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Im Zentrum dieses Buches steht die sog. "Psychosomatische Verarbeitungsstruktur": Eine Konstellation von Verarbeitungsprozessen, wie sie bei Klienten mit bestimmten psychosomatischen Erkrankungen, wie z.B. Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn, typisch ist. Die Klientinnen und Klienten können sich schlecht abgrenzen, kaum "nein" sagen und treten nicht für ihre Rechte ein. Nach einer detaillierten Beschreibung wird eine Methode zur empirischen Erfassung dieser Struktur vorgestellt. Sodann werden ausführlich therapeutische Strategien der Klärungsorientierten Psychotherapie vorgestellt, mit deren Hilfe Therapeuten diese Struktur effektiv bearbeiten können: Informationen an Klienten, Motivierung der Klienten, Bearbeitung der Vermeidung und weitere therapeutische Vorgehensweisen. Das Buch wird durch eine Darstellung bisheriger empirischer Ergebnisse zur Effektivität der beschriebenen Therapie abgerundet.
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Rainer Sachse
Klärungsorientierte Psychotherapie psychosomatischer Störungen
Prof. Dr. Rainer Sachse, geb. 1948. 1969–1978 Studium der Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Ab 1980 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum. 1985 Promotion. 1991 Habilitation. Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1998 außerplanmäßiger Professor. Leiter des Institutes für Psychologische Psychotherapie (IPP), Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Persönlichkeitsstörungen, Psychosomatische Störungen, Klärungsorientierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie.
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Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen
Format: EPUB
1. Auflage 2018
© 2018 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2918-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2918-3)
ISBN 978-3-8017-2918-9
http://doi.org/10.1026/02918-000
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Kapitel 1 Einleitung: Die Anliegen dieses Buches
Teil 1: Theorie der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur
Kapitel 2 Die Entwicklung des Konzeptes
2.1 Einleitung
2.2 Die Ergebnisse der Bochumer Studien
2.2.1 Chronisch entzündliche Darmerkrankungen: Colitis ulcerosa und Morbus Crohn
2.2.2 Die Bochumer Untersuchungen
Kapitel 3 Theorie: Ein psychologisches Modell der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur
3.1 Überblick über das Modell
3.2 Erwartungsorientierung
3.2.1 Das Konzept
3.2.2 Woran erkennt man hohe Erwartungsorientierung bei einem Klienten?
3.3 Konfliktvermeidung
3.3.1 Das Konzept
3.3.2 Woran erkennt man eine hohe Konfliktvermeidung beim Klienten?
3.4 Schlechte Abgrenzung
3.4.1 Das Konzept
3.4.2 Woran erkennt man eine schlechte Abgrenzung des Klienten?
3.5 Niedrige Autonomie
3.5.1 Das Konzept
3.5.2 Woran erkennt man bei einem Klienten eine niedrige Autonomie?
3.6 Alienation
3.6.1 Das Konzept
3.6.2 Aktueller Zugang zum Motiv-System
3.6.3 Mangelnde Repräsentation
3.6.4 Woran erkennt man Alienation bei einem Klienten?
3.7 Ignorierung von Belastungsgrenzen
3.7.1 Das Konzept
3.7.2 Woran merkt man bei Klienten, dass sie Belastungsgrenzen ignorieren?
3.8 Weitere Charakteristika von Klienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
3.8.1 Vermeidung
3.8.2 Hohe Lageorientierung
3.8.3 Mangelnde Selbstakzeptierung
3.8.4 Geringe Selbst-Effizienzerwartung
3.8.5 Externale Kontrollüberzeugungen
3.8.6 Interaktionelle Spiele
Kapitel 4 Das Ratingsystem zur Erfassung der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur
4.1 Ziel eines Ratings
4.2 Warum ein Rating-System?
4.3 Die Einschätzungen
4.3.1 Erwartungsorientierung (EO)
4.3.2 Konfliktvermeidung
4.3.3 Schlechte Abgrenzung
4.3.4 Niedrige Autonomie
4.3.5 Hohe Alienation
4.3.6 Ignorierung von Belastungsgrenzen
4.4 Kopiervorlage für das Rating
4.5 Vorgehen beim Rating
Kapitel 5 Reliabilität und Validität des Rating-Systems
5.1 Reliabilität des Ratingsystems
5.2 Validierung des Ratingsystems
Teil 2: Die Therapie der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur
Kapitel 6 Klärungsorientierte Psychotherapie der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur
6.1 Einleitung
6.2 Das therapeutische Problem zu Therapiebeginn bei Klienten mit manifesten Erkrankungen
6.3 Therapeutischer Umgang mit den therapeutischen Eingangsschwierigkeiten, die Klienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur erzeugen
6.4 Basisinformationen an den Klienten
6.4.1 Informationsdefizit
6.4.2 Informationen über die Beziehung von psychischen Prozessen und körperlichen Reaktionen
6.4.3 Informationen über Belastungen und Stress
6.4.4 Informationen über Diathese-Stress und Coping
6.4.5 Informationen über die Natur des Stresses
Kapitel 7 Vermeidung und der therapeutische Umgang mit Vermeidung
7.1 Vermeidung als ein zentrales Charakteristikum des Prozessverhaltens bei Klienten mit PVS
7.2 Therapeutische Bedeutung der Vermeidung
7.3 Was ist Vermeidung?
7.3.1 Vermeidung ist ein normaler Prozess
7.3.2 Die „Bearbeitung der Bearbeitung“
7.3.3 Klienten mit hoher Vermeidung
7.3.4 Bewusste und automatische Vermeidung
7.4 Prinzipielle therapeutische Vorgehensweisen bei Vermeidung
7.5 Drei Strategien auf Bearbeitungsebene
7.5.1 Steuern
7.5.2 Transparentmachen der Vermeidung
7.5.3 Klären der Gründe der Vermeidung
7.6 Typische Vermeidungsstrategien von Klienten und ihre therapeutische Bearbeitung
7.6.1 „Ich weiß nicht“
7.6.2 Therapeutischer Umgang mit „Ich weiß nicht“
7.6.3 Fragen beantworten, die man nicht gestellt hat
7.6.4 Therapeutischer Umgang mit „Fragen beantworten, die man nicht gestellt hat“
7.6.5 Nebenschauplätze
7.6.6 Therapeutischer Umgang mit Nebenschauplätzen
7.6.7 Dysfunktionale Attribution
7.6.8 Therapeutischer Umgang mit dysfunktionaler Attribution
7.6.9 Thematische Sperren
7.6.10 Therapeutischer Umgang mit thematischen Sperren
7.6.11 Normalisieren und Generalisieren
7.6.12 Therapeutischer Umgang mit Normalisieren und Generalisieren
7.6.13 Bagatellisieren und Relativieren
7.6.14 Therapeutischer Umgang mit Bagatellisierung und Relativierung
7.6.15 Meta-Bewertungen
7.6.16 Therapeutischer Umgang mit Meta-Bewertungen
7.6.17 Euphemistische Problemdefinitionen
7.6.18 Therapeutischer Umgang mit Euphemismen
7.6.19 Realitätskonstruktionen als Realität
7.6.20 Zwangsläufigkeitskonstruktionen
7.6.21 Unlösbarkeitskonstruktionen
7.6.22 Therapeutischer Umgang mit Unlösbarkeit
Kapitel 8 Weitere therapeutische Maßnahmen
8.1 Klären relevanter Schemata
8.2 Bearbeitung von Schemata
8.3 Alienation
8.3.1 Begriff und Relevanz von Alienation
8.3.2 Therapeutische Bearbeitung der Alienation
8.4 Trainings
Kapitel 9 Klärungsorientierte Psychotherapie bei einer Klientin mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
9.1 Die Klientin
9.2 Das Transkript
9.3 Das therapeutische Vorgehen
9.3.1 Allgemeines
9.3.2 Kommentar
Teil 3: Untersuchung zur Effektivität Klärungsorientierter Psychotherapie bei Klienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
Kapitel 10 Effekte Klärungsorientierter Psychotherapie bei Klientinnen und Klienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
10.1 Fragestellung
10.2 Methoden
10.2.1 Festlegung des Signifikanzniveaus
10.2.2 Überprüfung der Normalverteilung
10.2.3 Verwendete Messinstrumente
10.3 Ergebnisse
10.3.1 Stichprobe
10.3.2 Stichprobe Patienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
10.4 Überprüfung der Normalverteilung: Patienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
10.5 Mittelwertvergleiche der Prä- und Postgruppen, t-Test für verbundene Stichproben, Wilcoxon-Test, Effektstärken bei Klienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur
10.5.1 Ergebnisse I
10.5.2 Ergebnisse II
10.5.3 Ergebnisse III
10.5.4 Ergebnisse IV
10.5.5 Ergebnisse V
10.5.6 Ergebnisse VI
10.6 In welchen Variablen profitieren Klientinnen und Klienten mit psychosomatischer Verarbeitungsstruktur am stärksten?
Literatur
Dieses Buch verfolgt zwei Anliegen: Als erstes soll eine für bestimmte psychosomatische Störungen typische psychische Konstellation beschrieben werden, die ich als die „psychosomatische Verarbeitungsstruktur“ bezeichnen möchte. Dabei werde ich diese Struktur ableiten, definieren und ein Instrument zu ihrer Diagnostik vorstellen.
Als zweites möchte ich zeigen, wie die Klärungsorientierte Psychotherapie (KOP) eine solche psychosomatische Verarbeitungsstruktur effektiv therapieren kann: Ich möchte dann therapeutische Strategien vorstellen und eine Studie zur Effektivität dieser Therapie vorstellen.
Was die psychosomatische Verarbeitungsstruktur betrifft, so zeigen viele Klientinnen und Klienten eine psychische Struktur von mangelnder Durchsetzungsfähigkeit, Konfliktscheu und hoher Erwartungsorientierung: Sie können sich schlecht abgrenzen, „nein“ sagen und treten nicht für ihre Rechte ein.
Diese Struktur von Handlung und Verarbeitung möchte ich hier, weil sie in hohem Maße mit bestimmten sogenannten „psychosomatischen Erkrankungen“ verbunden ist, als „psychosomatische Verarbeitungsstruktur“ bezeichnen.
Eine solche Struktur kann man natürlich auch dann aufweisen, wenn man gar keine psychosomatische Erkrankung aufweist: Sie beeinträchtigt in jedem Fall in hohem Maße die individuelle Lebensqualität und führt zu hohen subjektiven Kosten. Aus diesem Grunde ist es für Therapeuten äußerst wichtig, diese Struktur diagnostisch früh zu erkennen und die Klienten richtig psychotherapeutisch zu behandeln. Zu beidem will dieses Buch einen Beitrag leisten: Therapeuten sollen früh erkennen, dass Klienten eine solche Struktur aufweisen und sollen in die Lage versetzt werden, angemessen mit den typischen Problemen der Klienten, die in der Therapie zu schwierigen Situationen führen, umzugehen. Das Buch erläutert die Theorie der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur und macht deutlich, wie Therapeuten diese zuverlässig diagnostizieren können.
Das Buch stellt sodann ausführlich therapeutische Strategien der Klärungsorientierten Psychotherapie vor, mit deren Hilfe Therapeuten diese Struktur effektiv |2|bearbeiten können: Informationen an Klienten, Motivierung der Klienten, Bearbeitung der Vermeidung und weitere therapeutische Vorgehensweisen. Schließlich werden die bisherigen empirischen Ergebnisse zur Effektivität der beschriebenen Therapie berichtet.
In diesem Abschnitt wird die Theorie der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur (PVS) entwickelt. Dabei werden die entscheidenden psychologischen Variablen abgeleitet und definiert, und es wird ein Ratingverfahren zur reliablen und validen Erfassung dieser Struktur vorgestellt.
In den Jahren 1980 bis 1992 hat der Verfasser an der Ruhr-Universität Bochum zwei größere Forschungsprojekte durchgeführt, um die psychische Verarbeitungsstruktur von Patientinnen und Patienten mit Morbus Crohn (MC) und mit Colitis ulcerosa (CU) genauer zu untersuchen und festzustellen, wie diese Patienten auf eine spezielle Variante der Klärungsorientierten Psychotherapie reagieren.
Dabei wurde festgestellt, dass diese Patienten ein relativ typisches Verarbeitungsmuster aufweisen, das im Wesentlichen durch eine starke Vermeidung, sich mit eigenen Problemen zu befassen, einer starken Ignorierung persönlicher Belastungsgrenzen, einer mangelnden Fähigkeit, sich abzugrenzen oder durchzusetzen und einer erhöhten Alienation, also einer Entfremdung vom eigenen Motiv-System, gekennzeichnet ist.
Daraus resultierte der Versuch, so etwas wie eine typische „Verarbeitungsstruktur“ von Klienten zu finden, die sogenannte „psychosomatische Erkrankungen“ aufweisen: Also relevante psychologische Variablen zu definieren, die Psychosomatiker kennzeichnen.
Dabei wird davon ausgegangen, dass solche Variablen nicht nur bei Personen mit manifesten psychosomatischen Erkrankungen vorkommen, sondern, als eine Art von „Diathese“, auch bei Personen, die noch gar keine manifeste Psychosomatik ausgebildet haben.
Die Klienten mit Colitis ulcerosa und Morbus Crohn waren somit der Forschungs-Ausgangspunkt, um an ihnen solche Prozesse exemplarisch zu erforschen: Ziel der Forschung war es dabei nicht, ganz spezielle Variablen nur für diese Störungsgruppen zu finden, sondern eher übergreifende Variablen, die in der Lage sind, auch andere Klienten mit anderen Störungen und, wie gesagt, auch Klienten ohne manifeste psychosomatische Erkrankungen zu beschreiben.
Das nächste Ziel war nun, aufbauend auf den bisherigen Forschungsergebnissen ein Ratingsystem zu entwickeln, mit dessen Hilfe Rater und Therapeuten bei Kli|6|enten eine solche psychosomatische Verarbeitungsstruktur valide und reliabel erkennen können. Und zwar anhand von Therapieausschnitten, von Therapie, die Therapeuten mit Klienten real durchführen.
Ein solches Verfahren würde es ermöglich,
eine solche Verarbeitungsstruktur schon früh im Therapieprozess zu identifizieren,
ohne zusätzlichen diagnostischen Aufwand, abgesehen von der Anwendung des Ratingsystems,
sich als Therapeut schon früh auf relevante psychologische Klienten-Variablen im Therapieprozess zu konzentrieren.
Hier werden die Ergebnisse der Bochumer Studien und ihre Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Konzeption einer „psychosomatischen Verarbeitungsstruktur“ kurz dargestellt.
Der Ausgangspunkt der Untersuchungen waren Personen mit sogenannten „chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen“. Daher sollen diese Störungen hier kurz dargestellt werden.
Unter dem Begriff „chronisch entzündliche Darmerkrankungen“ werden zwei Krankheiten zusammengefasst (Köhler, 1995, S. 192), nämlich Colitis ulcerosa und Morbus Crohn (Adler, 1997). Es sind leichte bis sehr schwere Erkrankungen des Verdauungssystems, die im Wesentlichen schubweise verlaufen (Bischoff, 1997; Dietrich & Caspary, 1997a, 1997b), die zu schweren Symptomen und körperlichen Begleiterscheinungen führen können (Raedsch, 1997; Rothfuß, 2015), die mit medizinischen Methoden diagnostiziert werden müssen (Andus, 1997; Dignass et al., 2010, 2011; Escher, 2015; Ehehalt & Kramer, 2014; Götz, 2015; Hartmann & Tannapfel, 2015; Lembcke, 1997; Preiß et al., 2014; Stein, 2015) und die einer medizinischen Behandlung erforderlich machen (Frei & Rogler, 2014; Herrlicher & Stange, 1997; Kreis, 2015; Krummenerl & Fleig, 1997; Scherer et al., 2011).
Beide Störungen weisen multiple Ursachen-Faktoren auf, u. a. genetische Dispositionen (Schreiber & Rosenstiel, 2015; Wehkamp & Stange, 2015) sowie psychosoziale Probleme (Hardt et al., 2010a, 2010b).
|7|Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa sind eher seltene Erkrankungen: Sie treten im Durchschnitt bei nicht einmal 1 % der Bevölkerung auf, insbesondere in Industrieländern (Köhler, 1995; Ott, 2015).
Colitis ulcerosa (CU) bezeichnet eine unspezifische, geschwürbildende Erkrankung des Dickdarms: Je nach Ausdehnung der Colitis gibt es Symptome von Bauchschmerzen, Fieber, Anämie, Elektrolytverlust, gerötete und geschwollene Darmschleimhaut und (eher kleinere) Geschwüre (Adler, 1997). Die Patienten weisen bis zu 20 – 30× am Tag blutige/schleimige Durchfälle auf. Man unterscheidet drei Schweregrade mit geringer, mittlerer und hoher Krankheitsaktivität (Dietrich & Caspary, 1997a; Hoffmann, 2015; Jantschek, 2012; Melle et al., 2011; Weidenbach, 1982).
Morbus Crohn (MC) ist eine unspezifische Entzündung im Bereich des unteren Verdauungstraktes (Crohn et al., 1932; Friebel, 1995). Die Entzündungen können sich auf den gesamten gastrointestinalen Trakt ausdehnen. Es gibt Geschwürbildungen der Schleimhaut sowie Einlagerungen in der Darmwand. Die Erkrankung verläuft in Schüben: Während eines Schubes treten Diarrhoe, Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, blutige Stühle und Fieber auf (Adler, 1997; Attenberger, 1982; Chang & Schwartz, 2001; Crohn et al., 1932; Friebel, 1992, 1995; Goebell et al., 1987; Herbert & Cohen, 1993; Schreiber, 1993; Sheffield & Carney, 1976; Stallmach, 2015; Zacher & Becker, 1988).
Auf psychologischer Ebene führen die Erkrankungen zu Depressionen, Ängsten (auch vor Verschlimmerung der Erkrankung), erhöhter Müdigkeit, hoher psychischer Belastung und insgesamt reduzierter Lebensqualität (Ananthakrishnan et al., 2013; Graff et al., 2011; Hardt et al., 2010a, 2010b; Iglesias-Rey et al., 2014; Loftus et al., 2011; Nahon et al., 2012; Vogelaar et al., 2011).
Untersuchungen zur Psychotherapie brachten widersprüchliche Ergebnisse: Einige Therapien erbrachten positive Effekte, andere hatten keinen Einfluss (Boye et al., 2011; McCombie et al., 2013; Wahed et al., 2010). Kognitiv-behaviorale Therapien hatten den größten Effekt (Knowles et al., 2013).
In den Bochumer Untersuchungen ging ich davon aus, dass sich Patienten mit MC und CU nicht in „Persönlichkeitseigenschaften“, sondern in psychologischen Verarbeitungsprozessen von Personen ohne psychosomatische Erkrankungen unterscheiden: Darin, wie sie eigene Motive repräsentieren, damit, wie sie mit Konflikten umgehen, darin, wie sie sich in sozialen Situationen abgrenzen, darin, wie sie eigene Belastungsgrenzen erkennen und mit ihnen umgehen etc.
Die Grundhypothese war, dass diese Patienten Situationen anders verarbeiten und andere Arten grundlegender Verarbeitungsstrukturen aufweisen als Personen ohne |8|diese Erkrankungen (Sachse, 1991a, 1991b, 1993a, 1995a, 1995b, 1995c, 1997a, 1997b, 1998, 1999, 2006a, 2007). Die Annahme war, wenn es bei diesen Störungen relevante psychische Faktoren geben sollte, dann sollten diese nicht in statischen Merkmalen von „Persönlichkeitszügen“ (traits) zu finden sein, sondern in eher dynamischen Merkmalen wie Verarbeitungsprozessen und solchen Merkmalen, die solche Verarbeitungsprozesse aktuell steuern, die also Prozesse der Informationsverarbeitung und Emotionsregulation steuern. Die entscheidenden Merkmale sollten auch nicht in „psychopathologischen Symptomen“ (wie Depression, Angst etc.) zu finden sein, sondern in funktionellen psychischen Prozessen, d. h. in aktuellen Kognitionen, Affekten und Emotionen bzw. in psychischen Strukturen, die solche Prozesse bedingen (vgl. Kuhl, 1983a, 1983b, 1983c, 1992, 2001).
Und: Die relevanten psychischen Determinanten sollten nicht in Einzelvariablen zu finden sein, sondern in dem Zusammenspiel von Variablen: Es soll ein System von relevanten Variablen geben, zwischen denen es Wechselwirkungen gibt und die als System auf andere Variablen einwirken.
In verschiedenen Untersuchungen wurde versucht, relevante Prozessvariablen zu finden, die
die aktuellen Verarbeitungen betreffen oder psychologische Strukturen, die aktuelle Informationsverarbeitungen oder Handlungsregulation beeinflussen;
die gut psychologisch fundiert und psychologisch beschreibbar sind;
deren Wechselwirkungen sich psychologisch beschreiben lassen.
Die Ergebnisse in der Zusammenfassung:
Patienten mit CU oder MC weisen einen sehr schlechten Zugang zu eigenen Affekten auf und können die Bedeutung eigener Affekte sehr schlecht bis gar nicht repräsentieren; dies weist auf ein hohes Ausmaß an Alienation hin, auf eine starke Entfremdung vom eigenen Motiv-System (s. u.; Atrops & Sachse, 1994; Sachse & Atrops, 1991). Dabei muss man davon ausgehen, dass sie die affektive Verarbeitung nicht „ausschalten“ können, sondern dass sie die Wahrnehmung von Affekten systematisch vermeiden (vgl. Sachse, 2014; Sachse & Fasbender, 2011, 2014; Sachse et al., 1992).
Patienten mit CU oder MC können auch im Therapieprozess eigene Motive, relevante Schemata und Affekte nur sehr schwer klären; sie reagieren kaum auf entsprechende Interventionen von Therapeuten und zeigen ein sehr hohes Ausmaß an Vermeidung (Sachse, 1993a, 1997a, 1997b, 2007; Diedrich, 1989; Jansen, 1995). Auch dies weist auf eine hohe Alienation sowie einen schlechten Zugang zu Affekten sowie auf eine hohe generelle Vermeidung hin: Die Patienten beachten systematisch nicht affektive Prozesse oder relevante interne Verarbeitungsprozesse, die ihnen Aufschluss geben können über Motive, relevante Ziele oder aber über „interne Störungen“ wie Erschöpfung, Ärger, Unbehagen oder Unzufriedenheit.
|9|Patienten mit CU oder MC wenden ihre Aufmerksamkeit systematisch von Körperprozessen ab und schneiden sich damit selbst von relevanten Informationen wie Affekten, körperlichen Erschöpfungssignalen, Signalen von Unzufriedenheit, emotionalen Signalen etc. ab (Krawinkel, 1989; Muß, 1993; Ries, 1993; Sachse, 1994b; Tholen, 1994).
Patienten mit CU und MC zeigen ein hohes Ausmaß an externaler Perspektive, an Erwartungsorientierung, an Lage-Orientierung, eine defizitäre Selbst-Akzeptierung, ein niedriges Ausmaß an Kontrollüberzeugungen, eine mangelnde Fähigkeit, nein zu sagen und sich abzugrenzen, und eine schlechte Stressregulation sowie eine erhöhte Alienation (Aschke, 1995; Bauta, 1995; Deges, 1998; Di Bari, 1994; Dikomey, 1994; Fuß, 1995; Helfer, 1994; Kukorus, 1995; Litz, 1995; Pleiger, 1996; Rohde, 1994; Rudolph, 1989; Rüter, 1996; Sachse, 1995a, 1995b, 2006a; Sachse & Rudolph, 1992a, 1992b; Scotland, 1995; Wiegert, 1995; Wüstefeld-Will, 1997).
Aufgrund der theoretischen Grundüberlegungen und aufgrund der empirischen Ergebnisse kann man ein Verarbeitungsmodell entwickeln: Ein Modell darüber, welche relevanten Arten von Informationsverarbeitungen Personen mit CU oder MC vornehmen bzw. welche psychologischen Strukturen oder Prozesse für eine charakteristische Informationsverarbeitung relevant sind.
Dabei wird die Hypothese aufgestellt (die empirisch noch weiter verfolgt werden soll), dass es sich hier um eine grundlegende Verarbeitungsstruktur handelt, die nicht nur Patienten mit MC oder CU betrifft, sondern auch Patienten mit anderen körperlichen Erkrankungen, bei denen psychische Faktoren eine signifikante Rolle spielen. So z. B. bei Kopfschmerz-Patienten, bei Rückenschmerz-Patienten, bei Patienten mit Magengeschwüren u. a. Daher soll hier verallgemeinernd von einer psychosomatischen Verarbeitungsstruktur gesprochen werden, also einer Struktur von psychologischen Variablen, die typisch ist bei Patienten mit bestimmten sogenannten psychosomatischen Erkrankungen.
Aufgrund der bisherigen empirischen Ergebnisse lässt sich ein Modell der psychosomatischen Verarbeitungsstruktur definieren. Dieses enthält die folgenden Variablen:
Hohe Erwartungsorientierung: Die Person orientiert sich stark daran, was (wichtige) Interaktionspartner aktuell von ihr erwarten bzw. sie orientiert sich daran, was sie denkt, was Interaktionspartner aktuell von ihr erwarten; sie versucht in hohem Maße, diese Erwartungen zu erfüllen.
Hohe Konfliktvermeidung: Die Person vermeidet in hohem Maße Konflikte mit Interaktionspartnern: Konflikte werden als unangenehm und bedrohlich erlebt und die Person versucht schon im Vorfeld, Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Schlechte Abgrenzung: Die Person kann sich schlecht abgrenzen, kann schlecht „nein“ sagen, kann Bitten oder Ansprüche von anderen schlecht abblocken; sie |11|kann schlecht offen äußern, wenn sie etwas nicht möchte oder wenn sie anderer Ansicht ist als ein Interaktionspartner.
Niedrige Autonomie: Die Person zeigt nur ein geringes Streben nach Autonomie, d. h. sie ist nicht stark geneigt, Lebensbereiche selbst bestimmen zu wollen; sie reagiert damit auf Fremdbestimmungen auch nicht aversiv oder reaktant.
Alienation: Eine Entfremdung vom eigenen Motiv-System, d. h. es besteht ein Problem darin zu wissen, was man möchte und nicht möchte; man verfügt über keine angemessene Repräsentation und kann auch aktuell bestehende Präferenzen nicht feststellen.
Ignorierung eigener Belastungsgrenzen: Die Person nimmt Erschöpfung, Ermüdung, Überdruss, Unzufriedenheit nicht gut oder gar nicht wahr oder, wenn sie sie wahrnimmt, dann ignoriert sie sie. Daher erkennt die Person nicht (rechtzeitig), dass sie hohem Stress ausgesetzt ist, aktuell überlastet ist, krank ist, erschöpft ist und dass es nötig wäre, eine Auszeit zu nehmen oder eine Pause zu machen.
Die ersten vier Aspekte hohe Erwartungsorientierung, hohe Konfliktvermeidung, schlechte Abgrenzung und niedrige Autonomie sollen als Pawn-Struktur bezeichnet werden: Der Begriff eines „Pawn“ für eine Person stammt von de Charms (1968) und ist von dem englischen Begriff des „Bauern“ (pawn) im Schachspiel abgeleitet.
Ein „Pawn“ ist nach de Charms eine Person, die ihr Handeln als wenig selbstbestimmt und selbstbestimmbar wahrnimmt, die sich nicht durchsetzen, abgrenzen kann, die kaum ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung hat und deshalb auch von anderen leicht beeinflussbar, manipulierbar und bestimmbar ist: Eben der „Bauer“, der auf dem Schachbrett von anderen „gespielt“ wird.
Erwartungsorientierung (EO) ist die Tendenz einer Person, die Erwartungen eines Interaktionspartners zu ergründen und zu versuchen, diese Erwartungen möglichst genau oder umfangreich zu erfüllen.
Dabei versucht die Person als Erstes, bei einem Interaktionspartner (IP), mit dem sie gerade aktuell interagiert, herauszufinden, was dieser von ihr möchte oder nicht möchte, welche Wünsche oder Erwartungen er an sie hat. Sie versucht also, ein Modell seiner Erwartungen zu bilden.
Dazu kann sie Wissen über die Person heranziehen, Schlüsse aus seinem Verhalten oder aus seinen Aussagen ziehen etc.
|12|Diese Rekonstruktion kann dabei unterschiedlich gut oder valide sein: Sie kann weitgehend auf „Fakten“ basieren, sie kann aber auch komplett spekulativ sein.
Meist orientieren sich die Personen auch nicht wirklich daran, was ein Interaktionspartner tatsächlich erwartet. Denn tatsächlich wissen sie gar nicht genau, was andere erwarten, denn sie fragen andere nie. In Wirklichkeit orientieren sie sich daran, was sie glauben, was andere erwarten, und das ist in aller Regel überhaupt nicht validiert. Und das führt oft zu interaktionellen Problemen, da die Klienten oft etwas tun, von dem sie glauben, dass die anderen es wollen, die das aber gar nicht wollen und den Klienten damit für aufdringlich oder sogar grenzüberschreitend halten.
Dabei kann die Person im Extremfall einen „vorauseilenden Gehorsam“ entwickeln, also versuchen, die Erwartungen des IP schon zu erfüllen, bevor dieser sie äußert oder sogar selber weiß. Die Klienten sind dabei nicht norm-orientiert: Sie orientieren sich nicht an Normen, die in allen Kontexten gleich sind: Daher ist ihr Verhalten „flexibel“ und ändert sich mit dem jeweiligen IP.
In aller Regel haben die Klienten, wenn sie den Eindruck haben, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen, ein „schlechtes Gewissen“ bzw. aktuelle Befürchtungen, vom IP (von nun an) abgelehnt, abgewertet zu werden oder sozial ausgeschlossen, gemieden zu werden.
Eine hohe Erwartungsorientierung erkennt man daran, dass ein Klient
versucht, es anderen recht zu machen,
versucht, anderen Wünsche zu erfüllen,
versucht, anderen „Wünsche von den Augen abzulesen“,
versucht herauszufinden, was andere möchten oder wollen bzw. nicht möchten oder nicht wollen,
versucht, sich dabei verschiedenen Personen jeweils flexibel anzupassen,
versucht, eine Art von „vorauseilendem Gehorsam“ zu praktizieren,
es nicht aushalten kann, wenn er denkt, er hätte andere verprellt, enttäuscht, frustriert,
denkt, dass andere mit ihm unzufrieden sind,
denkt, dass dies unangenehme soziale Konsequenzen nach sich ziehen könnte wie Ablehnung, gemieden werden, ausgegrenzt werden etc.
Mit Konflikt soll hier ein interaktioneller Konflikt verstanden werden, also ein Konflikt zwischen zwei (oder mehreren) Personen, nicht ein internaler Konflikt, als ein Konflikt innerhalb einer Person (Barki & Hartwick, 2004; Volkema & Bergmann, 1995).
„Konflikt“ bedeutet dabei, dass zwei (oder mehr Personen) unterschiedliche, nicht einfach aufzuhebende Differenzen in Meinungen oder Ansichten haben oder dass sie auf gleiche Ressourcen zugreifen, unvereinbare Wünsche oder Motive haben, sodass sie sich gegenseitig blockieren oder behindern (Brehmer, 1976; Thomas, 1992).
Konflikte können von den „Konflikt-Parteien“ offen ausgetragen werden; sie können jedoch auch (mehr oder weniger systematisch) vermieden werden (Best & Andreasen, 1977; Latzer & Gaber, 1998; Leung, 1988; Rahim & Magner, 1995). Personen können dabei eine Vielzahl kognitiver und behavioraler Strategien lernen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, wie
sich unterordnen,
Konflikte nicht thematisieren,
Gemeinsamkeiten betonen,
Konflikte auf Nebenschauplätzen verlagern usw.
Ein interaktioneller Konflikt entsteht, wenn zwei (oder mehr) Personen gleichzeitig etwas wollen, das nicht kompatibel ist (das gleiche Ziel verfolgen, was aber nur von einem erreicht werden kann; das Gleiche tun wollen, was aber nur von einem getan werden kann; auf die gleichen Ressourcen zugreifen, die aber nur von einem genutzt werden können etc.; vgl. Boulding, 1962; Zuschlag & Thielke, 1992). Zu einem Konflikt kommt es, wenn alle Beteiligten sich dem Konflikt stellen und ihn aushandeln: Dies führt meist zu Spannungen, Auseinandersetzungen, interaktionellen Problemen, da eine Lösung nur darin bestehen kann, dass einer zurücksteckt oder darin, dass ein Kompromiss gefunden werden muss. Die Situation kann jedoch nicht für alle Beteiligten optimal enden. Psychologisch gesehen ist eine Konfliktsituation eine aversive Situation: Man muss Spannungen aushalten, Auseinandersetzungen führen, eventuell sich streiten, andere verprellen usw.