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Das Thema Netzwerk und Kirche hat Konjunktur. Sicher ist dies auch durch die Veröffentlichung der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD (V. KMU) bedingt. Das weite Feld der Netzwerkforschung erweist sich als sehr disparat, kann aber für Theologie und Kirche wie ein Katalysator wirken. Der Auftrag der Kirche, die Kommunikation des Evangeliums, findet vor allem im Nahbereich statt, ohne auf diesen begrenzt zu sein, baut auf Beziehungen, Nähe, Austausch und Zugänglichkeit. Viele Ergebnisse der Netzwerkforschung helfen Gemeinden, Gesamtkirche und Theologie, die enormen gesellschaftlichen Umbrüche zu verstehen und die eigene Praxis zu hinterfragen. Neue Formen der Kommunikation und beziehungsfähige Haltungen können helfen, das Evangelium mit Neugierigen, Konfessionslosen, Distanzierten und Indifferenten zu teilen. Mit Beiträgen von Christhard Ebert, Daniel Hörsch, Rainer Mainusch, Hans-Hermann Pompe, Felix Roleder, Thomas Schlegel und Birgit Weyel. [Church from a Network Perspective. Metaphor – Method – Form of Communitarisation] The topic of networking and church is attracting much interest. One of the reasons for this is certainly the publication of the fifth church membership survey of the EKD (V. KMU). The broad field of network research proves to be very disparate, but it can act as an catalyst for theology and church. The mission of the church, the communication of the Gospel, takes place mainly locally without being limited by it. It is building on relationships, neighbourhoods, interchange, and accessibility. Many insights of network research can help congregations, the church, and theology to better understand social change and to challenge their own practice. New forms of communication and corresponding attitudes could help to share the Gospel with people who are curious, distant, indifferent, or non-demoninational.
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Kirche aus der Netzwerkperspektive
Metapher – Methode – Vergemeinschaftungsform
Im Auftrag desZentrums für Mission in der Region
herausgegeben vonDaniel Hörsch und Hans-Hermann Pompe
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Coverbild: © optimarc/Shutterstock.com
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-05846-4
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Daniel Hörsch und Hans-Hermann PompeZur Einführung
Grundlegende Überlegungen: die Netzwerkperspektive als DNA der Kirche
Hans-Hermann PompeNetzwerke als Grundmodus einer aufbrechenden und sich erneuernden KircheBiblisch-theologische Zugänge zur Netzwerkperspektive
Daniel HörschÜber den Nutzen der Netzwerkperspektive für die Kommunikation des Evangeliums
Thomas SchlegelEkklesiologische PerspektivenKirche theologisch als ein Netzwerk begreifen
Die Netzwerkperspektive: eine Einladung zur Horizonterweiterung
Felix Roleder und Birgit WeyelKirchengemeinde als NetzwerkÜberlegungen zur konkreten Kirchengestalt vor Ort auf der Basis der Gesamtnetzwerkerhebung der V. Kirchenmitgliedschaftserhebung der EKD (V. KMU)
Hans-Hermann PompeKirche mit NetzwerkenDie missionarischen Optionen offener Verbindungen
Hans-Hermann PompeDie HandelndenZu den Typen der Schlüsselpersonen
Rainer MainuschDie kirchenrechtliche PerspektiveNetzwerke und Kirchenordnung
Der Ertrag der Netzwerkperspektive für die kirchliche Praxis
Daniel HörschDer Ansatz einer netzwerkorientierten Gemeindeentwicklung
Christhard EbertGeistliche NetzwerkeNetzwerke als künftige Form christlichen Lebens und Handelns
Christhard EbertKooperationen in und zwischen Netzwerken als Modus regiolokaler Kirchenentwicklung
Daniel HörschSichtbarmachung von Netzwerken vor OrtArbeit mit Netzwerkkarten
Autorinnen und Autoren
Daniel Hörsch und Hans-Hermann Pompe
Zu den wichtigen Ergebnissen der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 2012/14 (KMU 5)1 gehören einige Entwicklungen, auf die die Evangelische Kirche bisher nur unzureichende Antworten gefunden hat. Da ist der kaum zu stoppende Verlust der jüngeren Generation: Für Jugendliche und Junge Erwachsene haben Kirche und Glaube wenig oder kaum Relevanz. Der Traditionsabbruch wird mit jeder Generation etwas größer. Jahrelang nehmen sie nicht mehr teil, dann lassen sie die Kirche ganz hinter sich.
Es gibt das innerliche Auswandern von Mitgliedern vor dem vollzogenen Austritt: Bis zu 30% der Kirchenmitglieder zwischen 14 und 29 Jahren haben ihren Austritt beschlossen, nur noch nicht vollzogen, sie sind sozusagen im »Austritts-Standby«; und wir erreichen sie mit den üblichen Angeboten so gut wie gar nicht mehr.
Auffällig ist auch die enorme Bedeutung und zugleich geringe Reichweite der Ortsgemeinden: Mitglieder identifizieren Kirche v. a. mit der Ortsgemeinde, aber sie nehmen diese in hoher Zahl kaum wahr bzw. nehmen wenig an deren Angeboten teil.
Die KMU 5 thematisiert auch eine Schlüsselrolle der Pfarrerinnen und Pfarrer: Wo Kontakte mit ihnen stattfinden, ist die Bindung höher – das ist der Vorteil. Aber weil die Kirchen-Bindung stark von diesen Kontakten abhängt, werden die zeitlichen Ressourcen der Hauptamtlichen zum Flaschenhals möglicher Bindungen – das ist der Nachteil.
Die KMU 5 hat die Netzwerksperspektive betont: Sie analysiert die Kirchenmitglieder als subjektive Akteure des Religiösen, sie deutet ihre Teilnahme als interaktiv-reflexive und soziale Praxis und sie versucht exemplarisch, die Kirchengemeinde in netzwerkanalytischer Perspektive zu erfassen. Netzwerkperspektiven erschienen dem EKD-Zentrum für Mission in der Region (ZMiR) als hilfreiche Dimensionen, um erneut und wieder anders die Herausforderungen einer missionarisch profilierten und regional wirksamen Kirche zu bearbeiten. So fanden zwischen 2015 und 2017 vier bundesweite Fachgespräche statt, um Netzwerkaspekte mit Ekklesiologie und Kirchentheorie, mit Schlüsselpersonen und Beziehungen, mit Institution, Organisation und Gruppe sowie mit Mission und Einladung zum Glauben gegenzulesen.2 Den Impulsgebenden und den Teilnehmenden der Fachgespräche haben wir sehr zu danken, viele ihrer Impulse sind in diesem Buch aufgenommen worden.
Das weite Feld der Netzwerkforschung erweist sich als sehr disparat, kann aber für Theologie und Kirche wie ein Katalysator wirken. Die Wahrnehmung grundlegender interpersonaler Bindungen ist für die Kirche Jesu ein zentrales Anliegen. Ihr Auftrag, die Kommunikation des Evangeliums, findet v. a. im Nahbereich statt ohne auf diesen begrenzt zu sein, baut auf Beziehungen, Nähe, Austausch und Zugänglichkeit – genau dies hat die KMU 5 noch einmal unterstrichen. Viele Ergebnisse der Netzwerkforschung helfen Gemeinden, Gesamtkirche und Theologie, die enormen gesellschaftlichen Umbrüche zu verstehen und die eigene Praxis zu hinterfragen. Neue Formen der Kommunikation und beziehungsfähige Haltungen könnten helfen, das Evangelium mit Neugierigen, Konfessionslosen, Distanzierten und Indifferenten zu teilen.3
Eine wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen Netzwerk als Metapher und Netzwerktheorie als Werkzeug erweist sich als sehr hilfreich. Der Netzwerkbegriff erscheint im kirchlichen und praktisch-theologischen Kontext oft als Hoffnungsbringer, wobei nicht immer klar ist, ob mit entsprechenden Netzwerküberlegungen die Methoden bzw. die Theorie gemeint sind oder ob übertragen mit der Metapher argumentiert wird. Metaphern und Methoden sollte man weder verwechseln noch vermischen, aber auch nicht gegeneinander ausspielen.
Im soziologischen Diskurs werden seit längerem wissenschaftliche Zugänge zur Netzwerkmethode und Netzwerkarbeit theoretisch begründet und dafür probate empirische Methoden angeboten. Allerdings existiert bisher nicht »die« Netzwerktheorie, sondern der Methodenvielfalt entsprechend eine Vielzahl an theoretischen Zugängen. Netzwerkanalyse etwa ist eine Methode zur Beschreibung und Sichtbarmachung sozialer Beziehungen und Beziehungsmuster mittels graphischer Darstellung und mathematischer Berechnungen.
Theologische Überlegungen zum Netzwerk arbeiten nicht selten mit metaphorischen Verknüpfungen – was aufgrund biblischer Assoziationen mit dem Begriff Netz nicht verwunderlich ist –, lassen aber methodologische Überlegungen gelegentlich außen vor. Es handelt sich dann eher um eine assoziative, theologische Begriffsaneignung denn um die Integration eines sozialwissenschaftlichen Konzeptes für die theologische (Kirchen-)Theoriebildung.
Welchen Mehrwert bringt nun eine methodische Netzwerkperspektive?
Wenn man die Klippen eines unscharfen Religionsbegriffes vermeiden will und präziser nach Glauben (nach C. Glock) als Habitus (Lebensstil, nach P. Bourdieu) fragt, dann öffnet die Netzwerkperspektive den Blick auf die Beziehungsqualitäten, auf die Resonanzräume des Glaubens und auf die Attraktivität seiner sozialen Beziehungen. Von hier aus wird es dann möglich, das Gespräch über die Religionshaltigkeit im Beziehungsgeschehen zu führen.
Besonders hilfreich ist zudem die Netzwerkperspektive darin, nicht nur die starken Beziehungen von aktiven, engagierten und mit der Kirchengemeinde im engeren Sinne hoch verbundenen Menschen wahrzunehmen. Es sind vor allem die sogenannten »strukturellen Löcher« zwischen unterschiedlichen Clustern eines Netzwerkes, die in den Blick geraten und die schwachen Beziehungen, die Potentiale offenbaren und nicht selten blinde Flecken bisheriger kirchlicher Praxis sichtbar machen.
Dadurch erhält die Frage nach der Verbundenheit eine neue Qualität, da sie sich vor dem Hintergrund des Netzwerkgedankens nicht per se an hierarchischen Strukturen einer Institution, Organisation oder an der Mitgliedschaft orientiert, sondern der Logik von Netzwerken folgt. Zuvorderst ist die entscheidende Funktionsweise von Netzwerken die des aktiven Operierens und weniger die der Verfestigung von Strukturen.4 Nicht selten verbindet sich mit der Netzwerkperspektive die »metaphorische Hoffnung«, verkrustete Strukturen mit Netzwerken neu beleben zu können. Vor allem wird Netzwerken zugeschrieben, dezentral, plural, flexibel, innovativ und kreativ zu sein. Es gerät dabei außer Acht, dass Netzwerke – so beschrieben – erst gestaltet werden müssen.
Die kirchliche Praxis als Netzwerk begriffen, beschreibt die Beziehungsstrukturen zwischen Akteuren, die nicht oder nicht ausschließlich in starken Bindungen zur Gemeinde stehen. Die Beziehungsstrukturen beziehen sich auf den sozialen Raum und nicht auf den Binnenraum der Kirche. Eine netzwerkorientierte kirchliche Praxis lebt von schwachen Bindungen. Dadurch geraten Cluster im Netzwerk des Sozialraums in den Blick, die aus der Warte der Kirchengemeinde im engeren Sinne eher als peripher wahrgenommen werden. Im Lichte eines missionalen Blicks, wie er im Neuen Testament von Jesus von Nazareth vorgelebt wird, nämlich den Menschen an den Rändern Beachtung zu schenken, gewinnt der Perspektivwechsel durch die Netzwerkbrille zentrale Bedeutung für die kirchliche Praxis. Es verwundert deshalb nicht, dass mit der Netzwerkperspektive das Thema Indifferenz eng verbunden ist, das von der KMU 5 aufgeworfen und vom ZMiR in den zurückliegenden Jahren intensiv bearbeitet wurde.5
Es wird deutlicher sichtbar, wo missionarisches Neuland verortet ist, und es stellt sich auch die Frage, welche unterschiedlichen Kompetenzen und Gaben erforderlich sind, um dieses Potential zu erschließen. Dabei ist gedacht an Analyse-, Visualisierungs- und Reflexionskompetenz mit Blick auf Netzwerkerhebungen. Darüber hinaus ist zu denken an so genannte Soft Skills wie Kontaktfreude, Interessse, Neugierde, Offenheit der Gemeinschaft, einladendes Setting oder aber Rollenflexibilität.
Die Beiträge dieses Bandes berühren durchaus unterschiedliche Aspekte von Netzwerken und Kirche bzw. Gemeinden, einige Themen wie die Berührungen mit Kirchentheorie und Ekklesiologie sowie die Frage nach Zugehörigkeit und Mitgliedschaft werden häufig angesprochen.
Eine an der Realität unserer Volkskirche orientierte Kirchentheorie ist das sog. Hybridmodell: Kirche existiert als Institution, als Organisation und als Bewegung (bzw. Gruppe oder Gemeinschaft).6 Als Bewegung wird Kirche sich in Gruppen und Gemeinschaft verleiblichen, als Organisation wird sie eher wie ein Unternehmen und als Institution wird sie v. a. als Volkskirche handeln. Für sich alleine stehen diese Logiken gegeneinander, sie lassen sich weder zusammenführen, noch kann eine davon sich gegen die anderen durchsetzen. Als Hybrid, als Kombination können »in sich geschlossene Systeme nebeneinander dennoch sehr erfolgreich sein«, wenn sie sich ergänzen, denn: »reine Organisationsförmigkeit beeinträchtigt die Mitgliedschaftsform der stabilen Halbdistanz, reine Institutionsförmigkeit beeinträchtigt die Schaffung von neuen Kontakten und engagierter Nähe, reine Gruppenförmigkeit beeinträchtigt die gesellschaftliche Reichweite«.7
So sympathisch und einleuchtend solch ein Nebeneinander erscheint, so schnell entstehen neue Fragen: Wie verhalten sich die jeweiligen Systemlogiken und auch ihr hybrides Nebeneinander zu unseren biblischen Grundlagen? Wer tariert sie im Zweifelsfall wie aus und nach welchen Kriterien? Welches dieser – oft eher historisch als biblisch abgeleiteten – Kirchenbilder ist denn wirklich zukunftsfähig? Und: Gibt es möglicherweise weitere, erst am Horizont absehbare Logiken, welche die bisherigen ergänzen, in sich aufheben oder sogar ablösen? Soziologen wie Peter Berger sehen etwa die Institutionslogik in der offenen Gesellschaft deutlich auf dem Rückzug: Die De-Institutionalisierung führt vermehrt zu subjektiven Entscheidungen und lässt nur »schwache Institutionen« zu: »ein bestimmtes religiöses Bekenntnis wird nicht länger als selbstverständlich genommen, sondern resultiert aus dem Treffen einer Wahl […] auf Seiten des Individuums«.8
Kann es sein, dass die Kirche in ihrer ganzen Geschichte immer auch oder sogar primär netzwerkartig gearbeitet, Netzwerke aber zu selten theologisch reflektiert bzw. gewürdigt hat? Wären Netzwerke möglicherweise ein Modus, in dem alle drei Systemlogiken unterschiedlich stark arbeiten, oder mit dem sie nicht kompatibel sind, oder wären Netzwerke sogar eine weitere Systemlogik? Eine weitere Vermutung: Netzwerke entsprechen einer offenen pluralisierten Gesellschaft stärker als die anderen Systemlogiken, könnten eher mit Offenheit und Neugier rechnen, sind also »missionaler« als Institution, Organisation oder Bewegung, sind aber auch fragiler, unverbindlicher und zeitgebundener.
Was bedeutet Netzwerkdenken nun für das mitgliedschaftsformierte evangelische Kirchenmodell? Eine auffällige Entdeckung aus den Anfängen der Netzwerk-Forschung ist die häufig zitierte Theorie »The strength of weak ties« von Mark Granovetter.9 Feste Bindungen (strong ties) schaffen Gemeinschaft, Sozialisation etc., sie haben Ähnlichkeiten mit den starken Gemeindebildern des NT, etwa der Familie Gottes, dem Leib oder dem Weinstock, aber feste Bindungen sind in ihrer Reichweite höchst begrenzt. Lose Verbindungen (weak ties) sind schwach, zufällig, kontingent, zeitlich begrenzt – aber ihre Reichweite ist ungleich höher und effektiver. Sie haben Ähnlichkeit mit den Wander-Begegnungen Jesu oder den Alltagskontakten der frühchristlichen Mission.
Für eine mit der Kommunikation des Evangeliums beauftragte Kirche spielen schwache Bindungen eine eminent missionarische Rolle. Weitgehend hier erreicht sie andere Menschen, über Kontakte, Informationen und Beziehungen, bei Begegnungen und Schwellensituationen in Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Ausbildung, Alltag. Gruppen und Kreise sowie Mitgliedschaften sind als feste Bindungen dem deutlich nachgeordnet – es ist eben die Schwäche der starken Bindung. Sie sind eher Folge als Auslöser, schaffen Vertiefung statt Menschen hinzubringen oder bei fehlenden Relevanzen Menschen (durch Gratifikationen oder Mehrwert) halten können.
Unsere Kirche setzt auf Mitgliedschaft als feste Bindung, aber Mitgliedschaft hat in Halbdistanz die fatale Tendenz, dass sich ihre Bindungskraft ohne gelebte Beziehungen immer weiter abschwächt. Die herkömmlichen Unterstützer wie Traditionsweitergabe, lokale Bindungen, Rituale, Kirchenjahr oder Sitte (»man gehört einfach zur Kirche«) haben in einer mobilen Optionsgesellschaft zunehmend weniger Einfluss, wenn sie nicht durch alternative Stützen ergänzt oder ersetzt werden. Es entstehen in den Bindungen Leerstellen, weil die Menschen die Kommunikation und Interaktion mit ihrer Kirche z. T. nur noch über die Gehaltsabrechnung erleben, nicht mehr durch persönliche Kontakte – weder Gemeindebrief noch Homepage noch Angebote ersetzen diese.
Begegnungen, Kontakte und Beziehungen spielen als Alltagsnetzwerke aber eine Schlüsselrolle für Kirchenbindungen, genauso übrigens auch auf dem Weg zum Glauben. Kulturübergreifend nennen rund 80% aller Befragten solche Faktoren als Auslöser, Vertiefer oder Bausteine für ihr eigenes Christsein und ihre Bindung an Gemeinde.10 Mission will Menschen erreichen, ihnen dienen, sie zum Glauben an das Evangelium einladen und eine Gesellschaft der Gerechtigkeit bauen. Die Auslöser für solche Reaktionen des Glaubens, die Zugehörigkeiten zu solchen Aktionen des Engagements sind zunehmend auf den persönlichen Ebenen verankert, in Beziehungen und Netzwerken.
Eine der zentralen Thesen des vorliegenden Bandes ist, dass die Netzwerkperspektive als DNA der Kirche angesehen werden kann. Vieles von dem, was an Hoffnung mit der Netzwerkperspektive einhergeht, bedeutet letztlich, bereits Vorhandenes durch die Netzwerkbrille neu sehen zu lernen.
Hans-Hermann Pompe weist einleitend in seinem Blitzlicht zu den biblisch-theologischen Zugängen zur Netzwerkperspektive darauf hin, dass Bibel und Kirchengeschichte Aufbrüche und Erneuerungen elementar mit Netzwerken verbinden und diese häufig Netzwerk-Wurzeln besitzen.
Daniel Hörsch unterstreicht in seinem Beitrag den Mehrwert der Netzwerkperspektive für die Kommunikation des Evangeliums und empfiehlt aus soziologischer Warte einen handlungstheoretischen Zugang zum Thema.
Thomas Schlegel diskutiert in seinem Beitrag, inwieweit der Netzwerkgedanke in der derzeit gängigen empirischsoziologischen Ekklesiologie eines Hybrid aus Institution, Organisation und Bewegung Berücksichtigung findet. Er plädiert letztlich anschaulich dafür, Kirche theologisch als Netzwerk anzusehen.
Unter der Überschrift »Die Netzwerkperspektive: eine Einladung zur Horizonterweiterung« sind Impulse versammelt, die das Augenmerk richten auf zentrale Fragen, die mit der Netzwerkperspektive verbunden sind. Felix Roleder und Birgit Weyel geben exklusiv Einblick in die Auswertung der Gesamtnetzwerkerhebung der KMU 5 und stellen erste Überlegungen an zur konkreten Kirchengestalt vor Ort.
Hans-Hermann Pompe befasst sich im ersten von zwei Beiträgen mit den missionarischen Optionen offener Verbindungen und beschreibt Merkmale einer Kirche mit Netzwerken, die attraktiv, flexibel, offen und partizipativ ist und Freiräume für Netzwerke schafft.
In einem weiteren Beitrag stellt Hans-Hermann Pompe die »Pioniere des Wandels« als Typus der Schlüsselpersonen vor, die auch in der Netzwerkperspektive für Aufbruch und Horizonterweiterung sorgen.
Mit der kirchenrechtlichen Perspektive und der Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Netzwerkperspektive im kirchenleitenden Handeln beschäftigt sich der Beitrag von Rainer Mainusch, der nicht nur das Miteinander von Kirchenrecht und Kirchentheorie mit Blick auf die Netzwerkperspektive diskutiert. Er liefert aus der konkreten Arbeit des Verfassungsausschusses der Ev. Landeskirche in Hannover insgesamt vier Perspektiven für die Anwendung der Netzwerktheorie auf die Kirche mit entsprechenden Impulsen für die Fortentwicklung des Kirchenrechts.
Den Ansatz einer netzwerkorientierten Gemeindeentwicklung, wie er von der bayerischen Landeskirche erforscht und erprobt wurde, stellt Daniel Hörsch in einem weiteren Beitrag vor und diskutiert dabei den Ertrag der Netzwerkperspektive für die kirchliche Praxis.
Christhard Ebert lädt dazu ein, einmal einen radikalen Perspektivwechsel vorzunehmen und Kirche als geistliches Netzwerk anzusehen. Geistliche Netzwerke beschreibt er dabei als Folge geistlicher Kommunikation, die die soziale Kommunikation einschließt, aber nicht in ihr aufgeht.