Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Erinnerung an die Herrschaft, die Verbrechen und die Nachgeschichte des Nationalsozialismus zählt zu den Grundlagen der politischen Kultur des demokratischen Deutschlands, auch in Schleswig-Holstein. Es gibt in Kellinghusen, einer kleinen Stadt in Mittelholstein, noch einige Häuser und Plätze, die an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern, andere dagegen sind unwiederbringlich verloren. Dieses Buch will auf die vorhandenen und die nicht mehr vorhandenen Spuren in Kellinghusen hinweisen, damit Vergangenes wach gehalten wird, um den verhängnisvollen Irrweg einer Nation vor Ort darzustellen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 289
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Editorial
Kapitel 1
Wahlkämpfe – Wahlergebnisse – Kämpfe der Parteiarmeen
Kapitel 2
Kellinghusener Stolpersteine
Kapitel 3
Die Kellinghusener St Cyriakus-Kirche unter dem Hakenkreuz
Kapitel 4
Mai 1933 – Bücherverbrennung vor dem Rathaus in Kellinghusen
Kapitel 5
Exkurs: Das KZ in Glückstadt
Kapitel 6
Die Sägebockaktion im „Altdeutschen Haus“
Kapitel 7
Die Verfolgung der Zeugen Jehovas
Kapitel 8
Zwangsarbeiter in Kellinghusen
Kapitel 9
Die NS – Bürgermeister in Kellinghusen
Kapitel 10
Kellinghusener im Arbeitserziehungslager Nordmark
Kapitel 11
Der Gedenkort „AEL Nordmark“
Kapitel 12
Terrorisierung einzelner oppositioneller Bürger in Kellinghusen durch das NS-Herrschaftssystem
Kapitel 13
Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV): Die NSV - Gauschule in Kellinghusen
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhang
Erinnerungen an Orte und Menschen
Vorbei ist nicht vorüber!
“Ein Lernen aus der sozialen Vergangenheit setzt kollektive Erinnerungen voraus. Da selbst diejenigen, die eine vergangene Epoche persönlich erlebten, nur kleinere oder größere Ausschnitte davon selbst erfahren haben, ist jeder (nicht nur die Spätergeborenen), der aus jener Vergangenheit lernen möchte, auf kollektive Erinnerungen angewiesen; und dies gilt, a fortiori, für die Frage, ob nicht nur Einzelne sondern soziale Gruppen oder Gesellschaften aus ihrer sozialen Vergangenheit gelernt haben, denn dann scheinen nur noch die kollektiven Erinnerungen relevant zu sein.”
Max Miller, Kollektive Erinnerungen und gesellschaftliche Lernprozesse, Zur Struktur sozialer Mechanismen der Vergangenheitsbewältigung
Gibt es eine „Kultur des Erinnerns“ in unserer Gesellschaft, durch die sich per se ein kollektives Gedächtnis herausbilden kann, wenn sich doch ausschließlich nur Individuen erinnern können? Bedeutet „Erinnern“ Vergangenheitsfixierung und wird dadurch die Zukunft verstellt? Kann eine hypertrophe Erinnerungskultur die Visionen von Fortschritt und Zukunft verdrängen? Ist es überhaupt für den Menschen und für Menschengruppen positiv, sich zu erinnern oder ist es vielleicht positiver zu schweigen und zu vergessen? Es sind ja gerade die Erinnerungen, die destruktive Energien nähren und Gewalttaten hervorrufen. Daraus folgern manche, dass das Vergessen entlastet, Konflikte entschärft werden und ein Neubeginn möglich ist. Durch das Vergessen, so Winston Churchill in einer Rede 1946, kann der Konfliktstoff zwischen den ehemaligen Fronten effektiv neutralisiert werden.
Wenige Jahre nach Churchills Rede, schreibt Hannah Arendt in ihrem Buch „The Origins of Totalitarianism“: „Wir können es uns nicht mehr leisten , nur das Gute in der Vergangenheit auszuwählen und als unser Erbe anzunehmen, während wir das Schlechte einfach ignorieren und es als totes Gewicht ansehen, das die Zeit von selbst im allgemeinen Vergessen begraben wird.“ Stellt nicht das „tote Gewicht“ – das bedeutet das Gewicht der Toten und das Gewicht des an ihnen und auch an anderen begangenen Unrechts – einen berechtigten Anspruch an die Gegenwart?
Die Erinnerung an die Herrschaft, die Verbrechen und die Nachgeschichte des Nationalsozialismus zählt zu den Grundlagen der politischen Kultur des demokratischen Deutschlands, auch in Schleswig-Holstein. Im Mittelpunkt politisch-historischer Bildungsarbeit stehen dabei häufig die geschichtlichen Orte von Terror und Leiden.
Erinnerungen prägen unser Leben und unsere Persönlichkeit – sie formen die Herausbildung eines jeden Individuums. Dieses gilt gleichsam auch für Kollektivindividuen, wie z.B. die Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt bzw. einer Region, die Mitglieder von Familien, Vereinen, Verbänden, Schulen, Parteien oder Religionsgemeinschaften. Hier wird gemeinsames Vergangenheitswissen kommuniziert, gepflegt und wieder aufgerufen. Denn nicht nur der einzelne Mensch erinnert sich, auch Kollektive haben ein gemeinsames Gedächtnis. Diese Erinnerungen prägen das eigene Gedächtnis, schaffen Partizipation an kollektiven Identitäten und erweitern die eigene Individualität. Erinnerungsorte sind langlebig, sie überdauern Generationen und sind Kristallisationspunkte individueller sowie kollektiver Erinnerung und Identität.
Und trotzdem gehen, gewollt oder ungewollt, Erinnerungen und Erinnerungsorte manchmal verloren.
Es gibt in Kellinghusen noch einige Häuser und Plätze, die an die Zeit des Nationalsozialismus erinnern, andere sind unwiederbringlich verloren. Vieles ist verfallen, abgetragen, zerstört und überbaut worden.
Erinnerungsorte sollen in diesem zeitgeschichtlichen Kontext auf die vorhandenen und die nicht mehr vorhandenen Spuren in Kellinghusen hinweisen. Sie sollen Vergangenes wach halten, um den verhängnisvollen Irrweg einer Nation vor Ort darzustellen und die notwendige Sensibilität für unmenschliches Verhalten in der Vergangenheit und im Heute und Morgen hervorzubringen.
Diese Spuren weisen in beide Richtungen – in die Vergangenheit und in die Zukunft. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit stellen auch im 21. Jahrhundert eine große Herausforderung dar. Diese Ideologie ist ein gefährlicher Nährboden für Gewalt, weil damit Straftaten weltanschaulich verbrämt werden, die sich gegen Menschen anderer Hautfarbe, anderer Gesinnung, anderer Religion, sowie gegen Minderheiten und Andersdenkende richten. Heute wie morgen ist der Mut zum Widerspruch gefordert und die Bereitschaft, schon den Anfängen extremistischer Tendenzen entschieden entgegenzutreten.
Die Wege der Erinnerung sind manchmal schwierig. Gerade deshalb müssen Häuser und Plätze, die an Widerstand und Verfolgung erinnern, im Gedächtnis bleiben. Denn immer sind Häuser und Plätze verbunden mit der Erinnerung an Menschen.
Die Erinnerungsorte in Kellinghusen sollen vor allem an die Menschen erinnern, die hier in Kellinghusen, aber auch in Gefängnissen, in Konzentrationslagern, in Arbeitserziehungslagern und Zwangsarbeiterlagern unter den Nazis Fürchterliches erlitten haben. Es soll die Erinnerung an die Opfer von Willkür und Unmenschlichkeit wach gehalten werden – unvergessen sind die Menschen, die Widerstand leisteten und die so viel leiden mussten. Niemand darf es zulassen, dass das Leid der Opfer verschleiert, gemindert, zerredet oder gar vergessen wird. Es liegt an jedem einzelnen von uns, sich mit aller Kraft gegen das Wegsehen, gegen die Ignoranz und gegen das Vergessen zu stemmen.
Besonders wünschenswert ist es, wenn junge Menschen sich dieses dunklen und kaum zu ertragenen Kapitels deutscher Geschichte annehmen, denn die Namen der Opfer sind verbunden mit der Erinnerung an das Leiden, das eine Ideologie der Gewalt und der Menschenverachtung erzeugt hat.
Diese Namen erinnern uns aber auch daran, dass wir unser heutiges Leben in einer Demokratie all denen verdanken, die gegen das Naziregime gekämpft haben, was viele mit ihrem Leben bezahlt haben. Der Weg zu einer demokratischen Gesellschaft war lang und beschwerlich und Toleranz und Weltoffenheit müssen auch heute noch jeden Tag von neuem erkämpft werden. Die Erinnerung an vergangenes Unrecht kann einen Beitrag dazu leisten.
Erinnern wir uns an die Worte des italienischen Juden Primo Levi, der 1943 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde:
„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“
Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Reimer Möller für seine langjährige selbstlose Hilfe und Unterstützung. Ohne ihn und seine Forschungsarbeiten wäre auch in Kellinghusen vieles unentdeckt geblieben!
Ich bedanke mich bei der Familie Mohr für die langjährige Unterstützung und Hilfsbereitschaft.
An dieser Stelle sei dem langjährigen Kellinghusener Stadarchivar, Herrn Richard Kolang, für seine Unterstützung gedankt.
Ein herzliches Dankeschön auch an Frau Mehrens-Alfer für ihre tatkräftige Unterstützung bei den Recherchearbeiten im Kellinghusener Stadtarchiv.
Die erste reichsweite Wahl nach der Novemberrevolution von 1918 fand am 19. Januar 1919 statt und sollte zur Bildung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung führen. Sie war die erste, in der Frauen das Wahlrecht hatten. Die SPD ging bei dieser Wahl mit 37,9% als stärkste Kraft hervor, konnte aber nicht allein regieren.
In Kellinghusen erhält die SPD 55% und die DDP 34%.
Auch 10 Jahre später gibt es in Kellinghusen eine klare Mehrheit der linken Gruppierungen: 1928 erhält die SPD 41%, die KPD 10% und die DDP 7% der Stimmen.
Eine Veränderung im Wählerverhalten ist erst ab 1929 deutlich zu bemerken, da die NSDAP ihre Aktivitäten immens steigert. Am 17. November 1929 finden in Kellinghusen Kommunalwahlen statt: Die SPD erreicht 36%, die NSDAP 10% und die KPD 8%.
In den letzten drei Jahren der Weimarer Republik radikalisieren sich die Auseinandersetzungen zwischen dem linken und dem rechten politischen Lager und die Aktivitäten aller Parteien nehmen zu. 1
Mit zahlreichen Veranstaltungen wird der Wahlkampf 1930 geführt. Die NSDAP versucht mit Filmveranstaltungen z. B. über den Nürnberger Parteitag und politischen Vorträgen neue Anhänger zu gewinnen. Im Mai 1930 spricht der Mühlenbarbeker Landtagsabgeordnete Hinrich Lohse (NSDAP) über den „Raummangel Deutschlands“ und „Den Weg der NSDAP“.
Auch die SPD, die DVP, die KPD und die Deutsche Staatspartei versuchen sich mit Vorträgen zu profilieren und Wähler für sich zu gewinnen. Allerdings wird die NSDAP bei den Reichstagswahlen am 14. September in Kellinghusen zum ersten Mal stärkste Partei mit 35% - prozentual erreicht sie fast doppelt so viele Stimmen in Kellinghusen wie im gesamten Deutschen Reich (18%). Die SPD erlangt 34% und die KPD 12%, die DNVP kommt auf 18%, die DVP nur noch auf 10% und die Deutsche Staatspartei auf 5% der Stimmen. 1
Das Kellinghusener Rathaus mit der Sparkasse2
1929: Ausdruck der Arbeiterbewegung - Der Aufmarsch des Kellinghusener Arbeiter Turn- und Sportvereins durch die Hauptstraße Kellinghusens
1929: Versammlung des Arbeiter Turn- und Sportvereins vor dem Rathaus in Kellinghusen
Auch reichsweit kommt es zu einem unerwarteten Erfolg der NSDAP. Sie wird mit 18,3% zweitstärkste Partei und zieht mit 107 Abgeordneten (vorher: 12) in den Reichstag ein. Während KPD, Zentrum und DVP ihren Stimmenanteil geringfügig vergrößern können, verliert die SPD zehn Mandate. Die stärksten Verluste hat die DNVP.
Partei
Stimmen
NSDAP
18,30%
DNVP
7,00%
DVP
4,50%
BVP
3,00%
Zentrum
11,80%
DDP
3,80%
SPD
24,50%
KPD
13,10%
Sonstige Parteien
13,90%
Das Jahr beginnt mit einem Vortrag des Reichsbanner-Gauleiters Hansen aus Kiel, der sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt. Bei dieser Versammlung verlassen die anwesenden Kommunisten den Saal, weil ihrem Genossen Olrogge, KPD-Parteisekretär aus Itzehoe, das Wort verweigert wird.
Die Antwort der KPD folgt zwei Tage später. Auf ihrer eigenen Veranstaltung, die vom Kellinghusener Ortsvorsitzenden der KPD Otto Schumacher eröffnet wird, rechnet der Redner Olrogge mit der SPD, der Brüning-Regierung und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ab.
Die NSDAP veranstaltet einen Deutschen Abend. Kurz darauf hält sie eine öffentliche Versammlung ab, die von ca. 400 Leuten besucht wird.
Am 21. April 1931 referiert der NSDAP-Bezirksverordnete Krischer aus Berlin über das Thema „Der Verrat der SPD am deutschen Volk“. Auch zahlreiche Anhänger der SPD sind erschienen, unter ihnen der SPD-Sekretär Hansen aus Itzehoe, der laut Vereinbarung eine halbe Stunde Redezeit erhalten sollte.
Die Kellinghusener Zeitung „Stör-Bote“ schildert in ihrer Berichterstattung am 22. April 1931 den weiteren Verlauf dieser Versammlung:
„Kurz nach Beginn des Schlusswortes durch den nationalsozialistischen Redner begann es im Saal unruhig zu werden, zumal der Debattenredner Hansen im Saale fortgesetzt störende Zwischenrufe machte. Als der nationalsozialistische Redner unbekümmert fortfuhr, wurde, wie uns polizeilicherseits bestätigt wird, auf einen Nationalsozialisten aus der Umgebung von anderer Seite (einem hiesigen Arbeiter M.) ein Angriffsversuch gemacht, wodurch die inzwischen gestiegene Erregung zu tumultartiger Unordnung im Saale führte. Die gegnerischen Parteien waren im Begriff, aufeinander loszugehen, als der anwesende Bürgermeister die Versammlung durch Polizeiwachtmeister Stammerjohann gerade noch zur rechten Zeit schließen ließ. Alle Versammelten wurden aufgefordert, den Saal sofort in Ruhe zu verlassen. Die politischen Gegner stimmten ihre Lieder an, und ohne weitere Zwischenfälle wurde der Versammlungsraum polizeilich geräumt.“
Am 23. April ist im „ Stör-Boten“ zu lesen:
„Der hierbei angeführte Arbeiter M. bittet uns mitzuteilen, dass seine Handlung nicht als Angriffsversuch, sondern als beruhigende Abwehr zu werten sei und hat dieses heute Morgen auch bei der Polizei angegeben.“
Im weiteren Verlauf des Jahres radikalisieren sich die Auseinandersetzungen der politischen Gegner aus dem rechten und dem linken Lager, speziell zwischen der NSDAP und der KPD.
Eine zentrale Voraussetzung für das Entstehen der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen waren die gemeinsamen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Erfahrungen der frühen Industriearbeiter (Proletariat) unter den Bedingungen kapitalistischer Industrialisierung und politischer Unterdrückung. Als „freigesetzte“ Arbeitskräfte erfuhren ehemalige Landarbeiter, von ihrem Boden vertriebeneBauern und sozial deklassierte Handwerker erstmals den durch Maschinen diktierten industriellen Arbeitsrhythmus in den frühen Fabriken, den „dark Satanic mills“ (William Blake). Hinzu kamen die innerbetrieblichen Herrschaftsverhältnisse sowie die miserablen Lebensbedingungen („Verelendung“) in den proletarischen Wohnquartieren der rasch wachsenden Städte. Karl Marx sprach von der „Despotie der Fabrik“. (https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiterbewegung)
Die Arbeiterbewegung ist ein zusammenfassender Begriff für Zusammenschlüsse und Organisationen, die sich seit Beginn der Industriellen Revolution in Deutschland bildeten, um die politischen und sozialen Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten. Ihr Ziel war und ist die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozi-alen Situation der arbeitenden Bevölkerung. Dieses Ziel wurde mit unterschiedlichen Konzepten verfolgt, die von der bloßen Sozialreform bis hin zum revolutionären Sozialismus reichten. (siehe www.wikipedia.org)
Eine große und oft übersehene Kulturleistung der Arbeiterbewegung liegt darin, dass sie die Proletarier organisierte. Sie führte notleidende und oft verzweifelte Menschen zusammen und gab ihnen durch diesen Zusammenschluss neue Lebensperspektiven. Durch die Solidarität wurden den Arbeitern Ziele und Aufgaben gegeben, und es wurde Hoffnung aufgebaut.
Die Arbeiterbewegung verstand sich von Anfang an auch als eine Kulturbewegung.
Die politischen Konsequenzen, die daraus abgeleitet wurden, waren unterschiedlich und manchmal widersprüchlich:
Ein Teil der Arbeiterschaft wollte eine proletarische, eine revolutionäre Kultur schaffen. Diese Gegenkultur verlangte nach einer klaren Trennung von der bürgerlichen Kultur.
Zunächst versuchte sie, vor allem die Not der durch den Ersten Weltkrieg Geschädigten zu lindern, indem sie Nähstuben, Mittagstische, Werkstätten zur Selbsthilfe und Beratungsstellen einrichtete. Später entwickelte sie sich zu einer Hilfsorganisation für alle sozial bedürftigen Menschen.
Nach der MachtergreifungAdolf Hitlers wurde nach einem erfolglosen Versuch, die AWO gleichzuschalten, die Arbeiterwohlfahrt aufgelöst und verboten. Einige Mitglieder arbeiteten illegal weiter, wie Johanna Kirchner, die mithalf, bedrohte Personen aus der Arbeiterbewegung ins Exil zu schleusen.
Nähstube der Arbeiterwohlfahrt Kellinghusen 1927
„Arbeiterwohlfahrt ist die Selbsthilfe der Arbeiterschaft“.
Kinderfreizeit der Arbeiterwohlfahrt Kellinghusen - Walderholungsstelle im Sommer 1926
Nun ließ sich aber die Arbeiterkultur in der Gesellschaft nicht isolieren, nicht herausfiltern, denn sie ließ sich durch die bürgerliche Kultur beeinflussen. Die Arbeiterbewegung entstand zwar im Gegensatz zum Bürgertum, doch sie orientierte sich an bestimmten Formen des bürgerlichen Lebens. So wurde beispielsweise das Vereinsleben übernommen und zu proletarischen Veranstaltungen und Massenversammlungen ausgestaltet. Die Bildung der Arbeiterchöre wurde von den bereits bestehenden bürgerlichen Chören beeinflusst. Es bestanden Wechselbeziehungen zwischen der Arbeiterkultur und anderen Kulturbereichen.
Kinderfreizeit der Arbeiterwohlfahrt Kellinghusen - Holzkate in Rensing im Sommer 1926
Der Arbeiterkultur ging es um den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit, nicht allein oder vorrangig um dessen intellektuelle Fähigkeiten. Im Mittelpunkt standen die Beziehungen von Mensch zu Mensch, die pragmatische Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Solidarität als Gegenbegriff zum bürgerlichen Individualismus) und die Politisierung der Arbeitsverhältnisse.
Das ehemalige Kellinghusener Krankenhaus in der Lornsenstraße - hier waren am 30. Juli 1931 etliche Verletzte der Schlacht bei Oesau untergebracht.3
„Liesbeth“, ruft Frau Schuhmacher am Morgen des 30. Juli 1931 ihrer Nachbarin Frau Liesbeth Rose in der Feldstraße 42 über den Gartenzaun zu, „Liesbeth, meinen Otto haben sie grün und blau geschlagen! Er liegt im Krankenhaus!“ Auch Liesbeth Roses Mann Ernst war es nicht besser ergangen. Beide hatten an der sogenannten Schlacht bei Oesau teilgenommen.4
Am 29. Juli 1931 kommt es in Oesau zu blutigen Kämpfen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Vorher hatten sich die Kellinghusener SA-Leute beim Ortsbauernführer Heinrich Mohr in der Overndorfer Straße in Kellinghusen versammelt. Es wurde gelacht und gespöttelt: „Heute Nacht werden wir die Kommunisten verhauen!“ Daran erinnert sich der Sohn Heinrich Mohrs noch sehr genau. Gemeinsam fuhren die SA-Leute dann nach Oesau.
Am 30. Juli 1931 berichtet der „ Stör-Bote“ unter der Überschrift:
Schwerer politischer Zusammenstoß bei Oesau
Blutige Auseinandersetzung Kellinghusener Kommunisten und Nationalsozialisten - Zahlreiche Verletzte bei den Kommunisten - 1 Toter
In der Nähe der Gastwirtschaft Oesau an der Chaussee Lockstedter Lager – Itzehoe ist es gestern Abend zu schweren Auseinandersetzungen politischer Gegner gekommen. Der Sturm 104 der Nationalsozialisten Kellinghusens und umliegender Dörfer war am Abend nach Oesau gefahren, um in der dortigen Ott´schen Wirtschaft an einer gemeinsamen Besprechung teilzunehmen. Da man wusste, dass hiesige (auch auswärtige) Angehörige der KPD sich ebenfalls auf den Weg in Richtung Lockstedter Lager gemacht hatten, schützten einige SS-Leute die Umgebung des Besprechungslokals, in dem die SA versammelt war. Soweit wir in Erfahrung bringen konnten, sammelten die Kommunisten sich bei Eintritt der Dunkelheit in der Nähe und kamen (wie man hört, wollten sie mit den nationalsozialistischen Führern sprechen) mit den postenstehenden SS-Leuten in Streitigkeiten, die dann schnell in eine allgemeine wüste Schlägerei ausartete. Mit allen möglichen Schlaginstrumenten wurden die Nationalsozialisten überfallen, doch teilten diese die Hiebe vielfach zurück. Im Verlauf der blutigen Auseinandersetzungen gab es viele Verletzte, meistens auf Seiten der hiesigen Kommunisten; einige erlitten lebensgefährliche Verletzungen. Als die Kommunisten auseinandergetrieben waren bzw. ihre Verletzten ins Versammlungslokal gebracht worden waren, benachrichtigte man sogleich Dr. Sieke aus Kellinghusen, der etwa 25 Beteiligten Verbände anlegen musste. Von den Nationalsozialisten wurde ein hiesiger und ein Winseldorfer schwerer verletzt. Die übrigen Verletzten waren meistens hiesige Kommunisten, von denen 10 mit zwei Sanitätswagen ins Krankenhaus Kellinghusen geschafft wurden; ein dritter Wagen wurde nach Itzehoe geleitet. Zumeist handelt es sich um Schädelverletzungen und Quetschwunden an Weichteilen. Acht der schwerer verletzten Kommunisten konnten aus dem Krankenhaus in ihre Wohnung entlassen werden, ein Schwerverletzter liegt noch dort, während ein anderer (ein auswärtiger Kommunist aus Itzehoe oder Lockstedter Lager, bei dem keine Personalien gefunden wurden und der noch nicht hat identifiziert werden können) im Laufe der Nacht an den Folgen eines Schädelbruchs im hiesigen Krankenhaus gestorben ist. Es handelt sich um einen etwa 25jährigen Mann. Die übrigen Teilnehmer sind bekannte hiesige, auch auswärtige Kommunisten, die angeblich einen Parteifreund in Oesau besuchen oder beschützen wollten. Die im Lokal versammelte SA war an der blutigen Auseinandersetzung nur teilweise beteiligt. Nach Absuche des
Geländes war die Ruhe bald wieder hergestellt. Einige Teilnehmer kehrten erst in den Morgenstunden zurück. In der Gastwirtschaft Ott, die auch der Verbandsplatz war, wurden die verschiedenartigen Schlaginstrumente gesammelt, die draußen auf dem Kampfplatz von den Nationalsozialisten gefunden worden waren. – Die Nachforschungen nach den Personalien des Toten haben ergeben, dass es sich um Julius Panje aus Lockstedter Lager handelt.
Am 31. Juli 1931 kommentiert der „Stör-Bote“ die Vorgänge der „Schlacht am Oesauer Berg“ unter der Überschrift „Nachklänge“ zum politischen Kampf bei Oesau“:
Wie sich immer mehr aus den Berichten von Augenzeugen und sonstigen Beobachtungen herauskristallisiert, sind die bedauerlichen Vorfälle am Mittwochabend lediglich auf das Schuldkonto der KPD zu setzen, die scheinbar eine derartige Aktion inszeniert hatte, allerdings mit dem Wunsche eines anderen Verlaufs. Alle Welt zerbricht sich den Kopf (bitte, nicht wörtlich!), warum die Kommunisten aus Kellinghusen, Mühlenbarbek, Lockstedter Lager und Itzehoe ausgerechnet am Mittwochabend sich in Oesau bei ihrem dortigen Genossen Hinsch zur „Landpropaganda“ eingefunden hatten, da bestimmt nicht unbekannt war, dass am gleichen Abend, einige Häuser entfernt, der monatliche Sturmappell der SA abgehalten wurde. In dem kleinen Häuschen des Hinsch ist die Angelegenheit vorbereitet worden; hier waren alle Fahrräder untergestellt, von hier aus waren die Beobachter und Doppelposten auf die Chaussee gestellt, von hier aus sind die Vortruppen in das Versteck im anliegenden Garten des Landwirts Ott gegangen. Mit Nägeln beschlagene Latten, dicke Knüppel, Eisenstangen, wahrscheinlich auch Messer, selbst ausgeblasene Gewehrgranaten waren die „geistigen Waffen“ für die Landpropaganda der KPD, alles von der Polizei beschlagnahmt und heute Morgen dem Vertreter der Staatsanwaltschaft Kiel vorgelegte Schlagwerkzeuge, die wahllos in der Nähe des Kampfplatzes aufgesammelt werden konnten. (… )“
Die Norddeutsche Zeitung stellt den Vorgang unter der Überschrift „Blutiger Nazi-Überfall auf Kommunisten – Achtfache Übermacht“ völlig anders dar:
(…) „ Die Nazis hatten gestern im Lockstedter Lager und Umgebung einen Generalsturmappell, zu dem etwa 300 – 400 Mann aus der ganzen Umgebung Itzehoes zusammengezogen wurden. Am gleichen Abend hatten unsere Genossen in einem Lokal einen Propagandaabend (…) angesetzt. Die Genossen von Itzehoe und Kellinghusen wollten sie dabei unterstützen. Etwa 40 unserer Genossen sammelten sich in der Wohnung des Genossen Hinsch in Oesau. In provozierender Weise zogen die Nazis dort in achtfacher Übermacht vorbei. Plötzlich stürmten sie wie wildgewordene Tiere auf den Hof und begannen mit allen möglichen Werkzeugen eine wüste Schlägerei. In wenigen Minuten waren 20-30 Schwer- oder Leichtverletzte auf dem Kampfplatz. Mit dem Ruf „Schlagt die roten Hunde, schlagt sie tot“ gingen die Nazibanditen auf unsere Genossen los. Aber unsere Genossen wehrten sich, so dass es auf Seiten der Nazis auch viele Verletzte gab.“
Was war nun wirklich geschehen? Eine Antwort auf diese Frage findet sich bei Reimer Möller, „Eine Küstenregion im politisch-sozialen Umbruch (1860-1933)“, Seite 480ff:
„An der Landstraße von Itzehoe nach Kellinghusen, etwa 1,5 km vor der Abzweigung nach Lockstedter Lager (Hohenlockstedt heute), liegt der kleine Wohnplatz Oesau mit einem kleinen Gasthof (heute Antikladen) und zwei Wohngebäuden. Im Lokal fanden regelmäßig Versammlungen der SA statt. In einem der Wohngebäude lebte Karl Hinsch, Mitglied der KPD. Seine politisch exponierte Wohnsituation hatte zu wiederholten Drangsalierungen durch die SA geführt, die in der Verwüstung der Wohnung gipfelten.
Zur Monatsversammlung der NSDAP am 29. 7. 1931 hatte Hinsch den Vorsitzenden der Kellinghusener KPD gebeten für Schutz zu sorgen. Am Abend gegen 20 Uhr trafen bei Hinsch ca. 60-70 Kommunisten aus Itzehoe, Kellinghusen, Mühlenbarbek und Lockstedter Lager ein. Einige von ihnen „betätigten“ sich als „Beobachtungsposten“.
Unterdessen kamen in der Gastwirtschaft SA- und SS-Leute in großer, nicht mehr genau bestimmbarer Anzahl zusammen. (…) Georg Rau, der Anführer des SA-Sturmbanns III/85, befahl, patrouillierende Kommunisten „festzunehmen“ und ihm im Lokal vorzuführen. Zwei Kommunisten wurden tatsächlich ins Lokal verschleppt, von Rau ausgefragt und stundenlang gegen ihren Willen festgehalten.
Gegen 22 Uhr stellten sich nach der Version der Anklageschrift des Oberstaatsanwalts in Altona die SA- und SS-Leute vor dem Lokal auf, um nach Oelixdorf zu marschieren. Gleichzeitig traten sechs von ihnen in den Garten der Gastwirtschaft, weil sie die „Anwesenheit Unbefugter“ vermuteten. Die sechs wurden mit Latten und Knüppeln geschlagen. Einer von ihnen sank bewusstlos zusammen, ein anderer rief um Hilfe. Die NS-Truppe stürmte von der Straße konzentrisch vor, kämpfte die Kommunisten in kurzer Zeit mit enormer Brutalität nieder. Ein SS-Mann tötete Julius Panje mit zwei wuchtigen Brechstangen-Schlägen auf den Kopf.
Die Kommunisten suchten ihr Heil in der Flucht, manche sprangen in die Winseldorfer Au. Sie wurden von SA-Leuten herausgefischt und weiter verprügelt. Den fliehenden KPD-Leuten setzten nationalsozialistische Rad- und Motorradfahrer nach. Karl Hinsch wurde am folgenden Morgen schwer verletzt in Schlotfeld gefunden. (…) Seine Wohnung war erneut zerstört, seine Familie obdachlos. Insgesamt gab es einen Toten, acht schwer und 28 leichter Verletzte, unter ihnen acht Nationalsozialisten. (…)
Für die Kommunisten war die „Schlacht von Oesau“ eine Niederlage schlimmsten Ausmaßes.“ 5
Am 2.12.1932 verkündet der Vorsitzende der Altonaer Strafkammer, Landgerichtsdirektor Schnittger, das Urteil:
Der Vorsitzende macht zunächst eingehende Darlegungen über die verschiedenen Delikte, die der Anklage zu Grunde gelegen haben. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht zu der Erkenntnis gekommen, dass für die Bemessung der Straftaten das Moment eines Landfriedensbruch nicht mehr erwiesen scheint. Dagegen muss bei fast sämtlichen Angeklagten, außer Rau und Stäcker, auf Raufhandel erkannt werden, sofern kein Freispruch für einige Angeklagte erfolgen musste. Da der Begriff eines Landfriedensbruchs nicht gegeben erscheint, hat sich das Gericht zu wesentlich niedrigeren Freiheitsstrafen entschlossen, als die Vertreter der Anklagebehörde beantragt hatten. Freigesprochen werden von den kommunistischen Angeklagten Bauklempner Ernst Rose-Kellinghusen und Arbeiter Johannes Ralfs-Itzehoe;
Von den nationalsozialistischen Angeklagten Schlosser Wilhelm Becker-Hingstheide, Landmann Hans Rehder-Kellinghusen (Vorbrügge) und Maler Hermann Lohse-Kellinghusen.
Verurteilt werden wegen Raufhandels Gelegenheitsarbeiter Walter Voß (weil vorbestraft) zu 3 Monaten Gefängnis, alle übrigen Angeklagten zu 2 Monaten Gefängnis und zwar:
Arbeiter Karl Hinsch, Sattler Karl Dohrmann-Lockstedter Lager, Arbeiter Otto Schumacher, Arbeiter Wilhelm Wrage, Arbeiter Karl Bötel, Arbeiter Gustav Harbs, Arbeiter Willy Bötel, Arbeiter Hans Hermann Harbs-Mühlenbarbek, Kutscher Karl Ehlers, Kraftwagenführer Wilhelm Verwiebe-Itzehoe, Arbeiter Otto Wrage-Mühlenbarbek, Holzpantoffelmacher Otto Dobinske, Gelegenheitsarbeiter Johannes Harms, Arbeiter Arthur Pries, Arbeiter Rudolf Suderow, Maurer Hermann Röhlk, Arbeiter Adolf Harbs, Pantoffelmacher Gerhard Pries, Arbeiter Karl Wieckhorst, Arbeiter Heinrich Wiechmann.
Von den nationalsozialistischen Angeklagten werden ebenfalls wegen Raufhandels zu 2 Monaten verurteilt:
Hermann und Georg Schwarzkopf und Kutscher Emil Scharries, sämtlich aus Winseldorf und Bäcker Bärlage-Mühlenbarbek, sowie Standartenführer Georg Rau-Itzehoe wegen Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung anstelle einer Haft von 10 Tagen zu 100 RM Geldstrafe, Landmann Hans Stäcker-Quarnstedt wegen Freiheitsberaubung zu 50 RM Geldstrafe.6
Die Urteilsbegründung findet sich am 3. 12. 1932 im „Stör-Boten“:
Bei Verkündigung des Urteils am gestrigen Vormittag führte der Vorsitzende der Altonaer Strafkammer, Landgerichtsdirektor Schnittger, bei der Begründung aus, dass eine völlige Klärung der Sachlage auch durch die Hauptverhandlung nicht möglich gewesen ist. Dieses liegt z.T. in den großen Widersprüchen in den einzelnen Aussagen der Beschuldigten, welche zum anderen Teil wieder in der scharfen politischen Gegnerschaft der verschiedenen Angeklagten ihren Grund haben. (…)
Einwandfrei ist festgestellt, dass die Nationalsozialisten sich zusammengefunden hatten zu einem Appell, der auch tatsächlich stattgefunden hat und der bereits längere Zeit vorher angesetzt war. Die SA-Leute sind also zu einem legalen Zweck und keineswegs mit der Absicht gekommen, Gewalttätigkeiten zu üben. Die Absichten der Kommunisten konnten nicht voll geklärt werden. Es gibt drei Möglichkeiten,
1. können sie sich mit der Absicht zusammengefunden haben, Landpropaganda betreiben zu wollen;
besteht die Möglichkeit, dass sie sich zu Angriffszwecken bei Hinsch eingefunden hatten und
bleibt die Möglichkeit, dass die Angeklagten zum Schutze ihres damaligen Genossen Hinsch zusammengekommen sind.
Die Absicht zu Gewalttätigkeiten lässt sich nicht beweisen, auch nicht durch die alleinige, allerdings schwer belastende Aussage des Angeklagten Voß. Landfriedensbruch scheidet deshalb bei der Beurteilung aus. Für die rechtliche Beurteilung ist es nun gleichgültig, ob die Teilnehmer zum Schutze des Hinsch oder zum Zwecke der Landpropaganda zusammen gekommen sind. Das Gericht hat sich zu der Überzeugung bekannt, dass die Angeklagten zusammen gekommen sind, um Hinsch zu schützen. (…)
Die Kommunisten tragen durch ihr Verhalten die Schuld an der schweren Schlägerei, die ein Menschenleben forderte. Für einige Angeklagte glaubt das Gericht, auf Freispruch erkennen zu müssen. Ein Vergehen gegen das Waffenmissbrauchgesetz scheint nicht vorzuliegen.
Auch bei den Angeklagten der NSDAP liegt aus denselben Gründen kein Landfriedensbruch vor. Diese hatten berechtigte Befürchtungen, dass es zu einer Schlägerei kommen sollte, als sie die Ansammlungen bei Hinsch bemerkten. Die Teilnahme am Raufhandel ist aber auch bei diesen nachgewiesen mit einigen Ausnahmen, bei denen das Gericht ebenfalls auf Freispruch erkannte. Zwei Angeklagte gelten als der Freiheitsberaubung überführt und mussten mit Geldstrafe bestraft werden. Die Gewährung einer bedingten Strafaussetzung wird später vom Gericht geprüft werden.7
Eine parteiinterne Versammlung der NSDAP findet am 31. Juli statt - die für den 1. August angesetzte Versammlung der KPD wird verboten. Die reichsweit auf Initiative der KPD gewünschte Zusammenarbeit mit der SPD scheitert auch in Kellinghusen. Die DNVP macht am 7. Oktober Werbung für die „ Harzburger Front“, die am 11. Oktober als Zusammenschluss von NSDAP, DNVP und dem „Stahlhelm“ gebildet werden soll.
Die Kinderturngruppe des Arbeiter Turn- und Sportvereins – Leitung Olli Sell
Kellinghusen unter dem Hakenkreuz 8
Am 23. Januar 1932 wird auch in Kellinghusen die „Eiserne Front“ gegründet. Die Eiserne Front war ein Zusammenschluss des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (Afa-Bund), der SPD und des Arbeiter Turn- und Sportbundes (ATSB) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Zu ihren politischen Gegnern gehörte auch die KPD. Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann charakterisierte die Eiserne Front als „Terrororganisation des Sozialfaschismus“.
Sie wurde reichsweit am 16. Dezember 1931 auf Initiative des Reichsbanners gegründet, um dem Zusammenschluss der antidemokratischen Rechten in der Harzburger Front ein Gegengewicht gegenüberstellen zu können. Die politische Führung des Abwehrbündnisses lag beim Parteivorsitzenden der SPD Otto Wels, die technische Leitung beim Reichsbanner-Vorsitzenden Karl Höltermann. Höltermann erklärte in seinem Aufruf zur Gründung der Eisernen Front:
„Das Jahr 1932 wird unser Jahr sein, das Jahr des endlichen Sieges der Republik über ihre Gegner. Nicht einen Tag, nicht eine Stunde mehr wollen wir in der Defensive bleiben – wir greifen an! Angriff auf der ganzen Linie! Unser Aufmarsch schon muss Teil der allgemeinen Offensive sein. Heute rufen wir – morgen schlagen wir!“
Die Eiserne Front hörte mit der Unterdrückung der Arbeiterbewegung und der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 auf zu bestehen.
Am 25. Januar 1932 gründete die KPD als Gegenreaktion die „Rote Kampffront“.
Die nächsten Monate standen auch in Kellinghusen im Zeichen des Reichspräsidentenwahlkampfes.
Bei der Reichspräsidentenwahl am 13. März 1932 erlangte keiner der fünf Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit im Reich:
49,6%
30,2%
13,2%
6,8%
0,3%
0,0%
Paul vonHindenburg
Adolf Hitler
ErnstThälmann
Theodor Duesterberg
Gustav Winter
Sonstige
in Kellinghusen:
45%
41%
9%
4%
10 Stimmen
Am 15. März entstehen in Kellinghusen Unruhen. Dazu berichtet der „Stör-Bote“ am 16. März 1932:
Bekannt ist unseren Lesern eine kurze handgreifliche Auseinandersetzung, die sich gestern Morgen vor dem Arbeitsamt zwischen einem Reichsbannermann und einem Nationalsozialisten abgespielt hatte, ohne weitere Folgen zu nehmen. (…) Schon nachmittags beizeiten war in den Straßen bekannt, dass abends „Bereitschaften“ von auswärts eintreffen würden. Die eine Seite wollte wissen, dass eine Säuberung „Klein-Moskaus“ vorgenommen werden sollte, während die andere Seite Befürchtungen hatte, dass die nationalsozialistische Notküche gestürmt werden sollte. In Trupps zu vier bis acht und mehr Mann, durchweg alle mit Handstöcken versehen, zogen hiesige und vornehmlich auswärtige Angehörige der KPD und des Reichsbanners durch die Straßen, offenbar mit einem bestimmten Ziel. Die hiesigen Nationalsozialisten, denen ganz offensichtlich diese Straßendemonstration galt, trafen entsprechende Gegenmaßnahmen und riefen ihre Mitglieder ebenfalls in Bereitschaft. Es lag eine Spannung in der Luft, die gar zu ähnlich an ein „zweites Oesau“ erinnerte. Man sah bei Jung und Alt selten so viele Handstöcke wie gestern abend.
Erst als Bürgermeister Strobel (SPD) um 9 Uhr von der Kieler Städtetagung heimgekehrt war, Landjägerei und ein Kripoüberfallkommando aus Neumünster angefordert hatte, leerten sich zusehends die Straßen, vornehmlich der besonders gefährdete östliche Stadtteil. Hier wurden umfassende Maßnahmen getroffen, die Gastwirtschaften geschlossen und alle Demonstranten, etwa 400 an der Zahl, derart verwiesen, dass gegen 11 Uhr die Straßen wieder gesäubert waren.
Am 17. März werden die Wohnungen und Häuser von Funktionären der NSDAP in Kellinghusen und ganz Preußen durchsucht. Am 10. April 1932 wird der Reichspräsident erneut gewählt.
Im zweiten Wahlgang treten noch drei Kandidaten an. Gustav A. Winter und Theodor Duesterberg ziehen ihre Kandidatur zurück. Um zu gewinnen, ist im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen nötig. Diese erreichte Paul von Hindenburg.
im Reich:
53,1%
36,7%
10,1%
0,0%
Paul von
Adolf Hitler
Ernst Thälmann
Sonstige
Hindenburg
in Kellinghusen:
50%
44%
7%
Durch Notverordnung der Reichsregierung wird die SA und SS am 13. April verboten. Abermals werden Hausdurchsuchungen durchgeführt. Die Sturmfahne der SA wird beschlagnahmt.
Am 24. April 1932 wird der Preußische Landtag neu gewählt.
Das Ergebnis im Reich:
NSDAP
SPD
KPD
DNVP
DP
DVP
36%
21%
13%
7%
2%
2%
in Kellinghusen:
45%
35%
10%
4%
3%
2%
9
Franz von Papen als neuer Reichskanzler hebt am 14. Juni das SA-Verbot wieder auf.
Erneut sind Wahlen – am 31. Juli 1932 soll ein neuer Reichstag gewählt werden. Sie enden mit starken Zuwächsen für die NSDAP. Diese wird mit Abstand stärkste Partei im Reichstag, jedoch ohne die absolute Mehrheit zu erreichen.
Das Ergebnis im Reich:
NSDAP
SPD
KPD
Z
DNVP
BVP
DVP
DStP
37,3%
21,6%
14,3%
12,4%
5,9%
3,2%
1,2%
1,0%
in Kellinghusen:
49%
31%
12%
4%
In der Zeit vom 4. bis 7. Juli 1932 kommt es in Kellinghusen erneut zu einer Reihe politisch begründeter gewaltsamer Zusammenstöße.
Am 3. Juli ist Schützenfest im Heisch. Gegen 22.30 Uhr besuchen die Kommunisten Fabian, Klode, Harbs und Hansen das Fest. Es kommt zu einer Reihe kleinerer Reibereien und Streitigkeiten mit dem Wirt Delfs. Vor dem Lokal prügeln sich wenig später Kommunisten und Reichsbannerleute mit den Nationalsozialisten.
Nach Schluss des Festes, es ist schon nach 2.00 Uhr morgens, geht eine Gruppe Kommunisten, unter ihnen auch Otto Fabian, vom Heisch nach Hause, das heißt in Richtung Stadt. Beim Bahnübergang Vorbrügger Straße werden sie von Nationalsozialisten, die im Wagen vom Schützenfest nach Hause fahren wollen, eingeholt. Nach kurzen verbalen Provokationen springen Willi Lempfert, Rudolf Ehlers, Kurt Reese und andere aus dem haltenden Wagen und
prügeln auf den Kommunisten Fabian ein.
Im Strafverfahren des Schöffengerichts Neumünster am 3. 8. 1932 macht Otto Fabian zu den Vorgängen die folgende Aussage:
„Ich war mit Klode, Harbs und Hansen ( KPD ) gegen 22.30 Uhr nach dem Heisch gegangen, um dort das Schützenfest zu besuchen. Am Schluss ging ich mit Klode und den anderen nach Hause. Unterwegs überholte uns das Auto von Schmalfeldt, dessen Insassen uns zuriefen:„Heil Hitler!“, worüber wir lachten. Beim Bahnübergang sprang der Nazi Ehlers aus dem Wagen und griff mich an; dann gab es zwischen uns eine Schlägerei. Bald kamen zwei Autos hinzu, deren Insassen auch heraussprangen und auf mich einschlugen. Meine Begleiter standen auf der anderen Seite. Die Nazis Lempfert, Bruhn, Heeschen und die beiden Brüder Koppe schlugen auch auf mich ein. Lempfert mit einem Gummiknüppel und Heeschen mit einem Handstock von Koppe, der völlig zersplitterte; Bruhn, Reese und Koppe schlugen mit der Faust. Zum Schluss bin ich die Feldstraße heruntergelaufen, die anderen hinter mir her.“
Nach kurzer Beratung verkündet das Gericht folgendes Urteil:
Ehlers wird wegen Körperverletzung (schon einschlägig vorbestraft) zu 6 Wochen Gefängnis, Lempfert und Reese werden zu je vier Wochen Gefängnis wegen gemeinschaftlicher Körperverletzumg verurteilt. Die weiterbeschuldigten Heeschen, Koppe und Bruhn werden freigesprochen, da einesteils die Mittäterschaft nicht nachgewiesen, andernteils das Gericht sich den ge - machten Belastungsaussagen nicht anschließen kann.
Nach dem Überfall auf Otto Fabian rennt der Melker Hermann Klode wutentbrannt nach Hause in die Lehmbergstraße. Er steht vor seiner Wohnung und sieht die Nationalsozialisten Burmeister und Elfert in Begleitung von Berta Westphal die Straße hinaufkommen. Klode geht auf die andere Straßenseite, um Burmeister wegen des Überfalls auf Fabian zur Rede zu stellen. In Klodes Begleitung befinden sich der 18-jährige Schlachterlehrling Löffler, der 20-jährige Malergeselle Naumann und der Kamerad Theede.
Klode stellt sich vor Burmeister auf und sagt: „Der ist auch dabei gewesen!“ Er meint den Überfall auf Fabian. Klode packt Burmeister, der versucht ihn zurück zu schubsen, an der Gurgel und reißt ihn zu Boden. Mit einem Gummiknüppel schlägt er auf Burmeister ein. Als Burmeister flüchtet, wird er von Klode verfolgt, der fortwährend auf ihn einschlägt. Burmeister flüchtet dann in das Haus von Gustav Peters.
Elfert, der seinem Kameraden Burmeister helfen will, wird währenddessen von Naumann, Löffler und Theede abgeschirmt. Er schiebt Naumann zur Seite und erhält deshalb von Löffler und Theede Schläge auf den Hinterkopf. Er läuft fort, wird wieder geschlagen und fällt schließlich hin. Für einen kurzen Moment ist er bewusstlos.
Das Schöffengericht Neumünster ahndet diese Taten mit 5 Monaten Gefängnis für Klode und je 4 Monaten Gefängnis für Theede und Löffler.
Während im weiteren Verlauf des 4. Juli, es ist ein Montag, Ruhe herrscht, eskalieren die Streitigkeiten am darauf folgenden Dienstag, dem 5. Juli.
Es ist „Stempeltag“ - im Arbeitsamt werden die Stempelgelder gezahlt. Beim Betreten des Arbeitsamtes trifft der Nationalsozialist Hugo Koppe, der bei dem Überfall auf Otto Fabian in der Nacht zuvor beteiligt war, auf eine größere Ansammlung von Reichsbannerleuten und Kommunisten, unter ihnen Otto Fabian. Fabian stellt Koppe ein Bein, der aber auf diese Provokation nicht eingeht. Koppe geht seiner Tätigkeit nach. Fabian und andere aber warten darauf, dass Koppe das Arbeitsamt wieder verlässt. Wenig später kommt Koppe heraus und wird sofort von Fabian geschlagen. Andere kommen hinzu und schlagen auf Hugo Koppe ein. Erst als ein Pfiff ertönt und der Ruf erschallt: „Die Polente kommt!“, lassen die Angreifer von ihm ab.
Otto Fabian wird für diese begangene Körperverletzung in einem Revisionsverfahren am 7. November 1932 vom Schöffengericht in Neumünster mit einer Gefängnisstrafe von 4 Monaten belegt. Die Strafe wird unter Bewilligung einer Bewährungsfrist von 3 Jahren bis zum 31. Dezember 1935 ausgesetzt.
Auch der Bruder Hugo Koppes, Werner Koppe, hat die Schlägerei auf dem Hof des Arbeitsamtes beobachtet, auch er ist Mitglied der NSDAP. Um nicht in die Schlägerei verwickelt zu werden, lässt er sich von Polizeihauptwachtmeister Freitag am Arbeitsamt vorbeiführen.