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Dyscalculia has an adverse impact on the school career and emotional development of the children and young people affected by it. The authors develop simple and effective learning methods and provide ways of dealing with examination anxiety against the background of current educational psychology and neuroscientific findings.
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Seitenzahl: 398
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Dr. Armin Born ist Diplom-Psychologe, Diplom-Pädagoge und Psychologischer Psychotherapeut.
Nach dem Studium des Lehramts an Grund- und Hauptschulen, der Pädagogik und der Psychologie bildete er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg zehn Jahre lang vor allem angehende Lehrer aus.
Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitete er dann als Psychologischer Psychotherapeut in kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und parallel 20 Jahre lang als Ehe-, Familien- und Lebensberater in einer Beratungsstelle in Würzburg. Seit 2006 besteht daneben auch eine Therapietätigkeit in freier Praxis. Sein therapeutischer Hauptschwerpunkt ist die Arbeit mit Kindern mit Lernproblemen und zusätzlichen psychischen Problemen und die Arbeit mit AD(H)S-Kindern und deren Familien.
Seit 2000 erweiterte sich sein Arbeitsfeld um Vorträge und Fortbildungen im deutschsprachigen Raum zu den Themengebieten »Effektives Lernen«, »Frühförderung« und »Lern- und Verhaltensprobleme bei AD(H)S«.
Claudia Oehler ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin.
Nach dem Studium der Psychologie war sie zunächst fünf Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Philipps-Universität Marburg unter Leitung von Prof. Dr. Dr. H. Remschmidt tätig. Von 1991 bis 2003 arbeitete sie dann als Verhaltenstherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in einer großen kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis mit dem Schwerpunkt der Betreuung von AD(H)S-Kindern und deren Familien. Seit 2003 ist sie als Verhaltenstherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in freier Praxis tätig. Seit 2000 zahlreiche Fachvorträge, Veröffentlichungen und Fortbildungsveranstaltungen insbesondere zum Thema Lernen und AD(H)S.
Weitere Publikationen des Autorenteams:
Born A., Oehler C. (2019): Lernen mit ADHS-Kindern. 11. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer.
Born A., Oehler C. (2017): Lernen mit Grundschulkindern. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
Born A., Oehler C. (in Vorbereitung): »Gemeinsam wachsen« – der Elternratgeber ADHS. Verhaltensprobleme in Familie und Schule erfolgreich meistern. 2. Auflage Stuttgart: Kohlhammer.
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Die Abbildungen beruhen (zum großen Teil) auf Vorlagen der Grafiker Anita Krämer-Gerhard und Bernhard Ziegler.
6., erweiterte und überarbeitete Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-035549-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-035550-7
epub: ISBN 978-3-17-035551-4
mobi: ISBN 978-3-17-035552-1
Wir freuen uns, Ihnen hiermit die 6. Auflage des Buches »Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern« vorlegen zu können. Neuauflagen bieten die Chance, aktuelle Weiterentwicklungen mit einzubeziehen. So möchten wir nun in dieser überarbeiteten 6. Auflage Neuerungen aus der Forschung und aktuelle Entwicklungen vorstellen, sowie unsere eigenen Ergänzungen und Vertiefungen im methodischen Bereich. Da wir unsere Bücher als ständigen Weiterentwicklungsprozess verstehen, finden Sie in dieser Auflage folgende Neuerungen:
Einleitend finden Sie eine kritische Auseinandersetzung mit dem neuen schulpädagogischen Leitbegriff der »Kompetenzorientierung« und dessen Auswirkungen auf die Schulwirklichkeit.
Vertieft haben wir die Beschreibung der Hauptauffälligkeiten bei Kindern mit Rechenschwäche/-störung und die Bedeutung der emotionalen Bewertung in der Diagnose und der Therapie sowie die Erkennungsmerkmale einer Rechenschwäche/ -störung. Darauf aufbauend wurde ausführlicher dargestellt, worauf Sie bei Ihrem Kind besonders achten müssen.
Ergänzt wurden entwicklungspsychologische Aspekte sowie die Fördermöglichkeiten im Vorschulbereich, da in diesem frühen Alter schon die Weichen für die spätere Leistungsentwicklung im schulischen Bereich gestellt werden.
Neu aufgenommen wurden die Ergebnisse der letzten PISA-Studie (2015).
Auch im Bereich der Entwicklung von Rechentests wird der aktuelle Stand wiedergegeben und gleichzeitig eine Rangreihe der »besten« Testverfahren vorgestellt.
Ergänzend finden Sie Belege für die Bedeutung der Automatisierung im menschlichen Gehirn. In beeindruckenden Ergebnissen von Gehirnscans werden die Unterschiede in den Gehirnaktivitäten zwischen »trainierten« und »untrainierten« Personen beim Lösen einfacher Multiplikationen- und Divisionsaufgaben einander gegenübergestellt.
Neu ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Hundertertafel. Obwohl diese unzutreffende Vorstellungen vom Aufbau des Zahlenraums hervorbringt, wird sie unreflektiert standardmäßig im Unterricht eingesetzt. Es wird aufgezeigt, warum sie für rechenschwache Kinder (aber nicht nur für sie) abzulehnen ist und nur der Zahlenstrahl benutzt werden sollte.
In unserem Buch versuchen wir, Lösungen für ein gravierendes und häufiges Problem zu entwickeln: der (von schulischen Konzepten teilweise mitverursachten) Entwicklung einer Rechenschwäche bzw. -störung und der negativen Auswirkungen von ungeeigneten Fördermaßnahmen. Grundsätzlich ist aus unserer Sicht immer zu bedenken, welche erheblichen Beeinträchtigungen jeder Einzelne mit einer Rechenschwäche oder gar Rechenstörung (Dyskalkulie) in der persönlichen, emotionalen und sozialen Entwicklung bis hin ins Erwachsenenalter erfährt. Zu berücksichtigen sind auch die sozialen Folgekosten unzureichender Förderung, die sich auf das gesamte berufliche Leben genauso gravierend auswirken dürften, wie dies für die Legasthenie bereits gut belegt ist.
Eigentlich sollte sich die Schule dieses Problems annehmen. Vorrangig für die Schule scheint im Augenblick dagegen zu sein, didaktische Zielvorstellungen zu entwickeln und ihre Methoden ohne empirische Absicherung diesen anzupassen. Zwar gibt es dazu noch keine verlässlichen Studien, aber durch die geänderten Anforderungen in der Grundschule im Rahmen des neuen Leitbegriffs »Kompetenzorientierung« dürften durch die geforderten »anspruchsvolleren« Denkleistungen die Schüler bevorteilt werden, die sowieso schon gut waren. Schwächere und langsamere Schüler werden dagegen benachteiligt, da es kaum mehr auf das Automatisieren d. h. das Auswendiglernen z. B. der Grundrechenfertigkeiten ankommt. Damit fehlt diesen Kindern ein gesichertes Fundament für die Lösung komplexerer Rechenprobleme. So verwundert es uns nicht, dass viele Lehrer und Schulpsychologen in Gesprächen weiterhin immer wieder unserer Einschätzung zustimmen, dass die Grundschullehrpläne eigentlich nur für die guten Schüler konzipiert sind.
Zusätzlich zu der geschilderten Problematik der Lernziele und -inhalte kommt die der Lernwege. So ist die »Organisation offener Lernangebote« im Unterricht, »in dem jedes einzelne Kind selbst aktiv ist, […] um auf eigenen Wegen zu einer Lösung zu kommen«, (Zöchlinger 2011, S. 103) ein zentraler Bestandteil der neuen didaktischen Vorstellungen. Gerade Schüler mit Lernschwächen aber, so der Schulpädagoge Martin Wellenreuther, seien mit den in der Grundschule propagierten Formen des »offenen« Unterrichts »heillos überfordert« (2009b, S. 72). Es sei »eine wahrhaft absurde Geschichte« (ebd.), dass in der Grundschule die empirisch nachgewiesen effektiveren Lernformen, von denen insbesondere Schüler mit Lernschwierigkeiten profitieren, gering geschätzt und wenig umgesetzt würden. Da diese Kinder »in besonderem Maße auf die Lernsteuerung durch den Lehrer angewiesen sind«, würden sie so systematisch benachteiligt (ebd.).
Eine engagierte Lehrkraft mit 25-jähriger Berufspraxis setzte sich sehr intensiv mit unserem Buch auseinander und schrieb uns unter anderem Folgendes: »Ich habe mich gefreut über Kritik an folgenden Lehrmeinungen, weil es meiner Erfahrung nach nie (richtig) funktioniert hat (Mythos 1 und Mythos 3, mein Hauptpunkt!!!). Ich konnte noch nie feststellen, dass bei rechenschwachen Kindern nach einer gewissen Zeit des Einführens, Erklärens, Ausprobierens usw. weitere Veranschaulichungen geholfen hätten. […] Bei der Einführung des neuen (bayerischen) Lehrplans habe ich auf mehreren Fortbildungen die Referenten gefragt, wie denn nun der Übergang sein soll vom Ausrechnen der Kernaufgaben zum Beherrschen der 1 x 1-Reihen und ich habe von keinem eine sinnvolle Antwort bekommen. […] Zum selbst entdeckenden Lernen stimme ich Ihnen ganz energisch zu!!! Für rechenschwache Kinder ist es Unfug. […] Das Buch ist sehr wichtig für mich. Was ich sehr gut finde: Ich habe einige Erklärungen für bisher rätselhafte Beobachtungen gefunden (z. B. Mythen), viele Dinge, die ich mir selbst ausgedacht und erarbeitet habe, wo ich von den Büchern und Lehrmeinungen abweiche, finde ich bestätigt, z. B. der große Stellenwert des Übens, des systematischen Übens, weniger verschiedene Aufgabenformen und Veranschaulichungsmittel usw.«
Viele Lehrer sehen sich oft eingebunden in Lehrmeinungen, Lehrpläne und Beurteilungsverfahren. So äußerte beispielsweise eine Lehrkraft vor dem bevorstehenden Besuch des Schulrates: »Darf ich denn eine solche Stunde halten, so einfach?« Lehrer haben Angst, die Vielfalt an Darstellungsformen und Methoden aufzugeben, obwohl dadurch häufig nur Chaos im Gehirn des rechenschwachen Kindes entsteht bzw. verstärkt wird.
Lehrkräfte sind in keinster Weise verantwortlich für die Entwicklungen im Schulsystem, sondern sind auch Vorgaben ausgesetzt, denen sie nachkommen müssen. Sie erleben häufig den Gegensatz zwischen der ihnen vermittelten Unterrichtsdidaktik und ihrem persönlichen Erfahrungswissen. Wir möchten also weder Lehrerschelte betreiben noch das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern mit unserer kritischen Einschätzung bestimmter didaktischer und lernmethodischer Vorgaben belasten. Vielmehr möchten wir beginnen, auf der Basis sicherer Erkenntnisse über die Art und Weise, wie wir lernen und wie wir speziell auch Mathematik lernen, ideologiefrei den effektivsten Weg für die rechenschwachen Kinder zu suchen. Mathematik sollte einfach und nicht angstbelastet sein, Rechenfertigkeiten sollten primär als »Handwerkszeug« verstanden werden, welches dann später für »kreativere Lösungsprozesse« z. B. bei den neuen, »anspruchsvolleren« Sachaufgaben im Rahmen der Kompetenzorientierung eingesetzt werden kann. Auf dieser Grundlage halten wir die enge Kooperation zwischen Lehrern und Eltern als notwendige Voraussetzung für eine Erfolg versprechende Förderung.
Um die Situation, in der sich rechenschwache Kinder befinden, besser verstehen zu können, haben wir Rückmeldungen zu den bisherigen Auflagen unseres Buches »Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern« auf diesen Aspekt hin analysiert und fanden folgende Aussagen von Lesern:
Beispielhaft berichtet Patrick Möhler1, dass die Hausaufgaben ewig dauerten, oft mit Tränen verbunden und jedes Mal von den Worten begleitet waren: »Das kann ich ja doch nicht«. Seine Tochter (dritte Klasse) sei nach Ansicht der Lehrerin »einfach nur viel zu langsam«.
Manuela Herold1 schreibt, dass es auch bei ihrer Tochter »viele Tränen« gab. Sie »klagte sogar schon über Bauchschmerzen in der Schule«. Die Probleme mit ihrer Tochter fingen in der ersten Klasse an, als es nicht mehr darum ging, »einfach nur an den Fingern abzuzählen, sondern den Zahlenraum zu verstehen. Wir haben alles Mögliche ausprobiert, verschiedene Materialien zur Veranschaulichung, Perlen, Steine, Abakus, etc.«
Mit ihren Problemen wurden viele Kinder (und Eltern) von schulischer Seite alleingelassen. Mit den von uns vorgeschlagenen Lernmethoden machten diese Eltern folgende Erfahrungen:
Patrick Möhler berichtet, dass der Erfolg sich schon nach nur zehn Tagen zeigte und beim zusätzlichen Üben kein Stress mehr entstand. Nach zwei Monaten Training sei seine Tochter nun viel schneller im Rechnen und finge sogar an, Spaß zu haben.
Manuela Herold schreibt, dass viele Argumente unseres Buches sie vollkommen überzeugt hätten, z. B. dass in aller Regel weniger mehr sei – dass es also darauf ankomme zu verhindern, die Kinder durch zu viele verschiedene Methoden und Rechenwege zu überfordern – und vor allem, dass es wichtig sei, dass kleine Einspluseins auswendig zu lernen. Sie habe es erst nicht glauben wollen, denn »Mathe ist für mich Verständnis« (die Mutter ist Ingenieurin), »aber wahr ist, dass man schwierigere Dinge einfach besser versteht, wenn man über Basisoperationen nicht mehr nachdenken muss.« Weiter berichtet sie, dass es ihrer Tochter Spaß mache, da sie Erfolgserlebnisse sehe und »ach übrigens, Bauchschmerzen hat sie keine mehr«.
Wir müssen uns verstärkt und in erster Linie Rechenschaft darüber ablegen, wie Lernprozesse zu strukturieren sind, damit sie erfolgreich sein können. Bisher hat man sich zwar durchaus damit auseinandergesetzt, welche Faktoren beim Kind eine Rechenschwäche mit auslösen können. Jedoch hat man sich noch nicht damit beschäftigt, wie auch Lernmethoden Rechenschwächen verstärken oder sogar verursachen können. Passende, auf die jeweils besonderen Voraussetzungen des einzelnen Kindes abgestimmte Fördermethoden wurden in der Vergangenheit aufgrund der einseitigen »ideologischen Brille« nur unzureichend entwickelt.
Ausgangspunkt, um wirksame Methoden der Lernförderung zu entwickeln, dürften nicht didaktische Überlegungen, sondern die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Lernpsychologie und der Gehirnforschung sein. Besonders die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses hat in den letzten Jahren in der Forschung einen zentralen Stellenwert bekommen. Das Arbeitsgedächtnis stellt das »Nadelöhr« im Lernprozess dar. Wir bemühen uns nun in diesem Buch, diese Tatsache ernst zu nehmen. Deswegen versuchen wir, Lernprozesse unter Einbezug dieses Nadelöhrs zu erläutern, um dann zu überlegen, welche Lernwege aufgrund dieser Engstelle überhaupt erfolgreich sein können.
Auf einem umfassenden Grundlagenwissen aufbauend haben wir Lernwege entwickelt, damit Kinder auf möglichst einfache Weise die notwendigen Automatisierungen erwerben können, um damit den begrenzten Arbeitsspeicher zu entlasten. Darüber hinaus versuchen wir das systematische Üben so zu gestalten, dass es erfolgreich sein kann und dadurch bei den Kindern mit einer Rechenschwäche zu einer positiven emotionalen Bewertung des Lerngegenstandes führt. Immer wieder hören wir von rechenschwachen Kindern, die wir über eine längere Zeit begleitet haben: »Mathe ist jetzt mein Lieblingsfach«.
Claudia Oehler und Armin Born
Dezember 2019
1 Namen von den Autoren geändert.
Möglicherweise haben Sie als Eltern, Lehrer, Psychologen und Pädagogen oder auch als Ärzte unterschiedliche Interessen, wenn Sie dieses Buch lesen. Insbesondere für die Eltern rechenschwacher Kinder, denen die praxisorientierten Teile wichtig sind, haben wir die konkreten Lernhilfen am Seitenrand blau unterlegt – und somit leicht auffindbar gemacht.
Die weiß belassenen Teile sind eher theoretischer Natur und geben einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zur Thematik. Diese Seiten dürften neben den Eltern insbesondere Lehrer, Psychologen, Pädagogen und Lerntherapeuten sowie Ärzte und Heilpädagogen ansprechen.
In einer ausführlichen Einleitung stellen wir unsere Grundüberlegungen sowie die Grundzüge unseres Konzeptes und unsere Herangehensweise vor. Um die gegenwärtigen schulischen Bedingungen im Lernbereich genauer zu klären, analysieren wir das neue schulpädagogische Konzept der »Kompetenzorientierung« und hinterfragen es kritisch: Hilft es rechenschwachen Kindern?
Teil 1 enthält Basiswissen:Sie finden eine Einführung dazu, was unter einer Rechenstörung und Rechenschwäche verstanden wird, welche Voraussetzungen bei rechenschwachen Kindern bestehen, wie häufig Rechenschwäche vorkommt und wie diese testpsychologisch erfasst werden kann.
Anschließend folgt Grundlagenwissen zum Thema Lernen, denn Rechenfertigkeiten werden erlernt. Es ist daher wichtig zu wissen, was beim Lernen überhaupt passiert und Sie an aktuellen Ergebnissen der Lernpsychologie und Gehirnforschung sowie an daraus gewonnenen theoretischen Modellen der rechnerischen Verarbeitung teilhaben zu lassen. Dieser Teil dürfte besonders Lehrer und Therapeuten interessieren, aber natürlich auch Eltern, da hier die Grundlagen und Grundvoraussetzungen für die Lernarbeit – ob zu Hause oder in der Schule – reflektiert werden.
In Teil 2 werden zentrale Ansätze der Förderpraxis dargestellt und kritisch beleuchtet. Wir fragen immer wieder, ob es sich bei diesem »Altbewährten«, das auch immer wieder zumindest in Teilaspekten in eine »kompetenzorientierte Vorgehensweise« einfließt, um Mythen oder gesicherte Erkenntnisse handelt. Engagierte Lehrer und Lerntherapeuten, die in ihrer Lehr- und Förderpraxis immer wieder feststellen, dass ihr Bemühen nicht zum angestrebten Ziel führt, finden hier vielleicht Antworten. Viele Anregungen für Diskussionen und Denkanstöße zur Reflexion des täglichen Praxishandwerks, die Sie hier vorfinden, mögen zum Teil provozierend klingen, da sie tradierte und gewohnte Vorgehensweisen in Frage stellen, aber vielleicht kann etwas Fruchtbares entstehen, wenn Sie sich auf die Inhalte und Argumentationsstränge einlassen.
Eltern kann dieser Teil dabei helfen, die Förderpraxis, die ihr Kind in der Schule, beim Lerntherapeuten oder in der Ergotherapie erfährt, in ihren Wirkmöglichkeiten einzuschätzen.
Teil 3 ist für Eltern gedacht, die auf der Suche nach ganz konkreten Hilfestellungen für ihr rechenschwaches Kind sind. Hier werden die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Förderarbeit erläutert.
Teil 4 geht auf konkrete Lernmethoden im Grundlagenbereich der rechnerischen Fertigkeiten und Fähigkeiten ein. In diesem Teil finden Sie die exemplarische Umsetzung der Erkenntnisse der Lernpsychologie und aktuellen Gehirnforschung. Wir haben diese Erkenntnisse in leicht handhabbare Lernmethoden umgesetzt und vor allem Fördermöglichkeiten für den Grundschulbereich aufgenommen. Mit einfachen Methoden, die von den Eltern leicht durchzuführen sind, haben wir versucht, Denkvorgänge im rechnerischen Bereich nachzukonstruieren, damit sie dann eingeschliffen werden können.
Vereinfacht ausgedrückt setzt sich die Mathematik aus verschiedenen basalen Rechenfertigkeiten als inhaltsbezogene »Kompetenzen« zusammen. Diese Grundrechenfertigkeiten bilden das Handwerkszeug und sind somit eine unabdingbare Voraussetzung für den Lernenden, den Mut aufzubringen, in kompetenzorientierter Weise anspruchsvolle Sachaufgaben zu wagen und diese in reflektierender Weise letztendlich zu lösen. Die Lösung aller weiteren mathematischen Probleme nimmt hier ihren Ausgangspunkt.
In Teil 5 beschäftigen wir uns mit den schulischen Rahmenbedingungen des Lernens im Mathematikunterricht auf der Basis lernpsychologischer und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, die es beim Lernen zu berücksichtigen gilt, damit Lernen erfolgreich sein kann. Auf dieser Grundlage suchen wir nach Möglichkeiten zur Umgestaltung des Unterrichts, um Leistungsverbesserungen des Schülers erreichen zu können. Auch werden Anregungen zu einem sinnvolleren Einsatz der Hausaufgaben und der Prüfungssituationen, sprich der Gestaltung der Schulaufgaben, sowie Ideen zur Verbesserung der Mathematikschulbücher vorgestellt und diskutiert. Besonders wichtig erscheint das Problem der Nachhaltigkeit und das erreichte fachspezifische Bildungsniveau. Zur Zeit ist alles im Umbruch. Letztendlich bleibt hier abzuwarten, wie die Entwicklung weiter verläuft, wie das Pendel weiterschwingt und welche Ergebnisse Evaluierungen zeigen werden. Auch wird sich herausstellen, wie besonders in höheren Klassenstufen das Problem der Nachhaltigkeit in Bezug auf fachspezifische Bildungsinhalte gelöst werden wird. Im Augenblick scheint sich eher abzuzeichnen, dass die alten Kritikpunkte erhalten bleiben.
In Teil 6 beschäftigen wir uns mit der Prüfungsängstlichkeit, dem häufigen emotionalen Folgeproblem einer Rechenstörung. Es wird Wissen über die Entstehungsbedingungen einer Prüfungsängstlichkeit vermittelt und es werden Hilfen für Kinder aufgezeigt, um diese zu bewältigen.
An dieser Stelle möchten wir den vielen Kindern, die wir mit ihren Rechenproblemen begleiten durften, sowie deren Eltern, die wir seit vielen Jahren in Lerntrainingsgruppen betreuen, danken.
Unser Dank gilt auch den Lehrerinnen und Lehrern, die an Arbeitsgemeinschaften zum Thema »Rechenschwäche« teilgenommen haben und auf diese Weise zu einem fruchtbaren Austausch zwischen Pädagogik und Psychologie beitrugen. Auch gilt unser Dank den Schulrätinnen und -räten sowie den Schulpsychologinnen, die sich in den letzten Jahren gegenüber unserem Denkansatz aufgeschlossen zeigten und Fortbildungen für Lehrer ermöglichten.
Vorwort zur sechsten Auflage
Ihr Wegweiser für dieses Buch
Einleitung
1. Einführung in unser Grundkonzept
2. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen schulpädagogischen Konzept der »Kompetenzorientierung«
2.1 Einführende Gedanken
2.2 Was bedeutet Kompetenzorientierung?
2.3 Unsere Bewertung des »neuen Kompetenzbegriffes«
3. Ausblick auf das Buch
Teil I: Grundlagenwissen
Kapitel 1: Einführung – Rechenschwäche und Rechenstörung
1. Definition, Entwicklung, Häufigkeit, Diagnostik und aktueller Forschungsstand
1.1 Definition: Rechenschwäche und Rechenstörung
2. Zur Entwicklung der Rechenfertigkeiten
3. Hauptauffälligkeiten bei Kindern mit Rechenschwäche und -störungen
4. Häufigkeit von Rechenstörung und Rechenschwäche
5. Diagnostik von Rechenstörungen
6. Aktueller Forschungsstand
7. Der Teufelskreis
Kapitel 2: Abspeichern und dauerhaft behalten – Erkenntnisse der Lernpsychologie
1. Der Wahrnehmungsspeicher
2. Die Rolle der »selektiven Aufmerksamkeit«
3. Das Kurzzeitgedächtnis und der Arbeitsspeicher
4. Der Langzeitspeicher
5. Mit Speicherstrategien Informationen sichern
6. Was beeinflusst die Informationsspeicherung?
7. Hauptgefahren beim Lernen und dauerhaften Behalten
Kapitel 3: Lernen aus der Sicht der aktuellen Gehirnforschung
1. Wie funktioniert unser Gehirn?
2. Die sogenannte neuronale Ebene im Gehirn
3. Welche Prozesse und Strukturen sind beim Lernen beteiligt?
4. Wie kommt es zum dauerhaften Behalten?
5. Welche Bedeutung haben Emotionen beim Lernen?
6. Was geschieht, wenn wir Fertigkeiten »automatisieren«?
Kapitel 4: Rechnen – Spezielle Ergebnisse der Gehirnforschung
1. Das Triple-Code-Modell nach Dehaene
2. Integration neuropsychologischer und kognitionspsychologischer Ansätze nach Anderson
Kapitel 5: Zentrale Aspekte beim Mathematiklernen aus lernpsychologischer und neurowissenschaftlicher Sicht
1. Die Bedeutung der Kapazität des Arbeitsspeichers
2. Emotionale Bewertung des Lerngegenstandes
Teil II: Praktizierte Fördermaßnahmen bei Rechenschwäche und Rechenstörung – Mythen oder gesicherte Erkenntnis?
Kapitel 6: Verbesserungen in den mathematischen Kompetenzen sind nur bei Kenntnis der Ursachen möglich (Mythos 1) – Ursachen- bzw. defizit-orientiertes Denken versus lösungsorientiertes Denken
Kapitel 7: Es gilt, die noch nicht entwickelten Basisfunktionen zu suchen und dann zu trainieren (Mythos 2)
1. Kritik am Förderansatz von Jean Ayres (Sensorische Integration)
2. Basisfunktionen trainieren – Lernen aus den Erfahrungen der Legasthenieforschung
3. Aktueller Trend in der Mathematik
4. Konsequenzen und Schlussfolgerungen
Kapitel 8: Bei einer Rechenschwäche braucht es noch mehr Veranschaulichungen! (Mythos 3) – Vielgestaltige Veranschaulichungen, der lange und wenig erfolgreiche Umweg zur Rechenfertigkeit
Kapitel 9: Rechnenlernen bedarf in Wirklichkeit nur des Verstehens, der Einsicht (Mythos 4)
Kapitel 10: Eine reformpädagogisch orientierte Vorgehensweise ist bei der Förderung von rechenschwachen Kindern am hilfreichsten (Mythos 5)
Kapitel 11: Wenn ein Kind eine Rechenschwäche hat, muss es (noch mehr) Aufgaben schriftlich üben (Mythos 6)
Teil IV: Konkrete Lernmethoden
Kapitel 15: Lernmethoden – eine Einführung
1. Gibt es Lernrezepte?
2. Welche Ziele haben wir?
3. Grundprinzipien für die Automatisierung auf den drei Ebenen der arithmetischen Verarbeitung
4. Auf welcher Ebene beginnen wir mit dem Üben?
Teil V: Der Mathematikunterricht
Kapitel 23: Der Mathematikunterricht – Möglichkeiten zur Leistungsverbesserung bzw. zur Vermeidung von Leistungsschwächen bei Schülern
1. Mathematikschulbücher
2. Anregungen zur Verbesserung des Mathematikunterrichts
3. Leistungsüberprüfung bzw. Überprüfung des Leistungsstandes
4. Hausaufgaben – eine der wichtigsten Formen des Wiederholens und Vertiefens
5. Auch die Ausbildung von Mathematiklehrern ist verbesserungsfähig
Teil VI: Prüfungsangst
Kapitel 24: Prüfungsängstlichkeit: Ursachen und Hilfen
1. Wie kommt es zu Prüfungsängstlichkeit?
Schlusswort
Literatur
Zum Einstieg möchten wir Ihnen zum besseren Verständnis zunächst unsere Grundüberlegungen darlegen sowie die Grundzüge unseres Konzeptes und unsere Herangehensweise vorstellen. Da im schulischen Bereich zur Zeit wieder einmal ein Wandel stattfindet und dort große Hoffnungen in das neue schulpädagogische Konzept der »Kompetenzorientierung« gesetzt werden, erscheint es uns wichtig, dieses zu analysieren und die gegenwärtigen schulischen Voraussetzungen im Lernbereich genauer zu klären. Besonders gilt es zu hinterfragen, ob bei Kindern mit einer Rechenschwäche bei diesen propagierten Lernwegen eine passende Förderung und damit Verbesserungen und Fortschritte zu erwarten sind.
Wie unser erstes Buch »Lernen mit ADHS-Kindern«, so ist auch das nun neu vorliegende Buch »Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern« aus unserer täglichen therapeutischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern entstanden. Ausgangspunkt war zum einen das therapeutische Bemühen um Kinder, die an einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) leiden, denn neueste Zahlen weisen darauf hin, dass ca. ein Drittel der mit einer Rechenstörung belasteten Kinder auch von einem ADHS betroffen sind (vgl. Jakobs, Petermann 2003). Zum anderen waren es Kinder, die uns aufgrund von Emotionalstörungen vorgestellt wurden. Aus Leistungsproblemen entstehen nämlich bei etwa einem Drittel der Kinder oft emotionale Probleme in Form von Ängsten und depressivem Erleben.
Für ADHS-Kinder entwickelten wir in den vergangenen Jahren »passende« Vorgehensweisen und Lernmethoden, um ihnen die Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens nahe zu bringen. Wir versuchten dabei immer wieder eine Verknüpfung zwischen unserer Erfahrung und dem aktuellen Forschungsstand, insbesondere dem der Neurowissenschaften, herzustellen. Beim Ausbau unserer Arbeit bezogen wir Kinder mit Emotionalstörungen mit ein. Auch hier bemühten wir uns um eine wissenschaftliche Reflektion und versuchten, aktuelle Forschungserkenntnisse in konkrete therapeutische Arbeit umzusetzen. In unserer praktischen Arbeit und letztlich auch beim Schreiben dieses Buches ermutigten uns Rückmeldungen von Lehrerinnen und Lehrer, wie etwa: »Ihre Methoden für ADHS-Kinder helfen auch bei den anderen Kindern.«
Welche Schüler sind gemeint, wenn wir von Rechenschwäche sprechen, was fällt bei ihnen auf? Woran sind die »rechenschwachen« Kinder zu erkennen, die wir hier ansprechen und mit unseren Methoden unterstützen wollen?
Alle Kinder, die in der Grundschule Schwierigkeiten beim Rechenlernen haben, sind mit diesem Buch angesprochen. Ihnen fehlt vor allem eine angemessene Automatisierung der Grundrechenfertigkeiten sowie die des Zahlen- und Mengenverständnisses.
Beim numerischen Faktenwissen, d. h. beim Einspluseins und beim Einmaleins fällt diesen Kindern das Ergebnis nicht sofort ein. Sie müssen zeitintensive Fehlstrategien einsetzen, um zum Ergebnis zu gelangen, und bei den einfachen Grundrechenarten benötigen sie Hilfsmittel, wie ihre Finger oder Strategien des inneren Vor- und Zurückzählens.
In der Folge kommt es bei arithmetischen Prozeduren, d. h. bei den Rechenfertigkeiten, die eine bestimmte Abfolge von Rechenschritten beinhalten, wie z. B. beim schriftlichen Malnehmen, Teilen, Bruch- und Prozentrechnen oder dem Berechnen von Flächen und Volumen, zu häufigen Fehlern. Die richtige Abfolge der Rechenschritte ist hier nicht dauerhaft abgespeichert. An das Sachrechnen trauen sich die Schüler oft nicht heran, und sie vermeiden lange Textaufgaben, weil sie Angst haben, diese nicht zu bewältigen. Eine Rechenfähigkeit über die Rechenfertigkeit hinaus kann so nicht entwickelt werden. Schnell stellen sich emotionale Probleme mit Vermeidungsverhalten und Ängsten vor Versagen ein, wenn häufiger Misserfolge erlebt werden.
In erster Linie sind wir Psychologen und haben somit eine therapeutische Zugangsweise zu den Kindern. Wir erleben täglich entmutigte Kinder, die schon in ihrer kurzen Schulkarriere sehr viele Misserfolge und Versagenserlebnisse hinnehmen mussten. Die Folgen sind die klassischen: Schnell stellt sich eine geringe Lernmotivation mit entsprechendem Vermeidungsverhalten ein, und aufgrund der sich im Lernbereich entwickelnden Teufelskreise mehren sich die Misserfolge. Dies hat natürlich entsprechende Auswirkungen auf das ohnehin beeinträchtigte Selbstwertgefühl und Selbstbild dieser Kinder. Dabei erleben wir es ständig: Kinder wünschen sich nichts sehnlicher, als Erfolgserlebnisse zu haben, ein wenig besser in der Schule zu werden. Sie können sich so sehr über kleine Erfolgserlebnisse freuen und stolz auf ihre Fortschritte sein.
Vorrangiges Ziel unserer Arbeit ist es, Einstellungsveränderungen zu bewirken.
Wir sehen uns hier in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen und Aussagen des Zentrums für Forschung und Innovation im Bildungswesen (CERI) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Im CERI-Projekt »Lernwissenschaften und Gehirnforschung« wurden auch die Prioritäten in Bezug auf die wesentlichen Kernkomponenten des traditionellen Lehrplans kritisch hinterfragt. Traditionellerweise, so die OECD (2005), würden Lehrpläne Kenntnisse höher als Fähigkeiten bewerten und Fähigkeiten wiederum höher als Einstellungen. Das Wissenschaftsgremium schlägt jedoch eine andere Prioritätenordnung vor: Demnach sind positive Einstellungen, wie etwa Selbstbewusstsein und -vertrauen, Motivation, Verantwortungsgefühl und Optimismus, der Schlüssel zu einem erfolgreichen Lernen und damit letztlich auch zu einem erfüllten Leben oder einer befriedigenden Arbeit (vgl. OECD 2005, S. 33 ff.).
Die Ermutigung der Kinder sehen wir daher als eine wesentliche Voraussetzung für ihren Lernfortschritt an.
Ermutigung verstehen wir dabei nicht im Sinne von »gut zureden«. Hilfreich erscheint uns auch nicht, bei den betroffenen Kindern auf andere Kompetenzbereiche, wie z. B. im Sport oder beim Musizieren hinzuweisen, wenn sie doch in Wirklichkeit im Rechnen schlecht sind. Ermutigung verstehen wir vielmehr in dem Sinne, dass Kinder in den Bereichen, in denen sie Probleme haben, erleben, dass sie genau dort besser werden können. So können sie wieder Hoffnung und damit auch Lernbereitschaft entwickeln. Ermutigung bedeutet in diesem Sinne, Kinder an zu bewältigende Lernschritte heranführen, bei denen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgserlebnisses groß ist. Kinder, Eltern und Lehrer bekommen damit die Möglichkeit, sich gemeinsam über Fortschritte freuen zu können.
Wir haben versucht, möglichst effektive Wege für den Erwerb der Grundfertigkeiten des Rechnens zu entwickeln. Die einfachen Methoden stehen zunächst immer im Dienste der Ermutigung. Ziel ist es, das Selbstvertrauen der Kinder und ihre Hoffnung auf einen Fortschritt zu stärken.
Um die Ausgangssituation im Bildungsbereich zu veranschaulichen, sei noch einmal auf ein Zitat aus dem OECD-Bericht verwiesen: »Die Lehrer hören viel über ihre Fächer, über Mathematik oder Biologie […], aber sie haben wirklich große Defizite in neurowissenschaftlicher und psychologischer Lerntheorie« (OECD 2005, S. 96). Dies ist sicher eine recht pointierte Aussage, möglicherweise steckt jedoch ein Körnchen Wahrheit darin. Betrachten wir die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Hinblick auf die Mathematik, aber auch die Lesefertigkeiten, und lesen folgendes Fazit: »Das deutsche Bildungssystem ist besonders wenig erfolgreich bei der Förderung schwächerer Schüler, bei der Sicherung von Mindeststandards.« (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 172), so muss sich unser Bildungssystem seitdem immer wieder unbequeme Fragen gefallen lassen. Auch in der zuletzt durchgeführten PISA-Studie (2015) zeigten sich trotz kleiner Verbesserungen noch immer Defizite besonders bei der Förderung von Mädchen.
Bei der Aus- und Fortbildung von Lehrern kommt unseres Erachtens der Bereich des Lernens zu kurz.
So äußerte eine Schulrätin nach einer von uns durchgeführten Fortbildungsveranstaltung Folgendes: »Mir ist nach dieser Fortbildung sehr bewusst geworden, und dies nehme ich mit nach Hause: Methoden sind kein Selbstzweck, sondern stehen immer im Dienste des Behaltens und sind deswegen zu hinterfragen, wie sie dauerhaftes Behalten bewirken können.« Eine junge, engagierte Lehrkraft sagte nach dem Besuch eines Wochenend-Fortbildungskurses zum Thema »Lernen mit ADHS-Kindern«: »Aus lernpsychologischer Sicht und unter dem Aspekt des dauerhaften Behaltens habe ich meinen Wochenarbeitsplan plötzlich ganz neu gesehen und erkannt, ich kann das nicht so machen, wenn ich wirklich will, dass meine Kinder etwas behalten sollen.«
Bewusst haben wir keine enge fachdidaktische Zugangsweise zur Mathematik und zu den Grundlagenfertigkeiten des Rechnens gewählt. Ausgangspunkt waren aktuelle Ergebnisse der Lernpsychologie und auch der Gehirnforschung.
Besonders den Neurowissenschaften gilt es heute zunehmende Aufmerksamkeit zu schenken, da in den letzten 20 Jahren das Wissen in diesem Bereich, auch durch die Möglichkeiten der modernen bildgebenden Verfahren, regelrecht explodiert ist. Obwohl die Gehirnforschung erhebliche Erfolge in der Grundlagenforschung aufweisen konnte, fand bislang kaum ein Brückenschlag zwischen diesen Entdeckungen und den Lernwissenschaften, bzw. dem konkreten Bildungsbereich statt. Die Relevanz der neuen Erkenntnisse ist dennoch kritisch zu betrachten. Hier können wir Anregungen und Hilfen bekommen, müssen uns aber auch stets deren Grenzen bewusst sein. Neue Erkenntnisse können nicht im Sinne einer Eins-zu-Eins-Zuordnung als Allheilmittel umgesetzt werden. Dies wird auch selbstkritisch in den Reihen der Gehirnforscher so gesehen. Forschungsarbeiten, die sich bemühen, den Lernprozess im Lichte der Hirnforschung zu verstehen, können aber interessierten Entscheidungsträgern im Bildungswesen und Lehrkräften wichtige Anhaltspunkte in diesem Bereich liefern. Die Ergebnisse der Gehirnforschung können zunächst einfache Fragen über elementare Prozesse beantworten. Neurowissenschaftliche Studien stellen damit Anhaltspunkte und Anregungen für komplexes Lernen zur Verfügung, können aber letztendlich kein umfassendes Lernkonzept vorgeben.
In diesem durchaus kritischen Verständnis stellen Gehirnforschung und Lernpsychologie einen ersten wichtigen Pfeiler und eine bedeutsame zentrale Komponente dieses Buches dar, da sowohl Lehrende als auch Lernende gleichermaßen von unserem Wissenszuwachs in diesem Bereich profitieren sollten.
Neben den Ergebnissen der Lernpsychologie und der Neurowissenschaften und deren Einfluss auf das Lernen möchten wir uns genauso ausführlich mit den herkömmlichen und weit verbreiteten Förderansätzen im Bereich der Mathematik beschäftigen. Diese sollten auf dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse und persönlicher Erfahrungen kritisch gewürdigt werden.
Im Bereich der Rechtschreibung, d. h. der Legasthenieforschung und der empirischen Überprüfung ihrer Förderansätze, ist unser Kenntnisstand wesentlich größer als im Bereich der Mathematik. Aus diesem Grund erscheint es umso notwendiger, Förderkonzepte für die Mathematik zu überprüfen.
Unter anderem setzen wir uns hier mit der bis heute postulierten Notwendigkeit des Trainings sogenannter Basisfunktionen oder auch der Bedeutung von Veranschaulichungsmitteln in der Mathematik kritisch auseinander. In diesem Zusammenhang werden Sie in dem vorliegenden Buch häufiger über den Begriff »Mythos« stolpern, den wir bewusst provokativ einsetzen. Mit dieser Begrifflichkeit und der damit verbundenen kritischen Argumentation möchten wir eine Diskussion und auch einen Klärungsprozess anstoßen, zum Wohle unserer Lernenden, d. h. unserer Kinder. Ziel ist es, Denkanstöße, Anregungen und auch Zweifel bezüglich bestimmter Vorgehensweisen zu vermitteln. Möglicherweise sind das Ausmaß und die Bedeutung der vorgestellten und immer noch von Pädagogen propagierten Förderansätze wesentlich geringer, als traditionell vermittelt. Hier könnten sich neue Denkperspektiven eröffnen.
In der Praxis erleben wir täglich, dass Kinder und auch Eltern häufig durch den Mathematikunterricht verwirrt werden und mit ungesichertem Wissen und Fertigkeiten zurückbleiben. Besonders die Vielfalt an Lernmethoden und Darstellungsformen führt bei Kindern mit Rechenschwäche zu Verwirrung und Chaos im Kopf. In der Folge entstehen Selbstzweifel, Unsicherheiten und Ängste, Vermeidungsverhalten und Blockaden.
Die Mathematik ist keine Geheimwissenschaft. Lassen Sie sich in diesem Buch mit auf den Weg nehmen, die Mathematik in ihren Anfängen und Grundzügen wieder durchschaubar zu erleben.
Vereinfacht ausgedrückt setzt sich die Mathematik aus verschiedenen basalen Rechenfertigkeiten zusammen. Diese müssen angemessen erlernt, d. h. automatisiert werden, damit auch komplexere Rechenformen erlernbar sind. Ist zum Beispiel das Einmaleins automatisiert, gelingt das schriftliche Malnehmen von mehrstelligen Zahlen oder das Bruchrechnen. Diese Grundrechenfertigkeiten bilden das Handwerkszeug und sind somit unabdingbare Voraussetzungen für den Lernenden, den Mut aufzubringen, sich an Sachaufgaben zu wagen und diese letztendlich zu lösen. Die Lösung aller weiteren mathematischen Probleme nimmt hier ihren Ausgangspunkt.
Bei rechenschwachen Schülern, die vielleicht auch noch mit einer ADHS-Problematik belastet sind, ist besonders beim Erwerb der Grundrechenfertigkeiten zu fragen, ob das Einfache nicht das eigentlich Pädagogische ist. Sollte es nicht unser aller Ziel sein, auf einfachen Wegen Erfolge erlebbar zu machen, damit bei unseren Kindern und Schülern der Weg der Hoffnung beginnen und Selbstvertrauen aufgebaut werden kann?
Nach dem Schock der für das deutsche Bildungssystem beschämenden Ergebnisse der letzten PISA-Studie wurden in unserem Land große Anstrengungen unternommen. Nach TIMSS 1997 und PISA 2001 wurden zunächst erhebliche Mängel unseres bundesdeutschen Schulsystems aufgedeckt. Im internationalen Vergleich der Lernergebnisse schnitten wir schlecht ab, was zu Enttäuschung und Kritik führte. Die Ergebnisse von TIMSS und PISA leiteten eine Wende ein. Besonders im Grundschulbereich sollten Bildungsziele verändert werden und Anforderungen an die Kinder erhöht werden. Leider wurde in die Verbesserung der Lehr- und Lernmethoden wenig investiert, obwohl die Lernpsychologie und die Gehirnforschung hier genug Anregungen hätten liefern können. Im Vordergrund standen vornehmlich didaktische Überlegungen, d. h. die Propagierung neuer Lernziele. Es gab aber neben reformpädagogisch beeinflussten »Träumereien« keine fundierten und empirisch bestätigten Überlegungen, wie eine Verankerung der Lerninhalte im Gehirn der Schüler in effektiver Weise vonstattengehen könnte. Diese Einschätzung mag provokant klingen. Genauso provokant wie unser Einstieg in Lehrerfortbildungen: »Der Schüler hat ein Gehirn«. Das Schulsystem arbeitet meist »gehirnlos«, d. h. es berücksichtigt nicht, wie sich Schüler angesichts der »Vorgaben« des Gehirns für den Lernprozess Wissen und Können nachhaltig aneignen können. Unserer Ansicht nach sollten dagegen gerade diese Voraussetzungen und die Erkenntnisse der empirischen Forschung vorrangig berücksichtigt werden, wie das Lernen der Schüler und insbesondere das Lernen von Schülern mit Schwächen organisiert und gestaltet werden soll.
Mit welchem Erfolg wurden nun die Bildungsziele nach PISA verändert? Die Anforderungen für die Kinder wurden erhöht, Eltern waren zum Teil überfordert mit Anforderungen und Aufgabenstellungen, die Mittel, die in Nachhilfeunterricht flossen, waren immens.
Haben sich die Kinder nun verbessert?Das Ergebnis einer Befragung von Gymnasiallehrern mag diese Situation erhellen: »Schreiben und Rechnen – mangelhaft«, so lautete die Überschrift eines längeren Artikels in der Süddeutschen Zeitung vom Dezember 2012. In diesem Artikel wird den Grundschulen eine sehr schlechte Leistung bei der Vermittlung der Grundfertigkeiten bescheinigt: »Angehende Gymnasiasten können schlechter kopfrechnen und schlechter rechtschreiben als früher.« (Baier 2012, S. 49).
Anlass des Artikels in der Süddeutschen Zeitung war die Befragung von 1.146 Gymnasiallehrern in Bayern. In dieser Untersuchung stimmten 49,6 % der befragten Lehrer der Aussage: »Die Rechtschreibleistung der Grundschule haben tendenziell in den letzten Jahren abgenommen« »voll und ganz zu«; 35,1 % hielten sie für »überwiegend richtig« (Baier 2012, S. 49). In Mathematik waren die Gymnasiallehrer genauso kritisch. Mehr als 84 % stimmten der Aussage »Die in den letzten Jahren an der Grundschule im Mathematikunterricht eingeführten methodisch-didaktischen Neuerungen haben einen positiven Effekt auf die Rechenkompetenz gehabt« entweder »überhaupt nicht« oder »nicht« (ebd.) zu.
»Die Wissenschaft spielt in der Bildungspolitik kaum eine Rolle. Ihre Erkenntnisse werden selten umgesetzt oder gleich ganz ignoriert. Dies zeigt sich vor allem bei den Veränderungen an deutschen Schulen, die im Zuge der ersten Pisa-Ergebnisse vorgenommen wurden. Bildungspolitiker reagierten auf das schlechte Abschneiden deutscher Schüler mit Reformen, die teils einen massiven Wandel in den Bildungssystemen der Länder beabsichtigten. Die für die Umsetzung zuständigen Akteure – vor allem Schulleiter, Lehrer, aber auch Eltern – klagen seitdem über einen erhöhten Reformdruck. Der Grund: Oft erschließen sich Sinn und Logik der Reform dem pädagogischen Personal nur schwer. Dies führt dazu, dass Reformen oft mit hohen Kosten und großem Aufwand eingeführt werden, um kurze Zeit später ebenso aufwendig wieder abgeschafft zu werden […].
Umso erstaunlicher ist es, dass die bildungspolitischen Entscheidungen der Politiker oft nichts zu tun zu haben mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien. […]
Oft ändern sich Schulstruktur oder Lehrmethoden innerhalb einer Legislaturperiode. So schnell kann Forschung gar nicht reagieren. Darum lässt sich die Wirkung von Bildungspolitik selten prüfen. Meist hinkt die Forschung der Praxis hinterher« (Nina Kolleck, Professorin für Bildungsforschung und soziale Systeme an der FU Berlin, in Die Zeit 27 September 2018, S. 67f.).
Aber – jetzt soll wiederum alles besser werden. Der neue Leitbegriff in der bundesdeutschen Schulpolitik ist die Kompetenzorientierung. Diese neue Orientierung finden wir aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und in Österreich.
Große Skepsis ist angezeigt, dass durch die »neue« Orientierung die grundlegenden Missstände behoben werden können. Schlaglichtartig mag dies die Einschätzung des Schulpädagogen Wellenreuther erhellen: »Schulisches Lernen gleicht einem schlecht gemixten Cocktail aus Tradition und dem Zeitgeist passender Innovation. Die Berücksichtigung von Forschungsergebnissen spielt mittlerweile eine untergeordnete Rolle« (Wellenreuther 2009a, S. 52). Verstärkt werden die Zweifel dadurch, dass wieder einmal pädagogische Postulate erstellt worden sind und vor der verbindlichen Einführung des neuen Konzepts der »Kompetenzorientierung« keine empirische Überprüfung vorgenommen wurde.
Festzuhalten ist, dass mit dem Begriff »Kompetenzorientierung« vorerst hauptsächlich Postulate verknüpft sind. Eine empirische Absicherung fehlt weitgehend. Eine Evaluierung steht aus. Aus Zielsetzungen werden pädagogische Vorgehensweisen abgeleitet. Nicht gesichert ist, was damit bewirkt wird und erst recht nicht, welche Konsequenzen dies letztlich für Kinder mit Rechenschwächen hat.
a) Bezüglich seiner primären Bedeutung ist Kompetenzorientierung zunächst ein positiver Begriff.
Der Begriff Kompetenz ist in unserem Alltagsverständnis positiv besetzt: Wer kompetent ist, der kann etwas. Er verfügt über Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Jeder von uns wünscht sich einen kompetenten Arzt oder einen kompetenten Handwerker. Warum ist es dann nicht gut, wenn der Schüler »Kompetenzwissen« erwerben soll?
Der Begriff Kompetenz ist aber letztlich ein »Containerbegriff« und beinhaltet eine große Unschärfe: Jeder verbindet aus seiner Sicht etwas jeweils unterschiedlich Positives damit, sei es fachliches Können, soziale Fähigkeiten oder auch ein kritisches Denken.
b) Was bedeutet »Kompetenzorientierung« nun genau?
Ein Ausgangspunkt kann die Definition von Weinert sein. Kompetenzen, so Weinert (2001), sind »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (die willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten) und sozialen Bereitschaft und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situation erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. Kompetenzen sind somit verfügbare Fertigkeiten und Fähigkeiten bestimmte Probleme zu lösen und die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich nutzen können« (Weinert 2001, S. 27f)
Kompetenz wird häufig verbunden mit folgenden Begriffen:
• Kompetenz ist handelnder Umgang mit Wissen.
• Kompetenz ist Wissen und Können und Handeln.
• Kompetenz lernt man im Handeln und zeigt sich im Handeln.
• Kompetenz schließt die Performanz mit ein.
Was bedeutet dies konkret? Einen weiteren Hinweis kann beispielhaft der bayerische Lehrplan – LehrplanPLUS – geben: »Im Mittelpunkt des Konzeptes ›LehrplanPLUS‹ steht der Erwerb von überdauernden Kompetenzen durch die Schülerinnen und Schüler. Diese Kompetenzen gehen über den Erwerb von Wissen hinaus und haben stets auch eine Anwendungssituation im Blick. Über den Unterricht erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler also ›Werkzeuge‹, die sie zur Lösung lebensweltlicher Problemstellungen, zur aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und an kulturellen Angeboten sowie nicht zuletzt zum lebenslangen Lernen befähigen. Wissen allein ist noch keine Kompetenz. Ohne Wissen ist aber auch kein Kompetenzerwerb möglich.« (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München)
c) Wie erwirbt man Kompetenzen?
Kompetenzen verbinden also Handeln und Wissen. Konkret sieht der Kompetenzerwerb in Bayern im LehrplanPLUS Mathematik folgendermaßen aus: »Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern setzt aktivierende und selbstgesteuerte Lernsituationen voraus, die es ihnen ermöglichen vernetzt zu denken, Kreativität zu entwickeln sowie den mathematischen Gehalt lebensnaher Situationen zu erkennen. So haben die Kinder Gelegenheit, auch herausfordernde mathematische Fragestellungen zu erarbeiten, Lösungsansätze zu suchen, diese zunehmend selbständig auf Plausibilität zu überprüfen oder Sachverhalten in mathematische Symbolsprache zu übersetzen. Gehaltvolle und produktive Aufgaben sowie strukturierende Impulse und Fragestellungen sind hier hilfreich.« (Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst 2014, S. 105)
Im Lernweg sind selbst »Umwege und Fehler« von Bedeutung. »In der Auseinandersetzung mit kompetenzorientierten Aufgabenstellungen wenden Schülerinnen und Schüler ihr vorhandenes Wissen und Können zunehmend in variablen Fragestellungen und Zusammenhängen an. Sie werden dazu ermutigt, eigene und kreative Lösungswege zu erproben […]. Denk- und Lösungswege, die sich als umständlich oder als nicht zielführend erweisen, dienen als Anlässe zu Reflexion und Kommunikation und eröffnen neue Lernchancen.« (Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst: 2014, S. 24)
Dies bedeutet:
• Kompetenzen werden erworben und nachgewiesen, wenn die Lerner authentische Anforderungssituationen bewältigen müssen. Dies bedingt eine neue Aufgabenkultur, die sich auf lebensnahe Situationen aus dem Alltag des Schülers bezieht.
• Wissen ist immer in den handelnden Umgang eingebunden, beim Erwerb, beim Nachweis, bei der Sicherung und bei der Übung.
• Ideale Lernsituationen sind: gestaltete Lernumgebungen, die die Lernenden in eine intensive, aktive, selbstgesteuerte, kooperative Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand bringen.
• Fehler und Umwege sind als Lernchancen zu sehen. Reflexion, Diskussion und Argumentation in der Gruppe verhelfen zu vertieften Einsichten.
d) Was beinhaltet Kompetenzorientierung im Fach Mathematik?
Es finden sich zwei Kompetenzbereiche: Prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen.
Im Bayerischen Lehrplan sieht das folgendermaßen aus: »Die prozessbezogenen Kompetenzbereiche beziehen sich auf die Verfahren, die von Schülerinnen und Schülern verstanden und beherrscht werden sollen, um Wissen anwenden zu können.« (Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst 2014, S. 106)
Prozessbezogene Kompetenzen sind im Einzelnen:
• Modellieren
• Probleme lösen
• Kommunizieren
• Argumentieren
• Darstellungen verwenden
Was ist nun genau unter diesen Begriffen zu verstehen? »Beim Modellieren entnehmen die Schülerinnen und Schüler z. B. Sachtexten oder anderen Darstellungen der Lebenswirklichkeit relevante Informationen und übersetzen diese in die Sprache der Mathematik. Sie erkennen mathematische Zusammenhänge und nutzen diese, um zu einer Lösung zu gelangen, die sie abschließend wieder auf die konkrete Situation anwenden« (Bayerisches Staatsministerium 2014, S. 106). Häufig müssen die Kinder hier zwischen relevanten und für die Aufgabenstellung irrelevanten Zahlenangaben im Sachtext unterscheiden.
»Probleme zu lösen lernen die Schülerinnen und Schüler, wenn sie ihre bereits vorhandenen mathematischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten bei der Bearbeitung herausfordernder oder unbekannter Aufgaben anwenden und dabei Lösungsstrategien entwickeln und nutzen. Dabei müssen sie auch in der Lage sein, relevante Informationen aus verschiedenen Quellen zielgerichtet zu verarbeiten und Lösungen plausibel darzustellen« (Bayerisches Staatsministerium 2014, S. 107).
Kommunizieren ist besonders »in kooperativen und interaktiven Unterrichtsprozessen« bedeutsam. Kinder »nutzen mathematische Fachbegriffe und Zeichen richtig und gewinnen schrittweise an Erfahrung, Mathematikaufgaben auch gemeinsam zu bearbeiten sowie ihre Lösungswege anderen nachvollziehbar zu beschreiben« (ebd.).
Beim Argumentieren suchen die Kinder »situationsangemessen Begründungen« für Lösungswege, die sie auch anderen erläutern können. Sie hinterfragen mathematische Aussagen und überprüfen diese auf Korrektheit oder Plausibilität. Auch ungewöhnliche Rechenwege regen zum Nachdenken an und fordern zum Argumentieren heraus« (ebd.).
Die Kinder verwenden Darstellungen »für das Bearbeiten mathematischer Probleme«. Beispielsweise entwickeln oder lesen sie »geeignete Skizzen, Rechnungen oder einfache Tabellen« (ebd.).
Die inhaltsbezogenen Kompetenzbereiche sind fachbezogen. Im LehrplanPLUS Bayern für die Grundschule umfassen sie:
• Zahlen und Operationen
• Größen und Messen
• Raum und Form
• Muster und Strukturen
• Daten und Zufall (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst: 2014, S. 108).
Beispielsweise beinhaltet der inhaltsbezogene Kompetenzbereich »Zahlen und Operationen«, dass die Schülerinnen und Schüler in einem »nachhaltigen und lebensweltlichen Mathematikunterricht ein erstes Verständnis für unterschiedliche Zahlaspekte (z. B. Zahlen als Platznummern, Zahlen als Maßzahlen) […] entwickeln. Auf dieser Grundlage erwerben sie eine umfassende Zahlvorstellung. Die Schülerinnen und Schüler erlernen die vier Grundrechenarten und rechnen flexibel und aufgabenangemessen im Kopf, halbschriftlich sowie schriftlich und wenden vorteilhafte Strategien an« (ebd.).
e) Wie soll nun konkret kompetenzorientierter Unterricht aussehen?
Zöchlinger (Österreich) postuliert, dass »Mathematikunterricht, der sich an Kompetenzen orientiert«, den Schülerinnen und Schülern eröffnen muss, »eigene Lösungsstrategien zu entwickeln, selbständig Aufgaben zu bearbeiten und Lösungen in Eigenverantwortung zu kontrollieren. Für die Auseinandersetzungen mit der Mathematik sollen Raum und Zeit vorhanden sein, eigene Ideen zu entwickeln und auch auf Umwegen zu Lösungen zu gelangen« (Zöchlinger 2011, S. 92f).
Die Kinder sollen Mathematik als Feld für eigenes Forschen und Entdecken, für gemeinsames Entwickeln von Ideen und für gemeinsames Präsentieren und Diskutieren erleben. Nach Zöchlinger bedarf es hierzu veränderter Aufgabenstellungen. Aufgaben unterstützen dann einen kompetenzorientierten Unterricht, wenn sie so weit offen sind, dass sie individuelle Lösungen herausfordern und Zugänge auf verschiedenen Niveaus zulassen, mathematische Muster und Strukturen beinhalten, die zu Einsichten führen können und die Bedeutung der Mathematik für ein Verständnis der Lebenswirklichkeit erlebbar machen (Zöchlinger 2011, S. 93).
Kompetenzorientierung ist somit verbunden mit dem oben genannten selbstgesteuerten Lernen, bei dem der Schüler einen eigenen Kompetenzfortschritt erreichen soll. Lehrerinnen und Lehrer übergeben ihren Schülerinnen und Schülern die »Verantwortung für das eigene Lernen« (Zöchlinger 2011, S. 93). Der Lehrer rutscht in die Rolle des Organisators von Lernumgebungen und -angeboten, des Moderators von Gruppendiskussionen der Schüler, des Helfenden, des Coaches. Auf Individualisierung im Unterricht wird in der Gestalt besonderer Wert gelegt, dass der einzelne Schüler sich mit mathematischen Inhalten auf individuellem Niveau auseinandersetzt, wobei »das flexible Ineinanderführen verschiedener Darstellungsebenen (Handeln, Zeichnen oder Symbole) zu einem verständnisorientierten Lernen beiträgt« (Zöchlinger 2011, S. 92 f).
f) Welche Auswirkungen hat der kompetenzorientierte Unterricht auf das Leistungsniveau der Schüler?
Welche Gefahren bei der Umsetzung des Konzepts der Kompetenzorientierung bestehen, zeigt sich beispielhaft in einer Untersuchung für das Fach Mathematik von Hans-Peter Klein und Thomas Jahnke. Einer 11. Klasse (G9) in Nordrhein-Westfalen wurden zum einen eine Grundkursaufgabe aus dem alten, nicht zentralen Abitur und dann eine entsprechende Aufgabe aus dem kompetenzorientierten Zentralabitur vorgelegt. Die Schüler schnitten bei den neuen Aufgaben deutlich besser ab.
Alte Abituraufgabe
Neue kompetenzorientiere Abituraufgabe
Bei der Analyse zeigt sich, dass man im Fach Mathematik das kompetenzorientierte Zentralabitur schaffen kann, ohne dafür den Oberstufenunterricht besucht haben zu müssen. Für Teile der Aufgabenlösungen waren weder Rechenoperationen durchzuführen noch Alltagswissen einzubringen, weil selbst dies im Arbeitsmaterial niedergelegt war.