meinen Sie, dass der ihr Knecht des g’tan ham könnt?«
Jetzt war es an Franziska, erstaunt zu schauen.
»Was für ein Knecht? Ich dachte, die lebt da oben allein, das heißt, allein mit ihrer Schwester?«
Schmiedinger schüttelte den Kopf: »Naa, naa, Sie meinen die Agnes, naa, die ist doch schon seit ein paar Monaten verstorben.« Dann besann er sich wieder auf Franziskas Frage: »Wissen S’, ich bin gestern Abend zum Brunnerhof g’fahren, weil ich nach dem Rechten sehn wollt. Das Anwesen ist zwar jetzt eingemeindet worden, aber dadurch ist das natürlich keinen Meter näher bei uns. Das liegt immer noch ziemlich einsam auf’m Berg, auch wenn der Waldmoser den alten Schotterweg bis fast vor Malwines Haustür hat befestigen lassen. Also, ich hab mir denkt, ich fahr mal vorbei, schau nach, ob alle Türen verschlossen san und so. Und dann saß da der junge Mann auf der Bank.«
»Auf welcher Bank?«
»Auf der vorm Haus, wo man halt abends so sitzt.« Schmiedinger nahm einen Schluck Apfelschorle.
»Und was hat er gemacht?«
»Gewartet hat er.«
»Auf wen?«
»Na, auf die Malwine.«
»Aha.« Franziska wühlte in ihrer Tasche nach einem Bleistift. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen Bruno, der sich alles per Palm oder Handy an seinen Computer ins Büro schickte, verweigerte sie sich der modernen Technik und lobte das gute alte Notizbüchlein, auch wenn sie ständig nach einem Stift suchen musste.
Erleichtert zückte sie nun den gefundenen Schreiber und fragte nach: »Kennen Sie den?«
»Den Knecht meinen S’? Nein, nie ned g’sehn.«
»Vielleicht war er ja noch nicht so lang bei ihr«, murmelte sie und schlug ihr Notizbuch auf. Eigenartig. Sonst wussten die Leute immer gleich, wenn sich ein Fremder in der Gemeinde aufhielt. Und hier war jemand zu Malwine gezogen, und niemand hatte es mitbekommen. Sie beugte sich vor. »Und – was ist dann passiert?«
»Ich hab ihn g’fragt, ob er mit mir nach Bad Griesbach fährt. Weil, irgendwie mussten ja der Hund und das Auto g’holt werden.« Die Kommissarin nickte zustimmend.
»Ein sonderbarer Mensch war des«, erinnerte sich Schmiedinger. »Hat fast nix g’sagt. Könnt gut sein, dass dem der Tod von der Malwine doch nahegangen ist. Auch wenn man immer hört, die jungen Leute hätten kein Gefühl mehr, ganz stimmt des ja wohl doch nicht. Ich hab mir da inzwischen meine ganz spezielle Meinung bilden können, wissen S’, des ist nämlich so …« Der sonst so wortkarge Polizeiobermeister holte Luft und setzte zu einer längeren Rede an.
»Und dann?«, unterbrach ihn Franziska. Möglicherweise war Schmiedingers ganz spezielle Meinung außerordentlich interessant, aber sie würde lieber später darauf zurückkommen. Es war schon immer so gewesen, dass man dem Adolf jede wirkliche Information einzeln aus der Nase ziehen musste, während er gleichzeitig dazu neigte, sich in Allgemeinplätzen zu verlieren. Früher hatte er für solche Fälle seinen Spezl Eduard dabeigehabt, auch wenn dieser wiederum alles besser und genauer wusste und überhaupt im Nachhinein sämtliche Verwicklungen bereits vorher gesehen haben wollte.
»In Griesbach ham mir den Hund abg’holt, die Kollegen dort ham ihn mit aufs Revier g’nommen. Sie konnten ihn ja nicht den ganzen Tag im Auto eing’sperrt lassen. Also ich sag’s Ihnen, bei unseren Kollegen ging’s dem richtig gut. Zwei Dosen Futter hat der Joschi auf einen Schlag verdrückt – na ja, so ein Tier weiß halt nicht, was Trauer ist.« Er seufzte und putzte sich die Nase.
Franziska, die sicher war, dass fast alle Hunde- und Katzenbesitzer dieser Diagnose tierischer Herzlosigkeit augenblicklich widersprochen hätten, übte sich weiterhin in Geduld.
»Also«, fuhr Schmiedinger fort, »als dieser Meinrad dann den Hund mitg’nommen hat, da hat sich der Joschi sakrisch g’freut. Die Kollegen aus Griesbach san mit ihm zu Malwines Auto und ham ihm den Schlüssel geben. Ich hab dann noch das Protokoll unterschreiben müssen, damit halt alles sei Ordnung hat.«
»Meinrad heißt er?« Franziska notierte sich den Namen.
»Ja, hab ich doch schon g’sagt, oder?«
»Jetzt schon.« Die Kommissarin nickte.
»Und ich«, sagte Schmiedinger, »ich bin dann endlich nach Hause g’fahrn, da muss ich mich ja auch mal wieder sehn lassen, sonst kennen die mich ja gar ned mehr.«
Das also war’s! Der Polizeiobermeister Schmiedinger lebte nicht mehr allein. Franziska hatte gespürt, dass etwas anders war. Und jetzt wusste sie es. Die Aura der Einsamkeit, die ihn wie ein unsichtbares Cape umhüllt und all seinen Äußerungen etwas Fragendes und Hilfesuchendes verliehen hatte, war verschwunden. Fast fühlte sie sich versucht, nach seiner Hand zu greifen. Aber stattdessen fragte sie sachlich: »Wie heißt er denn noch?«
»Sie heißt Frieda«, murmelte Adolf Schmiedinger und errötete. »Und der Sohn heißt Pirmin. Den müssten S’ eigentlich kennen, der hat sich früher oft im Bauwagen rumgetrieben und war a bisserl, ja, wie soll man sagen, schwer erziehbar. Aber jetzt ist er clean. Jetzt studiert er sogar.«
»Respekt«, murmelte Franziska, die sich noch gut an den jugendlichen Alkoholiker und dessen rechtsradikale Freunde erinnerte, »aber eigentlich wollte ich wissen, wie der Brunnersche Knecht mit Nachnamen heißt.«
»Ach so, der, ja …« Schmiedinger überlegte. »Ja Kruzinesen, ich hab’s doch aufg’schrieben.« Er wühlte in seiner Tasche und holte ein Notizbuch hervor, das dem der Kommissarin zum Verwechseln ähnlich sah.
»Hier steht’s. Meinrad Hiendlmayr.«
»Was meinen Sie, könnte der jetzt auf dem Hof sein? Eigentlich sollten und dürfen wir uns ja nicht einmischen, aber ich würd doch ganz gern noch zu ihm fahren, wo ich eh grad hier bin. Vielleicht ist ihm ja irgendwas aufgefallen. Kommen Sie mit?«
»Ja, freilich.«
Unmerklich war die Wirtin hinter sie getreten. Ihre einst so schrille und durchdringende Stimme klang gebändigt und verbindlich. Das hat bestimmt der Otmar Kandler geschafft, ihr neuer Lebensgefährte, dachte Franziska und nickte Teres Schachner freundlich zu.
»Ja, grüß Sie Gott, Frau Kommissarin. Ich hab Sie gar ned kommen sehn. Warum ham Sie ned g’läutet? Kann ich Ihnen was zum trinken bringen?« Dann sah sie auf ihre Uhr, und ein Hauch von Blässe überzog ihr dezent geschminktes Gesicht. »Mein Gott, wenn Sie um diese Zeit kommen, am helllichten Tag – es wird doch wohl nichts passiert sein?«
»Doch.« Franziska suchte ihren Blick.
Teres erschauerte: »Wer ist tot?«
Sie scheint mich nur mit Tod in Verbindung zu bringen. Als gäb es keine anderen Verbrechen, dachte Franziska und hörte, wie Schmiedinger einsilbig Auskunft gab: »Die Brunnerin, du weißt schon, die Malwine.« Dann schnäuzte er sich vernehmlich.
»Herr Gott noch mal, wie ist denn das passiert?« Teres ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Gift«, murmelte Schmiedinger.
»Nein!« Die Gastwirtin gab einen erstickten Schrei von sich, und aus den Augenwinkeln nahm Franziska wahr, wie sich die Tür mit der Aufschrift »Privat« öffnete.
Otmar Kandler, Polizeivollzugsbeamter im Ruhestand und einstiger Kollege von Franziska, fühlte sich offensichtlich immer noch als Leibwächter seiner Liebsten. Langsam kam er auf ihren Tisch zu und setzte sich. Er roch nach Zigarettenrauch und staubigen Akten. Seine Finger waren nikotingelb. Früher hatte er wie ein melancholischer, aber korrekter Beamter ausgesehen, nun wirkte er wie ein heiterer und abgeklärter Lebemann, zwar etwas angewelkt, aber zufrieden.
»Doch, es war Gift. Unser Gerichtsmediziner hat Blutproben genommen und wird auch noch den Mageninhalt untersuchen und, wenn es sein muss, auf eigene Faust weiterforschen«, bestätigte Franziska. »Und der Gustav kriegt garantiert auch noch raus, was das für ein Gift war«, versprach sie.
»Malwine ist tot?«, fragte Otmar und sah betroffen aus.
Teres nickte.
»Meine Güte, erst Kreszentia, dann Agnes und jetzt auch noch Malwine. Hört das denn gar nicht mehr auf? Ich hab sie zwar nur ein paarmal gesehen, aber trotzdem.« Er drehte sich eine Zigarette auf Vorrat.
Teres sah nachdenklich in die Runde. »Wenn einer geht, holt er gleich zwei Gefährten nach. So sagt man bei uns. Und jetzt ham mir ja die drei: meine Mama, die Agnes und nun auch noch Malwine. Damit wird dann ja wohl erst amal wieder ein wenig Ruhe sein.« Sie seufzte.
»Kreszentia?«, fragte Franziska, und erst jetzt fiel ihr auf, dass Teres ein schwarzes Kleid trug.
»Ja«, Teres schniefte und putzte sich die Nase »meine Mama ist gestorben.«
»Oh, das tut mir leid.« Franziska dachte an die beiden Frauen, die sich ständig mit Schimpfworten bedacht hatten, trotz aller Streitereien aber nicht ohne einander konnten.