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Vom grauen Alltag ins bunte Gefühlschaos! Der bewegende Liebesroman »Der Zauber des vergessenen Gartens« von Susanne Wahl als eBook bei dotbooks. Leuchtende Blütenblätter, duftender Nektar und das Summen der Bienen: Auch wenn er manchmal ganz schön einsam sein kann, liebt Sophie ihren Job als Botanikerin. Doch dann verliert sie durch unglückliche Umstände ihre Stelle und ist am Boden zerstört. Aber vielleicht ist das auch die Chance auf einen Neuanfang? Als Sophie den Auftrag erhält, einen mittelalterlichen Klostergarten in alter Pracht aufblühen zu lassen, ist sie überglücklich – und dabei ahnt sie noch gar nicht, dass der Zauber des vergessenen Gartens auch bald ihr Herz erfassen wird … Wird es der charmante Koch Thomas oder der attraktive Archäologe Max sein, der ihr Schmetterlinge im Bauch beschert? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Roman »Der Zauber des vergessenen Gartens« von Susanne Wahl wird alle Fans von Karin Lindberg und Nora Roberts begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 397
Über dieses Buch:
Leuchtende Blütenblätter, duftender Nektar und das Summen der Bienen: Auch wenn er manchmal ganz schön einsam sein kann, liebt Sophie ihren Job als Botanikerin. Doch dann verliert sie durch unglückliche Umstände ihre Stelle und ist am Boden zerstört. Aber vielleicht ist das auch die Chance auf einen Neuanfang? Als Sophie den Auftrag erhält, einen mittelalterlichen Klostergarten in alter Pracht aufblühen zu lassen, ist sie überglücklich – und dabei ahnt sie noch gar nicht, dass der Zauber des vergessenen Gartens auch bald ihr Herz erfassen wird … Wird es der charmante Koch Thomas oder der attraktive Archäologe Max sein, der ihr Schmetterlinge im Bauch beschert?
Über die Autorin:
Susanne Wahl, geboren 1955 in Erlangen, studierte Ethnologie und Anthropologie. Sie bezeichnet sich selbst als »Spätberufene« und unternahm erst nach ihrem 46. Geburtstag erste Schreibversuche. Seitdem hat sie zahlreiche Romane unter ihrem eigenen Namen und unter einem Pseudonym veröffentlicht. Susanne Wahl lebt mit ihrer Familie in Aach unweit der Schweizer Grenze. In ihrem großen Garten fand sie unter anderem auch die Inspiration ihren Romanen »Rosenduft und Koriander« und »Der Zauber des vergessenen Gartens«.
Susanne Wahl veröffentlichte bei dotbooks bereits »Rosenduft und Koriander«, »Kirschblüten im Wind« und »Im Land des roten Eukalyptus«.
Die Website der Autorin: www.susannewahl.com
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eBook-Neuausgabe April 2024
Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel »Das Lächeln der Venus« bei Knaur und 2015 bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2015, 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/essevu, Petr Pohudka, Fab_1, Kateryna Kasko
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-952-9
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Susanne Wahl
Der Zauber des vergessenen Gartens
Roman
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Ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, krabbelte die Fliege zielsicher auf die oberste Felsspitze des Dolomitengipfels zu, über die eine geschickte Spinne ihr Netz gesponnen hatte. Wider Willen fasziniert verfolgte Sophie Lichtenberger ihren Weg ins Verderben.
Der Zugriff erfolgte so blitzschnell, dass Sophie zusammenfuhr, obwohl sie doch jeden Augenblick damit gerechnet hatte. Einige Sekunden lang zuckte die Fliege verzweifelt in der tödlichen Umklammerung. Dann trug die erfolgreiche Jägerin ihre regungslose Beute in die relative Sicherheit der rechten oberen Bildecke, wo ein silbriger Kokon von Spinnweben anzeigte, dass sie sich dort wohnlich eingerichtet hatte, und kam nicht mehr zum Vorschein.
Sophie seufzte leise und streckte die langen Beine in den verwaschenen Jeans, wobei ihre Schuhsohlen leise auf dem gebohnerten Linoleum quietschten. Wenigstens war es einigermaßen ruhig in diesem Seitenkorridor des örtlichen Arbeitsamts, das sich jetzt Arbeitsagentur nannte. Sophies Blick glitt über die Wände in freudlosem Beige, schmuddelig von den zahllosen Rücken der Wartenden, die sich dort angelehnt hatten, weil kein Stuhl mehr frei war. Ein paar gerahmte Kalenderbilder von Alpenpanoramen versuchten vergeblich, die triste Atmosphäre ein wenig aufzuhellen.
Die unbequemen Holzstühle stammten vermutlich aus derselben Dekade wie die hellen Bürotüren in Limbaholzfurnier und das olivgrüne Linoleum. Sehnsüchtig schweifte Sophies Blick zum halb geöffneten Fenster am Ende des Gangs, durch das die warme Luft eines freundlichen Maitags hereinwehte.
Eine Strähne ihrer knapp schulterlangen aschblonden Locken, in die sich nahezu unbemerkt bereits erstes Grau gemischt hatte, kitzelte sie an der Wange. Ungeduldig strich Sophie sie hinters Ohr zurück. Vielleicht sollte sie endlich einmal zu einem Friseur gehen? Zeit hatte sie ja jetzt genug.
Unwillkürlich knirschte sie mit den Zähnen. Dieser Mistkerl! Bei der Erinnerung an das scheinheilige Bedauern, das der Dekan der biologischen Fakultät – bis vor zwei Wochen ihr Chef und Mentor – geäußert hatte, ballten sich ihre kräftigen Hände mit den kurz geschnittenen Nägeln zu Fäusten.
»Es tut mir ganz außerordentlich Leid, liebe Sophie, aber mein Einsatz für Sie war leider nicht von Erfolg gekrönt. Die Kommission hat sich für Wagner entschieden.«
Im ersten Moment hatte sie nicht glauben können, was er da sagte. Verdammt, es ging doch nicht um irgendeinen Antrag auf zusätzliche Mittel oder Stellen – es ging um ihr Leben! Fast zwanzig Jahre hatte sie wie besessen auf eine Botanikprofessur hingearbeitet, und sie brauchte nur noch dieses Habilitationsstipendium, das mit einer Expedition ins Amazonasgebiet verbunden war. Sie war so sicher gewesen, dass sie es bekommen würde, dass sie bereits die Anzeige entworfen hatte, mit der sie einen Untermieter für die Zeit ihrer Abwesenheit suchen wollte!
Halb betäubt hatte sie sich umgedreht und war gegangen, hatte sich in ihre kleine Wohnung verkrochen wie ein verwundetes Tier und sich zum ersten Mal in ihrem Leben sinnlos betrunken.
Es war eine Erfahrung, an die sie mit Schaudern zurückdachte. Von wegen, man würde im Rausch alles vergessen! Statt in seligem Nichts zu versinken, hatte die Wut sie so heftig gepackt, dass sie anfing, alle zerbrechlichen Gegenstände, die ihr in die Finger gerieten, an die frisch gestrichene Wohnzimmerwand zu schmettern. Bis ihr Nachbar, der wortkarge Langhaarige mit dem Eberzahnohrring, energisch an ihre Wohnungstür geklopft und gefragt hatte, ob er »die Typen mit den Zwangsjacken« rufen müsse.
Da war die ganze Energie plötzlich in ihr zusammengefallen wie ein Soufflé und sie hatte nur noch hemmungslos geheult, ehe sie endlich unvermittelt in einen tiefen traumlosen Schlaf gesunken war.
Der nächste Morgen war der schlimmste, an den sie sich in ihrem Leben erinnern konnte. So furchtbar hatte sie sich nicht einmal damals gefühlt, als sie sich bei einer Expedition in Malaysia einen schweren Sonnenstich holte. Erst am frühen Nachmittag hatte sie sich wieder so weit im Griff, dass sie anfangen konnte, mit zitternden Knien und im Zeitlupentempo die Spuren ihres Ausbruchs zu beseitigen.
Mit einem Anflug von Bedauern versuchte sie zu entscheiden, ob man die kleine Balletttänzerin aus Meißener Porzellan, die sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag von ihrer Patentante bekommen hatte, reparieren könnte. Doch dann warf sie sie kurz entschlossen in den Eimer mit den Resten der geschliffenen böhmischen Gläser, des venezianischen Kerzenleuchters und des Milchkrugs in Form einer sitzenden Katze von Tante Fanny. Ihr Leben war nur noch ein Trümmerhaufen – was brauchte sie da sentimentale Erinnerungsstücke!
Im Treppenhaus begegnete sie ihrem Nachbarn und wich seinem Blick aus, mit dem er sie prüfend und eine Spur misstrauisch wegen ihrer traurigen Erscheinung musterte. »Wer's nicht verträgt, sollte die Finger davon lassen«, brummte er. »Schade drum!« Er wies mit dem Kinn auf die aus den diversen Trümmern in die Höhe ragenden Beinchen der Porzellanfigur.
»Wollen Sie sie haben?« Sophie hatte ihm bereitwillig den Eimer hingehalten. Einen Moment lang hatte sie die diffuse Erleichterung darüber durchströmt, wenigstens diese zerbrochenen Stücke aus ihrem Leben in gute Hände zu geben, sie nicht in die stinkenden Zweihundertvierzig-Liter-Container hinter dem Haus schütten zu müssen.
Aber er hatte den Kopf geschüttelt, dass der Eberzahn hin- und herschwang. »Nee, was soll ich denn damit? Beim Türken um die Ecke gibt's fast genauso schöne für'n Appel und 'n Ei!«
Also war alles doch in einer der großen Mülltonnen gelandet.
Abends hatte natürlich Bernhard angerufen. Sophie hing an ihrem Bruder, aber in dem Moment hatte sie mit sich gekämpft, ob sie den Hörer abnehmen sollte.
»Na, Kleine, schon am Packen? Wann fährst du?«
»Gar nicht«, antwortete sie gekünstelt fröhlich.
Schweigen. Dann fragte er vorsichtig: »Was ist los?«
Sie hatte tief Luft geholt. »Ich habe die Stelle nicht bekommen.«
»Was? Aber das ist doch nicht möglich! War nicht alles längst geklärt?«
»Das habe ich auch gedacht.«
»So was Blödes! Was machst du jetzt?«
Die Frage war berechtigt und vernünftig, typisch Bernhard, und sie hatte Sophie verstohlen mit den Zähnen knirschen lassen.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht mache ich erst mal Urlaub.«
»Und danach?«
»Keine Ahnung.« Sie war tatsächlich völlig orientierungslos, was ihre Zukunft anbetraf. Es hatte niemals einen Plan B gegeben.
»Ich könnte mich mal umhören«, hatte Bernhard vorgeschlagen. »Mit deinem Wissen über Heilpflanzen kannst du jederzeit irgendwo in der Pharmabranche anfangen. Da verdient man auch um einiges besser. Was hältst du davon?«
Als Direktor des Gesundheitsamts der ländlichen Kreisstadt, in der sie beide vor neununddreißig beziehungsweise vierundvierzig Jahren geboren worden waren, verfügte ihr Bruder über ausgezeichnete Kontakte. Sein Angebot war also kein leeres Versprechen.
»Du rätst mir ernsthaft, als Pharmavertreterin mein Leben zu fristen?«, hatte Sophie ungläubig gefragt.
»Warum nicht? Schau, ich weiß auch, dass es nicht das ist, was du dir erträumt hast. Aber, ehrlich gesagt, ich habe immer bezweifelt, dass du genug Durchsetzungskraft für eine Universitätskarriere hast. Du bist viel zu naiv ...«
»Danke für die Blumen!«
»Sei nicht eingeschnappt – du weißt doch, wie ich es meine.«
Er meinte es gut, er hatte es immer gut mit ihr gemeint. Deswegen ertrug sie mit aller Geduld, die sie aufbrachte, seine fürsorglichen Ratschläge und aufmunternden Plattitüden. Allerdings war es sein letzter Tröstungsversuch, der sie jetzt hier, auf dem Stuhl vor Zimmer 126, wider alle Vernunft darauf hoffen ließ, dass sich die Tür öffnete und ein Wunder geschähe. »Wenn alle Stricke reißen, kannst du jederzeit zu uns ziehen«, hatte er angeboten. »Ina würde sich freuen, Gesellschaft zu haben, und wir haben ja Platz genug.«
Wenn Sophie etwas ganz sicher zu wissen glaubte, dann, dass ihre Schwägerin alles andere als begeistert von ihrem Einzug wäre. Und auch sie konnte sich kaum etwas Schlimmeres ausmalen.
Sophie hing an ihrem älteren Bruder. Nach dem Tod ihrer Eltern bei einem Autounfall hatte er, selber gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt, ohne zu zögern die Verantwortung für seine damals sechzehnjährige Schwester übernommen. Erst Jahre später war ihr bewusst geworden, welche Belastung das für ihn bedeutet haben musste. Er hatte nie ein Wort darüber verloren.
Ihm zuliebe bemühte sie sich sogar ehrlich, Ina zu mögen, aber es war schwer. Sophie hatte sich schon immer gefragt, ob Ina es absichtlich so einrichtete, dass sich Sophie neben ihrer blonden, grazilen Schönheit augenblicklich wie ein Bauerntrampel fühlte, grobschlächtig und ungelenk – die Hände zu groß, die Stimme zu laut.
Niemand hätte Sophie »dick« genannt, aber sie war kräftig gebaut, eine Frau, die zupacken konnte und der man ansah, dass sie es auch tat. Ihre klaren Gesichtszüge hätten mit ein wenig Make-up ausgesprochen attraktiv gewirkt. Das Grün ihrer Augen konnte von Meergrün, wenn sie wütend war, zu einem satten Moosgrün, das einen an verwunschene Waldseen denken ließ, changieren, und manchmal, wenn sie sich amüsierte, tanzten goldene Splitter darin.
Doch neben Ina und ihrer sorgsam kultivierten Zerbrechlichkeit kamen solche Details einfach nicht zur Geltung.
»Das ist sehr lieb von euch«, hatte sie also mit der angemessenen Portion Dankbarkeit in der Stimme erwidert, »aber so schlimm steht es noch nicht um mich.«
***
Ihr erster Termin bei der Agentur für Arbeit lag jetzt fast genau zwei Wochen zurück. Natürlich hatte Bernhard sie darauf hingewiesen, dass sie sich so schnell wie möglich dort melden sollte. »Damit du wenigstens sofort dein Geld bekommst!« Noch unter dem Schock der unerwarteten Absage hatte Sophie zunächst keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie sich um solche Formalitäten kümmern musste. Dennoch war sie brav mit ihrer alten, abgewetzten Aktentasche aus Rindsleder gleich am nächsten Tag dorthin gegangen, und sie erinnerte sich noch mit erschreckender Deutlichkeit an ihr Entsetzen, sobald sie die gläserne Türschleuse passiert hatte.
Die unübersichtliche Eingangshalle im Erdgeschoss wimmelte bereits von Menschen! Und in dem allgemeinen Durcheinander hatte sie sich am Ende der falschen Schlange angestellt.
»Wo ist Ihr Bescheid?« Die Mittfünfzigerin hinter dem Tresen aus dunklem Holz sah nicht einmal auf, während sie die letzten handschriftlichen Notizen in die Unterlagen von Sophies Vordermann eintrug, den sie gerade zur Kasse in den dritten Stock verwiesen hatte.
»Was für ein Bescheid?« Sophies Stimme hatte unsicher geklungen.
»Na, Ihr Bewilligungsbescheid. Sie wollen doch einen Vorschuss, oder?«
»Eigentlich wollte ich mich nur anmelden. Ich war noch nie hier.« Das stimmte nicht ganz. Gleich nach dem Abitur hatte Sophie einmal einen Berufsberater aufgesucht, aber sie fand nicht, dass das zählte.
Die Dame warf ihr unter dicht getuschten Wimpern einen ungnädigen Blick zu. »Dann sind Sie hier falsch. Sie müssen sich am Schalter F anstellen. Da nimmt mein Kollege die Erstanträge entgegen. Was haben Sie überhaupt gemacht?«
»Ich war an der Uni ...« Sophie bezweifelte, dass eine genaue Beschreibung ihrer Tätigkeit hier von Interesse war, und hatte richtig getippt.
»Akademiker werden vom Hochschulteam betreut. Erster Stock, Zimmer 126.«
Mühsam kämpfte sie sich durch die Menschenmenge und betrachtete vom Treppenabsatz aus fassungslos die gewundenen Menschenschlangen, die sich mit unterdrückter Ungeduld in Zeitlupengeschwindigkeit vorwärts bewegten. Der Geräuschpegel erinnerte sie an ein riesiges Wespennest. Die latente Aggressivität, die in dem Stimmengemurmel mitschwang, verlieh der Szenerie etwas Bedrohliches.
Im ersten Stock war es deutlich ruhiger. Die hier Wartenden schienen den Kontakt untereinander zu meiden. Obwohl auf jedem Stuhl in dem endlos scheinenden Flur jemand saß, war kein Ton außer einem gelegentlichen Hüsteln oder Rascheln beim Umblättern einer Zeitschriftenseite zu hören. Die Menschen hielten alle ein imaginäres Schild hoch: »Nicht ansprechen!«
Niemand schien vor Zimmer 126 zu warten, und nach einem fragenden Blick auf die abweisenden Mienen ringsum hatte Sophie zaghaft an die Tür geklopft.
»Ja, bitte!«
Der junge Mann hinter dem Schreibtisch erinnerte sie an ihre Studenten der Vordiplomkurse: eifrig, voller Energie und begierig auf neue Aufgaben.
»Bitte, nehmen Sie Platz!« Er wies auf den gepolsterten Stuhl ihm gegenüber. »Einen Kaffee?«
Überrascht konstatierte Sophie, dass sie ihn sympathisch fand. Er hatte ein so nettes Lächeln, dass sie unwillkürlich zurücklächelte.
»Ja, bitte, gerne.«
Mit konzentriert gerunzelter Stirn blätterte er ihre Unterlagen durch, während sie so leise wie möglich in ihrem dampfend heißen Kaffee rührte. Dann traf sie ein bekümmerter Blick aus seinen braunen Augen, die Sophie an einen Spaniel erinnerten. »Sie wissen sicher selbst, dass Sie für alles, was wir Ihnen anbieten könnten, bei weitem überqualifiziert sind, nicht wahr, Frau Dr. Lichtenberger?«
Sophie hatte stumm genickt.
»Gibt es denn irgendetwas, was man auch für andere Tätigkeiten nutzen könnte? Käme unter Umständen für Sie ein Lehramtsstudium in Frage?«
»Sie meinen, ich soll Lehrerin werden?« Das Entsetzen in ihrer Stimme entlockte ihm ein mitfühlendes Grinsen.
»Schon gut – ich will es nur erwähnt haben. Haben Sie denn nicht gerne unterrichtet? In Ihren Unterlagen wird erwähnt, wie erfolgreich und beispielhaft Ihre Arbeit mit den Erstsemestern gewesen ist.«
»Das ist doch etwas anderes!«
Sophie hatte tatsächlich gerne unterrichtet. Aber in ihren Augen bestand ein riesengroßer Unterschied zwischen einem Hörsaal voller Studenten und einem überfüllten Klassenzimmer desinteressierter Teenager. Ihre Lieblingsveranstaltungen waren sowieso die Exkursionen und die Spezialkurse in den Gewächshäusern des botanischen Gartens gewesen.
»Ein Jammer, dass Sie nicht als Apothekerin arbeiten dürfen«, stellte ihr Gegenüber mit ehrlichem Bedauern fest. »Aber die sind ganz streng mit den Zulassungen. Da nutzt es Ihnen nichts, dass Sie sich vermutlich besser mit Kräutern auskennen als die meisten. Heutzutage ist eben die Chemie wichtiger.«
Ohne es zu ahnen, hast du den Nagel auf den Punkt getroffen, dachte Sophie ironisch. Die persönliche Chemie war es gewesen, die ihrem siegreichen Konkurrenten den entscheidenden Vorsprung verschafft hatte. Eine der Studentinnen hatte in aller Harmlosigkeit erzählt, dass die Tochter des Dekans und Wagner Tennispartner wären. »Und nicht nur Tennispartner ...«, hatte sie mit vielsagendem Augenaufschlag hinzugefügt.
Auch die Sekretärin des Dekans hatte versucht, sie zu warnen. Aber wer nahm die gute, alte Wessenkamp schon ernst? »Sophie«, hatte sie verschwörerisch geflüstert und sie am Hemdsärmel in die Ecke neben der blubbernden Kaffeemaschine gezogen. »Da stimmt was nicht!« Else Wessenkamp erinnerte immer an eine aufgeregte Vogelmutter und auch jetzt war die Ähnlichkeit frappierend gewesen.
Sie hatte nervös an einem Fussel auf dem Ärmel ihrer hellblauen Strickjacke gezupft. »Dieser Herr Wagner ruft in letzter Zeit ständig an und telefoniert endlos mit dem Chef. Und meistens lässt dieser sich danach mit dem Rektor verbinden. Gestern habe ich zufällig mitgehört, und als ihr Name fiel, habe ich natürlich die Ohren gespitzt.«
»Und was haben Sie gehört?«
»Das ist es ja: Plötzlich hat er mich finster angesehen und hinausgeschickt und das macht er sonst nie! Wieso sollte er auch?«
Sophie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und sorglos gelacht. »Sie sehen Gespenster! Wahrscheinlich wollte er nur ein Privatgespräch führen.«
Was konnte denn jetzt noch schief gehen?
***
»Frau Dr. Lichtenberger ...?« Die Stimme klang ein wenig ängstlich und als Sophie aufblickte, sah sie die braunen Augen des jungen Sachbearbeiters besorgt auf sich geheftet. »Geht es Ihnen gut?«
Ihr Lächeln war etwas verzerrt, aber er schien beruhigt und wandte sich wieder dem dünnen Papierstapel zu, der ihr bisheriges Leben dokumentierte.
»Wie flexibel sind Sie, was den Wohnort betrifft?«
Er meinte damit natürlich: Müssen Sie auf einen Freund Rücksicht nehmen?
»Ich lebe allein.«
Ein halb neugieriger, halb mitleidiger Blick machte Sophie bewusst, dass ihre Stimme unnötig abweisend geklungen hatte. Auf einmal fielen ihr die Fotos in den bunten Holzrahmen auf, die malerisch um die Schreibtischlampe gruppiert waren. Eines davon stand ein wenig schräg, als sei es eilig zurückgestellt worden. Auf ihm konnte sie ein strahlendes Kindergesicht erkennen, und obwohl es nur sehr selten dazu kam, dass sie sich einsam fühlte, versetzte ihr das Bild jetzt einen Stich.
***
Es schien so lange her zu sein, dass es kaum noch schmerzte. Sie hatte gerade mitten in ihrer Diplomarbeit gesteckt, als ständige Übelkeitsattacken und Kreislaufprobleme sie dazu zwangen, zum Arzt zu gehen. Kaum hatte sie ihre Symptome geschildert, da ging der professionell besorgte Blick in ein väterliches Lächeln über.
»Sie studieren doch Biologie, nicht wahr? Und da ist Ihnen nichts aufgefallen?«
»Was denn?«, hatte sie verständnislos zurückgefragt.
»Mein liebes Kind, Sie sind höchstwahrscheinlich schwanger. Wann war Ihre letzte Periode?«
Der Arzt hatte bereits nach dem Kalender gegriffen, während Sophie noch versuchte, die plötzliche Betäubung abzuschütteln.
»Nein, das darf nicht sein. Das geht jetzt einfach nicht!«
»Wie bitte?«
»Ich kann nicht schwanger sein. Ich habe keine Zeit dafür.«
»Vielleicht brauchen Sie einfach ein wenig Ruhe, um sich darüber klar zu werden, was Sie tun wollen. – Hier« – er reichte ihr einen Zettel über den Tisch –, »sprechen Sie mit einer der Damen dort.«
Achtlos hatte sie den Zettel mit der Adresse und Telefonnummer der Beratungsstelle in ihre Parkatasche gestopft und als Erstes Günther angerufen.
Günther war Assistent bei dem Professor für Primatenforschung und sie waren seit einem halben Jahr zusammen.
»Du bist was?«
Sein Entsetzen war deutlich, denn die normalerweise wohlklingende Stimme überschlug sich geradezu.
»Ich weiß, es ist blöde. Günther, was machen wir jetzt?«
Insgeheim hatte sie gehofft, er würde sich freuen. Auf dem Heimweg hatte sie sich Schritt für Schritt mit der Vorstellung, ein Kind zu haben, angefreundet, und als sie die Tür zu ihrer Fünf-Zimmer-WG aufgeschlossen hatte, war sie beinahe glücklich gewesen. Es gab genug Studentenpaare in ihrem Umkreis, die es sehr gut schafften. Natürlich war es schwierig, Kind und Studium unter einen Hut zu bringen – aber es war machbar!
In jeder Vorlesung saß mindestens eine junge Mutter mit ihrem Baby in einer Tragtasche neben sich oder in einem Tuch auf dem Rücken. Und wenn sie Übungen hatte, konnte sie Günther das Baby ins Büro bringen.
»Abtreiben natürlich.«
Seine entschiedene Reaktion riss Sophie abrupt aus ihren rosigen Träumen. »Wollen wir nicht noch mal in Ruhe darüber reden?«
»Da gibt's nichts zu reden, Sophie! Lass es wegmachen, sofort. Eine solch miese Masche hätte ich dir nie zugetraut.«
Seine ungerechtfertigte Beschuldigung hatte sie so getroffen, dass sie noch minutenlang regungslos, den Hörer in der Hand, in der kalten Diele stand, als er längst wütend aufgelegt hatte.
Abends hatte er seine Sachen aus Sophies Zimmer geholt, und der verächtliche Blick, den er ihr dabei zuwarf, hatte sie zu ihrer Zimmernachbarin flüchten lassen.
»Was ist denn los? Habt ihr euch gestritten?« Die dicke Karin mit dem langen Zopf nahm sie mütterlich in den Arm und prompt brach Sophie in Tränen aus.
»So schlimm kann es doch nicht sein. Soll ich mal mit ihm reden?«
»Ich bin schwanger, und er denkt, ich hätte es absichtlich gemacht«, brachte sie zwischen heftigen Schluchzern heraus.
Karin runzelte die Stirn. »Soviel ich weiß, gehören dazu immer noch zwei! Dieser Arsch – den knöpfe ich mir vor ...«
Sophie krallte sich in ihrem Ärmel fest und hielt sie energisch zurück. »Lass ihn! Ich will ihn sowieso nicht mehr sehen. Gut, dass er weg ist!«
»Das ist ja gut und schön, aber wie willst du es denn allein schaffen?«
Karins Bedenken hatten sich als begründet erwiesen. Sophie fühlte sich wochenlang miserabel. Ob es an der Schwangerschaft oder an ihrem Seelenzustand lag, ließ sich nicht beurteilen. Immerzu musste sie an Günther denken und wie schön es mit ihm gewesen war, bevor er sein hässliches Gesicht gezeigt hatte. »Und wenn du mit dem Gedanken spielst, mich blechen zu lassen, sei gewarnt!«, hatte er bösartig gezischt, als er mit seiner Sporttasche in der Tür zu Karins Zimmer stand. »Dann sorge ich dafür, dass du an der Uni keinen Fuß mehr auf den Boden bekommst. Hier nicht und auch sonst nirgendwo.« Wieso war ihr vorher nie aufgefallen, dass sich unter seiner charmanten Oberfläche ein rücksichtsloser Egomane versteckte?
Eines Nachts war sie dann von grässlichen Schmerzen aufgewacht. Jemand schien ein Messer in ihren Unterleib gestoßen zu haben und es unaufhörlich hin und her zu drehen. Ihre Klagelaute hatten Karin alarmiert. »Was ist los, Sophie? Schlecht geträumt?«
»Es tut so schrecklich weh ...«
Karin hatte die Bettdecke zurückgeschlagen, und die plötzliche Kälte ließ Sophie zittern.
»Ach, du Scheiße! Bleib ganz ruhig liegen, Sophie. Ich rufe einen Krankenwagen.«
Als ob sie sich hätte rühren können! Halb bewusstlos hatte sie nur verschwommen mitbekommen, wie sie behutsam auf eine Trage gelegt und die Treppen hinuntergetragen wurde. Im Krankenwagen war sie ohnmächtig geworden und erst gegen Morgen wieder zu sich gekommen. Karin hatte neben ihr gesessen und ihre Hand gehalten.
»Du hattest eine Fehlgeburt. Tut mir schrecklich leid für dich, aber vielleicht ist es besser so ...«
Alle hatten das gemeint, und schließlich hatte sich Sophie der allgemeinen Einschätzung angeschlossen. Sich verbissen wie nie in ihre Arbeit gestürzt und kein Wort mehr darüber verloren.
In der Anfangszeit hatte Karin noch versucht, sie dazu zu bewegen, darüber zu sprechen. »Friss es nicht in dich hinein. Das ist nicht gut für dich. Das steht in jedem Ratgeber!«
Doch mit der Zeit hatte sie es aufgegeben. Sophie hatte sich allmählich von allen früheren Bekannten abgekapselt. Was wohl aus Karin geworden war? Wie lange schon hatte sie sie aus den Augen verloren? Zehn Jahre, fünfzehn Jahre? Ob sie auch in einem ähnlichen Zimmer saß und darauf wartete, dass ihr ein netter junger Mann seufzend erklärte, sie sei eigentlich unvermittelbar?
***
»Frau Dr. Lichtenberger, sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Sie sehen so blass aus.« Ihr Gegenüber musterte sie geradezu ängstlich.
»Nein, nein – ich meine, ja, natürlich geht es mir gut.«
Erleichtert atmete er aus. »Dann wären wir jetzt so weit. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
»Keine.«
»Gut, wir sehen uns also in zwei Wochen wieder. Alles Gute, und lassen Sie den Kopf nicht hängen: Vielleicht ergibt sich ja etwas!«
Sophie verkniff sich eine spitze Erwiderung auf diese etwas gönnerhafte Bemerkung.
***
In den folgenden Tagen überlegte sie immer deprimierter, wo sie, außerhalb der Universität, ihre immensen Kenntnisse einsetzen könnte. Bernhard hatte schon Recht: Es kam eigentlich nur die pharmazeutische Industrie in Frage.
Natürlich hatte sie als Erstes im Internet nach ausgeschriebenen Stellen gesucht, aber es war wie verhext: Weder in Europa noch in den USA oder Kanada gab es aktuelle Stellenausschreibungen, die auch nur im Entferntesten für sie in Frage gekommen wären!
Die tägliche Durchsicht der Zeitung hatte Sophie zudem die niederschmetternde Erkenntnis vermittelt, dass es nur sehr wenige Tätigkeiten gab, die derzeit gefragt waren.
So überlegte sie am Ende sogar, ob sie sich zunächst einmal eine lange Reise gönnen sollte. Ihr Konto wies immerhin ein erfreulich hohes Guthaben aus. Sophie hatte nicht viele Bedürfnisse, deshalb war immer ein großer Teil ihres mageren Gehalts übrig geblieben und hatte sich im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Betrag summiert.
***
Zwei Wochen später wurde die Tür von Zimmer 126, vor dem Sophie wartete, aufgerissen. »Ich habe mir gleich gedacht, das es pure Zeitverschwendung ist!«, schnauzte ein dünner Mann in dunkelblauem Jogginganzug erbost und musterte Sophie so finster, dass sie in dem Versuch, ihm auszuweichen, unwillkürlich ihren Rücken fester gegen die Stuhllehne presste.
»Und so was wird auch noch bezahlt!« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte in Richtung Treppe.
Leicht irritiert stand Sophie von ihrem Stuhl auf und betrat das Zimmer.
»Frau Dr. Lichtenberger!« Die Stimme klang geradezu triumphierend. »Ich glaube, ich hätte da etwas für Sie ...«
»Tatsächlich?« Sophie hob überrascht die Brauen und sah ungläubig auf den Ausdruck, den der junge Mann ihr strahlend vor Stolz präsentierte.
»Ja, wirklich – und ich denke, es ist geradezu perfekt«, bestätigte er und wirkte so glücklich, dass Sophie neugierig den kurzen Text überflog.
Wir suchen einen Fachmann oder eine Fachfrau mit guten Heilpflanzenkenntnissen zur Restaurierung unseres alten Klostergartens. Wir sind ein gut eingeführtes Wellness-Hotel der oberen Preisklasse und legen vor allem Wert auf ein fundiertes Konzept, das sich für die zukünftige Verwendung der Pflanzen im Rahmen unserer geplanten speziellen Wellness-Angebote eignet.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich das Richtige für mich ist«, sagte sie zweifelnd. »Das klingt mir eher danach, als ob sie einen Gartenarchitekten suchten.«
»Nein, nein!« Der junge Mann errötete leicht und fixierte den Drehbleistift, mit dem er eifrig hantierte. »Ich habe mir erlaubt, dort anzurufen und nachzufragen, weil ich sofort an Sie dachte.«
»Und ...?«
»Die Besitzer möchten tatsächlich etwas Besonderes. Ein Teil der Gebäude ist noch original erhalten – ein ehemaliges Benediktinerkloster, das restauriert wurde, wo es möglich war –, und der ehemalige Kräutergarten soll sozusagen das Herzstück eines neuen Wellness-Konzepts werden. Ganz genau habe ich nicht verstanden, was sie eigentlich vorhaben, aber sie legen größten Wert auf jemanden, der sich wirklich gut auskennt mit den Wirkungen und so.«
»Das klingt gut«, gab Sophie zu. Nachdenklich starrte sie auf die Adresse in der Kopfzeile.
Benediktinerhof– schlicht und unprätentiös, keine Straßenbezeichnung.
Es wäre etwas völlig Neues nach all den Jahren im abgeschotteten Bereich der Universität. Doch sie machte sich nichts vor: Es würde nicht einfach für sie werden. Bernhard hatte ihr seit Jahren vorgeworfen, teils im Spaß, aber mit ernstem Unterton, dass sie sich zu sehr vom normalen Leben entfernt hätte.
Es war keine Absicht gewesen, es hatte sich wie von selbst ergeben: Sophie konnte sich gar nicht mehr erinnern, anderen Umgang als mit Fachkollegen und Studenten gehabt zu haben. Worüber unterhielt man sich mit Leuten, die sich nicht die Bohne dafür interessierten, welcher Fachbereich welche Fördermittel ergattert hatte und welche verschlungenen Wege die Anträge auf Forschungsstipendien hatten nehmen müssen?
Plötzlich packte sie so etwas wie Abenteuerlust. Es könnte aufregend werden, neue Menschen kennen zu lernen, sich in einer anderen Welt zu bewegen ...
Einen Kräutergarten restaurieren – wieso nicht?
Der junge Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs hatte gespannt ihren wechselnden Gesichtsausdruck beobachtet und atmete jetzt erleichtert aus.
»Sie nehmen den Auftrag an, nicht wahr?«
Sophie nickte entschlossen.
»Es wird Ihnen sicher Spaß machen. Frau Pohlmann scheint sehr nett zu sein. Und denken Sie daran, mir Bescheid zu geben, damit ich Sie aus der Kartei nehme, ja?«, erinnerte er sie sicherheitshalber, denn Sophie verabschiedete sich so geistesabwesend von ihm, dass er insgeheim den Kopf über sie schüttelte.
***
Bereits am nächsten Morgen saß Sophie in ihrem klapprigen alten Mazda und hoffte, dass sie den Benediktinerhof auch finden würde. Sofort nachdem sie am Tag zuvor nach Hause gekommen war, hatte sie eine Spur nervös dort angerufen. Nachdem sie sich entschieden hatte, sich wegen des Auftrags vorzustellen, wäre es extrem ärgerlich gewesen, wenn ihr jemand zuvorgekommen wäre.
Nach dem zweiten Klingelton wurde der Hörer abgenommen.
»Benediktinerhof, Pohlmann. Was kann ich für Sie tun?«
Die Frauenstimme klang bestimmt, sich ihrer Autorität bewusst.
»Sophie Lichtenberger. Ich rufe wegen des Kräutergartens an ...«
»Ach, dann sind Sie sicher die Spezialistin, von der der Herr bei der Arbeitsagentur so geschwärmt hat«, wurde sie unterbrochen. »Prima, dass er Sie so schnell erreicht hat. Wann könnten Sie herkommen, sich die Sache anschauen und alles besprechen?«
»Morgen?«, schlug Sophie vor.
»Das wäre wunderbar! Wissen Sie was? Wenn Sie mir Ihre E-Mail-Adresse durchgeben, schicke ich Ihnen gleich eine Wegbeschreibung. Wann werden Sie hier sein?«
Im Autoatlas waren es nicht mehr als ein paar Zentimeter gewesen, aber Sophie wusste aus Erfahrung, dass man sich enorm verschätzen konnte. Sicherheitshalber verdoppelte sie die Zeit, von der sie annahm, dass sie sie benötigen würde.
»Ich schätze ungefähr um 10 Uhr.«
Wenn sie um 6 Uhr losführe, müsste sie es auch bei mehrmaligem Verfahren in vier Stunden schaffen.
»Bis morgen dann.«
Sophies Misstrauen dem Autoatlas gegenüber erwies sich als berechtigt. Sobald sie von der Bundesstraße abgebogen war, ging es auf so schmalen Straßen weiter, dass sie mehrmals daran zweifelte, die Wegbeschreibung richtig befolgt zu haben. Ein malerischer Flecken folgte auf den anderen. »Idyllisch« war nicht übertrieben, »abgelegen« ebenfalls nicht.
Endlich sah sie auf einem gelben Ortsschild den Namen der Kleinstadt, die die Hotelbesitzerin als ihre Bahnstation bezeichnet hatte.
Wie die meisten anderen Ortschaften der Region war auch Weitershofen ursprünglich von dichtem Wald umgeben gewesen. Inzwischen war der Waldsaum bis weit zu den sanften Höhenzügen zurückgewichen, die dem Ort sein ungewöhnlich mildes Kleinklima bescherten, dessen er sich auf einer großen, handgemalten Tafel rühmte. In der grellen Morgensonne glitzerte der schmale Flusslauf wie ein silbernes Band, ehe er zwischen den Häusern verschwand.
Ein größerer Gebäudekomplex lag deutlich von den übrigen Häusern abgegrenzt am Hang links oberhalb der Stadt. Das musste das alte Kloster sein!
Der helle Putz reflektierte das Licht und verlieh dem schlichten Bauwerk mit den aus der Entfernung winzig erscheinenden Fenstern und dem niedrigen Dach eine leichte Eleganz.
Früher hatte sich in der Nähe vielleicht eine Handelsstraße befunden – heute schien es unverständlich, was die Mönche hierher verschlagen haben sollte. Sophie versuchte sich zu erinnern, welche Ziele der Orden verfolgt hatte, aber ihr fiel auf Anhieb nur der Kräuterschnaps ein. Natürlich, sie mussten gute Botaniker gewesen sein!
Es war nicht viel los in Weitershofen. Die Hauptstraße wirkte geradezu verlassen und die einzigen Passanten, zwei Frauen mit Einkaufstaschen, warfen neugierige Blicke auf das fremde Nummernschild. Sophie kniff die Augen gegen die blendende Sonne zusammen und suchte nach einem Hinweis auf die Straße zum Hotel.
Das erwies sich als wenig problematisch, denn das mannshohe Plakat am Rand des Marktplatzes mit einem lächelnden Mönch in brauner Kutte war nicht zu übersehen. Benediktinerhof – das Hotel für Genießer.
Ein dicker roter Pfeil zeigte in die richtige Richtung und versprach: Nur 900 Meter!
Der schmale Teerweg zog sich durch Streuobstwiesen den Hang hinauf und endete auf einem großen, beinahe leeren Parkplatz. Der helle Steinsplitt knirschte unter den Reifen, als Sophie den alten Mazda langsam ausrollen ließ und neben einem dunkelgrünen Mercedes zum Stehen kam.
Von außen wirkte das Hotel äußerst bescheiden und strahlte nicht viel von dem Flair aus, dessen sich der Benediktinerhof rühmte. Ein wenig enttäuscht ließ Sophie ihren Blick über den Frontgiebel mit den Fenstern gleiten, die durch rotbraun lackierte Läden noch zusätzlich optisch verschmälert wurden. Kein Kirchturm – seltsam: Sie hatte immer gedacht, dass zu einem Kloster auch eine Kirche gehörte!
Zu beiden Seiten der Freitreppe aus hellem Stein standen zwei so perfekt geschnittene Lorbeerbäumchen, dass Sophie der Versuchung nicht widerstehen konnte, ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben, um sich anhand des typischen Geruchs zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um lebende Pflanzen handelte. Die Beete, die sich entlang der Hausmauer erstreckten, mussten vor einigen Wochen einen spektakulären Anblick geboten haben. Die Unmengen vertrockneter Narzissen und das grasartige Laub der Traubenhyazinthen ließen noch etwas von dem vergangenen Farbenrausch ahnen. Im Moment blühten die gefüllten späten Tulpen, die mit der rüschenartigen Fülle ihrer Blütenköpfe eher an Päonien erinnerten.
Offensichtlich war der zuständige Gärtner des Benediktinerhofs fest entschlossen, die Sommerbepflanzung nicht vor den Eisheiligen in den Boden zu bringen und hatte sich deswegen für eine verlängerte Tulpensaison entschieden. Angesichts der erhöhten Hanglage eine kluge Entscheidung, die Sophie voll und ganz nachvollziehen konnte.
Die Freitreppe endete vor einer schweren, zweiflügeligen Holztür mit massiven Messingknäufen. Vorsichtig zog Sophie am rechten und war überrascht, wie leicht der Türflügel aufschwang. Beinahe schwerelos und ohne einen Laut gab er den Blick in die gegen das gleißende Morgenlicht düster wirkende Eingangshalle frei.
Rechts von ihr führte eine ausgetretene dunkle Holztreppe ins Obergeschoss, geradeaus ein Gang ins Gebäudeinnere. Die Rezeption schien unbesetzt. Sollte sie rufen oder die zierliche Messingglocke benutzen, die einladend neben einem Schild »Bitte läuten« hing?
Rasche Schritte auf der Treppe ersparten ihr eine Entscheidung. Das junge Mädchen in einem langen, schwarzen Samtrock und einer schwarzen Bluse, die hauptsächlich aus Ärmeln zu bestehen schien, musterte sie überrascht.
»Guten Morgen! Möchten Sie ein Zimmer? Wenn Sie nicht angemeldet sind, muss ich erst nachschauen, ob wir noch eins frei haben.«
»Guten Morgen! Eigentlich nicht. Frau Pohlmann wollte mit mir die Restaurierung des Klostergartens besprechen. Wo ist sie denn?« Sophie riss sich zusammen, um das junge Mädchen nicht zu auffällig anzustarren. Mit den dunkel geschminkten Lippen und dem balkendicken Lidstrich hätte es besser in einen Vampirfilm als in eine gutbürgerliche Umgebung gepasst! Ob diese dramatische Aufmachung wohl normal für sie war – oder war das Mädchen auf dem Weg zu einer Theaterprobe?
»Sind Sie etwa Frau Dr. Lichtenberger?«, fragte die junge Dame so ungläubig, dass Sophie lachen musste.
»Ganz recht. Und wer sind Sie?«
»Entschuldigung, ich bin Sandra. Sie können ruhig ›du‹ zu mir sagen.« Sie lächelte sie vertraulich an und fügte hinzu: »Wissen Sie, ich hatte Sie mir völlig anders vorgestellt. Sie sehen überhaupt nicht wie eine Frau Doktor aus.«
»Wie sieht denn eine Frau Doktor aus?«, konnte Sophie nicht widerstehen zu fragen.
»Na, etwas aufgemotzter. Nicht so normal.« Ihr Blick streifte über Sophies Gestalt in Jeans und karierter Bluse. »Sie erinnern mich eher an Siggi.«
»Und wer ist Siggi?«
»Tante Lilos Gärtner. Allerdings trägt der immer solche grässlichen Cordhosen.« Sie rümpfte die Nase und bewunderte selbstgefällig ihr Spiegelbild in dem großen Garderobenspiegel neben der Eingangstür.
»Wenn dein Onkel dich so sieht, gibt es Ärger!« Die ruhige, klare Altstimme gehörte zu einer weiblichen Gestalt, die jetzt langsam aus dem Korridor auftauchte, einen hoch beladenen Wäschekorb vor sich balancierend. »Bringst du das bitte ins Bügelzimmer? Und dann zieh dich lieber wieder um.« Vorsichtig übergab sie ihre Last, ignorierte den Flunsch, mit dem ihre Nichte auf die Anweisung reagierte, und wandte sich Sophie zu.
Auch Lieselotte Pohlmann entsprach nicht unbedingt der Vorstellung, die man sich von einer Hoteliersfrau machte. Eher hätte man an eine Opernsängerin oder etwas Ähnliches gedacht. Ihre schwarzen Haare trug sie in einem schlichten Knoten zusammengesteckt und ihr ovales, perfekt geschnittenes Gesicht erlaubte keine Rückschlüsse auf ihr Alter. Die königliche Haltung ließ vermuten, dass sie in ihrer Jugend Ballett getanzt hatte. Wieso nur, um Himmels willen, hatten ihre Eltern sie Lieselotte genannt?, dachte Sophie verständnislos.
»Herzlich willkommen bei uns«, sagte Frau Pohlmann und streckte ihr die Hand entgegen. »Entschuldigen Sie, ich habe nur kurz die Wäsche hereingeholt. Ich bin Liselotte Pohlmann und das« – sie wies auf einen gedrungenen Mann, der bedächtig die Treppe heruntergestiegen kam – »ist mein Mann.«
Beinahe hätte Sophie laut herausgelacht. Neben der bühnentauglichen Erscheinung seiner Frau wirkte Hans-Dieter Pohlmann absolut unscheinbar. Er war kein Mann, nach dem man sich umdrehte oder an den man sich sofort erinnert hätte. Von mittelgroßer Statur, schienen seine Erzeuger den Ehrgeiz gehabt zu haben, bei ihm nicht die kleinste Auffälligkeit zuzulassen. Nichts an den durchaus angenehmen Gesichtszügen war in irgendeiner Weise einprägsam. Die glatten, gescheitelten Haare hatten einen Farbton, von dem Sophie eine Friseuse einmal hatte sagen hören, es sei eine »Nicht-Farbe«. Auch die Augen waren schwer zu beschreiben. Waren sie grün, braun oder grau?
»Guten Tag.« Er streckte ihr die Hand entgegen und Sophie drückte sie überrascht. Der Mann besaß eine Stimme, die sie umhüllte wie weicher Samt. Welch eine Verschwendung, schoss Sophie durch den Kopf. Mit dieser Stimme könnte er ein Star sein, anstatt hier im tiefsten Hinterland ein Mittelklasse-Hotel zu führen! Ob er sang? Wenigstens privat oder zu seinem Vergnügen?
Als er wieder sprach, musste sie sich zwingen, auf die Worte zu hören und sich nicht einfach dem Klang zu überlassen. Sie hätte ihm stundenlang lauschen können.
»Vielleicht sollten wir als Erstes die Örtlichkeit besichtigen und uns dann fürs Geschäftliche ins Kaminzimmer setzen. Kennen Sie sich mit Klosteranlagen aus, Frau Dr. Lichtenberger?«, fragte er in seinem wunderbaren Bariton.
»Leider nur wenig«, bedauerte Sophie, »als Botanikerin habe ich mich zwar mit klösterlichen Kräutergärten, aber weniger mit der Architektur der Klöster beschäftigt.«
Sie wusste allerdings von den ausgefeilten Plänen von Klosteranlagen, die sicherstellten, dass die Mönche ihr Leben tatsächlich ohne Außenkontakte führen konnten. Von daher war ihr auch bekannt, dass der Kräutergarten – im Unterschied zu den profanen Ackeranlagen außerhalb der Klostermauern, die von Laienbrüdern bewirtschaftet wurden – die ausschließliche Domäne von in Heilkunde erfahrenen Mönchen war. Und er lag immer in einem ruhigen Bereich in unmittelbarer Nähe der Krankenquartiere.
»Ist von der ursprünglichen Anlage viel zerstört?«
»Das meiste«, erwiderte Herr Pohlmann. »Deshalb konnten wir das Kloster wunderbar für unsere Zwecke umbauen. Allerdings haben wir versucht, so viel zu erhalten wie möglich. Wegen des Ambientes – verstehen Sie?«
»Ja, die Gäste lieben es«, bestätigte seine Frau. »Aber man muss sich ständig etwas Neues einfallen lassen, und deshalb planen wir, ganz auf Wellness umzustellen. Bäder, Packungen, Massagen – solche Sachen und dazu eine Umstellung der Küche. Natürlich können wir nicht die vollständige Menge an Kräutern und Pflanzen, die wir benötigen, hier anbauen, aber es soll wenigstens eine Art Anschauungsgarten geben, wo all die Pflanzen wachsen, die wir nutzen. Und da dies hier ein ehemaliges Kloster ist, passt doch auch Klostermedizin gut, nicht?«
»Sind Sie sich bewusst, dass ein Teil der klassischen Klostermedizin hochwirksame Gifte enthält?«, fragte Sophie halb belustigt, halb besorgt. Einige der Alkaloide waren unbedingt als gefährlich einzustufen. Und beim Studium alter Abschriften von Rezepten hatten sich ihr so manches Mal die Haare gesträubt, wenn sie sich vorgestellt hatte, dass die dort beschriebenen Tinkturen tatsächlich angewandt worden waren.
»Deshalb legen wir ja so großen Wert auf einen Fachmann, oder in Ihrem Fall besser: eine Fachfrau«, bestätigte Herr Pohlmann und war ganz offensichtlich stolz auf diese Lösung des Problems. »Sie werden uns eine schöne Mischung zusammenstellen, die völlig ungefährlich ist, aber viel hermacht, nicht wahr?«
Sophie holte tief Luft.
»Das ist doch machbar, oder?« Lieselotte Pohlmann klang ein wenig verunsichert.
»Zuerst muss ich das Gelände sehen.« War es ein ummauerter Bereich oder eher eine Art Krautacker? Bestand der Boden aus Schutt oder Gartenerde, lag er günstig oder etwa nach Norden? Es war klüger, nicht vorschnell zuzusagen.
»Natürlich. Kommen Sie!«
Herr Pohlmann ging voraus und erläuterte dabei: »Hier, in diesem Teil, lagen ursprünglich die Abtswohnung und die Gästezimmer für die feinen Leute. Im rechten Flügel haben wir beim Umbau jede Menge alte Wasserleitungen gefunden. Dort dürften das Badehaus und das Krankenquartier gewesen sein. Passenderweise ist das nun der Wellness-Bereich. Im hinteren Teil, wo die Klausur der Mönche war, sind unsere sechsundzwanzig Gästezimmer.«
»Und die Kirche? Man sieht nicht einmal mehr eine Ruine.«
»Sie wurde bei einem Brand völlig zerstört und danach hat die Bevölkerung sie als Steinbruch genutzt. Auf den Fundamenten haben wir den Küchenbereich neu hochgezogen. Wenn es Sie interessiert, gebe ich Ihnen nachher eine Broschüre. Ein pensionierter Lehrer aus dem Ort hat sich viel Mühe damit gegeben, die Geschichte des Klosters zu erforschen. Ganz interessant.«
Die kleine Gruppe ging durch den langen, düsteren Korridor, an dessen Ende Sophie überrascht stehen blieb. »Wie schön!«, entfuhr ihr beim Anblick des Innenhofs, der bei warmer Witterung offensichtlich auch zur Bewirtung genutzt wurde.
»Das ist sehr beliebt bei den Gästen«, stellte Herr Pohlmann stolz fest. »Es war Lilos Idee, weil wir anfangs nicht wussten, was wir mit diesem verfallenen Kreuzgang anfangen sollten. Da hinten sind noch ein paar originale Bögen, wo sich der ehemalige Durchgang zur Kirche befand.« Seine pummelige Hand wies auf eine Ecke des weitläufigen Vierecks, in der hinter einem Rosenbusch und einigen Korbsesseln Spitzbögen und Säulen in hellgrauem Stein zu erkennen waren.
»Der Brunnen in der Mitte ist ebenfalls ein mittelalterliches Original, wenn auch nicht von hier. Den haben wir zufällig bei einem Steinmetz gefunden – und er passt doch sehr gut, nicht?«
Das musste man zugeben. Der gesamte Innenhof war beeindruckend. Die Pohlmanns hatten in alle vier Ecken üppig wachsende Rosensträucher gepflanzt, und große Sonnenschirme aus naturfarbenem Leinen beschatteten die großzügig verteilten Tische und die hochlehnigen Stühle aus grau patiniertem Teakholz.
Der kunstvoll behauene, dreischalige Steinbrunnen in der Mitte war das Herzstück. Sophie schätzte den Durchmesser des untersten runden Beckens auf gut zwei Meter. In seiner Mitte trug eine runde Säule das zweite, deutlich kleinere Becken, in dessen Rand acht Überläufe in Form kleiner Löwenköpfe aus grünlich angelaufenem Messing eingelassen waren. Das oberste Becken wurde gekrönt von einer Muschel, aus der das Wasser wie ein lebendiger Vorhang in das mittlere Becken rann, ehe es von dort durch die Löwenköpfe in das unterste plätscherte.
Rund um den Brunnen standen hohe Terrakottatöpfe voller Madonnenlilien, die bereits dicke Knospen zeigten.
»Er erinnert mich an italienische Gärten«, sagte Sophie ein wenig wehmütig und dachte an eine besonders schöne Exkursion, die sie dorthin unternommen hatte. Damals hatte sie gerade ihre Doktorarbeit abgeschlossen und sich beinahe übermütig gefühlt. Übermütig genug jedenfalls für eine kurze Affäre mit ihrem italienischen Reiseführer. Rigoros verbannte sie die Bilder von Luigis lachendem Gesicht wieder in die Tiefen, aus denen sie aufgetaucht waren. »Hier wollen Sie aber nicht den Kräutergarten einrichten, oder?«
»Nein, wir dachten an den Teil des Geländes, in dem er ursprünglich angelegt gewesen sein soll. Jedenfalls hat das der Architekt behauptet. Von hier aus ist etwa dort« – Herr Pohlmann wies auf einen imaginären Punkt links von ihnen – »die Kirche gewesen. Und da, entgegengesetzt, nach Süden zu, das Krankenquartier und der dazugehörige Kräutergarten. Der Kreuzgang lag so ziemlich mittig und verband die verschiedenen Gebäudekomplexe miteinander. Es dauert ein bisschen, ehe man sich hier orientieren kann.«
Offensichtlich der Ansicht, damit ausreichend Auskunft gegeben zu haben, setzte er sich wieder in Bewegung und führte die anderen durch einen dunklen Flur und eine schwere Holztür hinaus ins Freie.
»So, das ist jetzt der Bereich meiner Frau. Von diesem ganzen Wellness-Kram verstehe ich nicht viel. Das überlasse ich ihr.« Sophie trat durch die Tür und betrachtete verwirrt den verwilderten Garten, der sich dahinter ausbreitete. Zu ihrer Linken reckten sich die soliden Mauern der Gebäudeteile, in denen jetzt die Gästezimmer lagen, und schirmten das Gelände gegen Norden ab, wie sie nach einem schnellen Blick zur Sonne feststellte. Rechts von ihr musste also der Wellness-Flügel liegen. Man hatte den ursprünglichen Durchgang erweitert, und hinter einer großzügigen Glasfassade mit integrierter Tür leuchtete es türkisblau, smaragdgrün und amethystfarben.
Nach Osten und Süden zu schien ursprünglich eine hohe Steinmauer den Garten begrenzt zu haben. Vom östlichen Teil standen noch malerische Reste mit angedeuteten Spitzbögen, vor denen vielleicht die besonderen Lieblinge des Bruders Gärtner ihren Platz gehabt hatten.
Dort, wo ehedem die akkuraten Beete voller Heilkräuter gelegen haben mussten, befand sich jetzt ein chaotisches Durcheinander von Liegestühlen, einem Wassertretbecken, einem im Gras fast unsichtbaren Crocketparcours, einem Sandplatz für Beach-Volleyball und einigen Sportgeräten.
Jemand, vermutlich Siggi, hatte mit ein paar Blumenbeeten versucht, dem Ganzen ein wenig Flair zu verleihen, leider vergebens.
»Wir haben einfach ein bisschen herumprobiert«, erklärte Frau Pohlmann mit einem entschuldigenden Unterton und steckte eine lose Haarsträhne fest. »Letztes Jahr hatten wir dann die Idee mit dem Wassertretbecken, aber irgendwie funktioniert es nicht. Das kann ruhig alles weg – da müssen Sie keine Rücksicht drauf nehmen!«
Mitten im satten Grün stand gebückt eine kompakte Gestalt. Der kurze Kittel in dem strahlenden Hellblau, wie es gern von Kosmetikerinnen getragen wird, verbarg die Details der Figur, aber es war offensichtlich, dass sie nicht gerade zierlich geraten war.
»Unsere Masseurin und Bademeisterin, Frau Helga Wagner«, erklärte Frau Pohlmann lächelnd und rief dann laut: »Nun, was machen die Kaulquappen, Frau Wagner?«
Die Frau schrak hoch und wandte sich zu ihnen um. Ihr rundes Gesicht verzog sich überrascht. Dann lächelte sie und kam, Sophie neugierig musternd, näher.
»Das ist Frau Dr. Lichtenberger«, stellte Herr Pohlmann Sophie so förmlich vor, als kündigte er eine Berühmtheit an. »Hallo!« Helga streckte ihr die Hand entgegen und lächelte erneut, etwas scheu. »Ich freue mich«, sagte sie schlicht. »Es wird sicher sehr interessant für uns alle. Ich habe mir nur gerade überlegt, wohin mit dem Laich ... Man kann ihn doch nicht einfach wegschütten!« Die sanfte, leise Stimme, die so überhaupt nicht zu ihrer robusten Erscheinung passte, bebte ein wenig.
»Im Wassertretbecken haben sich letztes Jahr ein paar Frösche angesiedelt und offenbar auch für Nachwuchs gesorgt.« Herr Pohlmann schien sich nicht übermäßig für das Schicksal dieser Nachkommen zu interessieren, denn er fuhr fort: »Ich denke nicht, das wir das Ökosystem ruinieren, wenn wir diesen Schleimhaufen einfach entsorgen. Finden Sie nicht, dass Sie ein wenig übertreiben, Frau Wagner?«
Die stämmige Frau errötete, blieb aber fest. »Es überleben sowieso nur ganz wenige. Ich dachte, ich könnte sie erst einmal in einem Wassereimer bei mir halten.«
Her Pohlmann seufzte ungeduldig.
»Wenn die Kaulquappen schlüpfen, brauchen sie aber Nahrung«, mischte Sophie sich ein. »Ich denke nicht, dass es funktionieren würde, sie so lange in einem Eimer zu halten, bis sie ausgewachsen sind. Gibt es hier denn keinen Tümpel oder so etwas?«
»Gute Idee!« Herr Pohlmann nickte ihr anerkennend zu. »Lars oder Siggi können das übernehmen. Nun, was halten Sie davon?«
»Ich denke, hier war tatsächlich der ursprüngliche Kräutergarten«, erwiderte Sophie nachdenklich. »Er liegt genau richtig. Wenn dort das Krankenquartier war« – sie drehte sich uni und zeigte auf die Stirnseite des Gebäudeflügels mit der Glasfront hinter ihnen –, »hatten sie hier alles in nächster Nähe.«
»Also war das hier so etwas wie eine Freiluftapotheke?«, fragte Frau Pohlmann interessiert.
»Könnte man sagen. Aber viele der üblichen Heilkräuter, wie beispielsweise Gundermann, hat man lieber in der freien Natur gesammelt, weil sie sonst alles überwuchert hätten. Es wächst ja praktisch überall. Da drüben auf der Mauerkrone auch: das mit den kleinen blauen Blüten ...«, erläuterte Sophie. »Hier waren sicher nur die klassischen Klosterkräuter angepflanzt.«
Wenn man das Gelände mit einer Planierraupe oder einem entsprechend ausgestatteten Bagger abzog, konnte man vielleicht sogar noch die Bodenverfärbungen der alten Beete erkennen. Sophie begann sich zunehmend für die Aufgabe zu erwärmen. Es schien ein interessantes Projekt zu werden!
In ihrer Vorstellung entfernte sie alle gegenwärtigen Aufteilungen, ersetzte sie durch die vorgeschriebenen sechzehn Beete der mittelalterlichen Herbularien, zog die Mauern wieder hoch, die ursprünglich für das geschützte Mikroklima gesorgt hatten, das die teilweise kälteempfindlichen Pflanzen zum guten Gedeihen benötigten ...
»Wie authentisch möchten Sie den Garten haben?«, wandte Sophie sich an die beiden Pohlmanns. »Wenn wir es ganz korrekt machen, müssten wir auch die Mauern dort wieder hochziehen.«
Die beiden sahen sich an und entschieden dann wie aus einem Mund: »Nein, auf keinen Fall!«
»Wir möchten nicht, dass sich die Gäste eingesperrt fühlen«, erläuterte Lieselotte Pohlmann. »Kann man nicht einfach die nötigen Pflanzen hier verteilen und fertig?«