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Rette sich wer kann in die neue Zeit: das war 1945, nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft, die Devise von Millionen Deutschen. Im Frühjahr des Jahres 1945 befanden sich in Deutschland weite Bereiche des Tausendjährigen Reiches der Nationalsozialisten in allgemeiner Auflösung. Während für die deutschen Soldaten noch Durchhalteparolen bis zur letzten Patrone ausgegeben wurden, verschwanden hohe NS-Funktionäre und KZ-Führer tauchten unter. Ab 1946 setzte eine Fluchtwelle von SS-Tätern und Nationalsozialisten nach Übersee ein und erreichte 1948/49 ihren Höhepunkt. Eine Besonderheit stellte die Rattenlinie Nord dar, da diese nicht aus Europa heraus führte, sondern nach Schleswig-Holstein in Richtung Flensburg verlief, KZ-Kommandanten, SS-Angehörige, hohe Nazifunktionäre erreichten zu Hunderten die Stadt. Hier gab es für sie neue Ausweispapiere und neue Uniformen. Aus Massenmördern wurden einfache Soldaten. Begünstigt durch das alliierte Interesse an einer funktionsfähigen Polizei fanden nach 1945 zahlreiche SS- und Gestapo-Funktionäre bei der Kriminalpolizei eine neue berufliche Existenz. Die bestehenden Netzwerke und alten Seilschaften der Nazis funktionierten zuverlässig. Die Justizbehörden entwickelten sich ebenfalls zu Tummelplätzen für ehemalige NS-Funktionäre. Belastete Juristen hatten im Westen kaum strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten, die meisten der schon in der NS-Zeit tätigen Juristen im höheren Justizdienst machten weiter Karriere. Die Justiz sprach sich selbst frei. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde von den meisten Deutschen rundweg abgelehnt - eine Vergangenheitsbewältigung fand so gut wie gar nicht statt. Die Phase des Übergangs vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik wies geradeso Kontinuitäten im Bereich der politischen Funktionsträger auf. Die Karriere von Heinz Reinefarth, Bürgermeister von Westerland auf Sylt, sucht in der Bundesrepublik Deutschland ihresgleichen, denn Reinefarth war der einzige ehemalige SS-General, der jemals in einen deutschen Landtag einzog. Etliche vergangenheitspolitische Skandale erschütterten Schleswig-Holstein, neben dem Fall Reinefarth die Fälle Lautz, Schlegelberger, Oberheuser, Catel und Heyde-Sawade. Schleswig-Holstein sorgte mit seinem braunen Erbe überregional und international für Aufsehen und für Schlagzeilen, die seinen Ruf als brauner Sumpf oder braunes Naturschutzgebiet begründeten. Die angestrebte Entnazifizierung der jungen Bundesrepublik war gescheitert.
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Die Geschichte des auf dem Cover-Foto abgebildeten Zuges begann im Konzentrationslager Bergen-Belsen, in dem mehr als 52.000 Menschen ermordet wurden. Die KZ-Häftlinge des Zuges waren Austauschhäftlinge. Dies waren jüdische Häftlinge, die ausländische Pässe besaßen und von der SS im Konzentrationslager Bergen-Belsen in einem besonderen Lager als Geiseln benutzt und zunächst von der Vernichtung ausgenommen waren. Sie sollten gegen internierte Deutsche im westlichen Ausland eingetauscht oder gegen Devisen „verkauft“ werden. Diese Austauschhäftlinge hatten im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager zunächst noch etwas bessere Lebensbedingungen: Sie wurden als Familien mit ihren Kindern gemeinsam untergebracht, waren von der Arbeitspflicht ausgenommen, durften ihre eigene Kleidung behalten und einige persönliche Gegenstände, sie konnten Post und Pakete empfangen. Diese zunächst etwas günstigeren Lebensbedingungen veränderten sich aber im letzten Kriegsjahr: Durch die Überbelegung im Konzentrationslager Bergen-Belsen aufgrund von Räumungstransporten aus anderen Konzentrationslagern entwickelte sich das Lager zu einem Auffang- und Sterbelager.
Vor den heranrückenden britischen und amerikanischen Truppen sollte das Lager im April 1945 evakuiert werden. Insgesamt verließen drei Züge das Konzentrationslager Bergen-Belsen mit dem Ziel Konzentrationslager Theresienstadt. Am 7. April 1945 wurde auf dem Bahnhof in Celle ein Räumungstransport mit 2.500 jüdischen Geiselhäftlingen zusammengestellt. Am 8. April 1945 setzte sich der Zug gegen 14.00 Uhr in Bewegung. Der Zug passierte drei größere Orte: Uelzen, Salzwedel und Stendal. In den völlig überfüllten Waggons ohne ausreichende Verpflegung und medizinische Versorgung starben viele Menschen. Am 12. April 1945 kam der Zug zwischen Zielitz und Farsleben zum Stehen; eine Weiterfahrt nach Magdeburg war durch Beschuss nicht möglich. Dieser Ort bot durch eine Bewaldung eine letzte natürliche Deckung gegen Fliegerangriffe.
Die Wachmannschaft des Zuges setzte sich in der Nacht vom 12. auf den 13. April ab und entzog sich durch Flucht einer Bestrafung. Die Lok und der erste Waggon, auf dem das Flugabwehrgeschütz installiert war, verschwanden in Richtung Magdeburg. Gegen Mittag des 13. April wurden auf der benachbarten Straße zwei amerikanische Aufklärungspanzer der 9. US Armee der 743. Infanteriedivision unter Leitung von Major Clarence L. Benjamin gesichtet. Die Amerikaner näherten sich dem Zug und befreiten die Menschen. Sie evakuierten die 2.500 ausgemergelten, hungrigen und kranken Menschen nach Farsleben und in eine Kaserne nach Hillersleben, um sie zu versorgen.
„Die Strafverfolgung machte in der BRD nicht nur um Konzernverbrecher sondern auch um die meisten Täter des faschistischen Machtapparates einen Bogen. Das Scheitern der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechern in der BRD lag weder an der ungenügenden Beweislage noch am Alter und Gesundheitszustand der Betreffenden. Die Politik in der BRD war von Anfang an nicht an einer vollen Aufdeckung der Verbrechen des deutschen Imperialismus und an der konsequenten Verfolgung faschistischer Straftäter interessiert.“
Klaus Geßner
Vorbemerkungen: Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart
1. „Die „Rattenlinie Süd“
1.1 Entnazifizierung durch Taufe
1.2 Eduard Roschmann
1.3 Die „Rattenlinie der Geheimdienste“
2. Die „Rattenlinie Nord“
3. Franz Schlegelberger
4. „Braune Justiz“
Ausgewählte Fallbeispiele:
5. Heinz Ulrich Reinhold Kasper
5.1 Das Polizeibataillon 310 (= III/Pol.15) und seine Verwendung in der Partisanenbekämpfung
6. „Die braunen Wurzeln der Polizei“
6.1 Das Polizeibataillon 303
6.2 Das Massaker von Babyn Jar und weitere Massaker des Polizeibataillons 303
6.3 Die Gegenwart der Vergangenheit - das BKA und einige seiner braunen Wurzeln
7. Feldpolizeikommissar Gerhard Heinz Riedel – Führer der Geheimen Feldpolizei Gruppe 570
8. SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth
9. SS-Obersturmbannführer Heinz Richter und SS-Hauptsturmführer Wilhelm Nickel: Das Massaker in Sonnenburg
10. Fritz Schmidt-Schütte
11. Martin Fellenz
12. Herta Oberheuser
Literaturhinweise
Archive
Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit 1945-1949 Für viele antifaschistische Widerstandskämpfer und Verfolgte des Naziregimes war der Mai 1945 der Monat ihrer Befreiung. Sie erwarteten, dass der terroristische Staatsapparat mit SS, SD und Gestapo zerschlagen werde und dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft und aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden würden. Von Deutschland sollte nie wieder ein Krieg ausgehen.
Doch die Entnazifizierung geriet zu einer Farce. Nazis blieben in ihren Ämtern und in den Betrieben oder kehrten in ihre Funktionen zurück. Im Januar 1946 klebte Fritz Bringmann, der nahezu zehn menschenverachtende Jahre Häftling der Konzentrationslager Fuhlsbüttel, Sachsenhausen, Neuengamme und in Nazi-Gefängnissen gewesen war, Flugblätter mit dem Titel „Hitler ging – die Nazis blieben in Ämtern, Behörden und Betrieben“ in der Lübecker Innenstadt. Als er das letzte Flugblatt am Gerichtsgebäude in der Großen Burgstraße angebracht hatte, wurde er von der britischen Militärpolizei entdeckt und verhaftet. Im Februar 1946 bekannte er sich während der gerichtlichen Vernehmung zur Abfassung des ungenehmigten Flugblatttextes und bekräftigte seine Befürchtung, dass das Belassen im Amt von Alt-Nazis den Aufbau der Demokratie gefährde und dass so das Vertrauen der Bevölkerung in den Demokratisierungsprozess nicht entstehen könne.
Die alliierten Siegermächte hatten zwar auf der Potsdamer Konferenz im Juli und im August 1945 allgemeine Grundsätze zur politischen Säuberung beschlossen, sich jedoch nicht auf gemeinsame Verfahren und Zielvorgaben geeinigt. In der britischen Zone fand eine Entnazifizierung nur in sehr begrenztem Umfang statt - man konzentrierte sich hauptsächlich auf die schnelle Auswechslung der Nazi-Eliten. Die Briten hatten vornehmlich pragmatische Absichten zwecks eines möglichst raschen und reibungslosen Wiederaufbaus. Hätte man konsequent alle Mitglieder der NS-Vereinigungen angeklagt, deren verbrecherischer Charakter vom internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg festgestellt worden war, hätte man nach amerikanischen Schätzungen in den besetzten Zonen etwa 5 Millionen Verfahren durchführen müssen.
Die Briten arbeiteten bei der Entnazifizierung mit einem Skalensystem von 1 bis 5, wobei die leichteren Fälle (die Kategorien 3 bis 5) von deutschen Entnazifizierungsausschüssen (Spruchgerichte) entschieden wurden, die von den Briten 1946 aus Mitgliedern demokratischer Parteien wie der SPD vor Ort gebildet worden waren. Die Entscheidungen dieser Ausschüsse wurden überwie gend akzeptiert, da die Kategorien 1 und 2 (schwere Fälle) ohnehin nicht in diesen Gremien behandelt wurden. Für die Aburteilung von Angehörigen verbrecherischer NS-Organisationen wie beispielsweise der SS, der Waffen-SS und des SD wurden deutsche Spruchkammern eingerichtet. Mehr als 1200 deutsche Richter, Staatsanwälte und Hilfskräfte führten in der britischen Zone ca. 24.200 Verfahren durch. Mit Persilscheinen, die vielen Tätern von (mutmaßlichen) Opfern für die beurteilenden Kommissionen und Spruchkammern ausgestellt wurden, gingen sie in die Politik, Justiz, Verwaltung, Polizei und an die Universitäten zurück, oft auch unter falschem Namen und häufig unter Mithilfe der Netzwerke alter Kameraden oder von „Seilschaften“. So waren zeitweise in den 1950er Jahren mehr als zwei Drittel der leitenden Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes ehemalige Mitglieder der SS. Viele der tief in die NS-Vergangenheit verstrickten Mitläufer konnten in der Bundesrepublik Deutschland unbehelligt nach 1949 Karriere machen.
Rette sich wer kann in die neue Zeit – das war 1945, nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft, die Devise von Millionen Deutschen, die vor „Spruchkammern“ Rechenschaft ablegen mussten über ihr Verhalten in der NS-Zeit. In großem Stil wurde dabei beschönigt und gelogen. Das Verfahren hatte sich in sein Gegenteil verkehrt: Anstatt mit Hilfe der Spruchkammern Nationalsozialisten aus ihren Stellungen zu entfernen, konnten hier die Nazis sich befreien von den Brandmalen ihrer früheren Tätigkeiten. In Schleswig-Holstein wurde 1948 unter der Regierung der SPD ein Entnazifizierungsgesetz verabschiedet, durch das über 400.000 Menschen als entnazifiziert und nur gut noch 2.000 als schwerer belastet eingestuft wurden.
Noch im Landtagswahlkampf 1950 waren sich alle Parteien darüber einig, dass die noch anhängigen Verfahren möglichst schnell zu beenden seien. Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein 1950 gewann ein Bündnis aus BHE
(Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) und CDU, das sich im Wahlkampf massiv gegen die Entnazifizierung ausgesprochen hatte und setzte gegen die SPD-Opposition ein Gesetz durch, das deutlich über den bis dahin bestehenden Konsens hinausging. Danach wurden praktisch alle vorher noch Belasteten rehabilitiert und rückwirkend als „Entlastete“ eingestuft. Dieses Gesetz führte die „Entnazifizierung“ ad absurdum. Wer aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden war, hatte nun Anspruch auf seine alten Rechte. Das Gesetz machte auch den Weg frei für die Rückkehr ehemaliger NS-Funktionäre in höchste Stellen in Politik und Verwaltung. Der CDU-Innenminister Paul Pagel prägte den Begriff der „Renazifizierung“. Er war im Kabinett von Ministerpräsident Walter Bartram (CDU) der einzige, der nicht einer NS-Organisation angehört hatte. Pagel bezeichnete seine Kabinettskollegen als „Koalition aus SA, SS und NSDAP“. Am 14. März 1951 schrieb er in sein Tagebuch: „Man kann mit Recht allmählich von einer Renazifizierung sprechen. Merkwürdig, wie selbstverständlich die alten Nazis auftreten und wie feige sie im Grunde sind, wenn man ihnen hart entgegentritt.“ In der Debatte des Landtages vom 24. November 1950 zum Thema „Stopp der Entnazifizierung“ hatte der SPD-Abgeordnete Wilhelm Käber aus Hohenlockstedt im Kreis Steinburg bitter erklärt: „Schleswig-Holstein stellt fest, daß es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat.“
Verstärkt wurde das Scheitern einer tatsächlichen Aufarbeitung der Vergangenheit noch dadurch, dass die amerikanische Außenpolitik ab 1946 ihren Fokus gegen die Sowjetunion gesetzt hatte, in der sowjetisch besetzten Zone dagegen wurde kategorisch behauptet, alle NS-Verbrecher seien ausschließlich im Westen zu finden.
Durch die Amnestiegesetze von 1949 und 1954 wurden große Teile der von deutschen Gerichten bestraften NS-Täter begnadigt und ihre Strafen, ebenso wie die Urteile der Spruchkammern, aus dem Strafregister gestrichen. Dazu rehabilitierte der Grundgesetz-Artikel 131 nahezu alle Beamten, die nach dem Krieg von den Alliierten aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren. Die fünfziger Jahre umfassen die Jahre der Verharmlosung, der Leugnung und der Amnesie der NS-Täter: Das bürokratische Entnazifizierungsverfahren überstanden viele schwerstbelastete NS-Täter ohne große Probleme. Als vermeintlich unbescholtene Bürger übernahmen sie wieder Aufgaben in der öffentlichen Verwaltung, der Politik, der Justiz sowie innerhalb der Ärzteschaft. So praktizierte der Euthanasie-Täter Werner Heyde unter falschem Namen, bis zu seiner öffentlichen Enttarnung, als Arzt und Gutachter in Flensburg. Ähnliche Fälle waren die der KZ-Ärztin Herta Oberheuser, die trotz ihrer Verurteilung erst nach massiven internationalen Protesten ihre Approbation verlor und des Euthanasieexperten Werner Catel, der in der Nachkriegszeit zum Leiter der Kieler Universitäts-Kinderklinik berufen wurde.
Auch in der schleswig-holsteinischen Justiz verblieb das alte Personal. In den Augen der britischen Militärregierung galt der ehemalige stellvertretende Pressereferent im Reichsjustizministerium Dr. Adolf Voss, Mitglied der NS-DAP seit 1937 und seit 1942 Oberstaatsanwalt am OLG Kiel, als unbelastet und wurde Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft in Flensburg. An seiner Seite in Flensburg agierte Dr. Eduard Nehm, ebenfalls Parteimitglied und Staatsanwalt unter dem NS-Regime. Voss wurde 1954 zum Generalstaatsanwalt ernannt und die vakante Stelle wurde von Erich Biermann besetzt, seit 1937 Mitglied der NSDAP und während des Krieges ebenfalls Oberstaatsanwalt in Kiel. An seiner Seite befand sich Dietrich Glander, der 1937 als Anklagevertreter beim berüchtigten Schleswig-holsteinischen Sondergericht tätig war.
Die zunehmende Aufweichung der Entnazifizierung Ende der 40er Jahre entwickelte sich weiter in der jungen Bundesrepublik zur „Integrationspolitik“ in den frühen 50er Jahren. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde von den meisten Deutschen rundweg abgelehnt - eine Vergangenheitsbewältigung fand so gut wie gar nicht statt.
Die personellen Kontinuitäten in vielen deutschen Bundesämtern waren besonders auffällig. Im Bundesnachrichtendienst (bis 1956 „Organisation Gehlen“) besaß nahezu jeder zehnte Mitarbeiter einen SS-, SD- oder Gestapo-Hintergrund. Erst im 21. Jahrhundert förderte die Historiker-Kommission des BND weitere, teils erschreckende Details zu Tage. So geht aus der Arbeit der Kommission hervor, dass auch mehrere ehemalige SS-Offiziere beim BND tätig gewesen waren, die eine Mitschuld an schwersten Kriegsverbrechen trugen. Mit dem BND-Mitarbeiter Emil Augsburg wurde 1958 ein Mann zum Oberregierungsrat auf Lebenszeit ernannt, der zehn Jahre früher auf der amerikanischen Fahndungsliste für Kriegsverbrecher gestanden hatte. Augsburgs Einsatzkommando war an Massenexekutionen von Juden in der Sowjetunion beteiligt und gehörte der Einsatzgruppe B an. Die Aufgabenstellung der SD-Einsatzgruppen war im Rahmen der „Gegnerbekämpfung“, Morde an Juden, Partisanen und kommunistischen Funktionären zu verüben. Er wurde für „außergewöhnliche Ergebnisse […] bei Sondereinsätzen“, also den Massenmorden, in seiner Personalakte belobigt. Augsburg stieg 1944 zum SS-Sturmbannführer (SS-Nr. 307.925) auf. Ab Ende 1947 beobachtete er für die Organisation Gehlen (Org), den Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes (BND), Emigrantenorganisationen, u. a. Aktivitäten der Organisation Ukrainischer Nationalisten. Augsburg war ab 1949 in der Generalvertretung L der Org in Karlsruhe tätig. Für Augsburgs reine Weste bürgte ein anderer Nazi-Kriegsverbrecher: Franz Six war 1948 während des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er verdankte es der Adenauerregierung, dass er bereits nach fünf Jahren wieder freikam.
Im internationalen geheimen Kampf gegen den „Kommunismus“ spielten neben hauptamtlichen Mitarbeitern Informanten eine wichtige Rolle. Seit 1958 arbeitete Walther Rauff als Informant für den BND. Der NS-Kriegsverbrecher gilt als Erfinder des Gaswagens, mit dem eine halbe Million Menschen getötet wurden.
Rauff wurde vom ehemaligen Waffen-SS-Mann Wilhelm Beisner geworben. Beide kannten sich von der Einsatzgruppe Afrika, die für die Endlösung der Judenfrage im Nahen Osten vorgesehen war. Das Kriegsende verhinderte die geplante Massenvernichtung. Später konnte sich Rauff wie andere Nazis nach Lateinamerika absetzen. Von dem braunen Netzwerk dort profitierte auch der BND.
Ab 1958 lebte Rauff in Chile als Geschäftsmann mit besten Verbindungen zum chilenischen Militär. Obwohl Deutschland einen Auslieferungsantrag gestellt hatte, nahm er an Schulungen des BND in Deutschland teil und reiste sogar unter eigenem Namen. Der oberste chilenische Gerichtshof lehnte den deutschen Auslieferungsantrag ab. Rauffs Anwaltskosten bezahlte zum Teil der BND.
Die Integrationspolitik zeigte sich auch darin, dass viele inhaftierte „hauptschuldige“ und „belastete“ Kriegs- und NS-Verbrecher frühzeitig frei kamen, noch bevor diese ihre Haftstrafe verbüßt hatten - oft nach massiver Fürsprache der bürgerlichen, kirchlichen, sozialdemokratischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten der Bundesrepublik.
Die Anfänge einer echten Vergangenheitsbewältigung finden sich erst Mitte Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre. Am 28. April 1958 begann der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess vor dem Schwurgericht Ulm. Angeklagt waren zehn Gestapo-, SD- und Ordnungspolizeiangehörige, Teile des Einsatzkommando „Tilsit“, das zwischen Juni und September 1941 5.502 jüdische Kinder, Frauen und Männer im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hatte. Der Prozess gilt als erster Wendepunkt in der justiziellen und öffentlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus.
In einem weiteren sehr wichtigen Schritt wurde im November 1958 die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ eingerichtet. Bald darauf begann man mit der systematischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen - maßgeblich vorangetrieben von Fritz Bauer fanden diese Entwicklungen in den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozessen ihren ersten Höhepunkt. In juristischer Hinsicht erregten die zahlreichen NS-Prozesse der sechziger Jahre Aufmerksamkeit. Vor allem der 1961 in Jerusalem stattfindende Prozess gegen Adolf Eichmann sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse 1963–1965 entwickelten sich zu Medienereignissen und konfrontierten die Bevölkerung mit den NS-Verbrechen. Die Prozesse verdeutlichten, dass NS-Täter noch immer nicht alle zur Rechenschaft gezogen worden waren und damit das Ausmaß nicht aufgearbeiteter Vergangenheit. Literatur, Theater und Film griffen die Thematik auf. Peter Weiss verarbeitete die Protokolle des ersten Auschwitz-Prozesses in seinem Dokumentardrama „Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen“ von1965. Das Theaterstück beschäftigte sich mit dem Abgrund, der die Lebenden von den Toten trennt, und zeigte dennoch Mal um Mal, wie Auschwitz – trotz dieses letztlich unüberwindlichen Abgrundes – weiter in der Gegenwart wirkt. Hierin lag der eigentliche „Skandal des Stücks“, die Vorstellung von Auschwitz als etwas in unserer Mitte, was auch einen wahren Sturm von Reaktionen hervorrief. Nach der Premiere nahm die Debatte gewaltige Ausmaße an -Tausende Artikel, die über das Stück und seine Rezeption geschrieben wurden, legten beredtes Zeugnis ab.
1959 befasste sich Wolfgang Staudtes Spielfilm „Rosen für den Staatsanwalt“ mit den personellen Hinterlassenschaften der NS-Justiz und Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ von 1963 problematisierte das Verhalten speziell von Papst Pius XII. während der NS-Zeit.
Auf politischer Ebene sorgten vor allem die Verjährungsdebatten des Bundestages 1965 und 1969 sowie die Skandale um Politiker mit „brauner Vergangenheit“ wie z.B. Hans Globke oder Theodor Oberländer für die Präsenz der NS-Zeit in der Öffentlichkeit. Die Verjährungsdebatte 1965 bewegte sich zwischen zwei Kristallisationspunkten. Einerseits wurde aus rechtstaatlichen Bedenken die Veränderung der Verjährungsfristen gänzlich abgelehnt, um die Rechtsicherheit zu erhalten und kein „NS-Sonderrecht“ zu etablieren – andererseits wurde aus moralischen und politischen Erwägungen heraus eine Aufhebung der Verjährung gefordert. Man einigte sich schließlich auf eine Verschiebung des Beginns der 20jährigen Verjährung von 1945 auf 1949. Das hatte eine zweite große Verjährungsdebatte 1969 zur Folge mit dem Ergebnis, dass die Verjährungsfrist um 10 weitere Jahre auf 1979 verlängert wurde. 1979 wurde sie schließlich ganz aufgehoben.
Da aber große Teile der Kriegsgeneration es meist ablehnten, mit der NS-Vergangenheit konfrontiert zu werden, stellte die ersten wirklich bohrenden Fragen erst die Nachkriegsgeneration – zumindest in größerem Umfang. Die 68er Bewegung markierte einen weiteren und dieses Mal nachhaltigen Höhepunkt der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen. Gerade die personellen Kontinuitäten vom „Dritten Reich“ zur Bundesrepublik waren ein wesentlicher Kritikpunkt der Studentenbewegung. Es herrschte der Eindruck vor, „dass nahezu alle westdeutschen Eliten durchwebt waren von den Mitläufern und Mittätern des Adolf Hitler“. Die Kontinuitätslinien zwischen der BRD und dem Nationalsozialismus wurden offen gelegt und man erkannte, dass es nie einen wirklichen Bruch mit dem Nationalsozialismus gegeben hatte. Die teilweise sehr fragwürdigen Vergangenheiten von Politikern waren von zentraler Bedeutung für die 68er Bewegung. Der Bundeskanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, stand aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Tätigkeit im Reichsaußenministerium in der Kritik. In diesem Zusammenhang spielte vor allem die Journalistin Beate Klarsfeld eine wichtige Rolle, die mit ihrem französischen Mann Serge Klarsfeld mit detaillierten Dokumentationen auf zahlreiche unbehelligt lebende nationalsozialistische Täter hingewiesen hatte, u. a. auf Kurt Lischka, Alois Brunner, Klaus Barbie, Ernst Ehlers, Kurt Asche. Sie forcierte die Diskussion um den Kanzler mit mehreren Dokumentationen zum Nachweis seiner Verstrickung in das NS-Regime und verschiedenen Aktionen. Berühmtheit erlangte die Ohrfeige, die sie Kiesinger auf dem Bundesparteitag der CDU in Berlin am 7. November 1967 gab. Auch wenn Klarsfeld der Studentenbewegung nicht angehörte, „ so war die Ohrfeige ganz aus dem Geist von 1968. Sie war gutes politisches Theater, medial kommunizierbarer, wirkungsvoll inszenierter Protest.“ Klarsfeld begründete ihre Tat damit, dass sie „der öffentlichen Meinung in der ganzen Welt beweisen wollte, dass ein Teil des deutschen Volkes, ganz besonders aber seine Jugend, sich dagegen auflehnt, dass ein Nazi an der Spitze der Bundesregierung steht, der stellvertretender Abteilungsleiter der Hitlerpropaganda für das Ausland gewesen war.“ Ein Flugblatt der Studenten forderte denn auch voll Empörung „endlich eine richtige Entnazifizierung“: „Wir haben sogar einen ehemaligen Nazipropagandisten als Bundeskanzler! [...] Machen wir Schluß damit, daß nazistische Rassenhetzer, daß die Juden-Mörder, die Slawen-Killer, die Sozialisten-Schlächter, daß die ganze Nazi-Scheiße von gestern wieterhin ihren Gestank über unsere Generation bringt. Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde: Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt hinaus. [...] Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, Nazi-Gesetzgeber aller Couleur , Nazi-Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer, Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen, Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, Nazi-Bundeskanzler, und nicht zuletzt gegen Nazi-Kriegsgewinnler, Nazi-Fabrikanten, Nazi-Finanziers. Verweigern wir uns total den Nazis. [...] Damit legen wir den gesamten Apparat dieser miesen Gesellschaft lahm, denn er besteht – bezeichnenderweise! zu einem lebenswichtigen Teil aus den alten Nazis."
Etliche 68er sahen die Voraussetzungen für den Faschismus in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft und weniger im Judenhass und Rassenwahn. Sie übernahmen teilweise Positionen der marxistischen Faschismustheorien, derzufolge ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus besteht. Marxistische Theoretiker bezeichnen den Faschismus als eine terroristische Herrschaftsform des Kapitals, sie sehen die ökonomische Basis als allein entscheidend an und betrachten den Faschismus als Variante des Kapitalismus in der Krise, in dem die Faschisten lediglich Marionetten der Kapitalisten sind.
Das Ende der 60er Jahre war definitiv das Ende des Schweigens und es kam im Parlament zu Auseinandersetzungen über die Vergangenheit der Hitler-Diktatur und die Zukunft der Demokratie.
Mit der Wahl des Lübecker Emigranten Willy Brandt zum Bundeskanzler am 21. Oktober 1969 entschied sich die Bevölkerung für mehr öffentliche Erinnerung an die NS-Vergangenheit. 1970 kam es zum ersten Mal im Deutschen Bundestag zu einer offiziellen Gedenkveranstaltung aus Anlass des Kriegsendes. Brandt wollte mehr Demokratie wagen und ein neues Verhältnis zu Osteuropa aufbauen. Große Beachtung fand Brandts Kniefall vor dem ehemaligen Warschauer Ghetto. Am Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto zeigte er damit doch den Willen zur nationalen Verantwortung und das Eingeständnis einer kollektiven Scham. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt", schreibt Brandt später in seinen Erinnerungen. Er habe gebetet, dass man den Deutschen verzeihen möge, so Brandt. In Umfragen lehnte jeder zweite West-Deutsche 1970 allerdings Brandts Geste ab und hielt sie für übertrieben.
Brandts Nachfolger, Bundeskanzler Helmut Schmidt, setzte die Ostpolitik fort und knüpfte an Brandts Erinnerungskultur an. 1978 ging er in der Kölner Synagoge zum ersten Mal in der jungen Geschichte der BRD auf die Judenverfolgung ein und gedachte des 9. November 1938, der Reichspogromnacht. Er formulierte in seiner Ansprache 1978: „Auch junge Deutsche können noch mitschuldig werden, wenn sie ihre aus dem damaligen Geschehen erwachsene heutige und morgige Verantwortung nicht erkennen.“
Es folgte die Zeit des Krisenmanagements unter Helmut Schmidt: Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Lage, Ölkrise, wachsende Inflation, steigende Arbeitslosigkeit, Wettrüsten - im deutschen Herbst herrschte 1977 der Eindruck, dass die Demokratie zerbrechlicher war als je zuvor. Die Zuspitzung der innenpolitischen Lage zeigte sich auch an den terroristischen Anschlägen der RAF. Für die RAF war das System der Demokratie Westdeutschlands nur eine Fassade, hinter der sich die Kontinuitäten eines nach wie vor faschistischen Systems verbargen. Die Sozialdemokraten sahen in der Gründung der RAF ein Folgeproblem der mangelhaften Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seitens der Gründergeneration der Bundesrepublik. Die RAF erklärte zu ihrer Selbstauflösung am 20.4.1998: „ [Es sei] grundsätzlich richtig gewesen, [...] die Kontinuitäten der deutschen Geschichte mit Widerstand zu durchkreuzen. […] Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen jegliche Zustimmung entzogen.“
Helmut Kohl, damaliger Vorsitzender der CDU, äußerte gegenüber der SPD-Position als Debattenbeitrag: „[…] Ich bin der letzte […], der die Last der deutschen Geschichte leugnet. Wir haben mit Auschwitz, Majdanek und Treblinka zu leben. Das ist nicht zu vergessen. Aber wir alle, auch die Jungen, die nachgewachsen sind, mehr als 50 Prozent der Deutschen sind nach Hitler geboren, haben das Recht, aufrecht durch die Geschichte in die Zukunft zu gehen.“ Kohl machte am 8. Mai 1975 klar, worauf man sich besinnen sollte und stellte in seiner Ansprache die Deutschen als Opfer des Krieges in den Vordergrund: „Trauer darüber, daß Millionen von Deutschen Krieg und Vertreibung erlitten und Gesundheit, Besitz und Heimat verloren haben, Besinnung auf die Chance für die Bürger der Bundesrepublik, eine neue politische Ordnung zur Entfaltung der Menschenwürde des einzelnen in Freiheit, Gerechtigkeit, Leichtheit und Solidarität zu schaffen. Der 8. Mai sei auch ein Tag des Gedenkens an das System der Unfreiheit für einen Teil unseres Volkes in der DDR, an die deutsche Spaltung und an die Teilung Europas.“
Zwischen dem 22. und 25. Januar 1979 wurde die vierteilige Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ in den dritten Programmen der ARD ausgestrahlt. Am Beispiel von drei fiktiven Familien – der jüdischen Familie Weiss und den „arischen“ Familien Dorf und Helms – erzählte sie die Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Die Ausstrahlung dieser Serie gilt als wichtige Zäsur für den Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Sie erzielte eine breite gesellschaftliche Resonanz und weckte nicht nur ein bis dahin ungekanntes Interesse an diesem Thema in der Öffentlichkeit, sondern löste auch intensive Diskussionen über die nationalsozialistische Vergangenheit aus. Auch die Bezeichnung der Verfolgung und Ermordung der Juden als „Holocaust“ setzte sich mit der Serie durch.
1979 war die Ausstrahlung in der Bundesrepublik durchaus umstritten. Die ARD-Sender waren uneins drüber, ob man „Holocaust“ zeigen sollte oder nicht. Seitdem die Serie im Jahr zuvor in den USA und danach in weiteren Staaten wie Israel zu sehen war, wurde „im Land der Täter" darüber in den Tages- und Wochenzeitungen diskutiert; auch Historiker und Politiker meldeten sich zu Wort. Kritisiert wurden die triviale Machart der „Seifenoper“ und die Kommerzialisierung des Völkermords an den Juden. Befürchtet wurde aber auch, die Deutschen könnten damit kollektiv schuldig gesprochen werden, und Diplomaten warnten davor, dass das Image der Bundesrepublik im Ausland beschädigt werden könnte. Bei Koblenz und Münster kam es sogar zu Anschlägen auf Sendeanlagen von neonazistischer Seite, um die Ausstrahlung zu verhindern. Die Bundeszentrale für politische Bildung sah in der Serie hingegen die „Chance […], daß Millionen von deutschen Fernsehzuschauern […] auf eine unmittelbare, wenn auch stark emotionale Weise mit diesem dunklen Kapitel unserer Geschichte konfrontiert werden“; dies biete die Möglichkeit, die deutsche Vergangenheit „mit moralischem Mut und kritischem Verstand so aufzuarbeiten, daß daraus ein Gewinn für die Zukunft erwächst“.
Hierum bemühten sich auch die Fernsehverantwortlichen, indem sie der Serie die Dokumentationen „Antisemitismus“ und „Endlösung“ voranstellten und nach jeder Folge eine ebenfalls im Fernsehen übertragene Diskussionsrunde mit Experten veranstalteten. Tatsächlich wurde die Ausstrahlung der „Holocaust“-Serie nicht nur zu einem Medienereignis, sondern auch zu einem Anstoß, sich mit der NS-Geschichte auseinanderzusetzen. Tausende Anrufe und Briefe gingen beim WDR ein und die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung wurden mit Anfragen nach Materialien geradezu überschüttet. Es gab antisemitische Äußerungen und Drohbriefe von Rechten, die sich über die „Hetzserie“ beschwerten. Vor allem zeigten sich aber Bestürzung und Erschütterung in den Zuschauerreaktionen.
Die starke Resonanz der Serie beruhte vor allem auch auf der Individualisierung des historischen Geschehens als Familiengeschichte(n), die eine Identifikation mit den Filmfiguren und ihrem Schicksal ermöglichte.
Wurde die Emotionalität der Serie auch vielfach kritisiert, so hatte die Emotionalisierung der Vergangenheit dennoch bedeutende Wirkung. Der Fernsehfilm erreichte – im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft – die breite Bevölkerung und sorgte für eine gesellschaftliche Debatte über die Vergangenheit. Dabei rückten nicht nur die aus „rassischen“ Gründen verfolgten jüdischen Opfer in den Vordergrund der Wahrnehmung, sondern auch die Frage nach Verantwortung und Täterschaft, die in der Serie direkt angesprochen wurde. So war in der deutschen Version der Schluss geändert worden: Statt mit der Auswanderung des jüngsten Sohns der Familie Weiss nach Palästina wie im amerikanischen Original endete die letzte Folge mit einem Schuldeingeständnis des Onkels der vom NS-Regime profitierenden Familie Dorf: „Wir haben uns alle mitschuldig gemacht. Ich hab’ zu so vielem geschwiegen. […] Ich hab’ mit angesehen, was passierte, und nichts getan. Wir müssen erkennen, dass wir uns alle schuldig gemacht haben.“
Die der Serie auch an anderen Stellen implizite Aufforderung zur selbstkritischen Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus tat ihre Wirkung. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei bislang „abgeprallt am psychischen Abwehrpanzer der verschworenen Volksgemeinschaft der Nichtwisser und Nichtwahrhaber“, äußerte der Soziologe Helmut Dahmer. Nun habe der Film „in die kollektive Amnesie eine kleine Bresche geschlagen.“
Nicht zuletzt ist auch die Entscheidung des Bundestags, die Verjährung von NS-Verbrechen endgültig aufzuheben, unter anderem auf die Wirkung von „Holocaust“ zurückzuführen. Die Mehrheit derjenigen, die die Serie gesehen hatten, sprach sich für die Aufhebung aus. Während der Verjährungsdebatte im Bundestag nahmen mehrere Abgeordnete Bezug auf die Serie.
Nach Rücktritt der FDP-Minister scheiterte die Regierung Schmidt an einem konstruktiven Misstrauensvotum der CDU/CSU, die mit Helmut Kohl als Kanzler zusammen mit der FDP 1982 den Regierungswechsel herbeiführte. Schon in den ersten beiden Regierungserklärungen 1982 und 1983 wurde deutlich, dass Kohl den Regierungswechsel nicht nur als politische Wende, sondern auch als Beginn einer „geistig-moralischen Wende“ betrachtete. Kohl beabsichtigte mit dem Regierungswechsel auch die Förderung des historischen Bewusstseins und die Schaffung einer nationalen Identität sowie eine Neujustierung des Verhältnisses der deutschen Bevölkerung zur NS-Zeit, darauf deuteten bald sowohl öffentliche, symbolische Akte und Reden als auch Regierungsinitiativen – wie der Bau von historischen Museen – hin. Viele sahen in dieser Art der Vergangenheitsbewältigung eine zielgerichtete „Geschichtspolitik“ Helmut Kohls. Ihm wurde vorgeworfen, die Geschichte für seine gegenwärtigen und zukünftigen Interessen zu instrumentalisieren. Sein eigentliches Ziel sei die Durchsetzung eines neo-konservativen Geschichtsbildes und die Wiederbelebung des Nationalbewusstseins. Dies würde er durch eine Relativierung der NS-Verbrechen in Reden und inszenierten Symbolakten zu erreichen versuchen.
In der Regierungserklärung am 4. Mai 1983 vor dem deutschen Bundestag sprach Kohl von der politischen Erneuerung:
„Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir, die Deutschen, müssen uns unserer Geschichte stellen, mit ihrer Größe und ihrem Elend, nichts wegnehmen, nichts hinzufügen. Wir müssen unsere Geschichte nehmen, wie sie war und ist: ein Kernstück europäischer Existenz in der Mitte des Kontinents. Der jungen Generation muß die deutsche Geschichte in ihren europäischen Bezügen und Bedingungen wieder geistige Heimat werden. Heute steht die Bundesrepublik Deutschland an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen, er kann nur auf ihm fahren und steuern. So hat Otto von Bismarck als Summe seiner Erfahrungen Aufgaben und Grenzen der Politik bestimmt. Die Regierung hat den Auftrag zu steuern. Sie zählt dabei auf den Sinn der Bürger für Realität und Richtung.
Die Koalition der Mitte von CDU, CSU und FDP steht für Freiheit, Verantwortung und Mitmenschlichkeit. Wir wollen wahrmachen, was uns das Grundgesetz als das Erbe von Christentum und europäischer Aufklärung aufgetragen hat: die freie Entfaltung der Persönlichkeit in ihrer Verantwortung für den Nächsten. Dies bestimmt unsere Vision. Es ist die Vision von einem Volk, von unserem Volk, das sich im Miteinander bewährt und daraus die Fähigkeit gewinnt, anderen zu helfen. Meine Damen und Herren, wir haben allen Grund zur Zuversicht. Uns ist ein großes kulturelles Erbe übertragen:der Philosophie, der Dichtung, der Literatur, der Musik und der bildenden Künste. Aber wir waren und sind auch immer ein Volk der Erfinder und der Unternehmer, der Sozialreformer und der Wissenschaftler gewesen, das Volk von Albert Einstein und Max Planck, das Volk von Siemens und Daimler, der Zeiss und Röntgen, das Volk eines Ketteler und eines Bodelschwingh.“
Kohl erwähnte in seiner Rede zwar das „Elend“ der deutschen Geschichte, bezog den Begriff aber nicht ausdrücklich auf die zwölf Jahre Nationalsozialismus – er breitete stattdessen der Deutschen großes kulturelles Erbe unter Aufzählung bekannter Wissenschaftler, Musiker, Dichter und Denker aus und relativierte damit die einzigartige Verantwortung, die die NS-Zeit von den Deutschen fordert.
Kohls Ansatz der Relativierung der NS-Vergangenheit zeigt sich ebenfalls bei seinem Besuch in Israel im Januar 1984: Die junge Deutsche Generation begreife die „Geschichte Deutschlands nicht als Last, sondern als Auftrag für die Zukunft“ und „sei bereit, Verantwortung zu tragen. Aber sie weigert sich selbst kollektiv für die Taten der Täter schuldig zu bekennen. Wir sollten diese Entwicklung begrüßen.“ Im Rahmen seines Staatsbesuchs reklamierte Kohl für sich und seine Generation die „Gnade der späten Geburt“.
Franz-Josef Strauß, Bayrischer Ministerpräsident und Vorsitzender der CSU, forderte, dass sich die Deutschen endlich den „gebückten Gang des schuldbeladenen Sklaven der Geschichte abgewöhnen und wieder den aufrechten Gang lernen müssten.“ Es sei nun an der Zeit aus dem Schatten des „Dritten Reiches“ herauszutreten und den „Anspruch der Deutschen auf Normalität“ anzumelden. Kein Volk könne „auf Dauer mit einer kriminalisierten Geschichte leben“. Diese Äußerungen waren natürlich geeignet, rechtes Wählerpotential zu gewinnen.
Am 5. Mai 1985 besuchte Kohl zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan anlässlich des 40. Jahrestags der Kapitulation den Soldatenfriedhof Kolmeshöh in Bitburg. Der Friedhof wurde um das Jahr 1930 angelegt, damals als eine Gedenkstätte für die Gefallenen des 1. Weltkrieges. Im 2. Weltkrieg diente das Bitburger Krankenhaus lange Zeit als Lazarett. Zahlreiche deutsche Soldaten, die hier starben, wurden auf Kolmeshöh beerdigt. Im Jahr 1946 fanden an der Gedenkstätte gefallene Soldaten des 2.Weltkrieges, 59 zivile Kriegsopfer und 23 Soldaten des 1.Weltkrieges ihre letzte Ruhestätte. Unter den auf Kolmeshöh beerdigten Soldaten befinden sich auch 59 meist jugendliche Mitglieder der Waffen-SS. Der Besuch war von der deutschen Bundesregierung als Versöhnungsgeste zwischen den damaligen Kriegsgegnern beabsichtigt und sie war ein Versuch, die Interpretation der NS-Vergangenheit zu manipulieren und wirkte wie der Kontrapunkt zur weltweit beachteten und unvergessenen Demutsgeste Willy Brandts. Es war der Versuch, die herausgehobene Bedeutung des Nationalsozialismus für die Geschichte zu minimieren
Drei Tage nach Bitburg und vor dem Hintergrund der dort entstandenen nationalen und internationalen Irritationen, Kontroversen und Empörungen hielt der Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, anlässlich des 40. Jahrestags des Ende des Zweiten Weltkriegs eine Rede in einer Gedenkstunde im deutschen Bundestag, die große Beachtung erfuhr. Weizsäcker und seine drei Tage später gehaltene Rede erschienen als „Kontrapunkt“ zur „Bitburg-Affäre“, aber auch zur gesamten Geschichtspolitik im Zeichen der „geistig-moralischen Wende“.
In seiner Gedenkrede präsentierte Weizsäcker ein Deutungsangebot, mit dem sich weite Teile der Gesellschaft identifizieren konnten:
„Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“
Richard von Weizsäcker sprach in diesen Sätzen glaubhaft aus der Perspektive der ihre Verantwortung reflektierenden Tätergeneration, er entstammte dieser Generation, sein Vater war ein hoher Diplomat, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in Hitlers Diensten. Er suggerierte aber auch, dass unmenschliche Ziele und verbrecherische Führung des Regimes erst nach Kriegsende erkennbar waren und unterstellte damit, dass im guten Glauben gehandelt wurde – und verschob in konventioneller Weise die Schuldfrage: Schuld hatten ausschließlich die verbrecherischen Anführer eines faschistischen Systems auf sich geladen.
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Mit dieser Aussage hob sich der Bundespräsident explizit vom Denken der Nachkriegszeit ab und bezog mit dieser Formulierung deutlicher Position, doch auch er schilderte das Kriegsende als ambivalente Erfahrung. Der Tag sei „für uns Deutsche kein Tag zum Feiern“, vielmehr geprägt von „Erschöpfung, Ratlosigkeit und […] Sorgen“. Zudem versicherte der Bundespräsident: „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten“. Dem „deutschen Leid“ räumte er breiten Raum ein. In dem der Opfer gedenkenden Teil der Rede, erwähnte er das „Leid in Bombennächten, Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung“ und sieht die Deutschen nicht in der Position der Täter, sondern in der Position der Opfer. „Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“
Von Weizsäcker machte an dieser Stelle deutlich, dass die Leiden der Menschen nicht aus der Kapitulation resultierten, die Ursache hierfür sieht er schon im Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Bei der Nennung der Täter blieb er allerdings vage.
In demonstrativer Ausführlichkeit gedachte er „insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden“, ferner „der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung wegen sterben mußten.
Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.
Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.
Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung,
Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte.
Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken seiner in Trauer.“
Bemerkenswert sind die ausführliche Würdigung des Widerstands, insbesondere des kommunistischen, und die explizite Erwähnung der sowjetischen und polnischen Kriegsopfer. Mit seiner Rede rückte der Bundespräsident Opfergruppen ins Bewusstsein, die bis dato im offiziellen Gedenken kaum repräsentiert waren und er wandte sich in eindrucksvollen Worten gegen Versuche, sich über das Argument des Nichtwissens zu entschulden: „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten.“
Weizsäcker führte den Deutschen ihre Verantwortung für die NS-Verbrechen unmissverständlich vor Augen. Hinsichtlich der Schuldfrage konstatierte er an anderer Stelle jedoch: „Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. […] Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“
Den Aufruf zur kritischen Selbstbefragung verschob er demnach auf die individuelle Ebene, wodurch dieser eher verhalten wirkt, zumal der Terminus der „Verstrickung“ die Möglichkeit einer Abwehr direkter Schuld bot. Die „deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs“ benannte der Bundespräsident in seiner Rede zwar ausdrücklich und deutete NS-Diktatur und Krieg nicht mehr im Sinne einer metaphysisch hereingebrochenen „Katastrophe“. Indem er aber Hitler als „die treibende Kraft“ „auf dem Weg ins Unheil“ sah, kam er einem gängigen Interpretationsmuster der Nachkriegszeit, das die Verantwortung für die NS-Massenverbrechen allein beim „Führer“ verortete, bis in die Formulierungen hinein sehr nahe.
„Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß.
Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde?
Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.
Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben.“
Von Weizsäcker betonte, dass nur wenige Täter an der Ausführung schrecklicher Verbrechen beteiligt waren, ohne diese zu benennen. Die Semantik wird deutlich: Hitler war der Haupttäter und andere Unbekannte waren an der Planung und Ausführung beteiligt.
Weizsäcker sprach also Schuld und Verantwortung durchaus an, bot aber zugleich auch Möglichkeiten zur Entlastung. Diese Ambivalenz zeigte sich auch zu Beginn der Rede in der Aufforderung, „der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“. Definierte der Bundespräsident die Schuld als eine individuelle, nahm er aber hinsichtlich der kollektiven Verantwortung und den daraus erwachsenden Konsequenzen alle Deutschen in die Pflicht: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von den Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“ Er plädierte also für die Akzeptanz der belastenden Vergangenheit, die sich nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen und daher auch nicht „bewältigen“ lasse. Vielmehr – und hier verknüpfte er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sei es „lebenswichtig“ die Erinnerung wachzuhalten, sonst werde man blind für die Gegenwart. Entsprechend sei der 8. Mai auch ein „Tag der Erinnerung“.
Gedenken und Erinnern erscheinen somit in der Ansprache zunächst als Aufgabe der Deutschen „unter sich“. Ihnen wird in diesem Erinnern und Akzeptieren der Vergangenheit zugleich aber auch eine Art „Erlösung“ in Aussicht gestellt, wenn Weizsäcker ein viel zitiertes jüdisches Sprichwort anführt: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.