Ketamin - Markus Berger - E-Book

Ketamin E-Book

Markus Berger

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kaum eine psychoaktive Substanz weist, je nach Dosis und Aufnahmeform, ein so breites pharmakologisches Spektrum auf wie Ketamin. Die psychotropen Effekte von «Special K» reichen von leichter Berauschung über schrägste dissoziative Kurzzeittrips bis hin zu psychonautischer und spiritueller Durchbrucherfahrung sowie tiefer Narkose. Das Arzneimittel unterliegt nicht den Betäubungsmittelgesetzen und wird heute unter anderem als Clubdroge, transformativer Katalysator, psycholytisches beziehungsweise psychiatrisches Hilfsmittel sowie als klinisches Anästhetikum verwendet. Markus Bergers Buch ist das erste in deutscher Sprache, das sich – in übersichtlicher Form – all diesen Aspekten einer höchst interessanten Substanz widmet, die mit ihren extravaganten psychoaktiven Wirkungen nicht von dieser Erde zu stammen scheint. Mit Beiträgen von Torsten Passie, Christian Rätsch, Roberdo Raval und anderen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 439

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Markus Berger

KETAMIN

Ein psychoaktives Arzneimittel

E-Book-Ausgabe

Die Verbreitung dieses Produkts durch Funk, Fernsehen oder Internet, per fotomechanischer Wiedergabe, auf Tonträgern jeder Art, als elektronisches beziehungsweise digitales Medium sowie ein über das Zitier-Recht hinausgehender auszugsweiser Nachdruck sind untersagt. Jegliche öffentliche Nutzung bzw. Wiedergabe setzt die ausdrückliche, schriftliche Genehmigung der Nachtschatten Verlag AG voraus.

Diese Publikation enthält versteckte und personalisierte Informationen bezüglich Herstellung, Vertrieb, Verkauf und Käufer. Im Falle von unerlaubter Verbreitung des Inhalts behält sich der Rechteinhaber vor, Missbräuche juristisch zu belangen.

Herstellung:

Bookwire GmbH

Voltastraße 1

60468 Frankfurt am Main

Deutschland

Verlag:

Nachtschatten Verlag AG

Kronengasse 11

4500 Solothurn

Schweiz

IMPRESSUM

Markus Berger

Ketamin – Ein psychoaktives Arzneimittel

Nachtschatten Verlag AG

Kronengasse 11

CH-4500 Solothurn

Tel: 0041 32 621 89 49

Fax: 0041 32 621 89 47

[email protected]

www.nachtschatten.ch

© 2023 Markus Berger

© 2023 Nachtschatten Verlag

Der Nachtschatten Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Lektorat: Agnes Karl

Korrektorat: Jutta Berger

Layout: Stoned Design / Nina Seiler

Umschlaggestaltung: Nina Seiler, Zürich

Druck: Steinmeier Verlag und Druck, Deinigen

ISBN: 978-3-03788-497-3

eISBN: 978-3-03788-673-1

Alle Rechte der Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische digitale Medien und auszugsweiser Nachdruck sind nur mit Genehmigung des Verlags erlaubt.

INHALT

Vorwort

KAPITEL 1Die Substanz Ketamin

Porträt des Moleküls

Geschichte

Ein vielfältiges Pharmakon

Ketamin – ein Naturstoff!

KAPITEL 2Konventionelle medizinische Verwendung

Präklinische Nutzung

Klinische Nutzung

Veterinärmedizinische Nutzung

KAPITEL 3Wirkungen

Pharmakologie

Die psychoaktive Wirkung

Ketamin in subanästhetischer Dosierung: Die Studienlage

Nahtoderfahrungen

Auswirkungen auf Gedächtnis und Kognition

Risiken und Nebenwirkungen

Toxizität

Kontraindikationen

Abhängigkeit und Langzeitfolgen

KAPITEL 4Ketamin in Psychiatrie, Psychotherapie und Psycholyse

Zur Einführung

Ketamin-gestützte Psychotherapie (KAP)

Psychedelische Ketamintherapie (KPT/KPP)

Ketamin-verstärkte Psychotherapie (KEP)

Im Fokus: Ketamin bei Depressionen

KAPITEL 5Ketamin-Psychonautik

Ist Ketamin ein Psychedelikum?

Rekreatives Ketamin

Dosierung und Einnahmeformen

Safer Use

Keta-Kultur

Erfahrungsberichte

Ketamin im Mischkonsum

KAPITEL 6Ketamin-Forscher

Der Ketanaut John C. Lilly

Ausflüge in die leuchtende Welt: Marcia Moore

Karl Jansen: Ketamin-Forscher aus Leidenschaft

Der Fall D.M. Turner

Stanislav Grofs Ketamin-Reisen

KAPITEL 7Anhang

Verwandte Moleküle

Vorschriften und Gesetzeslage

Illegales Ketamin: Schmuggel und Herstellung

Drogenscreening

Literatur

Bildnachweis

Zum Autor

Vorwort

Dieses Buch bietet einen konzisen Einstieg ins umfassende Thema rund um das psychotrope Pharmakon Ketamin. Es richtet sich potenziell an alle am Sujet und an der Substanz interessierten Leser und erhellt die aktuellen wie auch historischen Anwendungen dieses interessanten Psychoaktivums in klinischer/präklinischer Medizin, Psychotherapie und Psychonautik.

Ein Werk vorlegen zu wollen, das auch nur annähernd sämtliche Forschung über Ketamin zusammenträgt, kann nur als hehres Ziel verworfen werden. Die Studienlage ist derart ausschweifend, dass es geradezu unmöglich wäre, alle Informationen zu dieser Substanz in einem Buchwerk abzubilden. Allein die Datenbank PubMed verzeichnet 24 530 Papers zu den Stichworten «Ketamine» und «Ketamin», die Datenbank ScienceDirect gibt 132 792 Ergebnisse (!) zu den Stichworten aus (Stand August 2023). Und die Forschung steht überdies nicht still – im Gegenteil. Heute wird mehr an psychoaktiven Substanzen, Organismen und Anwendungen geforscht als je zuvor – auch und gerade an Ketamin.

Die wissenschaftliche Erforschung der therapeutischen Qualitäten des Ketamins – so beispielsweise zur Verwendung als Antidepressivum – ist ebenso vielschichtig und für den Laien kaum verständlich – und zudem stetig im Begriff zu wachsen. Da geht es u.a. um Rezeptoraffinitäten, Signalwege, neurotrophe Faktoren, Stoffwechselwege und vieles mehr. Im vorliegenden Buch werden, wo nötig, diese Zusammenhänge dargestellt, und, wenn möglich, in einer Fußnote kurz erläutert. Manche Textstellen, gekennzeichnet mit dem Hinweis «Info für Spezialisten», werden dem Fachpublikum verständlich sein, dem Laien eher weniger – dies musste ich in Kauf nehmen, um ein im Groben vollständiges Bild bestimmter Sachverhalte pharmakologischer, physiologischer oder medizinischer Art zeichnen zu können.

Es gibt auch zahlreiche Studien, die zwar interessant und für Experten sicher höchst spannend, jedoch für die Erläuterung gegenüber dem medizinisch unbedarften Leser schlichtweg ungeeignet sind. So, um nur ein Beispiel zu nennen, eine neue Arbeit, die sich im Tierversuch mit Makaken mit Auditory steady-state responses (ASSR) bei Schizophrenie befasst. ASSR «sind wiederkehrende neuronale Aktivitäten, die auf regelmäßige zyklische auditorische Stimulationen reagieren. ASSRs sind bei Personen mit Schizophrenie verändert und könnten mit einer Unterfunktion des N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA)-Glutamatrezeptors zusammenhängen» (NAKAMURA et al. 2023). Um es um des Exempels Willen kurz zu machen, deuten die Ergebnisse der Untersuchung darauf hin, «dass ASSR als neurophysiologischer Biomarker für die Störung von gamma-oszillatorischen neuronalen Schaltkreisen in diesem Ketamin-Modell der Schizophrenie bei intakten, wachen Makaken verwendet werden kann» (ebd.). Wie gesagt, manche wissenschaftlichen Sachverhalte sind schwierig für den Laien zu begreifen – aber häufig für das nichtwissenschaftliche Publikum ohnehin von nur geringer Relevanz.

In diesem Zusammenhang erweist es sich manchmal auch, dass selbst Wissenschaftler Verständnisschwierigkeiten haben, wenn Postulate, Theoreme etc. sich nicht direkt auf ihre eigene Disziplin beziehen, wie folgendes Beispiel belegt. In einer Schrift zur Ketanest- und Benzodiazepin-Kombination in der Anästhesie von 1982 mokierte sich der Herausgeber Langrehr in der Einführung darüber, dass finnische Kollegen «allen Ernstes vorschlagen, die mit zunächst aufgehobenem, später allmählich wiederkehrendem Bewusstsein verbundene Erholungsphase der Anästhesie unter dem Aspekt einer experimentellen Psychose zu betrachten. Wie die Beschreibung in der Anästhesiologie wohlbekannter Aufwachphänomene der Erkenntnis über Psychosen – d.h. psychologischen Krankheitsbildern, die untrennbar mit wacher Bewusstseinslage verbunden sind – nützlich sein könnte, bleibt mir schleierhaft. Alle Rückschlüsse von Phänomenen aus dem Formenkreis der Psychose auf Phänomene in der Aufwachphase bis zur wieder vollständigen bewussten Orientierung und Wiederherstellung der Psychomotorik sind sicherlich für die Anästhesiologie nutzlos» (LANGREHR 1982: 7f.).

Hier sieht man, wie Fachleute zuweilen Schwierigkeiten damit haben können, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Denn natürlich sind die angesprochenen Aspekte «sicherlich für die Anästhesiologie nutzlos», denn dies stand überhaupt nicht im Fokus der genannten finnischen Kollegen. Und dass Aufwachphänomene nach Anästhetika-Gabe keinerlei Wert für die Erforschung psychotischer Zustände bzw. psychologischer Phänomene haben, wurde inzwischen auch wiederholt widerlegt, wie im Verlauf dieses Buches ersichtlich sein wird. Immerhin muss man im Umgang mit Ketamin als wie auch immer gearteter psychologischer Katalysator auch gar nicht die Aufwachphase nach einer Narkose für entsprechende Zwecke nutzen, sondern schlichtweg Ketamin in subanästhetischer Dosierung.

Aber auch im rekreativen, psychonautischen Sinne spielt Ketamin eine zunehmend größere Rolle. Ab von den Mainstream-Journalisten, die ihre Sommerlöcher gerne mit Schreckensmeldungen füllen und Ketamin, zusammen mit den alten Verdächtigen (GHB, Flunitrazepam und anderen Benzodiazepinen, Scopolamin etc.), als «Rape Drug» (Vergewaltigungsdroge) bezeichnen (was sicher auch zuweilen beobachtet werden kann), hat sich Keta längst als Substanz etabliert, mit der man innere Reisen unternehmen und spirituelle Erfahrungen machen kann.

Unbedingt anzuführen ist hier die Tatsache, dass Ketamin in mancher Hinsicht gewissermaßen unser Lehrer ist. Immer wieder wird nämlich von Personen die Frage in den Raum gestellt oder diskutiert, inwieweit natürliche Substanzen den synthetischen vorzuziehen sind. Ich antworte auf diese Frage stets, dass es im Grundsatz keinen Unterschied macht, ob ein Stoff natürlich oder im Labor entstanden ist. (Dabei beharren manche gern darauf, dass sie «niemals Chemie nehmen würden», ohne zu bemerken, dass es sich auch bei natürlichen Substanzen um Chemie handelt.) Ketamin lehrt uns – so wie andere Moleküle zuvor1 –, dass der Übergang zwischen synthetischen und natürlichen Stoffen fließend ist. Denn 2020 wurde, und das ist wahrhaftig sensationell, Ketamin in einem Pilz entdeckt! Ketamin ist also ein Naturstoff! Hatte die Substanz bisher als Synthetikum par excellence gegolten, müssen nun die ethnobotanischen Standardwerke entsprechend umgeschrieben werden. In der Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen Band 2, die ich zusammen mit Christian Rätsch geschrieben habe (RÄTSCH und BERGER 2022), hat der Ketaminpilz Pochonia chlamydosporia natürlich eine eigene Monographie spendiert bekommen.

Zum Schluss noch ein Wort zur gesetzlichen Regulation von Ketamin. Es ist – und das kann ich als jemand, der sich seit früher Jugend mit psychoaktiven Drogen beschäftigt, mit Fug und Recht anführen – ein einziger schlechter Witz, dass die Drogenpolitik hier mal wieder ihre Willkür und Inkompetenz zum Ausdruck bringt. Und zwar in Reinkultur. Während Stoffe wie z.B. Cannabis (eventuell nicht mehr lange) und Methylphenidat (Medikinet, Ritalin) in Deutschland strengstens reglementiert und in den Anhängen des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) aufgeführt sind, unterliegt Ketamin lediglich dem Arzneimittelgesetz (AMG) und eben nicht dem BtMG. (Im Gegensatz zu so manchem Ketamin-Analogon wie Methoxetamin (MXE), das durchaus per BtMG illegalisiert ist.) Das muss man sich mal vorstellen! Jeder, der schon einmal Ketamin in psychoaktiven subänesthetischen Dosierungen probiert hat, wird verstehen, was ich meine.

Um z.B. Methylphenidat zu erhalten, muss der Patient zunächst zum Psychiater, der feststellen soll, ob das Arzneimittel verordnet werden kann. Dann erhält der Patient in der Folge vom Hausarzt ein Betäubungsmittel-Rezept, das innerhalb von acht Tagen eingelöst werden muss. Bis April 2023 galt sogar noch eine monatliche Obergrenze für BtM-Medikamente, dies wurde glücklicherweise geändert. Für Ketamin benötigt der Patient lediglich ein normales Rezept2– meist ein Privatrezept, da Ketamin nur sehr selten von den Krankenkassen finanziert und noch seltener zur Direktaushändigung an Patienten abgegeben wird. Der Unterschied in der psychoaktiven Wirkung ist ein gewaltiger. Während Methylphenidat ein Psychostimulans ist, das recht ähnlich wie Kokain wirkt, haben wir es bei Ketamin mit einem Psychoaktivum zu tun, das eine enorme therapeutische und pharmakologische Bandbreite aufweist – in psychoaktiven, also psychonautischen Dosierungen von Midi-Dosing bis K-Hole (Durchbrucherfahrung) kann Ketamin eine unfassbar schräge und abenteuerliche Substanz sein, mit der man umzugehen lernen muss. Selbst hartgesottene Psychonauten kamen mit Ketamin schon an ihre Grenzen, meist, wenn es geschnupft wurde.

Daher soll dieses Handbuch den Gebrauch von Ketamin sicherer machen und dem User eine Entscheidungshilfe für risikominimierten Gebrauch an die Hand geben. Außerdem kann es interessierten Lesern als Startrampe für tiefergehende Erkundungen dienen, die auch mithilfe des extensiven Literaturverzeichnisses vorgenommen werden können. Wie gesagt, existiert eine schier unüberschaubare Fülle an Literatur zu Ketamin und seinen Verwandten, aus der ich eine große Auswahl an Büchern und Artikeln ausgewertet habe.

In diesem Sinne kann dieses Buch u.a. auch als literarische Kollage verstanden werden. Es soll die medizinische und therapeutische Relevanz dokumentieren und auch die mittlerweile recht vielfältige Kultur rund um dieses Psychoaktivum abbilden. Denn die psychonautische Kultur ist divers, offen und bunt – und dem Ketamin gebührt ein Platz in dieser Bewegung, die immer größer und weiter wird, je mehr die psychedelische Renaissance voranschreitet. Auch als spirituelles Werkzeug hat Ketamin seinen Platz in dieser Welt zu Recht erobert. Jetzt liegt es an uns, dieses Wissen zu nutzen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis umzusetzen.

1Z.B. Diazepam, DMT und diverse andere.

2Nebenher bemerkt, ist auch ein anderes dissoziatives Pharmakon frei im Handel verfügbar – und dazu noch rezeptfrei, also lediglich apothekenpflichtig, nämlich das als Hustenblocker entwickelte Dextromethorphan (DXM). Und das Lachgas gibt's im Supermarkt – zum Aufschäumen von Sahne in Kapseln zu je 7,5 g reinem Lachgas.

KAPITEL 1

Die Substanz Ketamin

«Ketamin ist eine Droge, eine Medizin, ein Psychedelikum, ein psychotherapeutisches Werkzeug, eine Erfahrung.»

PHIL WOLFSON 2016a

Porträt des Moleküls

Ketamin heißt chemisch 2-(2-Chlorphenyl)-2-Methylamino-Cyclohexanon bzw. Chlorphenyl-Methylamino-Cyclohexanon-Hydrochlorid (Syn. CI-581, Ketamine).

Summenformel: C13H16CINO

Trivialbezeichnungen

•Blind Squid

•Bump

•Businessman's Lunch

•Cat Tranquillizers

•Cat Valium

•Gas

•God

•Green

•Green Powder

•Honey Oil

•Jet

•K

•kai-jai (Hongkong)

•Kate

•Keller

•Kelly's day

•Ket

•Keta

•Keta mit Peta

•Kit-Kat

•Kitty

•Knod-off

•Lady K

•Mauve

•Majestic

•New Ecstasy

•Pferdenarkosemittel

•Purple

•Psychedelic Cocaine

•Psychedelic Heroin

•Rhino benzo

•Skittles

•Special K

•Special LA Coke

•Super Acid

•Super C

•Super-K

•Synthetisches Kokain

•Vitamin K

•Vit K

•Wacky Dust

•Wonk

•Wonky

Ketamin ist ein chirales Cyclohexanon- bzw. Cyclohexylaminderivat und Arylcyclohexylamin mit einem Stereozentrum (Chiralitätszentrum) und gehört zur chemischen Wirkstoffklasse der Phencyclidinderivate (ANIS et al. 1983; LASSNER 1968). Es handelt sich um die Nachfolgesubstanz des zuvor erprobten, aber aufgrund der häufig dysphorischen psychoaktiven Wirkungen in der Aufwachphase (Emergenzdelir) für die klinische Verwendung als Anästhetikum wieder verworfenen Phencyclidins (PCP) (siehe Abschnitt zur Geschichte ab Seite 20).

Ketamin ist entweder als Enantiomer (Eutomer S-Ketamin, Distomer R-Ketamin) oder Razemat (= ein gleichwertiges Isomerengemisch aus S- und R-Ketamin) verfügbar (siehe ab Seite 16).

Die Substanz ist wasserlöslich und lipophil bei einem pH-Wert von 3,5 bis 5,5 und einem pKa (Säurekonstante zur Definition der Säurestärke) von 7,5.

In der Regel enthalten Ketaminpräparate 25, 50 oder 100 Milligramm Wirkstoff pro Milliliter Lösung. Präservative, also Konservierungsmittel, sind Benzethoniumchlorid bzw. Chlorbutanol (siehe ab Seite 17).

Ketamin ist im Grunde auf allen Applikationswegen aktiv. Die Substanz ist meist in Form von Flüssigkeit (Injektionslösung), in kristalliner Pulver- und Tablettenform (zuweilen sogar als MDMA- wie auch Kokain-Additiv oder -Substitut) sowie als Lutschtablette erhältlich. Üblich sind die orale Aufnahme (Trinken, Schlucken), die intravenöse oder häufiger intramuskuläre Injektion, das Schnupfen und das Rauchen des Pulvers (letzteres eher selten).

Tiefgreifende Ketaminerfahrungen bezeichnet man u.a. als

K-Hole («Ketamindelirium»)

K-Land

Baby Food

God

S- und R-Ketamin

Ketamin ist ein chirales Molekül, wobei das chirale Zentrum sich am C-2-Atom des Cyclohexanonrings befindet (SCHNÖBEL 2002). Ketamin liegt in drei verschiedenen Formen vor: Zum einen unterscheidet man die Stereoisomere, so das linksdrehende R(-)-Ketamin (auch R-Ketamin, (R)-Ketamin, Arketamin) und das rechtsdrehende S(+)-Ketamin (auch S-Ketamin, (S)-Ketamin, Esketamin). Außerdem gibt es noch die Mischung aus beiden Enantiomeren zu gleichen Teilen, die Razemat (auch Racemat) genannt wird und in pharmazeutischen Produkten vorliegt, z.B. in Ketanest und Ketalar (DURIEUX und NIETGEN 1997; ENGELHARDT et al. 1997). In der Medizin kam lange Zeit lediglich das Razemat (R,S)-Ketamin zum Einsatz. Seit Ende der 1990er Jahre wurde es durch enantiomerspezifische Trennung möglich, S(+)-Ketamin allein zu verwenden (HIMMELSEHER und PFENNINGER 1998).

S(+)-Ketamin bindet mit einer etwa vier- bis fünffach höheren Affinität als R-(-)-Ketamin an NMDA-Rezeptoren (EBERT et al. 1997; KOEK und WOODS 1984; OYE et al. 1992; SCHNÖBEL 2002; WEBER 2022; ZHANG und HASHIMOTO 2019) und weist eine zweifach höhere analgetische und vierfach höhere anästhetische Potenz auf (RYDER et al. 1978). Gegenüber dem Razemat «zeigt das rechtsdrehende S(+)-Isomer eine annähernd zweifach stärkere anästhesistische und analgetische Potenz bei in etwa gleicher Aktivierung des sympathoadrenergen Systems» (WALGER 2002; PELTONIEMI et al. 2016; WEBER 2022). Die höhere schmerzlindernde Wirksamkeit begründet sich u.a. in der etwa dreifach höheren Affinität zu den κ- und μ-Opioid-Rezeptoren; S(+)-Ketamin induziert überdies weniger Arryhthmien beim Menschen und weist eine kürzere Aufwachphase nach Narkosen auf (HENZLER 2020; HIROTA et al. 1999). Weil S(+)-Ketamin dasjenige Enantiomer mit den erwünschten pharmakologischen Eigenschaften ist, wird es als Eutomer bezeichnet. R(-)-Ketamin weist entsprechend unerwünschte Effekte auf und gilt daher als sogenannter Distomer.

Der Schweizer Chemiker Daniel Trachsel erklärt: «Die beiden Enantiomere von Ketamin zeigen unterschiedliche Rezeptor-Bindungsprofile, und auch die Wirkung im Menschen unterscheidet sich. Ketamin wird gewöhnlich als Razemat eingesetzt, jedoch wird auch das wirkungsstärkere S-(+)-Ketamin medizinisch genutzt (Esketamin). Es wurde herausgefunden, dass mit R-(-)-Ketamin keine vollständige Bewusstlosigkeit erzielt werden kann. Mit S-(+)-Ketamin ist bezüglich Razemat eine Dosisreduktion um einen Faktor 2 möglich» (TRACHSEL 2011: 323).

(S)-Ketamin weist also «eine verbesserte Steuerbarkeit, kürzere Aufwachzeiten und die Halbierung der Substanzbelastung» auf, was im klinischen Bereich «den Stellenwert des Enantiomers (S)-Ketamin gegenüber Razemat» definiert (WALGER 2002). (S)-Ketamin hat außerdem eine höhere systemische Clearance3 als das Razemat (GEISSLINGER et al. 1993; IHMSEN et al. 2001; PERSSON et al. 2002).

«Das Erleben von Illusionen und Veränderungen des Gehörs, des Sehvermögens und der Propriozeption wird auf die Wirkung von (S)-Ketamin zurückgeführt, während Gefühle der Entspannung mit der Wirkung von (R)-Ketamin in Verbindung gebracht wird» (ZANOS et al. 2018b).

Heikle Konservierungsstoffe?

Manche Ketamin-Produkte enthalten neben Ketaminhydrochlorid Konservierungsstoffe wie Chlorbutanol oder Benzethoniumchlorid (MION und VILLEVIEILLE 2013).

Benzethoniumchlorid(N,N-Dimethyl-N-(2-(2-(4-(1,1,3,3-tetramethylbutyl)phenoxy)ethoxy)ethyl)benzolmethanaminiumchlorid), auch bekannt als Phemerol oder Phemerolchlorid, ist z.B. in Ketalar und Ketanest enthalten. Bei Benzethoniumchlorid handelt es sich um eine Ammoniumverbindung mit desinfizierenden Eigenschaften, die in der Pharmazeutik häufig zum Zweck der Haltbarmachung verwendet wird. Benzethoniumchlorid hat allerdings in Reinform höchst toxische Effekte und auch in geringen Mengen als Präservativ für Pharmazeutika Auswirkungen auf die Pharmakologie, in diesem Fall auf die des Ketamin-Razemats, indem es eine muscarinhemmende Wirkung forciert. In einer Studie wurde entsprechend der Einfluss von Benzethoniumchlorid auf die Muscarin-Signalübertragung untersucht. Die Forscher schlussfolgerten, dass «ein erheblicher Teil der muscarinhemmenden Wirkung von Ketalar auf das Konservierungsmittel Benzethonium zurückzuführen ist. Wird Ketalar mit einem anderen Konservierungsmittel rekonstituiert, könnte es ein weniger starker Muscarin-Antagonist sein» (DURIEUX und NIETGEN 1997). Dabei war die muscarinische Hemmwirkung der Ketamin-Isomere nicht stereoselektiv (ebd.). Eine weitere Studie, die zur Fragestellung hatte, ob Benzethoniumchlorid pharmakologisch aktiv ist, untersuchte jüngst die Affinität des Konservierungsmittels zu Neurotransmitter-Rezeptoren und -Transportern, die Auswirkungen von Benzethoniumchlorid auf die synaptische Übertragung im Hippocampus in vitro und die Plasma- und Gehirnkonzentrationen von Benzethoniumchlorid nach intraperitonealer Verabreichung an männliche Mäuse (BROWN et al. 2023). «Die Bindungstests zeigten, dass Benzethoniumchlorid an zahlreiche Rezeptoren und Transporter bindet», z.B. an Dopamin-Transporter. «Unsere Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass frühere Daten, die Ketamin pharmakologische Wirkungen zuschreiben, durch Benzethoniumchlorid verfälscht sein könnten und dass zusätzliche Untersuchungen zu den funktionellen Auswirkungen von Benzethoniumchlorid gerechtfertigt sind» (ebd.).

Chlorbutanol (1,1,1-Trichlor-2-methyl-2-propanol, Chlorobutanol) ist eine antimykotisch und antibakteriell wirksame Alkoholverbindung, die ebenfalls als Präservativ, also als Konservierungsstoff für Arzneimittel verwendet wird. Chlorbutanol weist überdies sedative und lokalanästhetische Eigenschaften auf, was die Wirkung von Pharmazeutika – gerade psychotropen – eventuell verfälschen kann. Chlorbutanol ist z.B. in Ketanest S enthalten. Eine Dissertation befasste sich mit der Neurotoxizität von manchen Ketamin-Präparaten, wie z.B. Ketanest S. Denn es wurde u.a nachgewiesen, dass das Präparat Apoptose (programmierter Zelltod) in Gehirnen von neugeborenen und erwachsenen Tieren herbeiführen kann (BEALS et al. 2003; GAZA 2010; YOUNG et al. 2005)4. Es könnte sein, «dass ein Teil der neurotoxischen Wirkung des klinisch verwendeten Ketanest S durch die beigefügten Konservierungsmittel Benzethoniumchlorid oder Chlorbutanol verursacht wird (ERRANDO et al. 1999; MALINOVSKY et al. 1993). So konnte gezeigt werden, dass Kaninchen, denen Ketamin mit Chlorbutanol oder nur Chlorbutanol appliziert wurde, neurologische Schäden aufwiesen, im Gegensatz zu Tieren, die Ketamin ohne Konservierungsmittel erhielten (MALINOVSKY et al. 1993). Ein weiterer Versuch an Schweinen zeigte keinerlei neurologische Schäden nach Gabe von Ketamin, wohingegen der Zusatz von Benzethoniumchlorid zu leichten neurotoxischen Effekten führte (ERRANDO et al. 1999). Erstaunlicherweise erzeugte dabei Benzethoniumchlorid alleine sogar einen stärkeren Gewebeschaden als in Kombination mit Ketamin. Weiterhin induziert Benzethoniumchlorid Apoptose in verschiedensten menschlichen epithelialen Tumorzellen sowie embryonalen Fibroblasten und wurde als potentielles Chemotherapeutikum in der Onkologie beschrieben (YIP et al. 200655)» (GAZA 2010).

Dazu ein Wort zum Schluss: Manche Ketaminnutzer kristallisieren die Injektionslösung für den Zweck der intranasalen Einnahme aus, indem sie die Lösung auf eine feuerfeste Glasunterlage geben und diese im Ofen oder Dörrgerät bei geringer Temperatur erhitzen. Beim Erhitzen und Verbrennen von Benzethoniumchlorid zersetzt sich dieses und bildet dabei korrosive und giftige Dämpfe (Chlorwasserstoff, Stickoxide). Auch Chlorbutanol setzt beim Erhitzen toxische Dämpfe frei. Dies ist aufgrund der enthaltenen sehr geringen Mengen der Mittel in Ketamin vermutlich nicht heikel, kann aber als Hintergrundinformation nur gut sein zu wissen.

Geschichte

1962 stellte der Professor für organische Chemie, Dr. Calvin Lee Stevens von der Wayne State University (Detroit, Michigan), der als Berater der US-amerikanischen Parke-Davis-Laboratorien (ebenfalls Detroit) tätig war, die Substanz erstmals für das Pharmaunternehmen her. «Damals suchte Parke-Davis unter den Cyclohexylaminen nach einem ‹idealen› Narkosemittel mit schmerzlindernden Eigenschaften» (MION 2017). Das zuvor untersuchte Phencyclidin (Syn. N-(1-Phenyl-Cyclohexyl)-Piperidin, PCP, Handelsnamen: Sernyl, Sernylan (Deutschland), Prüfnummer: CI-395; Szenenamen: Angel Dust, Engelsstaub, Green, Hog, Peace Pill etc.), sozusagen die Muttersubstanz des Ketamins mit der entsprechenden Leitstruktur, hatte sich im Rahmen dieser Forschung als nicht optimal erwiesen. «Die Synthese des PCP erfolgte zwar bereits 1926 von Kötz und Merkel, aber erst beinahe 30 Jahre später wurde es unter dem Handelsnamen Sernyl als ein ‹nicht narkotisch wirkendes Anästhetikum› für kurze Zeit eingeführt» (Diwo und PETROIANU 2002).

Der Medizinchemiker Victor Harold Maddox stellte Phencyclidin am 26. März 1956 für die Parke-Davis-Company her und gab ihm die Prüfnummer CI-395 (DOMINO und LUBY 2012; MADDOX et al. 1965; MOGHADDAM 2021: 1), wobei das Kürzel der Prüfnummer CI für clinical investigation steht (JANSEN 2001: 23).

Und so erhielten der Parke-Davis-Pharmakologe Graham Chen und seine Mitarbeiter am 11. September 1958 die Substanz von Maddox für erste Testreihen (DOMINO und WARNER 2010; MION 2017). «Chen und Dr. Domino begannen im selben Zeitraum, die experimentellen Wirkungen der Droge an Tieren zu untersuchen» (MION 2017).

PCP rief in den ersten Tierversuchen «bei Nagetieren einen erregten, betrunkenen Zustand, bei Tauben jedoch einen kataleptoiden, immobilisierten Zustand hervor. (…) Die Substanz löste bei Hunden ein Delirium aus. Bei Affen erwies sie sich als bemerkenswertes Narkosemittel» (DOMINO und LUBY 2012). Nach Durchführung der Tierexperimente wurde PCP von 1957 bis 1958 von Dr. Ferdinand E. Greifenstein, Lehrstuhlinhaber für Anästhesiologie an der Wayne State University und am Detroit Receiving Hospital, auch für die Anästhesie beim Menschen getestet, die Publikation der Ergebnisse erfolgte 1958 (GREIFENSTEIN et al. 1958). Für die klinische Entwicklung der Substanz zeichnete Dr. John E. Gajewski von Parke-Davis verantwortlich (DOMINO und WARNER 2010).

«Die erste Phencyclidin-Studie am Menschen wurde im Detroit Receiving Hospital begonnen. Wie bei Affen war Phencyclidin auch beim Menschen ein sicheres Anästhetikum» (DOMINO und LUBY 2012). Die Erhellung der pharmakologischen Eigenschaften ergab u.a. einen «Anstieg des Blutdrucks, der Atemfrequenz und des Atemminutenvolumens bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Korneal- und Larynxreflexe. Es wurden ein Nystagmus und vermehrter Speichelfluss festgestellt. Diese Untersuchungen ergaben eine echte Narkose mit einem kataleptischen Zustand, einer starken Amnesie und einer (…) Analgesie» (MION 2017).

Allerdings stellte sich trotz aller Sicherheit ein praktisches Problem heraus, denn viele Patienten klagten nach ihrer Operation über ein langatmiges schweres Emergenzdelirium (Aufwachdelir), also eine lang anhaltende postoperative Bewusstseins- und Verhaltensstörung6. Die betroffenen Patienten «gaben an, ihre Gliedmaßen nicht zu spüren, als ob sie ihrer Sinne beraubt wären» (DOMINO und LUBY 2012). Die für die klinische Entwicklung des Präparats verantwortlichen Forscher «kamen zu dem Schluss, dass Phencyclidin ein ‹zentral vermitteltes› sensorisches Deprivationssyndrom hervorruft» (ebd.; MION 2017). Dieser Umstand rief den an der Lafayette Clinic7 arbeitenden Psychiater Elliott Luby auf den Plan, der sich zu dieser Zeit für die sensorische Deprivation als Modell für Schizophrenie interessierte und deshalb entschied, die Wirkungen von PCP an neun normalen und neun schizophrenen Patienten näher zu studieren (COHEN et al. 1959; DOMINO und WARNER 2010).

«Bei intravenöser Verabreichung einer Dosis von 0,1 mg/kg an Kontrollpersonen löste die Droge eine vorhersehbare Reihe von Veränderungen aus, die die Hauptsymptome der Schizophrenie nachahmten. Zunächst kam es zu einer Veränderung des Körperbildes mit einem Verlust der Körpergrenzen und einem tiefgreifenden Gefühl der Derealisierung. Dann folgten Gefühle der Entfremdung und Einsamkeit, manchmal verbunden mit einer Verstärkung der Abhängigkeitsbedürfnisse und einer Bindung an den Beobachter. Es folgten eine zunehmende Desorganisation des Denkens, die Unfähigkeit, einen Satz aufrechtzuerhalten oder sich zu konzentrieren, Negativismus und Feindseligkeit. Einige Probanden wurden katatonisch, und viele erlebten traumähnliche Zustände, in denen sie sich in einer anderen Umgebung und zu einer anderen Zeit befanden. Echte Halluzinationen waren keine charakteristischen Auswirkungen der Droge. Verzerrungen des Körperbildes und Depersonalisation waren eine allgemeine Reaktion auf Phencyclidin und traten unmittelbar vor den anderen Defiziten im Denken und im Affekt auf» (DOMINO und LUBY 2012).

PCP führte also zu schizophrenieähnlichen primären Aufmerksamkeitsund Wahrnehmungsdefiziten («schizophrenomimetischen» Effekten) und bei vielen Patienten zu Aggressivität und psychotischem Verhalten. Bei den schizophrenen Probanden bewirkte Phencyclidin, dass sie selbstbewusster, feindseliger und unbeherrschbarer wurden. Überdies verweigerten zahlreiche Patienten eine abermalige Verabreichung des Pharmakons (ebd.; DOMINO und WARNER 2010). «Nach weiteren klinischen Studien wurde klar, dass Phencyclidin nicht für die Anästhesie beim Menschen geeignet war» (DOMINO und WARNER 2010), und es wurde in der Humanmedizin schließlich nicht mehr zur Anwendung gebracht (ebd.; GREIFENSTEIN et al. 1958; JOHNSTONE et al. 1959; KHORRAMZADEH und LOTFY 1973; LUBY et al. 1959; MADDOX et al. 1965).

Cal Bratton, Leiter der pharmazeutischen Forschung bei Parke-Davis, «war davon überzeugt, dass ein kurz wirksames Derivat nützlich wäre, da sein Emergenzdelirium begrenzt und daher klinisch akzeptabel sei, genau wie die Diethylether-Anästhesie» (DOMINO und WARNER 2010). Bratton genehmigte die weitere Synthese von verwandten Verbindungen, die u.a. zur Herstellung des Ketamins durch Calvin L. Stevens führte.

Hochtoxisch: PCC in PCP

In illegal hergestelltem PCP können sich Rückstände der Vorläufersubstanz PCC (1-Piperidinocyclohexancarbonitril) befinden (BAILEY et al. 1976; SCHERBAUM 2017; SOINE 1981; SOINE et al. 1980). PCC hat höchst toxische Eigenschaften (BAILEY et al. 1976) und kann im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein: «PCC führt zu Magen-Darm-Krämpfen, blutigem Erbrechen, Durchfall und Kreislaufkollaps. Beim Rauchen erzeugt PCC Zyanid und kann Erstickungsanfälle hervorrufen. Bei einer Zyanidvergiftung hilft Frischluftzufuhr nicht mehr. Der Tod tritt durch innere Erstickung ein» (SCHERBAUM 2017: 157).

Die Parke-Davis-Pharmakologen Graham Chen und Duncan A. McCarthy untersuchten die neuen Arylcyclohexylamine wie üblich zunächst an Tieren, vor allem an Primaten (MCCARTHY et al. 1965; DOMINO und WARNER2010). «Einer der Wirkstoffe erzeugte eine ausgezeichnete Anästhesie und war kurzzeitig wirksam. Es wurde als CI-581 für Versuche am Menschen ausgewählt und ist heute als Ketamin bekannt» (DOMINO und WARNER 2010). CI-581 war also die Prüfnummer des Phencyclidin-Derivats Ketamin (DOMINO 1980), die ursprüngliche Bezeichnung des Moleküls lautete CL369 (JANSEN 2001).

Dr. Alex Lane, Leiter der klinischen Pharmakologie bei Parke-Davis, beschloss Anfang 1964 aufgrund des passenden Profils des Ketamins, eine klinisch-pharmakologische Studie am Menschen durchführen zu lassen (DOMINO und WARNER 2010). «Als strukturelles Analogon mit einem Zehntel der Potenz der Ausgangsdroge Phencyclidin wurde Ketamin (…) für Versuche am Menschen ausgewählt, und die erste Narkosedosis wurde am 3. August 1964 von zwei Professoren der University of Michigan verabreicht: Dr. Edward Domino (Pharmakologie) und Dr. Guenter Corssen (Anästhesiologie).

In ihrer ersten pharmakologischen Studie mit Ketamin an 20 Menschen fanden die Wissenschaftler Hinweise darauf, dass die Droge für die klinische Anästhesie sicher und wirksam sein könnte» (LI und VLISIDES 2016; DOMINO et al. 1965). Nach klinischen Tests an 130 Patienten im Alter von 6 Wochen bis 86 Jahren publizierten die Forscher ihre Ergebnisse zur anästhetischen Wirksamkeit des Ketamins (CORSSEN und DOMINO 1966). Edward F. Domino erinnert sich: «Guenter und ich steigerten die Dosis schrittweise von Null auf Bewusstlosigkeit und schließlich auf eine für eine Vollnarkose ausreichende Dosis. Unsere Ergebnisse waren bemerkenswert! Insgesamt traten bei etwa einem von drei Freiwilligen Nebenwirkungen auf. Emergenzdelirien waren nur minimal. Die meisten unserer Probanden beschrieben seltsame Erfahrungen wie das Gefühl, im Weltraum zu schweben und kein Gefühl in Armen oder Beinen zu haben» (DOMINO und WARNER 2010). Am Ende der Studie konkludierten Corssen und Domino, «dass Ketamin rasch eine tief greifende Analgesie mit einem einzigartigen Zustand veränderten Bewusstseins und einer begrenzten Wirkungsdauer bewirken kann, die durch wiederholte Verabreichung sicher verlängert werden kann» (LI und VLISIDES 2016). Im Großen und Ganzen induzierte Ketamin im Gegensatz zu PCP nur überschaubare und leichte Nebenwirkungen, ohne ausgeprägte Emergenzdelire zu erzeugen (CORSSEN und DOMINO 1966).

Aufgrund des einzigartigen pharmakologischen Profils des Ketamins prägten Edward Domino und Kollegen 1965 in einem Artikel den Begriff «dissoziative Anästhesie» (DOMINO et al. 1965). Die Erfindung des Begriffs geht dabei auf die Ehefrau Dominos zurück (JANSEN 2001: 23). Weil auch die Verantwortlichen bei Parke-Davis zu dem Schluss kamen, dass Ketamin keine «schizophrenomimetischen» Eigenschaften aufweist und dabei gut verträglich ist, wurde beschlossen, das Pharmakon für die Zulassung durch die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) entwickeln zu lassen. Die FDA ließ schließlich nach der standardmäßigen Überprüfung im Jahr 1970 das erste Ketaminpräparat Ketalar für die Verwendung in der Humanmedizin zu (LI und VLISIDES 2016). Mediziner und Forscher waren von Anfang an fasziniert von dieser Substanz und haben schon früh zahlreiche Experimente damit unternommen (BROWN et al. 1970; MANGENEY et al. 1971; WELLECH et al. 1972 u.v.a.).

Zur ganzen Geschichte des PCP siehe das ausführliche Paper von DOMINO und LUBY 2012.

Ein vielfältiges Pharmakon

Antimikrobielle Effekte

Ketamin weist nicht nur psychopharmakologische und analgetische u.a. Wirkungen auf, sondern besitzt darüber hinaus auch antimikrobielle Effekte, nämlich antimykotische, antibakterielle sowie antivirale (BEGEC et al. 2013; GOCMEN et al. 2008; LOCKHART et al. 1991, 1992). «Ketamin ist eines von mehreren klinisch wichtigen Medikamenten, deren therapeutische Wirksamkeit zum Teil auf ihrer Fähigkeit beruht, auf Ionenkanäle zu wirken, die in fast allen biologischen Systemen vorkommen» (TORRES et al. 2018). Eine Studie verdeutlichte die «funktionellen Ähnlichkeiten zwischen pilzlichen, bakteriellen und menschlichen Ionenkanälen und [legte] nahe, dass Ketamin oder seine Metaboliten nicht nur in Neuronen wirken, wie bisher angenommen, sondern auch in mikrobiellen Gemeinschaften, die menschliche Körperoberflächen besiedeln» (ebd.).

Diabetes und Blutzucker

Eine Studie untersuchte die Wirkung von Ketamin auf den Glukosespiegel von gesunden und diabetischen Ratten. Dabei konnte bei normalen Ratten zu keinem Zeitpunkt ein signifikanter Unterschied zwischen den Glukosespiegeln der mit Ketamin und der mit Kochsalzlösung behandelten Gruppe festgestellt werden. Bei gesunden nüchternen Ratten verursachte Ketamin keinen Ansteig des Blutzuckerspiegels. Bei diabetischen Ratten führte Ketamin jedoch eine Stunde nach der Injektion zu einem dosisabhängigen Anstieg der Glukose von 80 auf 120 mg/kg. Bei diabetischen Ratten, die mit Streptozocin8 behandelt wurden, kehrte der Blutzuckerspiegel nicht auf das Niveau vor der Behandlung zurück. Die Ergebnisse der Studie lassen darauf schließen, dass bei diabetischen Ratten ein Risiko für eine Hyperglykämie besteht, wenn sie mit Ketamin behandelt werden. Die Vorbehandlung mit Insulin stellt eine gute symptomatische Behandlungsmethode für eine durch Ketamin induzierte Hyperglykämie dar (CHEN et al. 2015). In einer anderen Studie hatte Ketamin zweifache Wirkung auf den Blutzuckerspiegel von Kaninchen. «Seine hyperglykämische Wirkung scheint durch α2-Adrenozeptoren vermittelt zu werden, während die hypoglykämische Wirkung möglicherweise durch Opioidrezeptoren vermittelt wird, wobei β-Adrenozeptoren beteiligt sind, die erst nach der Blockade der α2-Adrenozeptoren sichtbar werden. Ähnliche Mechanismen könnten auch bei der Ketaminanästhesie wirken» (SHARIF und ABOUAZRA 2009).

Eine neuere Untersuchung befasste sich mit durch Unterzuckerung verursachten Stress in Kombination mit anderen Stressfaktoren, weil es Hinweise darauf gibt, dass «hypoglykämischer Stress mit anderen Stressoren interagieren kann» (MELANSON und LERI 2021). Studienziel war, an Versuchstieren (Ratten) herauszufinden, ob Ketamin Einfluss auf die kombinierten Stressfaktoren haben kann. Dafür wurde bei männlichen Ratten eine Unterzuckerung herbeigeführt, anschließend wurden sie unter psycho-physischen Stress gesetzt (erzwungener Schwimmtest). Das Ergebnis der Studie legt nahe, dass Ketamin die Auswirkungen dieser Stressoren auf das Verhalten und die Physiologie abmildern kann (ebd.).

Ketamin – ein Naturstoff!

2020 erlebten wir eine ethnopharmakologische Sensation, denn Ketamin wurde im Rahmen von parasitologischen Forschungen der Agrarwissenschaft als Naturstoff entdeckt, und zwar in einem Pilz (FERREIRA et al. 2020; RÄTSCH und BERGER 2022). Ketamin war bis dahin als reines Synthesepharmakon bekannt gewesen.

Forscher haben im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2020 «Moleküle aus dem nematophagen Pilz Pochonia chlamydosporia isoliert und charakterisiert und diese Verbindungen an drei Nematoden getestet: Caenorhabditis elegans, Ancylostoma ceylanicum und Ascaris suum» (FERREIRA et al. 2020). Der Schlauchpilz Pochonia chlamydosporia (GODDARD) ZARE et W. GAMS [Syn. Verticillium chlamydosporium GODDARD] aus der Familie Clavicipitaceae (Mutterkornpilzverwandte) ist ein pilzlicher Eiparasit von Nematoden (Fadenwürmern), der weltweit vorkommt und die Wurzeln verschiedener Pflanzenarten besiedelt. Ein Nematodenbefall «stellt ein Problem für die menschliche Gesundheit, die Viehzucht und die Landwirtschaft dar, da er die Gesundheit der Wirte beeinträchtigt, die Produktionskosten erhöht und zu einer Verringerung des Nahrungsmittelangebots führt. Die Bekämpfung dieser Parasiten erfolgt in der Regel mit Anthelminthika, die in den meisten Fällen nicht voll wirksam sind» (ebd.).

Mittels Gas-Flüssigkeits-Chromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung konnte im Ethylacetat-Extrakt des Pilzes tatsächlich Ketamin nachgewiesen werden: «Wir identifizierten die in zwei Unterfraktionen dieses Extrakts enthaltene Hauptsubstanz als Ketamin. Anschließend testeten wir diese Verbindung an C. elegans und den Parasiten A. ceylanicum und A. suum, wobei wir Hamster bzw. Mäuse als Wirte verwendeten. Bei der Anzahl der Würmer, die aus den Därmen der mit Ketamin (6 mg) und Albendazol behandelten Tiere geborgen wurden, konnten wir keinen Unterschied zwischen den Tiergruppen feststellen» (ebd.). Ketamin hatte dabei eine analoge antiparasitäre Wirkung wie das bekannte Arzneimittel Ivermectin.

Damit liegt der erste Nachweis einer natürlichen Quelle für das dissoziative Psychoaktivum vor. Die Ergebnisse der Studie belegen in vitro und in vivo «die anthelminthische Wirkung von Ketamin in den getesteten Modellen und zeigen damit die Möglichkeit einer Neupositionierung von Ketamin» (ebd.). Neben Ketamin wurden außerdem die Säuren cis-7-Hexadecensäure, Palmitinsäure und Linolsäure in dem Pilz nachgewiesen (ebd.).

Kryo-rasterelektronenmikroskopische Fotografien von Pochonia chlamydosporia auf Eiern des Wurzelknotennematoden Meloidogyne incognita.

3Pharmakokinetisches Maß: Vereinfacht gesagt, die Zeit, die der Körper zur Eliminierung einer Substanz benötigt.

4Dagegen induziert Ketanest S aufgrund des Zusatzes von Benzethonium mehr Apoptose an T-Lymphomzellen und Neuroblastomzellen des Menschen als die Reinsubstanz S-Ketamin (BRAUN et al. 2007; 2010a+b).

5Siehe dazu auch BRAUN et al. 2007; 2010a+b.

6Emergenz- oder Aufwachdelire sind auch in der pädiatrischen Medizin bekannt und werden u.a. auch von schnell abflutenden Anästhetika induziert, z.B. von Sevofluran und Desfluran.

7Das mit der Wayne State University verbundene primäre psychiatrische Forschungskrankenhaus des Michigan Department of Mental Health.

8N-(Methylnitrosocarbamoyl)-α-D-Glucosamin. Ein vom Bakterium Streptomyces achromogenes produziertes Glucosamin aus der Stoffklasse der Nitrosoharnstoffe, das toxisch für die insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse von Säugetieren ist.

KAPITEL 2

Konventionelle medizinische Verwendung

«Die Kurzzeitanalgesie in der Akut-, Notfall- und Intensivmedizin stellt eine der Domänen des Ketamin-Einsatzes in der Humanmedizin dar.»

WALGER 2002

Ketamin wird weltweit in zahlreichen Ländern sowohl in der Human- als auch in der Veterinärmedizin u.a. als Anästhetikum und Schmerzmittel angewandt. Es folgt eine konzise Übersicht über die jeweiligen Anwendungsgebiete.

Präklinische Nutzung

In der präklinischen Verwendung, also im Rettungsdienst und der Notfall- und Katastrophenmedizin, auch beim Massenanfall von Verletzten, wird Ketamin wie im klinischen Bereich hauptsächlich zur Narkoseeinleitung und Schmerzbekämpfung eingesetzt, da es keine nachteiligen Einflüsse «auf die Vitalfunktionen Atmung und Kreislauf» ausübt (GORGASS 1981). Im Gegenteil: Ketamin «bietet vor allem den Vorteil der Kreislaufstabilität; die geringe Myokarddepression wird durch zentral stimulierende Effekte überdeckt. Dies trifft sogar für Schockpatienten zu und auch bei Kombination von Ketamin mit Benzodiazepinen» (AXHAUSEN 1981). Daher gilt Ketamin unter Fachleuten als bevorzugtes Mittel zur notfallmedizinischen Narkoseeinleitung – gerade unter Bedingungen des Schocks. «Die sympathikomimetische Reaktion durch Ketamin mit dem stimulierenden Effekt auf das kardiozirkulatorische System verhindert einen Zusammenbruch der in dieser Situation lebensnotwendigen Zentralisation» (PFENNINGER 1989). Ketamin ist überdies ein brauchbares Transportanalgetikum, wenn schwer verletzte Patienten möglichst schonend in die Klinik befördert werden müssen (BIESING und KNUTH 1981; BRANDT und DICK 1989). Die Vorteile von Ketamin gegenüber anderen Medikamenten: Der Blutdruck wird angehoben bzw. fällt nicht weiter ab, die Herzfrequenz und damit das Herzzeitvolumen nehmen zu, es tritt keine wesentliche Veränderung des peripheren Gefäßwiderstandes auf, der intermediäre Kohlenhydratstoffwechsel wird nur in geringem Maß beeinflusst wie auch metabolische Veränderungen im Säure-Basen-Haushalt nur geringfügig ausfallen (BIESING und KNUTH 1981).

In der Notfallmedizin gibt es grob sechs Prototypen von Patienten, bei denen Ketamin das Pharmakon der Wahl ist: «der Notfallpatient mit Schädel-Hirn-Trauma, der nicht bewusstseinsgestörte Polytraumatisierte, der Traumatisierte, der über längere Zeit mit einer oder mehreren Extremitäten eingeklemmt ist und vielleicht längere Zeit in dieser Lage verharren muss (Maschinenunfall), das verunfallte, nicht bewusstseinsgestörte Kind, der Patient mit Verbrennungskrankheit und der Asthmatiker im therapieresistenten Status asthmaticus» (ELLINGER 1988). (Zur bronchodilatatorischen Wirkung des Ketamins und dessen Einsatz bei Asthmatikern siehe Seite 37.)

Indikationen und Kontraindikationen für Ketamin in der Notfallmedizin(nach PFENNINGER 1989; ergänzt)

Indikationen

•Schmerzbekämpfung

•Einleitung der Narkose im Schockzustand

•Bergung eingeklemmter Notfallpatienten

•Entgleister Status asthmaticus

Kontraindikationen

•Hypertonie > 180/110 mmHg

•Schlaganfall

•Schmerzbekämpfung bei Koronarinsuffizienz

•Erhöhter Druck im Lungenkreislauf

•Spontanatmung im Rahmen eines Schädel-Hirn-Traumas

•Überempfindlichkeit

Im Katastrophenfall gilt Ketamin-Razemat, z.B. Ketanest, als Pharmakon der Wahl, weil es bei einem weitgehend nebenwirkungsfreien Profil ausgeprägte analgetische Wirkungen induziert, welche die anästhestischen Effekte zum Teil überdauern (GORGASS 1981). Ketamin ist als Mononarkotikum und in Kombination mit Benzodiazepinen «zur Durchführung von Narkosen unter ungünstigen äußeren Bedingungen besonders geeignet. Der geringe apparative Aufwand, positive Kreislaufeffekte und die vergleichsweise unbedeutenden Nebenwirkungen machen es (…) zu dem geeignetsten Katastrophenarkotikum» (ebd.).

In einer Dosierung von 0,5 mg/kg (Kilogramm Körpergewicht) führt Ketamin «weder zu einem Hirndruckanstieg noch zu ausgeprägten Veränderungen der Hämodynamik des großen Kreislaufs», was die Substanz auch für die Behandlung von «schockierten, hypotensiven Schädelhirnverletzten» geeignet macht (KLOSE et al. 1981). Außerdem hat Ketamin neuroprotektive Eigenschaften: «Mehrere experimentelle Studien haben gezeigt, dass sowohl Ketamin-Razemat als auch S(+)-Ketamin eine zum Teil erhebliche neuroprotektive Wirkung bei inkompletter oder fokaler Ischämie sowie bis zu 2 h nach einem Schädel-Hirn-Trauma entfalten» (REEKER 2002).

Im Rahmen der Behandlung von kriegsverwundeten Soldaten bewährte sich Ketamin «als nützliches Anästhetikum in der Notfallmedizin, hauptsächlich bei kleinen und bei wiederholten Interventionen. Komplikationen beschränkten sich auf Apnoe und zögerndes Erwachen und konnten leicht beherrscht werden. Psychische Nebenwirkungen waren einem Alkoholrausch ähnlich und waren vorübergehend. Keine echten Halluzinationen wurden beobachtet. Die Anästhesietechnik konnte meist auch von Anästhesisten mit beschränkter Erfahrung ausgeübt werden, eine Tatsache, die in der Notfallmedizin nicht außer Betracht gelassen werden darf» (GESZTES 1981).

Ketamin: «Drug of War»

Ketamin wurde in verschiedenen Kriegen und Kriegssituationen als Anästhetikum und Narkotikum verwendet, so von US-Soldaten während des Vietnam-Kriegs (1955-1975), während des Jom-Kippur-Kriegs (1973), des Afghanistan-Kriegs (1983), des Golf-Kriegs (1992) sowie während der Kämpfe 1984 an der thailändisch-kambodschanischen Grenze (CHEN und MALEK 2015; MCNULTY und HAHN 2012; MERCER 2009).

«Das erste Versuchsfeld für Ketamin war das Schlachtfeld. Im Vietnamkrieg wurde es von Feldsanitätern in großem Umfang als Notfallanästhetikum eingesetzt. Einige Soldaten kehrten mit einer Vorliebe für Ketamin nach Hause zurück – vielleicht diente es nicht nur zur Betäubung vor Operationen im Kriegsgebiet, sondern auch von psychischen Traumata nach dem Einsatz» (JOHNSON 2018: 148).

Anekdotisch kann noch festgehalten werden, dass manche Patienten «hemmungslos, manchmal aggressiv, obszön [waren]; manche machten den Krankenschwestern ‹unanständige› Angebote. Doch diese Erscheinungen können keinesfalls als Halluzinationen betrachtet werden: Die Krankenschwestern waren tatsächlich da und sehr real. Nach vollem Erwachen erinnerten sich manche Patienten vage, dass sie sich etwa ‹unanständig› benommen hatten und entschuldigten sich. In jedem der Fälle konnten diese Erscheinungen mit 5–10 mg Diazepam unter Kontrolle gehalten werden» (ebd.).

Klinische Nutzung

Der hauptsächliche Einsatzbereich von Ketamin in der Klinik ist die Verwendung als intravenös und intramuskulär injizierbares Allgemeinanästhetikum und Analgetikum.

«Ketamin zeigt hervorragende Analgesie bei schwacher hypnoider Wirkung. Es wird zwar in die Gruppe der Anästhetika eingeordnet, stellt aber eine Substanz mit einem eigenen Wirkungsprofil dar» (DIWO und PETROIANU 2002). Seit mehr als 20 Jahren wird das stärkere (S)-Enantiomer Esketamin (z.B. Ketanest S) von Anästhesisten bevorzugt verwendet, da es eine höhere anästhetische und analgetische Wirkung, eine bessere Kontrolle der Anästhesie und eine bessere Erholung von der Anästhesie verspricht und gleichzeitig weniger Lethargie, Schläfrigkeit und eine geringere Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten induziert (HEMPELMANN und KUHN 1997; MULLER et al. 2016; PFENNINGER et al. 2002; WHITE et al. 1985).

Ketamin ist ein schnell wirksames Pharmakon und kann zur Narkoseeinleitung sogar bei Patienten mit akuten Traumata, Perikarditis oder Herzbeuteltamponade eingesetzt werden. «Beim Menschen tritt nach intravenöser Injektion einer, vom Zustand des Patienten abhängigen, Einleitungsdosis von 0,5-2 mg/kg KG Ketamin schlagartig (in etwa 30 s) – abhängig von der Kreislaufzeit – die anästhetische Wirkung ein. Chirurgische Maßnahmen sind ohne Schmerzäußerung und ohne schmerzbedingte Kreislauf- und Atmungseffekte sofort möglich. (…) Nach intramuskulärer Verabreichung einer Initialdosis von 4-8 mg/kg KG Ketamin ist der Patient in wenigen Minuten operationsbereit» (SCHULTE-STEINBERG und REIMANN 1988).

Als Narkotikum bewirkt Ketamin eine sogenannte dissoziative Anästhesie. «Nach dem Eindruck des Beobachters kommt es nach der Injektion von Ketamin beim Patienten zunächst zu einem weiten Öffnen der Augen, diese verharren dann in einer starren Blickrichtung, und der Patient erscheint ‹wie abgeschaltet›. Für diesen Zustand wurde der Begriff ‹dissoziative Anästhesie› geprägt»9 (TOLKSDORF 1988: 31).

Eine der hauptsächlichen Nebenwirkungen des Ketamins sind dessen dissoziativ-psychedelischen Effekte, je nach Dosis, Set und Setting, einhergehend mit Depersonalisationszuständen, Visionen, Trugbildern etc., die von Medizinern als halluzinogen, pseudohalluzinogen, psycho(to)mimetisch oder traumartig beschrieben werden, und die die Substanz in der psychonautischen Bewegung zu einem Objekt des Interesses machen (BENKE und UNGER 1969; DOENICKE et al. 1969; RUMPF et al. 1969). «Insbesondere während der Aufwachphase können Traumreaktionen auftreten. Von einigen Patienten werden sie als durchaus positiv erlebt, aber von anderen wiederum als überaus unangenehm, u.a. weil sie nicht kontrollierbar sind» (DIWO und PETROIANU 2002).

Medizinische Forscher probierten schon früh die psychoaktive Wirkung des Ketamins an sich selbst:

«Bei den ersten subjektiven Erlebnissen glaubte ich mich in einem komplizierten Röhrensystem zu befinden, das mich an eine Ölraffinerie erinnerte. Eine treibende Kraft schoss mich durch die bunten, gelegentlich abgewinkelten Rohre. Ich wunderte mich über das Zustandekommen dieser seltsamen Umstände und glaubte, von Verwandten verhext worden zu sein. Mir schien dies nun ein ewiges Schicksal zu sein, worüber ich sehr traurig wurde. Einige Zeit später konnte ich zuerst akustische Eindrücke aus der Umgebung wahrnehmen, die zuvor fehlten. Die Stimmen der im Raum anwesenden Personen klangen fern, aber trotzdem laut und schallend. Dabei konnte ich zwar die Laute hören, aber nicht verstehen. Ich glaubte, dass es sich um die Stimmen von Verwandten handle, die mich verhext hätten» (DOENICKE et al. 1969).

Die von Forschern beschriebene Phänomenologie der psychoaktiven Ketamineffekte bezog «in den traumhaften Perioden irreale Vorstellungen mit Bewegungserlebnissen und Farbeindrücken» ein. «Taktile, akustische und schmerzhafte Reize waren in dieser Periode unwirksam. Anschließend bestanden in der Regel Phasen mit flüchtiger Depersonalisation, Derealisation und Körperschemastörungen bis zu 60 min. Von diesem Zeitpunkt aus vermochten die Versuchspersonen mit Selbstbezogenheit und Selbstkritik zu berichten, dass sie geträumt hätten» (ebd.).

Im medizinischen Setting sind diese Effekte natürlich unerwünscht, weil sie die Patienten zu irritieren und zu ängstigen imstande sind. Eine Befragung von mit Ketamin anästhesierten Patienten ergab diverse Benennungen dieser Erlebnisse: «utopisch», «phantastisch», «irreal» und «rätselhaft» (RUMPF et al. 1969). Von 18 befragten Versuchspersonen empfanden sechs die Erlebnisse als angenehm, acht als unangenehm und vier als neutral (ebd.). Bezogen auf das Zeitempfinden der Erfahrung fühlten sich sieben Versuchspersonen (VP) als «außerhalb jeder Zeit», zwei VP empfanden, dass die Zeit schneller und zwei, dass die Zeit langsamer verging, während sieben VP keine Auffälligkeiten in der Zeitwahrnehmung empfunden haben (ebd.).

Als Risikofaktoren, die entsprechende Erfahrungen triggern, «gelten Alter < 10 Jahre, weibliches Geschlecht, vorhandene Persönlichkeitsstörungen, anamnestisch bekanntes heftiges Träumen, exzessive Stimulation während der Aufwachphase und zu schnelle i.v.-Applikation» (WALGER 2002).

Ein 80 Kilo wiegender Mediziner unterzog sich selbst einer Reihe von Bioassays mit Ketamin.

«Die Dosierung war in dem 1. Versuch 0,3 mg/ml im intravenösen Dauertropf bis zu einer Gesamtdosis von 0,5 mg/kg, im 2. Versuch bis zu einer Gesamtdosis von 1 mg/kg und im 3. Versuch eine Schnellinjektion mit einer Dosis von 3 mg/kg. Im 1. Versuch wurde eine Prämedikation mit 0,5 mg Atropin10 gegeben. Die beiden anderen Versuche erfolgten ohne Prämedikation. (…) Beim Eintropfen der Lösung kam es schon nach 3 mg (…) zu leichter Sehstörung, zur Schwierigkeit zu fixieren, bald zu Schwierigkeiten beim Artikulieren der Worte. Um den Mund herum ein Gefühl von ‹Dicke›, so wie nach der Injektion von einem Lokalanästhetikum durch den Zahnarzt. (…) Das Selbstgefühl, das Ich-Gefühl, zog sich gewissermaßen mehr und mehr in die craniale Gegend zurück, bis schließlich das Selbstbewusstsein in eine Gegend um Stirn und Augen beschränkt war. (…) Zugleich kam es, vielleicht aus dem experimentellen Zusammenhang heraus, zu einer eigenartigen Schwierigkeit, gleichzeitig Beobachter und Beobachteter zu sein. Dieser Versuch, festzustellen, was erlebt wird, führte zu einer Entzweiung des Beobachteten und des Beobachters selbst, und zwar stärker bei der höheren Dosierung als der niedrigeren, zugleich mit einem merkwürdigen Wiederholungsphänomen. Es war so, wie wenn man, zwischen 2 Spiegeln sitzend, das Spiegelbild und das gespiegelte Spiegelbild immer schwieriger voneinander unterscheiden kann» (LASSNER 1968).

Um die dissoziativ-psychoaktiven Wirkungen des Ketamins in der Aufwachphase nach der Narkose und auch die kardiovaskulären Nebenwirkungen wie Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg zu unterbinden oder zumindest abzumildern, wird in der Humanmedizin die 1974 eingeführte sogenannte Tranquanalgesie präferiert. Diese wird z.B. mit 250 Milligramm Ketamin in Verbindung mit einem hochdosierten Benzodiazepin realisiert, z.B. 50 Milligramm Diazepam (Valium). «Als Tranquanalgesie bezeichnen wir ein standardisiertes intravenöses Narkoseverfahren mit kontinuierlicher, also nicht fraktionierter Zufuhr von Ketamin (Ketanest) und Diazepam im Verhältnis 5:1» (KREUSCHER 1982). Allerdings können auch andere Benzodiazepinderivate (jedoch nicht alle!) verwendet werden, z.B. Midazolam (Dormicum) und Flunitrazepam (Rohypnol). Zu den unterschiedlichen Aspekten der Ketamin-Benzodiazepin-Kombination in der Anästhesie siehe LANGREHR 1982.

Klinisches Wirkungsprofil von Ketamin nach DIWO und PETROIANU 2002

•analgetische Effekte

•anästhetische Effekte

•sympathomimetische Effekte

•parasympathische Effekte

Mitunter wird behauptet, dass Ketamin ein kurzwirksames Anästhetikum sei11. Das ist per definitionem nicht korrekt. Ketamin «bewirkt zwar bei i.v.-Injektion innerhalb 1–2 Minuten eine schnelle Anästhesie, ist beliebig oft nachinjizierbar (…), doch als Kurznarkotikum kann es keinesfalls bezeichnet werden», denn die Substanz weist «bei relativ weiter Streuung noch eine über 60 Minuten anhaltende Wirkung bei einmaliger Injektion von 1-2 mg/kg KG i.v.» auf. «In den meisten Fällen handelte es sich um die damals noch übliche Mononarkose mit Ketanest, sodass die verlängerte Aufwachphase nicht zwangsläufig durch die heute übliche Zusatzmedikation begründet ist» (KLOSE et al. 1989).

Ketamin hat ein sehr sicheres Profil, so bleiben beispielsweise die Vitalfunktionen unter der Narkose voll erhalten, was bedeutet, dass der Patient in der Regel nicht intubiert und beatmet werden muss. «Die intramuskuläre Injektion von Ketamin erwies sich beim Affen ebenso wirksam wie die intravenöse, doch wurde zur Erreichung der anästhetischen Wirksamkeit eine höhere Dosierung benötigt. (…) Die Sicherheitsbreite (therapeutische Breite) von Ketamin ist groß. Bei Affen (Macaca mulatta) liegt die anästhetische Schwellendosis bei 3 mg/kg KG. Dosierungen bis 48 mg/kg KG wurden ohne Atemstillstand vertragen. Höhere Dosierungen hätten bei Beatmung der Tiere überlebt werden können» (ebd.).

Ketamin hat viele Vorzüge und Vorteile gegenüber anderen Narkosemitteln, so weist es eine «große therapeutische Breite, fehlende Organtoxizität, gering negativ inotrope Wirkung, geringe Beeinträchtigung der Schutzreflexe und das Fehlen eines Einflusses auf die homöostatischen Kreislaufregulationen» auf (DÄHN und PODLESCH 1988). Ketamin wurde auch sinnbringend in der Geriatrie (KAPFERER 1973) sowie in der geburtshilflichen Anästhesie verwendet (DICK et al. 1973; HEIDENREICH et al. 1973; LANGREHR und NEUHAUS 1973).

Im Rahmen einer Studie erhielten 50 Frauen während Spontangeburten Ketamin. «Nach Prämedikation mit 0,5 mg Atropin erhielt die Gebärende 2 mg/kg Ketamin beim Beginn der letzten Presswehe. Die Injektionsgeschwindigkeit betrug 30–60 sec» (HEIDENREICH et al. 1973). Neben den typischen temporären Blutdruck- und Herzfrequenzsteigerungen «gaben 9 Frauen an, sie hätten während der Narkose (einschließlich der postnarkotischen Phase) geträumt. 5 Frauen empfanden die Träume als angenehm. 3 Patientinnen hatten unangenehme Traumerlebnisse. 1 Patientin hatte indifferente Empfindungen. (…) Die meisten Patientinnen hatten das Gefühl, frei durch den Raum zu schweben. Sie sahen die Welt unter sich in schrillen Farben vorüberziehen. Dabei überwogen Gelb, Violett und Orange. Menschen und Tiere hatten verzerrte Gesichter und Gestalten. Dagegen waren Landschaften nicht verändert. 1 Patientin verglich die Halluzinationen mit Erlebnissen im LSD-Rausch» (ebd.). Die Autoren beschreiben auch die sogenannte Schlafgeburt mithilfe von Ketamin: «Bei 5 Gebärenden haben wir Ketamin zur Durchführung einer Schlafgeburt angewandt. Initial erhielten die Frauen nach Prämedikation mit 0,5 mg Atropin Ketamin i.v. in einer Dosierung von 1-2 mg/kg KG. Die Narkose wurde mit 1–3 mg Ketamin/min in Form einer Infusion weitergeführt. Zusätzlich erhielten die Patientinnen vor und nach der Entbindung Haloperidol. Bei diesen 5 Frauen traten Träume und Halluzinationen nicht auf. Die Wehentätigkeit und fetale Herzfrequenz (CTG) waren unverändert gegenüber dem Zeitraum vor der Applikation von Ketamin. (…) Die Neugeborenen zeigten nach Anwendung von Ketamin für die Durchtrittsnarkose gegenüber einem Vergleichskollektiv kein unterschiedliches Verhalten» (ebd.).

Ketamin induziert keine kreislauf- und atemdepressiven Effekte, ist allerdings stark kardiovaskulär wirksam (u.a. Anstieg von Blutdruck, Herzfrequenz und Herzzeitvolumen), sodass es für Patienten mit signifikantem Bluthochdruck eigentlich kontraindiziert ist (WALGER 2002). «Die Wirkung von Ketamin auf das kardiovaskuläre System entspricht einer zentralen, adrenergen Stimulation. Unter der anästhetischen Dosis kommt es zu einem Anstieg des systolischen und diastolischen Blutdrucks sowie der Pulsfrequenz (FOIDL und KROESEN 1990). Hier kommt, wie oben bereits angerissen, die Benzodiazepin-Kombination ins Spiel. «Durch Kombination der Ketaminanwendung mit Vorgabe der verschiedenen Benzodiazepine lassen sich alle (…) kardiozirkulatorischen Effekte unterbinden» (LANGREHR 1981).

Die Substanz hat kataleptische, aber nur geringe sedative bzw. hypnotische Eigenschaften, wie sie beispielsweise den Barbituraten zu eigen sind, und außerdem bronchienerweiternde Effekte bei Acetylcholin-bedingten Kontraktionen, was bei Patienten mit Bronchospasmus und Asthma positive Auswirkungen hat (CHANG et al. 2016; PABELICK et al. 1997; SCHULTE-STEINBERG und REIMANN 1988; WALGER 2002). «Die ersten Hinweise, dass Ketamin bei Asthmapatienten mit Vorteil eingesetzt werden könne, gehen auf Corssen zurück. Corssen berichtet, dass er bei Asthmaanfällen ca. 90 Sekunden nach Ketamingabe eine Bronchodilatation beobachten konnte, die ungefähr 6-8 Minuten anhielt. Ketamin führt zu einer Erhöhung der Katecholaminspiegel. Ursache ist eine zentrale Sympathikusstimulierung. Ketamin wirkt also unter Vermittlung von Adrenalin auf die bronchodilatatorisch wirkenden β2-Rezeptoren» (STRIEBEL und KRAFT 1989).

Fahrtauglichkeit nach Ketamin-Narkosen

Nach einer achtminütigen i.v.-Ketamin-Narkose (1,5 mg/kg KG) waren Probanden in einer Untersuchung erst nach vielen Stunden wieder fähig, ein Fahrzeug zu führen. Erst vier Stunden nach der Injektion von Ketamin sind «diejenigen Funktionen wieder normalisiert (…), die eine Mindestvoraussetzung für die eigenverantwortliche Teilnahme am Straßenverkehr sind. [Trotzdem] muss auch zu dieser Zeit noch mit erheblichen Störungen des Vestibularapparates gerechnet werden, die eine Straßenverkehrstauglichkeit ausschließen» (KREUSCHER et al. 1969).

Ketamin kommt auch in der Pädiatrie, z.B. in der pädiatrischen Chirurgie und Augenheilkunde, als geeignetes und verträgliches Anästhetikum zum Einsatz (BÜKY 1973; DANGEL 1969; ECKART 1969; EDLINGER 1973; GEMPERLE et al. 1969; PODLESCH 1969; SEHHATI et al. 1973; SIEPMANN und PODLESCH 1973; WESTHUES 1969). Ketamin ist bei Kindern allerdings kein Standardnarkotikum. Dies liegt im Wesentlichen an zwei Gründen:

1. sind parenteral bzw. enteral applizierte Stoffe schon im Kindesalter deutlich schlechter zu steuern als Inhalationsanästhetika,

2. treten dissoziativ-psychedelische Effekte (oft unzureichend als «psychotomimetisch» bzw. «psychomimetisch» bezeichnet) auch bei Kindern auf, nur dass diese die Erlebnisse schlechter kommunizieren können als erwachsene Patienten (KRETZ et al. 1989).

«Bereits den Erstanwendern von Ketanest fiel die postoperative Unruhe der Kinder auf. Teilweise werden langfristige psychische Veränderungen von Kindern nach Ketamin-Mononarkosen auf dieses Medikament zurückgeführt. Allerdings fanden [Forscher] bei einem Vergleich Halothan / Ketamin in der Halothan-Gruppe eine ähnliche Traumhäufigkeit» (ebd.). Die dissoziativpsychedelische Wirkung des Ketamins ist bei Kindern weniger ausgeprägt als bei Erwachsenen: «Die Rate aller psychomimetischen Symptome beträgt bei Erwachsenen ca. 50 %, bei Kindern ca. 10 %» (WALGER 2002). Auch Kindern ab zehn Jahren soll neben dem Ketamin zusätzlich ein Benzodiazepin verabreicht werden (ebd.).

Zur Abschwächung der psychoaktiven Wirkungen eignet sich Diazepam bei Kindern nicht wirklich, obgleich es früher zusammen mit Atropin als Prämedikation verabreicht wurde. Effektiver und verträglicher ist dafür jedoch Midazolam aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine. Midazolam hat «auch im Kindesalter eine dem Anästhesisten bekannte, gerade von Pädiatern bestätigte potente amnestische Wirkung. Mit diesem Benzodiazepin scheinen deshalb am ehesten die psychomimetischen Wirkungen von Ketanest zu verhüten zu sein» (ebd.). Vorteilhafterweise kann Ketamin (nicht nur) bei Kindern (z.B. in einer Dosis von 10 mg/kg) auch rektal appliziert zur Anwendung kommen. «

Die Grundlage für die Effektivität der rektalen Zufuhr von Ketamin ist seine Wasserlöslichkeit. Die Resorption durch die Mucosa12 des Rektums ist ein Diffusionsprozess. Da die Mucosa des Rektums mit einer wässrigen Schicht gedeckt ist, verlangt die Resorption des wasserlöslichen Ketamins nicht einen zusätzlichen Diffusionsschritt durch eine Wasser-Fett-Zwischenschicht. Die Resorption des rektal verabreichten Ketamins erfolgt daher relativ rasch» (BÜTTNER 1990). Im Übrigen ist die Plasmahalbwertszeit von Ketamin bei Kleinkindern kürzer als bei Erwachsenen (ebd.). «Bei Gabe des Ketamins zur Narkoseeinleitung bei Kleinkindern ist es aus Gründen der breit gestreuten individuellen Sensitivität gegen dieses Medikament notwendig, die individuelle Dosierung anhand der fassbaren zirkulatorischen Parameter und der klinischen Beobachtung zu titrieren. Dabei ist mit einer initialen Dosis von 1 mg/kg KG in aller Regel nicht mit negativen Auswirkungen auf die vitalen Funktionen zu rechnen, jedoch kann in Einzelfällen eine Erhöhung der Dosis besonders im Säuglingsalter bis über 2 mg/kg KG notwendig werden. Die Supplementierung mit Benzodiazepinen ist dabei (…) unumgänglich» (ebd.).

Das Erholungsverhalten von Kindern nach einer Ketamin-Narkose «ist häufig gekennzeichnet durch Zeigen, Strecken und Greifen in die Luft, spontane Kopf- und Augenbewegungen ohne erkennbare Reize und in einem Fall durch Wegkriechen von einem Bereich des Bettes, auf den das Kind unter Schreien und Weinen immer wieder mit den Händen schlug» (SIEGEL 1978a: 268).

Die Ketamin/Benzodiazepin-Kombination ist außerdem für die Ruhigstellung von Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern während diverser Untersuchungen, wie z.B. CT und MRT, geeignet (ABEL 1990).

Die Verabreichung von Ketamin wird mit neurotoxischen Wirkungen und dem Absterben von Nervenzellen in Verbindung gebracht, was seine Verwendung in der Pädiatrie problematisch macht. Daher ist die Bewertung der Auswirkungen der Verabreichung von Ketamin in frühen Stadien der Neurogenese (der Bildung von Nervenzellen) von entscheidender Bedeutung. Auch die Bewertung der Langzeitwirkungen von Ketamin bei Erwachsenen ist kaum bekannt. Laut einer Studie ist die Verabreichung von subanästhetischen und anästhetischen Konzentrationen Ketamins im Tierversuch mit Zebrafischen trotz einiger vorübergehender schädlicher Auswirkungen jedoch langfristig sicher für das zentrale Nervensystem (SANTOS et al. 2023).

Wie anfangs erwähnt, ist ein weiteres Anwendungsfeld des Ketamins, das zwar längst nicht immer, aber dennoch häufig mit der Notwendigkeit einer Narkoseeinleitung einhergeht, die Behandlung von Schmerzen.

«Aufgrund seiner außergewöhnlichen analgetischen Eigenschaften wird Ketamin in subanästhetischen Dosen häufig zur Behandlung von Durchbruchschmerzen bei Patienten mit akuten und chronischen Schmerzen sowie zur Behandlung von neuropathischen Schmerzstörungen, ischämischen Gliederschmerzen, therapieresistenten Krebsschmerzen, als Ergänzung zur Standard-Opioidtherapie und als pädiatrisches Sedierungsmittel für den Einsatz bei akut verletzten Kindern verwendet» (KOLP et al. 2007). Auch zur Prävention chronischer postoperativer Schmerzen eignet sich Ketamin (JAKSCH et al. 2019).

Ketamin wird auch als Kataleptanalgetikum bezeichnet (LANGREHR