Kirschblüten im Wind - Susanne Wahl - E-Book
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Kirschblüten im Wind E-Book

Susanne Wahl

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Beschreibung

Keine Europäerin hat vor ihr dieses Land erblickt: Der bewegende historische Roman »Kirschblüten im Wind« von Susanne Wahl jetzt als eBook bei dotbooks. Die junge Katharina träumt davon, die Welt zu bereisen. Doch es ist das Jahr 1691, und als unverheiratete Frau hat sie keine Freiheiten. Trotzdem ist sie schockiert, zu welchem Schicksal ihr Vater sie verurteilt: Er hat ihre Hand einem reichen, aber alten Kaufmann versprochen – und Katharina sieht keinen anderen Ausweg als zu fliehen. Als Mann verkleidet wird sie der Gehilfe des Arztes Dr. Martin Liebau und schifft sich mit ihm auf einem Ostindiensegler nach Japan ein. Verzaubert von der Schönheit des exotischen Landes erkundet sie die Insel, die keine Europäerin je betreten durfte. Aber kann sie wirklich für immer verbergen, dass sie eine Frau ist – auch vor dem jungen Arzt, der ihr Herz heimlich höher schlagen lässt? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende Schicksalsroman »Kirschblüten im Wind« von Susanne Wahl wird Fans der Serie »Shogun« und von Linda Holeman und Catherine Tarley begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 569

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Über dieses Buch:

Die junge Katharina träumt davon, die Welt zu bereisen. Doch es ist das Jahr 1691, und als unverheiratete Frau hat sie keine Freiheiten. Trotzdem ist sie schockiert, zu welchem Schicksal ihr Vater sie verurteilt: Er hat ihre Hand einem reichen, aber alten Kaufmann versprochen – und Katharina sieht keinen anderen Ausweg als zu fliehen. Als Mann verkleidet wird sie der Gehilfe des Arztes Dr. Martin Liebau und schifft sich mit ihm auf einem Ostindiensegler nach Japan ein. Verzaubert von der Schönheit des exotischen Landes erkundet sie die Insel, die keine Europäerin je betreten durfte. Aber kann sie wirklich für immer verbergen, dass sie eine Frau ist – auch vor dem jungen Arzt, der ihr Herz heimlich höher schlagen lässt?

Über die Autorin:

Susanne Wahl, geboren 1955 in Erlangen, studierte Ethnologie und Antropologie. Sie bezeichnet sich selbst als »Spätberufene« und unternahm erst nach ihrem 46. Geburtstag erste Schreibversuche. Seitdem hat sie zahlreiche Romane unter ihrem eigenen Namen und unter einem Pseudonym veröffentlicht. Susanne Wahl lebt mit ihrer Familie in Aach unweit der Schweizer Grenze. In ihrem großen Garten fand sie unter anderem auch die Inspiration zu ihren Romanen »Rosenduft und Koriander« und »Der Zauber des vergessenen Gartens«.

Susanne Wahl veröffentlichte bei dotbooks bereits die Liebesromane »Rosenduft und Koriander«, »Der Zauber des vergessenen Gartens« und den Australienroman »Im Land des roten Eukalyptus«.

Die Autorin im Internet: susannewahl.com

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eBook-Neuausgabe August 2024

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Susanne Wahl und Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Gromovataya, Pawel Kazmierczak, Sonja Karin Music, takayuki, GagliardiPhotography, Sean Pavone, Emilio 100, Peter Lundgren, nafia_if

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98952-173-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Susanne Wahl

Kirschblüten im Wind

Roman

dotbooks.

Viele Erinnerungen steigen in den Menschen auf, wenn sie die Kirschblüten wiedersehen.

MATSUO BASHO (1644–1694)

PROLOG

Der Mann trug einen ausladenden Strohhut tief ins Gesicht gezogen. Sein schlichter Kimono, das einfache Bündel auf dem Rücken hätten auf einen Bauern schließen lassen, wenn nicht die elegante Selbstsicherheit, mit der er auf der Straße in Richtung Shimonoseki wanderte, eine andere Sprache gesprochen hätte. Kawaguchi Yorimoto umgab trotz der betont unauffälligen Erscheinung die Aura des hochgeborenen Samurai. Keiner der Entgegenkommenden hatte auch nur einen Moment gezögert, zur Seite zu treten und ihm den Respekt zu bezeugen, der einem Angehörigem seiner Klasse zustand.

Yorimoto registrierte erleichtert, dass der rege Verkehr deutlich nachgelassen hatte, aber es waren immer noch zahlreiche Reisende unterwegs. Hauptsächlich bürgerliche Familien – vermutlich strebten sie zu den Kirschblütenfesten, die hier im milden Klima von Japans Süden mit Begeisterung gefeiert wurden. Seit es den wohlhabenderen Handwerker- und Kaufmannsfamilien gestattet war, zu diesem Anlass die ursprünglich dem Adel vorbehaltenen fürstlichen Gärten zu betreten, machten sie mit fast kindlicher Fröhlichkeit von diesem Privileg Gebrauch. Ihre unverfälschte Freude an der schneeweißen und rosafarbenen Blütenpracht unterschied sich in seinen Augen wohltuend von der Blasiertheit der Höflinge.

Er hatte diese Tage im Frühjahr immer geliebt. Vielleicht, weil sie so schnell vorüberflogen. Schon bald würden die kurzlebigen Blüten sich mit dem Wind über das Land verteilen, spurlos vertrocknen in der Hitze des Sommers, die sie ankündigten wie schmelzender Schnee.

Yorimoto erschauerte bei der Erinnerung an die Bilder, die sich daraufhin in seinem Kopf breitmachten. Als er vor anderthalb Monden Edo verlassen hatte, hatte noch Schnee gelegen. Zwar nicht so viel und nicht so blendend weiß wie in dem kleinen Ort an der nördlichen Grenze, in den ihn sein letzter Auftrag geführt hatte und in dem alle Konturen verwischten, als ob die normale Welt dort aufgehört hätte zu existieren. Aber auch der rußgraue und mit Urinspuren der unzähligen Straßenhunde versetzte Schnee war Schnee. Und er konnte den Anblick von Schnee nicht mehr ertragen.

Trotz der Bedenken der Hofärzte war er aufgebrochen. Er hatte darum gebeten, sich dem Haushalt seines Bruders Munetsune, des Gouverneurs von Nagasaki, anschließen zu dürfen, und es war ihm gestattet worden. Die Reisesänfte und den Begleittrupp der kaiserlichen Wache, die ihm als letzte Gunst angeboten worden waren, hatte er so höflich wie entschieden abgelehnt. Wenn es seine Bestimmung war, auf dieser Reise zu sterben, dann würde es geschehen. Als Samurai hätte er die Möglichkeit gehabt, den Tod zu suchen. Doch da es sein Wunsch war zu sterben, wäre ein solcher Tod nicht verdienstvoll, und so zwang er sich, seinen Körper mit Nahrung und Schlaf bei Kräften zu halten. Die Herbergen, die in bequemen Tagesetappen zu erreichen waren, hatte er gemieden. Die laute Geschäftigkeit, die aufdringliche Fürsorglichkeit der Wirte waren ihm unerträglich erschienen. Stattdessen hatte er in Klöstern Zuflucht gesucht.

In dem Konvent, den er heute im Morgengrauen verlassen hatte, hatte der Abt einen Gedanken geäußert, der ihn nicht mehr losließ. Der alte Mann mit dem sanften Lächeln hatte sich nicht damit begnügt, mit ihm für die Seelen seiner Opfer zu beten.

»Erzählt mir alles ganz genau«, hatte er gesagt, »und lasst nichts aus. Ich habe Zeit. Einen Tag, zwei Tage, so viel Ihr benötigt.«

Und Kawaguchi Yorimoto, der langjährige Todesbote des Shoguns, hatte dankbar, fast demütig gehorcht. Hatte vor dem ehrwürdigen Abt nichts beschönigt und ihm nichts verschwiegen. Auch nicht seinen unbändigen Stolz, als er aus so vielen Anwärtern für das Amt des Kaishakunin erwählt wurde. Das Amt war eine hohe Ehre. Nur der beste Schwertkämpfer durfte im Namen der Tokugawa-Shogune den endgültigen Todesstreich führen, der einen zum Seppuku verurteilten Samurai von seinen Qualen erlöste.

Nach den ersten Jahren war der anfängliche Stolz dem Widerwillen vor sich selbst gewichen. Nicht sofort, eher schleichend. Die Todesurteile waren alle vom höchsten Rat unterschrieben und besiegelt gewesen und dennoch waren ihm Zweifel gekommen: Sie betrafen den alten Mann, dessen einziges Vergehen es gewesen war, dem Landhunger eines Hofschranzen im Wege zu stehen; den Samurai, der sich geweigert hatte, seine Bauern dem Hungertod auszuliefern, und deswegen seine Reissteuer nicht hatte bezahlen können; den Sohn des Clanführers, der den Geliebten des Shoguns verächtlich behandelt hatte.

Mit den Jahren hatte er das Zeremonialgewand mit dem Malvenwappen hassen gelernt. Aber es gab keine ehrenvolle Möglichkeit, das Amt niederzulegen, wenn der Shogun ihn nicht von sich aus entließ. Er konnte sich seiner Pflicht nicht entziehen – die Karriere seines jüngeren Bruders Munetsune wäre sonst gefährdet gewesen. Der ehrgeizige Statthalter hatte die Tochter des Präfekten von Kyoto geheiratet, deren Familie bei Hof über großes Ansehen verfügte. Seine Kinder würden den Namen Kawaguchi fortführen.

Er selber hatte sich entschieden, auf Ehefrau und Kinder zu verzichten. Die Seelen derer, für deren Tod er verantwortlich war, wären eine zu große Belastung für ein normales Leben gewesen. Welcher Frau war es schon zuzumuten, tagtäglich mit dem Tod konfrontiert zu werden?

Ironischerweise war es der Geist einer Frau gewesen, der ihm die Freiheit geschenkt hatte.

Die kleine Burg im Norden von Edo hatte sich in nichts von den unzähligen Lehen unterschieden, die er im Laufe seines Lebens betreten hatte. Er war durch keine Vorahnung gewarnt worden. Wie immer hatte er unbeweglich hinter dem in fleckenloses Weiß gekleideten Todgeweihten gestanden und reglos darauf gewartet, dass er sich den Dolch in seinen Leib stieß. Inzwischen war er gut darin, seinen Geist abzuschotten, in einen schwarzen Kasten in seinem Inneren einzuschließen. Sein Körper funktionierte mit tödlicher Präzision. Aber diesmal hatte etwas den schwarzen Kasten zersprengt: Als der kopflose Rumpf zur Seite fiel, war der Kimono verrutscht. Es war kein Zweifel möglich, er hatte soeben eine Frau geköpft!

Nachforschungen brachten die auch für die Zentralregierung peinlichen Hintergründe ans Licht. In dem Lehen hatte man die einzige Tochter als Sohn aufgezogen, und sie war ihrer Rolle so gut gerecht geworden, dass niemand Verdacht geschöpft hatte. Selbst im Tod war sie ihr treu geblieben.

Für ihn war es ein Wendepunkt gewesen. Schon auf der Rückreise hatte ihn ein schweres Nervenfieber gepackt. Obwohl die Hofärzte in Edo die besten und teuersten Geisterbeschwörer hatten kommen lassen, schwebte er zwei Wochen lang zwischen Leben und Tod. Als seine Seele sich endlich entschieden hatte, in den Körper zurückzukehren, wurde ihm bedeutet, dass er für das Amt des Kaishakunin nicht mehr geeignet wäre.

»Die Seele dieser Frau, verfolgt sie Euch?«, hatte der Abt sich erkundigt. »Wenn sie sich an Euch rächen will, könnte man einen Reinigungsritus versuchen.«

»Nein, ich habe eher den Eindruck, dass sie mir etwas mitteilen will.«

»Das ist überaus interessant«, hatte der Alte nachdenklich gemurmelt, dabei eine Ameise von seinem Ärmelsaum gezupft und sie vorsichtig auf den Boden gesetzt. »Manche Weise sind der Ansicht, dass Seelen, die um ihr Leben betrogen wurden, hier und da als ungewöhnliche Menschen wiedergeboren würden. Mir ist noch kein solcher Fall zu Ohren gekommen, aber wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Vielleicht wird Euch die Seele dieser Frau wiederbegegnen.«

»Und woran werde ich sie erkennen?«

»Das kann ich Euch nicht sagen. Wie gesagt, es sind nicht viele, die diese Ansicht teilen. Aber wenn sie Euch in die Augen sieht, werdet Ihr es wissen.«

KAPITEL 1

Ein Wink des Schicksals

Es kam selten vor, dass der ehrenwerte Handelsherr und Sprecher der Kaufmannsgilde von Frankfurt, Magnus Sessenheimer, seine Tochter zu sich ins Privatkontor zitierte. Entsprechend nervös holte Katharina tief Luft, bevor sie an die schwere Eichenholztür klopfte.

Im Kontor, das im ersten Stock des Stadthauses lag, war es beklemmend düster. Obwohl an diesem wunderschönen Altweibersommertag im Jahre 1691 alle vier Fenster weit offen standen, drang nur wenig von dem strahlenden Sonnenschein in den Raum mit der rußgeschwärzten Balkendecke. Der Vater mit seiner imposanten Gestalt stand in dem vertrauten dunkelgrünen Hausrock aus Florentiner Samt an seinem Schreibpult und studierte mit unbewegtem Gesicht ein Stück Pergament. Aus seiner rechten Hand ragte ein Gänsekiel: das Handwerkszeug und zugleich die Waffe des Kaufmanns. Direkt daneben stand das Schreibzeug aus weiß-blauer Fayence, mit der in Holländisch verfassten Inschrift »D’Broot den Armen deelt, met goet hem doet beweysen. Soo sal van lewens boom, De Heer u euwich spysen. Anno 1677«. Über dem Schriftzug war die Darstellung eines reichen Mannes, der damit beschäftigt war, vor seinem Haus unter den wartenden Notleidenden Brotlaibe zu verteilen. Beim Anblick des vertrauten Utensils erinnerte Katharina sich daran, dass sie aufgrund der einfarbigen, kobaltblauen Malerei einige Zeit überzeugt gewesen war, es müsse blaue Menschen geben.

»Ihr habt mich rufen lassen, Vater«, sagte das Mädchen leise und knickste anmutig.

Magnus griff nach der bereitstehenden Büchse, streute eine dünne Schicht Sand auf die noch feuchte Tinte und wandte sich zu ihr um. Er betrachtete seine Tochter einen Augenblick ohne sichtbare Regung, bevor er ihr mit einem Nicken andeutete, näher zu treten.

»Setz dich, Katharina, und nimm dir ein Glas Wein«, sagte er dann und schritt so würdevoll wie immer zu seinem ledergepolsterten Armstuhl hinter dem klobigen Tisch mit den geschnitzten Beinen, an dem er seine geschäftlichen Besprechungen zu führen pflegte. »Ich habe mit dir zu reden.«

Das Mädchen ließ sich auf der Kante des hochlehnigen Stuhls ihm gegenüber nieder und goss sich mit leicht zittrigen Händen ein halbes Glas von dem Burgunder aus der Karaffe ein, die der Kaufherr stets für wichtige Kunden bereithielt. Das kostbare venezianische Glas fühlte sich schwer und kalt an. Magnus Sessenheimer stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen und legte die Fingerspitzen in einer Geste der inneren Sammlung und Konzentration aneinander. »Du bist nun fast siebzehn. Alt genug, um einem eigenen Haushalt vorzustehen. Deine Mutter ist allerdings der Ansicht, dass es dir noch ein wenig an Selbstzucht und Fleiß fehlt.« Magnus’ aschblonde Augenbrauen sträubten sich wie das Fell eines angriffslustigen Tiers.

»Ich werde mir alle Mühe geben, mich zu bessern«, murmelte Katharina pflichtschuldig und wartete darauf, dass er weitersprach. Wegen einer solchen Lappalie hatte ihr Vater sie sicher nicht herbefohlen. Frau Else, die Hausmutter, war absolut imstande, häusliche Probleme jeglicher Art zu bewältigen, ohne ihren Gatten mit entsprechenden Klagen zu belästigen. Katharina war oft genug mit knurrendem Magen zu Bett geschickt worden, um das zu wissen.

»Ich habe für dich ein überaus schmeichelhaftes Angebot bekommen.« Magnus Sessenheimer spitzte in der für ihn typischen Art die Lippen, als überlege er in letzter Sekunde, wie viel er seiner Tochter überhaupt anvertrauen sollte.

»Der ehrenwerte Aloysius Brettschneider hat bei seinem letzten Besuch Gefallen an dir gefunden!«, verkündete er dann. »Er legt Wert auf eine junge, gesunde Frau, die zugleich hübsch anzusehen ist. Und keiner kann bestreiten, dass du das bist«, fügte er mit einem Anflug väterlichen Stolzes hinzu.

»Ihr scherzt, Vater, er ist älter als Ihr!«, entfuhr es seiner Tochter ungläubig.

»Na und? Umso schneller wirst du eine wohlhabende Witwe sein. Er hat zugesichert, dich als Alleinerbin einzusetzen«, gab ihr Vater ungerührt zurück.

»Er stinkt wie ein alter Bock!«

»Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen. Ein Mann muss nicht wie ein Blumengarten duften. Das ist lächerlich«, sagte Magnus Sessenheimer. Sein zu einem Strich zusammengepresster Mund und die steile Falte über der Nasenwurzel signalisierten, dass es ratsamer war, keine weiteren Einwände vorzubringen.

Katharina schwieg, den Blick auf ihre im Schoß verkrampften Hände gerichtet. Natürlich war sie davon ausgegangen, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, dass sie heiraten und ihrem eigenen Hausstand vorstehen würde. Die angesehene Stellung der Familie Sessenheimer, die geschäftlichen Verbindungen ihres Vaters, eine gute Mitgift und nicht zuletzt ihre für Frauen ungewöhnlich umfassende Ausbildung machten sie zu einer erstrebenswerten Partie. Nicht nur, dass sie ohne jede Anstrengung lesen, schreiben und rechnen konnte – sie beherrschte auch fließend die französische Sprache, konnte lateinische Texte übersetzen und verfügte sogar über Grundkenntnisse in Geografie. Frau Else hatte sie gründlich, in Theorie und Praxis, in allen hausfraulichen Tätigkeiten unterwiesen. Obwohl Katharina Nadel und Faden hasste, konnte sie recht ordentlich sticken und nähen.

»Eine Hausmutter muss wissen, was sie vom Gesinde erwarten kann«, hatte Frau Else Katharinas Einwand, für diese Aufgaben seien andere da, abgewehrt und darauf bestanden, dass das Mädchen auch Zinnteller scheuerte, Leinen bügelte und einfache Gerichte zubereiten lernte. Wenn Katharina sich in letzter Zeit hier und da Gedanken über ihren zukünftigen Ehemann gemacht hatte, war der gesichtslose Schemen immer ein junger, freundlicher Mann gewesen, etwa wie ihr Freund seit Kindheitstagen, Severin Kannengießer. Einen solch gutmütigen Gatten würde man doch wohl ohne Weiteres überreden können, sie – zumindest in den ersten Jahren – auf seinen Reisen mitzunehmen! Erst beim letzten Neujahrsfest der Kaufmannsgilde hatte sie atemlos den Erzählungen einer selbstbewussten Frau gelauscht, die ihren Gemahl nach Venedig begleitet hatte. Das wollte sie auch! Und insgeheim hatte sie sich bereits ausgemalt, wie es sein würde: Ihr wunderbar aufregendes, neues Leben als verheiratete Frau!

Sie würde endlich selber über Geld verfügen können und nicht mehr gezwungen sein, Severin zu bitten, sie in das neue »Kaffeehaus zum Affen« auf der Zeil einzuladen. Und ihr Gatte würde ihr auch sicher nicht die Bitte abschlagen, den kostspielig illustrierten Bericht einer Reise zu den wundersamen Banda-Inseln, worauf Kannibalen die kostbaren Gewürznelken bewachen zu erstehen, die ein holländischer Händler während der letzten Buchmesse angepriesen hatte.

Katharinas Zukunftstraum zerplatzte wie eine Seifenblase. Sie konnte sich gut an den ehrenwerten Aloysius Brettschneider erinnern: einen kleinen, korpulenten Mann mit schütterem Haupthaar und grauem Spitzbart, dessen altmodische Kleidung von den Resten der letzten Mahlzeiten übersät war. Als sie ihm vorgestellt worden war, hatten seine Schweinsäuglein sie so ungeniert gemustert, dass sie später zu Severin sagte: »Ich bin mir vorgekommen wie ein Stück Vieh! Es fehlte nur noch, dass er mir ins Maul geschaut hätte!«

Damals hatte sie von Herzen die Magd bedauert, deren Aufgabe es war, seine Sachen zu reinigen.

»Und als Zeichen seiner Wertschätzung schickt er dir diesen Ring«, rief ihr Vater sie in die Wirklichkeit zurück, reichte ihr einen Beutel aus schwarzem Samt und sah erwartungsvoll zu, wie ihre fahrigen Finger ihn öffneten. Mit blinden Augen starrte sie auf den protzigen Ring aus Rotgold: Zwei Löwenpranken präsentierten einen taubeneigroßen, tiefblauen Saphir. Das grobschlächtig anmutende Schmuckstück war für eine bedeutend größere Hand, vermutlich eine Männerhand, angefertigt worden. Hilflos drehte sie ihn zwischen den Fingern.

»Ich lasse ihn umarbeiten. Gib her«, befahl ihr Vater und streckte gebieterisch die Hand aus. Als sie den Ring hineinlegte, spürte sie für einen Moment die trockene Wärme seiner Haut.

»Ein ausgesprochen großzügiges Verlobungsgeschenk«, stellte er zufrieden fest und drehte ihn so, dass er den Edelstein bewundern konnte. »Ein solches Blau ist sehr selten. Ich habe eine vergleichbare Färbung bisher nur ein einziges Mal bei einem Stein von der Insel Ceylon im indischen Ozean gesehen. Es heißt, sie seien so dunkel, weil die Sonne dort sie verbrennt.«

Er verstaute das Geschenk in der Innentasche seines Wamses und wandte sich wieder seiner Tochter zu.

»Noch etwas: Du wirst für ein paar Wochen zu deiner Tante Barbara nach Amsterdam reisen. Sie wird dich in der Führung eines größeren Haushalts, als es der unsere ist, unterweisen«, erläuterte er kurz und bündig. »Der gute Brettschneider ist es gewohnt, in Saus und Braus zu leben! Ich will nicht, dass du uns blamierst.«

Verblüfft sah Katharina auf. Im Hause Sessenheimer lebte man bescheiden. Weniger aus wirtschaftlicher Notwendigkeit als aus tiefer, innerer Überzeugung heraus, verabscheute ihr Vater seiner Ansicht nach vermeidbare Ausgaben. Darunter verstand er vor allem die Ausgaben für das Gesinde und »unnötigen Tand«. So hatte Frau Else den Mädchen zwar die nötigen Fertigkeiten einer Hausfrau vermitteln können, nicht aber die Anleitung und Kontrolle einer vielköpfigen Dienerschaft, wie sie in vergleichbaren Haushalten üblich war.

Tante Barbaras Lebensstil diente im Hause Sessenheimer im Allgemeinen als Synonym für Verschwendung. »Wir sind doch nicht in Amsterdam!«, hieß es etwa, wenn eines der Kinder einen Wunsch äußerte, der als extravagant angesehen wurde. So war Amsterdam in der Vorstellung von Katharina und ihren Geschwistern zu einer Art Schlaraffenland geworden, in dem Mandelbrot und süße Krapfen so alltäglich waren wie in Frankfurt die langweilige Mehlsuppe.

Tante Barbara war mit einem holländischen Kaufmann verheiratet, der mit einigen extrem glücklichen Beteiligungen an Fahrten der »Vereenigde Oostindischen Compagnie«, der VOC, unglaublich reich geworden war. Mit fast widerwilliger Bewunderung hatte Magnus Sessenheimer einmal geäußert, dass die Mitglieder dieser Handelsgesellschaft nur in aller Ruhe auf das nächste Schiff zu warten bräuchten. Beladen mit Muskatnüssen von den Banda-Inseln, Pfeffer von Sansibar und Nelken von den Molukken mehrte es den Reichtum des glücklichen Aktienbesitzers, ohne dass der dazu einen Finger krümmen musste.

Vor ein paar Jahren hatte die Tante zu Weihnachten einen prächtigen Ballen Brokatstoff geschickt, auf dem sich derart lebendig wirkende Drachen tummelten, dass die Kleinen sich fürchteten, ihn anzurühren. Dazu ein kostbares chinesisches Porzellanservice samt eines Kästchens Tee und der Anweisung, dass dieser wie Pfefferminze aufzubrühen sei. Als der Deckel geöffnet wurde, starrte alles befremdet auf die schwarzen, vertrockneten Brösel. Das sollte dieser sagenhafte Tee sein?

Magnus, der ihn als Einziger bereits getrunken hatte, erklärte, dass dieses Getränk in Holland mit Schmand und Rohrzucker versetzt werde und auf keinen Fall etwas für Kinder und Dienstboten sei. Dafür sei es zu kostbar, denn die wenig ansprechenden Krümel kämen aus einem Land, das am äußersten Rand der bekannten Welt läge. Frau Else übernahm höchstpersönlich die Zubereitung. Die dunkelbraune Brühe roch ähnlich wie Brennnesselsud, als sie sie in die hauchdünnen Tassen goss, und schmeckte so bitter, dass Johanna, die Einzige, die neben Katharina für alt genug befunden worden war, angeekelt das Gesicht verzog.

»Er ist sicher auf der langen Seereise verdorben«, hatte Magnus fachmännisch festgestellt. »Und dadurch schmeckt er völlig anders, als er eigentlich schmecken müsste.«

Der enttäuschende Inhalt des Kästchens wurde stillschweigend im Garten verstreut und in der zierlichen Kanne nur noch Magnus’ Lieblingsmischung aus Lindenblüten, Brombeerblättern und Holunder aufgebrüht. Vermutlich hatte Frau Else zu viele von den Bröseln zu lange im heißen Wasser ziehen lassen, vermutete Katharina, nachdem sie sich letztes Jahr im neu eröffneten Kaffeehaus von der Bedienung die Kunst der Teezubereitung hatte erklären lassen.

Der fantastische rote Brokat mit den goldenen Drachen war Magnus zu »heidnisch« gewesen, um sich daraus einen der in Mode gekommenen Morgenröcke schneidern zu lassen, den viele Herren auch tagsüber trugen. Er hing nun als Vorhang um das Ehebett und verlieh dem eher schlichten Raum eine unpassende Eleganz.

Ein kleines Stückchen davon hatte Katharina sich damals erbettelt, und sie bewahrte es bis heute in der Schatulle mit dem Schmuck ihrer Mutter auf. Mit der Zeit wurde ihr jede winzige Einzelheit der eingewebten Muster vertraut: die fremdartig anmutenden Häuser mit ihren geschweiften Dächern, die seltsamen Pflanzen, die an Schilf erinnerten, und die Blüten, die keiner der Vorlagen in ihrem Stickbuch glichen. Ob es Menschen gab, die in solch seltsamen Häusern lebten? Was aßen sie? Wie mochten die Gewänder aussehen, die aus solch prächtigen Stoffen gefertigt wurden? Und die wichtigste Frage: Existierten solche Tiere wirklich? Sie wirkten eher prachtvoll als unheimlich. Nicht wie die Illustrationen zu den Drachentöter-Geschichten, auf denen abstoßend hässliche Kreaturen dargestellt waren.

Unter anderen Umständen wäre Katharina begeistert von der Aussicht auf die Reise und den Aufenthalt bei ihrer Tante gewesen, während dem sie sicher Reisende treffen würde, die ihr auf ihre Fragen Auskunft geben könnten. So aber senkte sie nur den Kopf und wartete auf ihre Entlassung.

»Wie ich gehört habe, soll der junge Kannengießer in den nächsten Tagen ebenfalls rheinabwärts reisen«, sagte ihr Vater gedankenverloren, mehr zu sich selbst als zu ihr. »Das ist ausgesprochen günstig!« Mit diesen Worten entließ er sie.

Normalerweise hätte diese letzte, beiläufige Information Katharinas Neugier geweckt. Bisher hatte ihr Jugendfreund sich erfolgreich dagegen gewehrt, sein bequemes Zuhause mit staubigen Straßen und verwanzten Herbergen zu tauschen. Im Augenblick allerdings waren ihr Severins Beweggründe gleichgültig. Blind und taub gegenüber allem anderen und völlig gefangen in ihrem persönlichen Kummer, stieg sie mit gesenktem Kopf die breite Treppe in die Diele hinab. Sie wollte in den Obstgarten gehen, ihren heimlichen Zufluchtsort, doch um dorthin zu gelangen, musste sie die Küche im hinteren Teil des Hauses durchqueren. Einen Moment zögerte sie, weil deutlich zu hören war, dass sich dort Frau Else und die Köchin Berthe wieder einmal in den Haaren lagen. In der geräumigen Küche mit den Wandborden voller Steinzeug und Porzellan hielten sich drei Personen auf: Das neue Küchenmädchen Lise hockte auf der Schwelle zum Hof und rupfte ein Huhn, wobei es ständig nieste, weil ihr die Flaumfedern in die Nase gerieten.

Die alte Berthe, die schon zum Gesinde gehörte, solange Katharina sich erinnern konnte, blinzelte ihr zu und verkündete: »Es gibt Eure Lieblingsspeise, Jungfer Katharina. Einen anständigen Blamensier. Und ich habe ordentlich Safran hineingetan!« Sie warf den Kopf zurück, während sie in der sämigen Flüssigkeit aus Milch und Hühnchenfleisch rührte.

»Weißt du, was Safran derzeit kostet?« Die scharfe Frage kam von einer schwerfälligen Frau in einem dunkelblauen Kretonnekleid, die dabei nicht von dem Wirtschaftsbuch aufsah, das vor ihr auf dem sauber geschrubbten Küchentisch lag.

»Ich habe den Blamensier schon immer mit reichlich Safran gekocht«, gab Berthe störrisch zurück. »Der Herr mag ihn genau so und nicht anders!«

Katharina hoffte, dass ihre Stiefmutter zu sehr beschäftigt war und sie unbeachtet passieren lassen würde. Ihre Aufmerksamkeit schien völlig von den Zahlenkolonnen in Anspruch genommen zu sein. Die grauen Haarsträhnen unter der schlichten Haube, die welke Haut und die müden Augen ließen Frau Else alt und erschöpft aussehen. Zehn Schwangerschaften in fünfzehn Jahren forderten ihren Tribut. Berthe hatte Katharina erzählt, dass ihr Vater ehrlich um seine erste Frau getrauert hatte, als diese bei der Geburt von Katharinas jüngerem Bruder Johannes gestorben war. Aber das Leben musste weitergehen: Der Säugling brauchte eine Mutter, und sein Haus brauchte dringend eine Hausfrau. Und so hatte er eine junge Witwe geheiratet, deren Mann und Kind dem letzten Aufflammen der großen Seuche zum Opfer gefallen waren. Bereits ein knappes Jahr später war Katharinas älteste Stiefschwester Johanna zur Welt gekommen. Die junge Witwe, Frau Else, erwies sich als äußerst fruchtbar. Inzwischen bevölkerten sieben Stiefgeschwister das Haus, von denen im letzten Jahr bereits fünf das Schulzimmer mit Katharina und Severin geteilt hatten. Johannes und zwei weitere Kinder hatten ihr erstes Lebensjahr nicht überstanden.

Frau Else drehte den Kopf und kniff die Augen in der Art der Kurzsichtigen zusammen. »Du siehst nicht gerade glücklich aus », bemerkte sie. »Hast du etwa Bedenken, dass die Reise zu gefährlich ist? Ich dachte, du liebst das Abenteuer.«

»Es ist nicht die Reise ...«

»Welche Laus ist dir dann über die Leber gelaufen?«

»Eine alte, zweibeinige«, murmelte Katharina trübsinnig.

Die Köchin Berthe hörte auf zu rühren und erstarrte. Das Küchenmädchen ließ das Huhn sinken.

»Katharina Maria Barbara!« Frau Elses Stimme klang schrill vor Entrüstung. Fast ein stummes Vaterunser lang betrachtete sie ihre Stieftochter wie ein fremdartiges Insekt. »Das kommt davon, wenn man Mädchen zu viel lesen lässt«, sagte sie dann mehr zu sich selbst und nickte zur Bestätigung mit dem Kopf. »Sie wissen nicht mehr, was gut für sie ist.«

Katharina zögerte. »Nein«, widersprach sie und erschrak dabei fast über ihre Kühnheit, mit Frau Else einen Disput vom Zaun zu brechen. »Es ist ...« Sie stockte. Wie sollte sie ihr erklären, was sie empfand? Sie verstand es ja selbst nicht so ganz. Aber allein die Vorstellung, von den fetten, plumpen Fingern des alten Brettschneider berührt zu werden, ließ sie erschaudern.

Frau Else runzelte verständnislos die Stirn. »Es ist eine äußerst vorteilhafte Ehe. Dein Vater hat hart verhandelt. Du wirst nach dem Tod deines Gatten eine reiche und unabhängige Frau sein!«

»Er ist eklig!«

»Er ist nicht ekliger als andere Männer«, erwiderte Frau Else eine Spur bitter. »Du bist jung und stark – er ist alt. Du wirst ihn nicht allzu lang ertragen müssen.«

»Ich will ihn aber überhaupt nicht ertragen!«, stieß das Mädchen unbeherrscht aus.

»Katharina!« Indigniert musterte Frau Else sie. »Es ist bereits entschieden, spar dir also dein Maulen! Nimm den kleinen Korb und geh Pfirsiche holen. Und ich rate dir, deinen Vater nicht mit solch leichtfertigen Reden zu verärgern!«

Katharina knickste gehorsam aus schierer Gewohnheit, obwohl ihre Stiefmutter sich bereits wieder der auffallend hohen Rechnung für Rindertalg zugewandt hatte, griff sich den geflochtenen Weidenkorb, der am steinernen Spülstein neben den Behältern für Scheuersand und Zinnkraut bereitstand, und huschte an Lise vorbei ins Freie. Ihr Weg führte sie quer über den Hinterhof, der zur Straße hin von den Stallungen für die Pferde begrenzt wurde. Kühe und Schweine hielten sie nicht, da Magnus Sessenheimer den unvermeidlichen Gestank verabscheute. Also wurden die benötigten Molkereiprodukte jeden Morgen ins Haus geliefert. Fleisch kauften Frau Else und Berthe gemeinsam auf dem Markt ein.

In der Mitte des gepflasterten Gevierts stand der Hausbrunnen, dessen Wasser mit einem sorgfältig konstruierten Dach sowie einem abschließbaren Holzdeckel vor dem Miasma aus der Luft und aus dem Regen geschützt wurde. Die Vorsichtsmaßnahmen gingen auf die Zeit der Seuche zurück, die den Älteren noch in schrecklicher Erinnerung war. Auch im Hause Sessenheimer waren ihr viele erlegen: Magnus’ Mutter und zwei seiner Geschwister, die Kindsmagd, ein Laufbursche und der Pferdeknecht.

Jemand hatte damals die Theorie entwickelt, dass das schädliche Miasma aus der Luft sich in einem Brunnenschacht sammeln konnte und dadurch das Wasser vergiftet würde. Also hatte man alles versucht, um das Wasser vor dieser Verunreinigung zu schützen. Inzwischen war man wieder nachlässiger geworden – der Deckel war halb zur Seite geschoben. Automatisch rückte Katharina ihn zurecht.

Hinter dem Geviert erstreckte sich ein erstaunlich geräumiger, von einer hohen Mauer umschlossener Garten. Nur wenige alteingesessene Familien besaßen noch ein solch großes Stück Land innerhalb der Stadtmauern. Katharinas Großvater, ein leidenschaftlicher Pflanzensammler, hatte ihn ursprünglich als Lustgarten anlegen lassen. In der Zeit des Tulpenwahns hatte er mit ausgefallenen Exemplaren ein hübsches Vermögen gemacht. In den Notzeiten des großen Krieges, in denen die Versorgung der Stadtbevölkerung aus dem Umland immer schwieriger geworden war, waren Rüben und Hülsenfrüchte anstelle der Blumen getreten.

Nur in einer Ecke hütete der alte Gärtner Georg noch ein paar der einstigen Prachtexemplare: zwei gefüllte, herrlich duftende Päonien, zwei Damaszener-Rosensträucher, einige bunte Tulpen und Lilien und das damalige Prunkstück: In einem Holzkübel stand das imposante indische Blumenrohr, dessen leuchtend rote Blütenstände vom Hochsommer bis weit in den Herbst hinein die Blicke der Besucher auf sich zogen.

In den säuberlich eingefassten Gemüsebeeten wuchsen verschiedene Sorten Gemüse und in einem speziellen, von ordentlich beschnittenem Buchsbaum umgebenen Bereich sogar das italienische Basilikum, das der Hausherr besonders schätzte.

Der Obstgarten, in dem zahlreiche Hühner nach Würmern scharrten, lag am weitesten vom Haus entfernt. Katharina folgte dem Trampelpfad zwischen den Apfel-, Zwetschgen- und Birnbäumen. Die Äste hingen voller Früchte. In den nächsten Tagen müssten sie gepflückt und für die weitere Verarbeitung gedörrt oder zu Mus gekocht, entsteint und in Stücke geschnitten werden. Eine Arbeit, die Katharina nicht besonders schätzte, aber Frau Else ließ keine Ausrede gelten. Jede Hand wurde gebraucht, auch wenn danach die Haut wie in Welschnuss-Sud getaucht aussah.

Am Ende des Pfads, durch die Mauer vor den gefährlichen Nordwinden geschützt, standen die empfindlichen Kirsch- und Pfirsichbäume. Und direkt vor dem Spalier mit dem kostbaren, rotfleischigen Weinbergpfirsich stand eine Rasenbank, auf die sie sich seit ihrer Kindheit zu flüchten pflegte.

Diesmal war ihr jemand zuvorgekommen. Ein junger, modisch gekleideter Mann saß bereits darauf und schien gebannt auf seine Füße zu starren. Seine normalerweise sorgfältig gepflegten blonden Locken standen ihm wirr vom Kopf ab, und er sah ungewöhnlich blass aus.

»Severin! Was machst du hier?«, fragte ihn Katharina überrascht.

»Was für eine Begrüßung! Das Gleiche könnte ich dich fragen«, gab er mürrisch zurück, rückte aber beiseite, um ihr Platz zu machen.

»Es ist etwas Grässliches geschehen!« Katharina sah ihn Mitleid heischend an.

Der dramatische Ausruf hatte seine Wirkung verfehlt. Ihr Freund schnaubte nur leicht durch die Nase und fragte wenig anteilnehmend zurück: »Hat dich die Stubenratte wieder einmal angeschwärzt?«

Katharinas fünfzehnjährige Halbschwester neigte zu Frömmelei und nutzte jede Gelegenheit, unter dem Vorwand christlicher Verantwortung die Verfehlungen und unbedachten Äußerungen der Älteren der Mutter zu berichten. Wie alle Nachkommen von Frau Else war auch Johanna von wenig ansprechendem Äußeren. Katharina fand, dass sie mit ihrer spitzen Nase, den tief liegenden hellblauen Augen und dem fliehenden Kinn einer Ratte täuschend ähnlich sah. Wenn sie mit Severin allein war, sprachen sie nur von der »Stubenratte«.

Die beiden Halbschwestern verabscheuten sich von Herzen. Den übrigen Halbgeschwistern stand Katharina eher wohlwollend bis gleichgültig gegenüber. Keinem von ihnen brachte sie jedoch die vertrauliche Zuneigung entgegen, die sie mit Severin verband.

»Nein, diesmal nicht ... Stell dir vor, ich soll heiraten!«

»Wieso findest du das auf einmal so furchtbar? Ich dachte, du warst schon langsam ungeduldig, unter die Haube zu kommen.«

»Da habe ich nicht gewusst, welchen Mann mein Vater für mich ausgesucht hat!« Nun hatte sie doch seine volle Aufmerksamkeit. Gespannt wartete er darauf, dass sie weitersprach.

»Ich soll Aloysius Brettschneider heiraten!«

»Wer ist das?«

»Ein Geschäftsfreund meines Vaters. Du kennst ihn doch auch. Er handelt vor allem mit Heidnischwerk ...«

Severin krauste die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann schien er sich zu erinnern. »Wenn er der ist, an den ich denke, ist er ein guter Fang. Was hast du gegen ihn?«

»Er ist uralt, und er stinkt!«, entgegnete Katharina aufgebracht.

»Na und?«, sagte ihr Freund und starrte sie verständnislos an.

»Ich möchte einen jungen Mann! Einen, der nett anzusehen ist und mit dem ich in fremde Städte reisen kann!«

»Ach, das ist es wieder!« Severin klang erleichtert, weil er endlich zu verstehen glaubte, was Kathi bedrückte. Der alte, etwas gebrechliche Handelsherr hatte schon seit vielen Jahren sein bequemes Heim kaum noch verlassen. Und wenn er sich doch dazu aufraffte, dann nur, um alte Freunde wie Magnus Sessenheimer zu besuchen. Natürlich war das für Kathi ärgerlich, die immer gehofft hatte, durch eine Ehe endlich der Enge ihrer Heimatstadt zu entkommen. Aber es würde nicht lange dauern. Der alte Mann war bei schlechter Gesundheit, das war allgemein bekannt.

»Du wirst bald Witwe sein«, sagte er aufmunternd, »und dann kannst du tun und lassen, was du willst. Wenn du möchtest, kannst du dir sogar ein eigenes Schiff kaufen und zu den Gewürzinseln segeln!«

»Ja, und Schweine können fliegen!«, fuhr sie ihn an. »Ich bin doch kein Kind mehr, das man mit solchen Geschichten aufmuntert! Was ist das eigentlich für ein Brief, den du da fortwährend anstarrst?«

»Hier – lies selbst«, sagte Severin und reichte ihr das fleckige, zerknitterte Papier mit dem gebrochenen Siegel. In dem leuchtenden Zinnoberrot waren ein M und ein anderer Buchstabe, vielleicht ein L oder P, zu erkennen. Die flüchtige Schrift, die den Bogen nur zur Hälfte bedeckte, strahlte trotz der Sorglosigkeit, mit der die Buchstaben auf das Papier gekritzelt worden waren, eine Art Autorität aus. So, als bezweifle der Schreiber keinen Augenblick, dass seine Anweisungen unverzüglich befolgt würden.

Bereits nach den ersten Zeilen sah sie auf und sagte: »Du Glückspilz! Wie ich dich beneide!« Der Seufzer, den sie von sich gab, klang so ehrlich, dass der junge Mann trotz seiner niedergeschlagenen Miene schmunzeln musste.

»Das glaube ich dir sofort«, erwiderte er trocken. »Es ist wirklich schade, Kathi, dass du kein Mann bist. Dann könntest du an meiner Stelle gehen!«

Das Mädchen neben ihm auf der Rasenbank riss ungläubig die Augen auf. »Freust du dich denn gar nicht?«

»Nein«, sagte er schlicht und starrte weiterhin betrübt auf den Boden zu seinen Füßen. »Ich hatte gehofft, dass Vetter Martin mich vergessen hätte. Schließlich hat er seit vier Jahren nichts von sich hören lassen.«

Martin Liebau, ein entfernter Verwandter von Severins Mutter, war damals auf der Durchreise zu einer italienischen Universität gewesen, und anlässlich dieses familiären Pflichtbesuchs hatte er Severins Mutter in Aussicht gestellt, ihren Sohn als Adjunkt mitzunehmen, wenn er danach eine Anstellung als Arzt bei der holländisch-ostindischen Kompanie in Übersee erhalten würde. Niemand, am wenigsten Severin selbst, hatte das damals ernst genommen. Aber offenbar hatten sie alle Martins Zielstrebigkeit unterschätzt. Aus dem knapp formulierten Brief ging hervor, dass er sich für die nächsten drei Jahre »nach Japonn« verpflichtet hatte und Severin bis zum Ende des nächsten Monats in Amsterdam erwartete.

»Wo liegt dieses Japonn überhaupt? Ich kann mich nicht erinnern, dass Monsieur Beauvais es einmal in einer Unterrichtsstunde erwähnt hätte.«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich am anderen Ende der Welt.« Severin war derzeit offensichtlich völlig desinteressiert an Geografie.

»Ist deine Mutter denn einverstanden, dass du für so lange Zeit fortgehst?« Irgendwie konnte Katharina sich nicht vorstellen, dass Severins Mutter den vergötterten Sohn freiwillig aus ihrem Einflussbereich entlassen würde.

»Und ob!«, sagte Severin verbittert und kniff die Lippen zusammen. »Sie hält es für einen Wink des Himmels und erwartet von mir, dass ich mit einem Vermögen zurückkomme. Keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen soll!« Er lachte gequält auf. »Für sie ist nur wichtig, dass unsere Truhen wieder gut gefüllt sind! Du weißt, seit Vater nicht mehr bei uns ist ...«, er hielt inne und vergrub in einer Geste der Verzweiflung sein Gesicht in den Händen.

Severins Vater war vor einigen Jahren an einer missglückten Blasensteinoperation gestorben. So lange wie möglich hatte er sich dagegen gewehrt, weil ihm nur zu bewusst war, wie gering die Erfolgschancen waren. Am Ende hatte Frau Agnes sich durchgesetzt, und eine Woche später war er, einer Blutvergiftung erlegen. Der hilflose Arzt hatte sich alle Mühe gegeben, den angesehenen Patienten zu retten, aber Klistiere und Aderlässe waren stumpfe Waffen gegen das Gift, das sein immer noch starkes Herz durch den Körper pumpte. Frau und Sohn waren wohlversorgt zurückgeblieben, doch die Witwe hatte sich als nicht sehr geschäftstüchtig erwiesen.

»Ich denke, dein Vater hätte auch gewollt, dass du gehst«, bemerkte Katharina, wie immer schonungslos offen. »Nicht wegen des Geldes, aber er hat sich immer gewünscht, dass du dich mehr für den Handel als für deine Laute interessierst.«

Dann blieben beide für eine Weile stumm. Severin zupfte grimmig die Blütenblätter von einer Margerite – seine fein gemeißelten Gesichtszüge ähnelten im Ausdruck einem zürnenden Erzengel –, und Katharina nagte mit nachdenklich gekrauster Stirn an einem Apfel. Sie waren vertraut genug miteinander, um das Schweigen nicht als unangenehm zu empfinden.

Ihre Väter waren nicht nur Geschäftspartner, sondern auch sehr eng befreundet gewesen. Und deswegen hatte Katharinas Vater dem Drängen des Freundes Kannengießer einst nachgegeben und einem gemeinsamen Privatlehrer der beiden Familien zugestimmt. Der Lehrer, den sie dafür anstellten, war ein Hugenotte, der in einem Kokon aus Melancholie zu existieren schien. So überwältigend war die traurige Ausstrahlung, dass die Kinder in seiner Gegenwart sprachen, als befände sich ein Schwerkranker im Zimmer. Aber er verfügte über eine profunde Bildung, von der seine Schüler mehr profitierten, als es ihnen zu diesem Zeitpunkt bewusst war.

»Wenn du nicht reisen willst, könnte ich mich ja wieder als Junge verkleiden und an deiner Stelle gehen«, schlug Katharina leichtfertig vor und warf das säuberlich abgenagte Kerngehäuse des Apfels zielsicher auf eine Krähe, die zwischen den Obstbäumen nach Nahrung suchte. Mit empörtem Kreischen flatterte der Vogel außer Reichweite. »Dein Vetter erinnert sich bestimmt nicht mehr an dich!«

Severin starrte sie ungläubig an. Er war es gewöhnt, dass ihre Fantasie oft seltsame Blüten trieb, aber das ging nun doch zu weit.

»Blödsinn«, stellte er lakonisch fest. »Das kannst du nicht ernst meinen! Du magst für ein paar Stunden meine alten Kleider tragen und die Leute täuschen können – aber hier geht es um Jahre! Außerdem haben bei dem letzten Schweinerennen einige Händler sehr seltsame Bemerkungen gemacht ...« Er schwieg vielsagend.

»Das war doch nur, weil mein Haar zwei Handbreit zu lang ist! Ich könnte es einfach abschneiden.«

»Es sind nicht nur die Haare ...« Severin stockte und errötete bis über beide Ohren. War es Kathi denn nicht selber aufgefallen, dass sein altes Wams inzwischen gefährlich über ihren Brüsten spannte?

Katharina war seinem Blick gefolgt. »Ich könnte sie flachbinden. Und ich schmiere mir etwas Dreck ins Gesicht, dann sieht man nicht, dass ich keinen Bart habe.«

Ungehalten über ihre Halsstarrigkeit schüttelte Severin den Kopf. »Du solltest die Menschen nicht für dümmer schätzen, als sie sind, Kathi!« Unter dem spöttischen Blick aus ihren wachen, haselnussbraunen Augen fügte er hinzu: »Ich weiß auch, dass du besser mit dem Stock fechten und schneller laufen kannst als ich. Aber das reicht nicht.«

»Und ich vertrage mehr Bier! Vergiss das nicht!«, entgegnete sie gespielt ernsthaft. Gleich darauf lachte sie auf und stieß ihn freundschaftlich in die Seite. »Schon gut, aber ich bin trotzdem überzeugt, dass es mir gelingen würde! Wenigstens, bis wir so weit entfernt sind, dass sie mich nicht mehr zurückschicken können!«

Sie seufzte sehnsüchtig und wand eine dunkelbraune, glänzende Locke aus der zerzausten Masse, die ihr notdürftig gebändigt über den Rücken fiel, um den Zeigefinger. »Ich würde alles dafür tun, diese fremden Länder zu sehen! Warum nur bin ich kein Mann?«

Severin war diese Klage vertraut genug, um sie stillschweigend zu übergehen. Katharinas herzförmiges Gesicht, ein Erbe ihrer verstorbenen Mutter, verzog sich in einer Grimasse des Ärgers. Noch waren die Züge kindlich weich, aber besagtes Kinn und ein entschlossener Zug um den wohlgeformten Mund verrieten starke Willenskraft, ja sogar Eigensinn.

»Hättest du denn keine Angst?«, fragte er eine Spur beschämt, weil seine abenteuerlustige Freundin so viel mutiger war als er. »Diese schrecklichen, endlosen Meere voller Ungeheuer, über die man segeln muss – und das ist ja erst der Anfang!«

Als bei Monsieur Beauvais von Magellans, Vasco da Gamas und Kolumbus’ Reisen die Rede gewesen war, hatte er ihnen zur Untermalung der Schilderungen diverse Holzschnitte und Kupferstiche gezeigt, die bei Severin einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hatten. Besonders deutlich erinnerte er sich an ein schreckliches Bild, auf dem ein riesiger Fisch ein ganzes Schiff verschlang. Seine Zähne waren genauso groß, wie die daneben winzig erscheinenden Menschen, die an der Reling stehend entsetzt die Arme zum Himmel hoben. Welch ein grässlicher Tod, hatte er sich damals gedacht. Katharina dagegen hatte nur interessiert gefragt, wie lange eine solche Mahlzeit wohl vorhielte und ob es möglich sei, dass der Fisch sich an den Masten und Rahen verletzte und zugrunde ginge.

Monsieur Beauvais’ unergründlicher Blick hatte lange auf ihr geruht. Dann hatte er ihnen, sanft wie es seine Art war, erklärt, dass nicht alles, was auf Bildern dargestellt wurde, tatsächlich existierte.

»Dann gibt es solche Riesenfische gar nicht? Und Seeschlangen und vielarmige Ungeheuer auch nicht?«, hatte Katharina wissen wollen. Die Enttäuschung war ihr anzumerken gewesen.

»Eine schwierige Frage«, hatte Monsieur Beauvais bedachtsam geantwortet. »Jeder weiß, wie eine Kuh aussieht, dass sie frisst und schläft und im Sommer Milch gibt. Wer aber, dessen Wort wir vertrauen können, hat jemals mit eigenen Augen einen Riesenkraken gesehen?«

»Was ist das für ein Tier? Gibt es davon Bilder?«, hatte Katharina nachgehakt.

Monsieur Beauvais hatte aus dem Bücherstapel auf seinem Pult einen in grünes Leder gebundenen Band mit dem in vergoldeten Lettern eingeprägten Titel Cosmographie hervorgezogen, ihn auf einer bestimmten Seite geöffnet und diese seinen Schülern gezeigt. Dabei hatte er jedoch darauf geachtet, dass die beiden Jüngsten, die mit Schreibübungen beschäftigt waren, nicht hineinsehen konnten.

Erschreckt waren die Kinder aufgefahren. Katharinas damals dreizehnjährige Stiefschwester Johanna und der elfjährige Theodor hatten ängstlich die Finger vor die Augen geschlagen, während die zehnjährige Regina unter dem Schreibpult Schutz gesucht hatte. Und auch Severin, der dem Lehrer am nächsten saß, hatte all seine Selbstbeherrschung zu Hilfe nehmen müssen, um gelassen zu erscheinen.

Das massive Handelsschiff auf dem sorgfältig ausgearbeiteten Kupferstich wirkte wie ein Spielzeug hinter einem Ungetüm, dessen riesige Augen über dem aufgetrieben wirkenden, formlosen Leib den Betrachter anzuglotzen schienen. Aber das Unheimlichste waren die zahllosen Schlangen oberhalb der Augen, die an ein Medusenhaupt erinnerten und sich um die Masten des Schiffes schlangen. Der Künstler hatte den Augenblick so gewählt, dass der Segler kurz davor war, von dem Untier in die Tiefe gerissen zu werden.

»Das also ist ein Riesenkrake?«, hatte Katharina gefragt. Sie schien in Severins Augen weniger abgestoßen, als fasziniert gewesen zu sein. »Ein seltsames Tier: Man kann nicht einmal unterscheiden, wo vorne und hinten ist! Wie frisst es denn?«

»Wenn es ähnlich gebaut ist wie seine kleinen Verwandten, dann hat es eine Art Schnabel zwischen den Schlangenarmen, mit dem es seine Beute zerkleinert.«

Severin hatte hart geschluckt und gehofft, dass die morgendliche Gerstengrütze an ihrem momentanen Aufenthaltsort blieb. Wie konnte man nur so leichtsinnig sein, sich solchen Gefahren auszusetzen? In seiner Vorstellung hörte er das Knirschen, mit dem die Masten zersplitterten, die Schreie der Seeleute, die vergeblich um himmlischen Beistand flehten. Nein, Severin Kannengießer hatte nicht das geringste Bedürfnis, sich Auge in Auge mit einem Riesenkraken wiederzufinden. Er wurde schon ganz krank, wenn er nur daran dachte!

»Kommt es oft vor, dass sie Schiffe angreifen?«, hatte Kathi sich erneut zu Wort gemeldet und mit schief gelegtem Kopf die Abbildung betrachtet.

»Das weiß ich nicht, Katharina. Wenn ein Schiff verschwindet, kann es vielen Gefahren zum Opfer gefallen sein: Riesenkraken, Seeschlangen oder Stürmen mit Wellen, so hoch wie Kirchtürme ...«

»Wellen, so hoch wie der Turm des Doms?« In offener Skepsis hatte das Mädchen die Augenbrauen hochgezogen. »Das kann ich mir nicht vorstellen!«

Und Monsieur Beauvais hatte nachsichtig geseufzt. »Ich fürchte, es gibt sehr vieles, das du dir nicht vorstellen kannst«, hatte er zu bedenken gegeben und das Buch zugeklappt. »Manches muss man mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben.«

Severin hatte damals den flüchtigen Eindruck gehabt, dass ihr Lehrer damit nicht auf die Ungeheuer aus den unergründlichen Tiefen der Meere anspielte, aber er war zu jung und zu schüchtern gewesen, um nachzufragen.

»Nein«, sagte Katharina entschieden und schüttelte dabei energisch den Kopf, »vor dem Tod habe ich keine Angst. Sterben müssen wir alle – so oder so.« Sie seufzte tief. »Aber ich möchte vorher noch das Meer sehen, die Bäume, auf denen Pfeffer und Nelken wachsen, und ich würde zu gerne wissen, ob es tatsächlich gelbe Menschen gibt.«

»Und Seeschlangen und Riesenkraken ...«, fügte Severin halb scherzhaft hinzu, weil die Sehnsucht, die in ihrer Stimme durchschimmerte, ihm bedenklich schien.

»O ja, vor allem diesen Riesenkraken!« Der Ablenkungsversuch war erfolgreich. Katharina kicherte übermütig. »Weißt du noch, wie wir damals versucht haben, einen Fischhändler zu finden, der uns einen kleinen Kraken mitbringt?«

Das durchdringende Läuten der Vesperglocke und das Blöken der Schafe, die zur Nacht vom Gemeindeschäfer in die Stadt getrieben wurden, holten die beiden in die Gegenwart zurück.

»Hilfst du mir, Pfirsiche zu pflücken?«, fragte sie und sprang auf.

»Tut mir leid, geht nicht, ich muss mich sputen. Ich habe Mutter versprochen, sie in den Abendgottesdienst zu begleiten.«

»Dieser neue Pastor ist mir unheimlich«, sagte Katharina und zog eine Grimasse. »Er starrt einem immer so ins Gesicht, dass ich das Gefühl bekomme, er könne meine Gedanken lesen!«

Severin lachte auf. »Es wäre fatal, wenn er das wirklich könnte! Sei froh, dass es bei uns keine öffentliche Beichte sündiger Gedanken und Taten gibt, wie bei den strengen Gemeinschaften«, sagte er schmunzelnd. »Jemand wie du wäre vom Morgengrauen bis zur Abendandacht mit Bußübungen beschäftigt!«

Der Brief verschwand in seinem Ärmelaufschlag, und Severin huschte durch das schmale Tor. In Gedanken verloren machte Katharina sich daran, den Korb zu füllen. Wenn sie Severin nur überreden könnte, sie auf die Reise ins ferne Japonn mitzunehmen!

KAPITEL 2

Rheinabwärts

Magnus Sessenheimers Abneigung gegen unnötige Ausgaben war es auch, die zwei Wochen später dazu führte, Maria Sibylla Merian Plätze auf seinem Lastkahn anzubieten. Zufällig hatte er erfahren, dass die bekannte Malerin und Insektenforscherin eine günstige Reisemöglichkeit suchte. Sie war zur Erledigung dringender Geschäfte in ihrer Geburtsstadt gewesen und wollte nun möglichst rasch zurück nach Amsterdam. Normalerweise schickte er auf diese Weise Weinfässer aus Österreich und Ungarn flussabwärts nach Köln. Es bot sich an, seine Tochter Katharina und den jungen Kannengießer auf die gleiche Art und Weise reisen zu lassen. Der Wasserweg war schneller und angesichts der sich mehrenden Berichte über französische Überfälle auf deutsche Gebiete sicherer.

Das Angebot, Frau Merian und ihre Tochter Dorothea bis Köln umsonst mitzunehmen, ersparte es ihm, einer weiblichen Begleitperson die Rückreise nach Frankfurt zahlen zu müssen. Außerdem kannte die Person sich in Amsterdam aus und hatte versprochen, dafür Sorge zu tragen, dass seine Tochter Katharina sicher zum Haus ihrer Tante gelangte. Magnus, der vor einigen Jahren das letzte Mal in der aufstrebenden Hafenstadt gewesen war, hatte damals das Durcheinander der Grachten ausgesprochen verwirrend gefunden.

Und so sollten an diesem neblig-kalten Septembermorgen nicht nur die Jungfer Katharina Maria Barbara Sessenheimer und der Junker Severin Kannengießer den stabilen Oberländer Kahn besteigen, sondern auch eine in schwarze holländische Calvinistentracht gekleidete Frau und ein dürres, etwa dreizehnjähriges Mädchen. Die beiden standen bereits geduldig wartend am Schaumainkai, als die kleine Prozession, bestehend aus dem Frankfurter Kaufherrn, seiner Tochter, Severin und vier Trägern mit schweren Reisekisten, sich näherte. Magnus hatte es sich nicht nehmen lassen, seine älteste Tochter persönlich zur Schiffslande vor dem südlichen Stadttor zu begleiten. Zudem konnte er sich dabei gleich überzeugen, dass die Fässer mit dem mitgeführten teuren Tokajerwein aus Ungarn ordentlich verstaut worden waren.

Außer einigen träge vor sich hindümpelnden Lastkähnen, ähnlich dem, der für sie bereitlag, schaukelte ein paar Schiffslängen flussaufwärts, beinahe majestätisch, eines der neuen Passagierschiffe im schlammigen Mainwasser. Sehnsüchtig glitten Katharinas Augen über die luxuriöse Novität. Zu gerne wäre sie auf einem dieser Riesenschiffe statt auf dem langweiligen Lastkahn gereist. »Schlag dir das aus dem Kopf!«, hatte ihr Vater sie beschieden. »Es mag ja sein, dass sie nur noch neun Stunden bis Mainz brauchen, aber das rechtfertigt nicht die exorbitanten Preise.«

Die Kosten hatten auch Severin, der sich anfangs dagegen gesträubt hatte, »auf Weinfässern hockend den Rhein hinunterzuschwimmen«, dazu bewogen, auf Magnus’ Angebot einzugehen. Die kleine Reisegruppe würde also bis Köln gemeinsam mit den Weinfässern reisen und erst dort auf eines der holländischen Schiffe wechseln.

Neugierig musterte Katharina beim Näherkommen die unscheinbare Frau. Das also war die berühmte Frau Merian, deren Bücher Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, Teil 1 und 2, solches Aufsehen erregt hatten, dass sogar ihr sparsamer Vater zwei kolorierte Exemplare erworben hatte! In der Schulstube hatten sie sie unter Monsieur Beauvais’ Aufsicht anschauen dürfen. Im Gegensatz zu Severin, der fasziniert von den kunstvollen Stichen zu eigenen Forschungsversuchen angeregt worden war, hatte Katharina an den unscheinbaren Tieren rasch das Interesse verloren. All die Mühe mit den richtigen Futterpflanzen für die hässlichen Würmer, nur um am Ende ein langweiliges, mausgraues Mottenvöglein aus dem Dattelkern schlüpfen zu sehen? Katharinas Meinung nach war das pure Zeitverschwendung. Wenn sie Severin zu seinen Fanggebieten am Mainufer begleitete, wo er auf der Suche nach seltenen und interessanten Exemplaren in den Büschen umherkroch, saß sie am Wasser und träumte davon, auf einem der Boote mitzufahren. Flussabwärts, bis sie das Meer erreichte, und weiter, viel weiter.

Seit Severin ihr heimlich die Bände der Happelschen Wochenzeitung in den Garten brachte, hatte ihre Fantasie reichlich neue Nahrung gefunden. Kein Wunder, dass Magnus Sessenheimer dieses Konglomerat wissenschaftlicher Berichte und farbiger Schilderungen diverser Wunder der Natur mit dem anspruchsvollen Titel Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes Curiosae nicht in seinem Haus duldete! Die Beschreibung des großen Mahlstroms bei den norwegischen Lofoteninseln hatte Katharina in seiner Eindringlichkeit begeistert und Severins Ängste ins Unermessliche gesteigert.

»Wenn die Flut am höchsten ist«, hatte Katharina halblaut gelesen, »so beginnt dieser Wirbel sich mit einer erschreckenden Gewalt herumzudrehen, indem sich nämlich der Strom an den zahlreichen Felsen unter dem Wasser zerspaltet und das Wasser mit sich zieht, bis es mitten in dem großen Loch mit einem ungeheuren Geräusch in den Abgrund versenkt wird. Und man kann dieses erschreckende Brausen ebenso bei stillem Wetter als bei stürmischer Luft nicht ohne Entsetzen hören. Kein Schiff, wie groß es auch immer sein mag, kann seiner Gewalt, wenn es ihm zu nahe kommt, entgehen. Es wird vom wirbelnden Strom ergriffen, etliche Mal in einem Kreis herumgeschleudert und endlich in das große Trichterloch gestürzt. Das eingesogene Wasser speit der Riesenwirbel nach einiger Zeit wieder aus, höher hinauf als jede Mastspitze ...«

»Bitte, lies es stumm und erspare mir weitere Einzelheiten«, hatte der sichtlich bleiche junge Mann Katharina unterbrochen. »Ich möchte gar nicht mehr darüber wissen.«

»Wieso kaufst du dir das Journal, wenn du dich nicht dafür interessierst?«

»Wegen der wissenschaftlichen Nachrichten«, hatte er gekränkt erwidert. »Wenn du drei Seiten weitergeblättert hättest, wärst du zu einem faszinierenden Bericht über die Samentierchen in Hasen und Heringen gekommen, die dieser Leeuwenhoek mit seinem neuesten Mikroskop gesehen hat. Ich würde mir zu gerne ein solches Gerät kommen lassen und selber versuchen, Samentierchen zu finden!«

Manchmal hatte Severin wirklich seltsame Wünsche!

»Einen gesegneten, guten Morgen! Und nochmals vielen Dank für Eure Freundlichkeit«, sagte Frau Merian mit leiser, sanfter Stimme und knickste vor dem Kaufherrn. »Meine Tochter Dorothea und ich sind Euch überaus dankbar für die großherzige Einladung!«

»Guten Morgen. Man tut, was man kann«, brummte Magnus eine Spur irritiert, nickte der schmächtigen Dorothea beiläufig zu und wandte sich an Severin. »Kannengießer, ich verlasse mich auf Euch, dass Ihr ein Auge auf die Frauen habt. Und auf die Fässer. Die Franzosen sollen wieder die Rheinufer plündern.«

Severin nickte mannhaft, obwohl nicht klar war, was er allein gegen einen Trupp Soldaten ausrichten sollte. Zwar war der Kahn mit zwei Musketen ausgestattet, doch konnte die eher dürftige Bewaffnung allenfalls vereinzelte Wegelagerer abschrecken, von denen sich stets welche in der Umgebung von Handelswegen herumtrieben. Und sein zierlicher Kavaliersdegen diente mehr der modischen Erscheinung, als dass er entschlossene Angreifer damit hätte in Schach halten können.

Während der Kaufherr kritisch die Vertäuung seiner kostbaren Weinfässer inspizierte, machten sich die drei Frauen miteinander bekannt. Katharina war ein wenig enttäuscht über die schlichte Erscheinung der »Merianin«, wie sie sich neuerdings wieder nannte. Eine Frau, von der man munkelte, sie hätte jahrelang mit ihren Töchtern bei den Labadisten in Friesland Zuflucht vor ihrem Ehemann gesucht und damit die Trennung von ihm erzwungen, hatte sie sich deutlich selbstbewusster vorgestellt. Ob ihre Geschäfte in Frankfurt etwas damit zu tun gehabt hatten, dass sie nun doch ihr Bürgerrecht dort aufgegeben hatte, um ganz als Holländerin zu leben? Eitel schien die berühmte Frau jedenfalls nicht zu sein. Der einfache schwarze Wollumhang, die schlichten Schuhe, das Fehlen auch des kleinsten Schmuckstücks zeugten von ihrer pietistischen Einstellung.

Das kleine, magere Mädchen lächelte Katharina schüchtern an und knickste tief. »Guten Morgen, Jungfer Sessenheimer«, sagte es leise und beugte sich dann vor, um andächtig mit den Fingerspitzen den schimmernden, dunkelblauen Samt von Katharinas neuem Kleid zu berühren.

»Wunderschön! So zart wie das Federkleid des großen Sommervogels aus Surinam in Mijnheer van Aerssens Salon, den Mutter gemalt hat.«

»Ihr malt wieder?«, fragte Severin erfreut.

»Ja, Mijnheer.« Besonders gesprächig schien die Merian nicht zu sein.

»Und ich helfe ihr dabei, Mijnheer!« Dorothea klang so stolz, dass Severin lächeln musste.

»Lass den Mijnheer. Du kannst mich Severin nennen. Lebt ihr denn jetzt ganz in Amsterdam?«

Dorothea nickte. »Wir handeln in der Vijzelstraat mit Farben und kolorierten Stichen. Ich darf schon alle Blätter malen und einfache Sommervögel! In einigen Jahren werde ich so gut sein wie meine Schwester Johanna. Dann werde ich auch Malaufträge bekommen und reich werden.« Der letzte Satz endete in einem sehnsüchtigen Seufzer.

»So Gott will, aber ›Patiencia ist ein gut Kräutlein‹, Dorothea!«, warf die sanfte Stimme ihrer Mutter ein. »Sobald die Sonne den Nebel vertrieben hat, werdet Ihr die Fahrt genießen«, fügte sie aufmunternd an Katharina gewandt hinzu, als sie bemerkte, dass diese vor Kälte und Nervosität zitterte. »Mit dem Boot zu fahren ist sehr viel komfortabler als mit dem Wagen. In Holland benutzt man fast nur Boote.«

»Treckschuten. Ich habe darüber gelesen«, sagte Severin und nickte geschäftig. Dabei beäugte er den Lastkahn mit spürbarem Missfallen. »Sie fahren nach Plan, sogar nachts, wechseln alle zwei Stunden die Treidelpferde, und man kann auf ihnen ohne Bedenken in Gesellschaftskleidung reisen. Sie sollen sehr bequem und vornehm ausgestattet sein. Wie die besten Herbergen.«

Wenn die anderen einen stummen Vergleich zu ihrer Reisegelegenheit zogen, ließen sie es zumindest nicht erkennen. Vermutlich waren die beiden Merian-Frauen von ihren zahlreichen Reisen her Unbequemlichkeit gewöhnt.

»Ihr müsst einsteigen, wenn das Schiff heute noch vor der Dunkelheit Mainz erreichen soll«, knurrte Magnus und zog seine Tochter ein paar Schritte zur Seite. »Der Herr behüte dich und lasse dich gesund wiederkehren. Dafür werden wir beten«, sagte er leise und zog sie an seine mächtige Brust. Für einen Augenblick überwältigte sie beinahe ihr schlechtes Gewissen. Was würde ihr Vater sagen, wenn er wüsste, dass sie für sehr lange Zeit, vielleicht für immer, voneinander Abschied nahmen? In ihrer Reisetruhe, ganz zuunterst, lagen Severins alte Kleider. Sie hatte sich tatsächlich entschlossen, an Stelle ihres Freundes zu segeln. Die Gelegenheit war einfach zu günstig. Es dürfte nicht allzu schwer werden, vom Haus der Tante bis zu dem Schiff zu gelangen. Bis zu Hause bekannt würde, dass sie verschwunden war, müsste sie sich längst auf hoher See befinden und damit außer Reichweite ihres Vaters.

Das einzige, ihrer Ansicht nach echte Problem war Severins Rolle. Als sie sich ihm stolz in seinen abgelegten Kleidungsstücken präsentiert hatte, die nun dank diverser Stoffeinsätze locker ihre Figur umspielten, hatte er einen Einwand geäußert, der ihr zu schaffen machte.

»Bitte sei vernünftig, Kathi! Nicht nur, dass ich allgemein zum Gespött würde – dein Vater würde nicht zögern, mir den Kopf abzureißen.«

Diese Sorge, das musste sie ehrlich zugeben, war berechtigt. Nicht, dass Magnus Sessenheimer tatsächlich wortwörtlich so weit gehen würde. Aber sie musste trotzdem einen Plan aushecken, der es Severin erlaubte, mit erhobenem Kopf und reinem Gewissen nach Hause zurückzukehren. Der arme Severin war sehr empfindlich, was seinen guten Ruf anging.

Auf der langen Reise würde ihr schon eine Lösung einfallen, tröstete sie sich. War ihr nicht immer etwas eingefallen?

»Verzeiht mir, Vater, allen Ärger und Kummer«, flüsterte sie so leise, dass Magnus sie kaum verstand, und küsste seine Hand.

»Schon gut, mein Kind«, erwiderte er überrascht und tätschelte unbeholfen ihre Schulter. »Das muss man dir lassen: Viel Sorge hast du mir nie bereitet!«

Ein letztes wohlwollendes Nicken, und ehe sie es sich versah, war sie über die schwankende Planke balanciert und von Severin in Empfang genommen worden. Er führte sie zu den Kisten, auf denen die Merian und ihre Tochter bereits Platz genommen hatten. Die Bootsleute hatten sich alle Mühe gegeben, ihren Passagieren in der ungewohnten Situation so viel Komfort wie möglich zu bieten. Auf den Reisekisten lagen frisch gefüllte Strohsäcke und darüber war eine Art ledernes Zeltdach gespannt, das die kleine Gruppe notdürftig vor der Witterung schützen sollte. In Katharinas Kiste war, sorgfältig gefaltet zwischen Lagen feinen Leinens, eine so exquisite Garderobe gepackt, dass sie bei dem Gedanken, sie zurücklassen zu müssen, fast ein Gefühl des Bedauerns empfunden hätte.

Magnus hatte entschieden, dass an nichts gespart werden dürfte, und so enthielt die Kiste außer zwei Tageskleidern, einem Hauskleid, drei Gesellschaftskleidern und einem Abendkleid mit Schleppe aus kostbarem goldfarbenen Brokat alles, was derzeit gut und teuer war: Schnürmieder nach englischer und französischer Art, Unterkleider, Strümpfe, Handschuhe, Steckelschuhe, bestickte Seidenpantoffeln, Stiefeletten, Spitzenkragen und -manschetten, seidene Haarschleifen und sogar einen Fächer! Der Anblick des hübsch bemalten Dings hatte Frau Else veranlasst, ihre Lippen zu einem festen Strich zusammenzupressen. Ein solch mondänes Accessoire ermutigte ihrer Meinung nach ein junges Mädchen völlig unnötig zu Koketterie!

Die Schneiderin, die üblicherweise für die Familie nähte, hatte sich eine ganze Heerschar von Helferinnen kommen lassen, und sie hatten Tag und Nacht gearbeitet. Das Tageskleid aus tiefblauem Samt nach französischer Mode, das sie heute unter dem bodenlangen Mantel aus leichtem Kamelhaar trug, war speziell für die Reise angefertigt worden. Da die Schneiderin eine praktisch denkende Frau war, hatte sie den Saum knapp über den Knöcheln enden lassen und ihrer Kundin einen Volant aus demselben Stoff mitgegeben. Mit ein wenig Näharbeit konnte der Rock dann später verlängert werden.

Das flache Boot schaukelte verspielt, als der Schiffsführer und seine beiden Gehilfen es mithilfe ihrer Stangen in die Strömung stakten. Aber sobald es die Mitte des Stroms erreicht hatte, glitt es ruhig auf der ebenen Wasserfläche dahin.

Magnus Sessenheimer stand reglos am Kai und sah ihnen nach. Katharina winkte ihm heftig zu, bis er, wie die übrigen Gestalten an der Schiffslande, von den Nebelschwaden, die vom Fluss Richtung Stadt trieben, verschluckt wurde.

»Da vorne liegt Köln!« Als ihr Schiffsführer auf die verschwommene Stadtkulisse deutete, die soeben hinter der Flussbiegung aus dem Dunst am Horizont aufgetaucht war, seufzte Katharina erleichtert auf und reckte die steifen Glieder ein wenig.

Nach dem ungewöhnlich warmen Wetter der ersten Reisetage hatte es gestern Abend zu nieseln begonnen, und die Temperaturen waren deutlich zurückgegangen. Fröstelnd zog sie den warmen Mantel etwas enger um die Schultern und betrachtete unauffällig die beiden Merian-Frauen ihr gegenüber. In ihre schwarzen Wollumhänge gehüllt, erinnerten Mutter und Tochter an zwei frierende Vögel im Winter. Zwar frierend, aber frei zu gehen, wohin es ihnen beliebte! Sehnsüchtig sah Katharina dem Sperber nach, der gerade einen Schwarm Sperlinge jagte.