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Von Hermann Häfker
Lichtbühnen-Bibliothek Nr. 7
Herausgegeben von der Lichtbilderei GmbH.
M.Gladbach 1914, Volksvereins-Verlag GmbH.
Einleitung: Was will dieses Buch?
3
I.
Erdkunde und Kino
7
II.
Wissenschaftliche Erdkunde
28
III.
Schulerdkunde und Kino
42
IV.
Kinoerdkunde im Theater und in der Öffentlichkeit
47
V.
Zusammenschluß und Einrichtungen
54
Anhang: Ein Blick auf den gegenwärtigen Markt erdkundlicher Filme und Lichtbilder
64
Copyright 1914 by Volksvereins-Verlag GmbH., M.Gladbach
Vom Augenblick an, da die ersten Bewegungsbilder durch „Varietees“ in die Öffentlichkeit drangen, hat man daran begeisterte Hoffnungen für die Verbreitung der Kenntnis der Erde und der Freude an ihr geknüpft; von da an haben alle wohlwollenden Förderer immer wieder auf große Naturaufnahmen als Höchstleistungen dieser Technik hingewiesen; und die ganze Bewegung zur Hebung und Wiederberichtigung des Kinos, besonders auch die, die es für Schule und Volksbildung nutzbar machen wollen, kommen immer wieder auf „Kino und Erdkunde“ als Kern- und praktischen Ausgangspunkt zurück. Nichts entzückt jedermann so und erscheint jedem als die ureigenste Aufgabe der Bewegungsbilderkunst als die Wiedergabe von Landschaften und allem, was sich darin bewegt. Nichts leistet die Kinematographie so verhältnismäßig vollkommen. Sie bedarf dazu keiner künstlichen und ihr fremden Hilfsmittel, keiner Bühne, Maschinen, Kulissen, keines künstlichen Lichtes. Niemand braucht sich in Pose vor sie hinzustellen und durch unwahre Gefühle ein unreines Interesse wachzurufen. Hier zeigt sie auch die Dinge in ihrer ungefähr natürlichen Größe und Bewegung, so wie wir sie zu sehen gewohnt sind; die Phantasie bedarf insofern keiner künstlichen Nachhilfe. Es braucht auch keines Mikroskops und keiner sonstigen Vorrichtungen; der Aufnahmegegenstand hält still und gibt sich jederzeit in seiner ganzen erhabenen Wahrheit. „Unverfälschte Wirklichkeitswiedergabe“ — die wir als eigentlichen Beruf der Kinematographie erkannten — im höchsten Sinne, nämlich der Wirklichkeit, die auch den unbewaffneten Menschensinnen so erscheint, ihre Heimat ist, leistet unsere Technik eigentlich nur hier. Und endlich ist auch die große Natur das eigentliche Gebiet, auf dem sich die „Schönheit der Bewegung an sich“, das Drama des freien und doch von geheimen Gesetzen beherrschten Weltrhythmus am reinsten abspielt. Auf der andern Seite ist gerade hier die Kinematographie zu Leistungen befähigt, in denen keine andere Kunst oder Technik mit ihr wetteifern kann. So vieles Malerei und Dichtkunst, beschreibende und wissenschaftliche Darstellung auch auf dem Gebiete der Naturschilderungen vor dem Kino voraushaben und -behalten, in einem müssen sie ihm doch den Rang lassen: in der Genauigkeit und dem Reichtum der Einzelheiten, die überhaupt das photographische Auge erfaßt. Hier ist der Menschheit — trotz der unbelebten Photographie — in der Tat ein neuer künstlicher Sinn geschenkt, ein neues Werkzeug zur Überwindung der Schranken von Raum und Zeit. Das kann man — wenn man den Begriff der „Erdkunde“ so weit wie möglich faßt, und also alles auf dem Hintergrunde der Großnatur vor sich Gehende darunter versteht — von den andern Gebieten des Kinos nicht in gleichem Maße behaupten.
So strömen also auch hier gerade alle Erwartungen und Kräfte am reichsten zusammen, die sich von andern Betätigungsgebieten der Kinematographie unbefriedigt und abgestoßen fühlen, und die mit ganzer Inbrunst nach einer Erhebung des Kinos zu einem Menschheitsbildungsmittel hinstreben und dabei mittun wollen. Die Wissenschaft sucht sich des neuen Hilfsmittels für Forschung und Fachunterricht zu bedienen, der Weltreisende wünscht den Kino im Gefolge zu haben. Die Schulen fassen kinematographischen Erdkundeunterricht ins Auge. Naturwissenschaftliche und Volksbildungsvereine hätten längst gern ihre erd- und völkerkundlichen Darbietungen durch Bewegungsbilder bereichert, wenn sie nur wüßten, wie. Weitblickende sähen gern solche Bilder zum Nutzen von Völkerverständigung und Güteraustausch, Kenntnis der Heimat und der Kolonien verbreitet. Künstler und Kunstfreunde sind in keinem Punkte dem Kino geneigter als in dem der Darbietung von Großnaturbildern. Die Kinotheater, die halb der Not gehorchend, halb dem eignen Triebe, sich mit Bestrebungen und Besucherkreisen freundlich stellen möchten, denen doch vielleicht die Zukunft gehört (und außerdem zum Teil doch vielleicht auch der auf die Dauer zahlungsfähigere und -willigere Geldbeutel), haben den Ehrgeiz, vor allem erdkundliche Filme einzufügen; und dementsprechend regt sich auch in den großen Filmfirmen ein lebhafterer Schaffenstrieb in dieser Richtung. Aber mit dem bloßen Wollen und selbst mit noch so viel „Kapital“ allein ist's nicht geschehen. Hier muß man sorgfältig und gewissenhaft arbeiten und vor allem mancherlei wissen, um mit Herstellung und Vorführung der Filme den Kenner zu befriedigen, aber auch den Laien ebenso und mehr zu begeistern, als mit — Schunddramen. Allen diesen, die in einer der genannten Weisen interessiert sind, etwas über erdkundliche Bewegungsbilder, die Kunst ihrer Herstellung und Vorführung, ihre Bezugsquellen und Bedingungen, die Möglichkeiten und die Grenzen ihrer sachwürdigen Verwendung zu erfahren, will meine Schrift dienen.
Sie will aber überdies und in nicht minderm Grade zweien dienen: der Kundschaft und der Kritik der Kinotheater. Der Kundschaft, d. h. jedermann in dem Sinne, daß er künftig kinematographische Landschaftsvorführungen mit tiefer dringendem Verständnis und daher wesentlich erhöhtem Genuß betrachte, wo immer er ihnen begegnet. Der Kritik, d. h. wieder jedermann, insofern wir alle, die wir eine Kinovorführung besuchen, auch ihre Kritiker, und zwar einflußreiche sind. Denn es unterliegt doch keinem Zweifel, daß alle Kinogesundung doch endlich nur von einem kritischen, d. h. verständnis-, aber auch anspruchsvoll urteilenden Publikum getragen werden kann, das gute Vorführungen lobt, schlechte ablehnt. Loben und Ablehnen hat aber nur dann Wert, wenn es nicht — wie es jetzt selbst von öffentlichen Vorkämpfern einer „Kinohebung“ manchmal geschehen soll — nur aus „der Tiefe des Gemüts“, sondern aus vollem Eindringen in das Wesen der technischen Bedingungen geschieht, unter denen der Kino arbeitet. Wir verschmähen es doch auch nicht, uns liebevoll in die Technik der Malerei und der Dichtkunst, der Radiernadel und des Modellierholzes und in die ganzen äußern Lebensbedingungen der Künste zu vertiefen, und wer das je getan hat, weiß, daß er erst an diesem Tage den Keim zum eignen Urteil und zu tieferm Genuß gelegt hat. Nicht anders ist es mit der Kinematographie. Wer den Kino mit Genuß und Nutzen besuchen will, muß sich in gewissem Grade zum „Kenner“ ausbilden. Er wird davon auch mannigfachen Nutzen für seine Bildung haben. Vor allem aber wird er dadurch, und erst dadurch, ein wirkliches Gewicht auf der Wage derer, die den Kino zu einem ernsthaften Kulturwerkzeug veredeln wollen. Nicht Schriftsteller und Geistliche, Polizei und Lehrer können den Kino heben, sondern nur ein anspruchsvolles Publikum.
Bei „Kritik“ denke ich allerdings noch in ganz besonderm Grade an die Presse. „An die Zeitungen“, sagte mir einmal ein einflußreicher Verleger, „werden viel zu große Forderungen gestellt. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns mit der Hebung der Kinos zu befassen.“ Ich will nicht darüber grübeln, was überhaupt die „Aufgabe“ der Zeitungen ist. Ich denke einfach, ihre Aufgabe ist jede, die sie sich selber setzen, und zu deren Bewältigung sie imstande sind. Und dazu sollte die Mitwirkung an der Hebung der Kinos nicht gehören? Sind nicht heute längst alle Zeitungen über den Rahmen reiner Berichterstattung hinausgegangen und rühmen sich, Volks- und Kulturerzieher zu sein? Ist der Schundkino nur der „Konkurrent“ der Kunsttheater und muß seine ungehemmte Verbreitung nicht auch eine Menge Leser der ernstern, immerhin geistige Ansprüche stellenden Zeitung in Stadt und Land entfremden? Nun wohl, im eigensten, wenn nicht im allgemeinen Interesse sollte jedes sich achtende Tageblatt den Kino — nicht bekämpfen, sondern zu fördern, seine Versuche, höher zu kommen, zu unterstützen suchen. Das kann nur durch verständnisvolle und unabhängige Würdigung seiner bessern Leistungen, also vor allem seiner erdkundlichen Darbietungen geschehen. Dazu gehört aber Kenntnis der Dinge — und zu dieser Kenntnis einen Grund zu legen, soll meine Schrift dienen.
Freilich kann ich hier nicht alles auch nur zur Beurteilung erdkundlicher Bewegungsbilder Nötige geben, sondern nur das, was besonders mit dem Stoff zusammenhängt. Es ist geradezu unerläßlich, zur Ergänzung auch meine grundlegende Schrift „Kino und Kunst“ (Lichtbühnen-Bibliothek Nr. 2) zu lesen, deren ganzer Inhalt für das Nachfolgende die Voraussetzung bildet. Alle allgemeinen Fragen aber und einige besondere, die sich dem Laien vor dem Kino aufdrängen, behandle ich in der allgemeinen Schrift „Das Buch vom Kino“, (Lichtbühnenbibliothek Nr. 8). Diese ergänzt das vorliegende Heft auch in der Hinsicht, daß sie ausführlich die Technik der Liebhaberaufnahmen behandelt, die naturgemäß zur Hälfte erdkundliche sein werden.
Um zu einer klaren Vorstellung davon zu gelangen, was uns die Kinematographie in Beziehung auf Erdkunde sein und nutzen kann, müssen wir uns zuerst Rechenschaft davon geben, was wir überhaupt von der Erdkunde begehren, warum wir sie treiben, und welche Rolle sie im Geisteshaushalt der Menschheit und des einzelnen spielt.
Unter Erdkunde verstehen wir alle diejenigen Wissenschaften, die uns die Natur, wie sie unmittelbar unsern Sinnen erscheint, in ihrer Beziehung auf die Erde kennen und verstehen lehren. In dieser unmittelbaren Beziehung zu unsern Sinnen liegt ihre geheime Kraft, liegt das Geheimnis des leidenschaftlich unwiderstehlichen Triebes, den ihr die Menschheit zu allen Zeiten entgegengebracht hat, und der in dem Maße gestiegen ist und sich über immer breitere Kreise ausgedehnt hat, wie die aufgesammelten Erfahrungen der Menschheit und ihre vervollkommneten Hilfsmittel jedermann ein immer weiter eindringendes Verständnis der Natur ermöglicht haben. Die Erdkunde ist unter allen Naturwissenschaften die eigentlich „ästhetische“, d. h. aus sinnlichem Bedürfnis hervorgegangene, auf seine Veredlung und Durchgeistigung gerichtete, und deren eigentliches Werkzeug die Sinne sind. Die Erdkunde ist die Wissenschaft, die uns die Erde zur Heimat macht, dadurch, daß sie ihr ihre Schrecken nimmt, die in ihr waltenden Allgesetze entschleiert und sie uns dadurch untertan macht. Erdkunde ist undenkbar ohne die seltsame Anlage des Menschen, dem Un- und Außermenschlichen eine leidenschaftliche Liebe entgegenzubringen, die eben die Heimatliebe ist; sie ist undenkbar ohne die unerschöpfliche, der künstlerischen verwandte Freude an der Schönheit der Natur, worin sich wiederum ihr „ästhetisches“ Wesen zeigt. In dieser unerschöpflichen, mit Worten nicht auszuschöpfenden Freude an der Erde Schönheit fließt der dunkle Drang des Ungelehrten mit der nüchternen Arbeit des Forschers zusammen, und es hat keinen großen Bahnbrecher der Erdkunde gegeben, der nicht auch ein Dichter, wenn auch oft ein „geheimer“ war.
Zur Heimat wird uns die Natur durch das, wodurch auch die Welt der Kunst dem Eingeweihten zu einer Heimat im geistigen Sinne wird: dadurch, daß wir mehr und mehr ihre Linien und Formen, ihre Farben und Glanze, ihren Duft und Klang und alles, wodurch sie an unsere Sinne brandet, als eine Sprache verstehen lernen, die der Ausdruck eines allem Lebenden und auch uns verwandten Wesens ist. Dieses Verstehenlernen beginnt bei der einfachen Entdeckerfreude des Hirtenknaben, der Jahr für Jahr seine Eichenwälder am Rande der Äcker in gleichen dunklen Formen rauschen, die gleichen Wolken und Wetter in großen Rhythmen darüber hinziehen sieht, dem die Ahnung aufgeht, daß hier ein geheimer lebendiger Wille alljährlich bestimmte, nicht willkürliche Lebensversuche den feindlichen toten Elementen entgegenschickt; und daß er selber mit Leben und Tod ein Ring in dieser Kette, ein Ton in diesem Lied ist, unlösbar und glückhaft mit diesem Ganzen verbunden. Es gipfelt — über die stammelnden Versuche von Dichtern und Malern hinweg — in der sorgsam unermüdlichen Arbeit eines Ringes von Wissenschaften, alle Einzelheiten, die zusammen das Bild dieser Planetenoberfläche bilden, festzustellen, in ihre Teile und Teilesteile zu zerlegen, ihre notwendigen und zufälligen Zusammenhänge zu zergliedern, ihrer Ursache und Folge nachzugehen und eine Sprache dafür zu finden, und endlich wieder sie in ihrer Gesamtheit zu überschauen. So muß die Erdkunde das Weltall ins Auge fassen, um die Bewegungen dieses Einzelsterns zu begreifen, aus denen für die Erde Tag und Nacht, Sommer und Winter werden. Von den Gestirnen nimmt sie die Linien her, um die Oberfläche in feste Orte zu teilen und ihren Maßen auf die Spur zu kommen. Sie sucht etwas vom Innern dieses Körpers zu erahnen, dessen Ausbrüche rätselhafte Striche und Flecken auf sein Äußeres zeichnen; sie muß aus vielen Wissensgebieten die Fingerzeige aufspüren, die ein Bild von der Entstehungsgeschichte der Erde und besonders der Formen und Art ihrer Oberfläche geben. Die Grundlage all ihrer Arbeit bildet das Zusammentragen einer möglichst lückenlosen und von keinen Sinnestäuschungen beeinflußten Kenntnis aller Einzelheiten ihrer Oberfläche; und die großen Gruppen dieser Einzelheiten begründen wieder Wissenschaften an sich: Gesteins-, Gebirgs-, Wüsten-, Süßwasser-, Meereskunde, Pflanzen-, Tier-, Menschenkunde usw. Nicht minder muß die Erdkunde sich auf die Erforschung des Luftschleiers der Erde ausdehnen: Klima-, Wetterkundeusw. Es gilt, die Reiche der lebendigen Natur in ihrer Beziehung zu den Erdgebieten, ihrer Abhängigkeit davon zu betrachten: Tiere-, Pflanzen- und Menschenerdkunde. Die letztere erst erschließt eine neue Welt von Aufgaben: die Völkerkunde im allgemeinen, die wir auch hier unter den Begriff der Erdkunde einbeziehen, lehrt uns die Menschen als Naturwesen wesentlich in ihrer Abhängigkeit von der Erde kennen. Dazu kommt dann die politische Geographie, die den Menschen als Bildner von Gesellschaften, als Krieger, als Jäger, Hirten, Ackerbauer, Handwerker, Techniker, Kaufmann, Industriellen, als Errichter von Bauten und Verteiler von Verkehrsmitteln und zuletzt als Künstler und Wanderer in seiner Eigenschaft als Bezwinger und Gestalter der Erde zeigt.
Ebenso mannigfach wie die Beziehungen, unter denen der Mensch die Erde zu erforschen strebt, ist die Art der Erkenntnis, mit der er an sie herantritt, und die Art der Befriedigung, die sie ihm gewährt. Zum Begriff der Erdkunde gehören die Reisen des Odysseus, des edelsten Urbildes aller Abenteurer, und die des Gilgamesch, des Urbildes babylonischer Weisheit und aller Weisheitspilger ebensogut wie die der heutigen Forscher von der Art Hedins und der Polreisenden. Der Wanderer, der mit Rad und Rucksack langsam die nächste Heimat durchfährt, um nichts als ein Gesundungsbad der Sinne in ihr zu nehmen, treibt ebensogut Erdkunde wie der Mann auf dem Hochschulkatheder, und der Landschaftsmaler ebensogut wie der Geometer oder Landwirtschaftsschüler. Unendlich sind heute unsere Interessen an einer gründlichen Kenntnis der Erde. Sie gehört zu jedermanns unerläßlicher Vorbildung, ohne die man kaum noch einen Beruf vollkommen beherrschen, geschweige denn das ganze geistige Leben der Gegenwart in Kunst und Wissenschaft, ja auch nur seine tägliche Zeitung verstehen kann. Aus der Erdkunde schöpfen nicht nur Wanderer, Abenteurer, Weltreisende flüchtigen Sinnesgenuß und dauernde Gesundheit; sie gibt auch all unsern Künsten — Malerei, Dichtkunst, Musik, Theater, Plastik — Anregungen, will wenigstens von ihnen achtungsvoll berücksichtigt sein (kein Dichter dürfte uns heute noch von der „böhmischen Seeküste“ fabulieren). Die Tatsache, daß wir beginnen, wirklich die ganze Welt als „Heimat“, unsere Heimat zu empfinden, findet in dem Bestreben des Weltnaturschutzes Ausdruck. Wir streben Weltschutzparke, Welttierreservate usw. an, ein unverkennbares Zeichen für das an keinen Ort mehr gebundene Verständnis für den Wert der unberührten Naturschönheit. Einen mächtigen Ansporn für den Erwerb eingehender Erdkenntnis bildet ihre heutige Ausnutzung: Handel, Industrie und Verkehr kennen keine Orts-, keine Völkergrenzen mehr. Auch das gesellschaftliche (politische) Interesse des letzten Arbeiters umfaßt heute bereits den Erdball: Erdkunde als allgemeines Bildungsgut ist der Boden, auf dem unsere Träume von gegenseitigem Völkerverständnis, vom Austausch geistiger Güter und damit Weltfriede gedeihen können. Die Wissenschaft ist noch nicht am Ende ihrer Aufgabe, die letzten leeren Flecke auf dem Globus zu beseitigen; noch kämpfen ihre kühnen Bahnbrecher um die wissenschaftliche Eroberung der Pole, des Innern Asiens, dunkler Gebiete Afrikas. Schon aber senkt die Gedankenwissenschaft, die Philosophie, ihre Wurzeln in den reichen Wissensboden, den ihr die heutige Erdkunde bereits zusammengetragen hat, um daraus, in die Bahnen ihrer ältesten Vorbilder zurückkehrend, die Grundlinien einer neuen naturwissenschaftlichen „ Weltanschauung“ zu gewinnen, um das alte Menschenspiel der Vergleichung zwischen den Gesetzen der Geisteswelt und den Erscheinungen unserer Sinnenheimat fortzusetzen. Jener Gilgamesch, der aus der Heimat unseres Geschlechtes an die Grenzen der damaligen Welt pilgerte, um Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Leben und Tod zu finden, das Urbild aller „Pilger in die Wüste“, in die lebensvolle Wüste der Nur-Natur, in der sie nichts suchten als Stille für ihren Geist — er ist und bleibt auch das erhabene Urbild aller, die sich um „Erdkunde“ bemühen. Genuß — Nutzen — Wissen — Geistesklärung sind die vier Sterne, die der Wissenschaft von der Erde voranschweben.
Welche Mittel hat nun der Mensch von heute, um diesem seinem Wissen diejenige Tiefe und Vollständigkeit zu geben, durch die es allein seine Ansprüche befriedigen, seinem Zeitgewissen genügen kann? Ein Blick rings um unsere heutige Kultur sagt uns, daß diese Mittel seit kaum einem Jahrhundert eine Ausdehnung und Vervollkommnung erfahren haben, die sich keines der Geschlechter, die vor uns ins Grab gesunken sind, je hat träumen lassen. Wir können sagen, daß erst die Fülle dieser Mittel uns in den Stand zu setzen beginnt, die Erdkunde aus einem zur Hälfte phantastischen „Traum vom Wissen“ zu einer wirklichen nutzbaren Wissenschaft, einer wirklichen Bereicherung der allgemeinen Menschenbildung zu machen, sie aus einem „romantischen“ in ihr „klassisches“ Zeitalter zu überführen.
Erdkunde ist ja nicht das Wissen von einem Teil der Erde als solchem, sondern von ihrer Ganzheit. Erst die Möglichkeit, alle Teile zu vergleichen, alle unter dem Bilde einer Einheit zu sehen, von allen in einem Hirn auch eine der Wirklichkeit entsprechende „Anschauung“ zu vereinigen, erlaubt uns ja, überhaupt von „Erdkunde“ zu sprechen. Die Schwierigkeit, die jeder Erdkunde entgegenstand, war die Überwindung von Raum und Zeit