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Das Buch liefert einen Überblick über grundlegende Konzepte von Persönlichkeitsstörungen und von psychotherapeutischen Strategien für deren Therapie. Ausgehend vom Modell der doppelten Handlungsregulation werden elementare Interventionsmethoden im Rahmen der Klärungsorientierten Psychotherapie behandelt: Komplementäre Beziehungsgestaltung, Konfrontationen, therapeutischer Umgang mit Spielen und Spielstrukturen, Klärung und Bearbeitung von Schemata, Umgang mit Komorbiditäten. Auch diagnostische Konsequenzen aus dem Modell werden erläutert. Der Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung psychologisch fundierter, in der Praxis bewährter Vorgehensweisen, mit deren Hilfe die Therapie von Persönlichkeitsstörungen effektiv gelingen kann. Die überarbeitete Neuauflage des Bandes wird durch die Darstellung von Forschungsergebnissen zur klärungsorientierten Psychotherapie und von Ergebnissen aus der Prozessforschung ergänzt.
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Rainer Sachse
Ueli Kramer
Klärungsorientierte Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
Grundlagen und Konzepte
2., überarbeitete und ergänzte Auflage
Praxis der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
Band 1
Klärungsorientierte Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
Prof. Dr. Rainer Sachse, PD Dr. Ueli Kramer
Die Reihe wird herausgegeben von:
Prof. Dr. Rainer Sachse, Prof. Dr. Philipp Hammelstein, PD Dr. Thomas Langens
Prof. Dr. Rainer Sachse, geb. 1948. 1969 – 1978 Studium der Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Ab 1980 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum. 1985 Promotion. 1991 Habilitation. Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1998 außerplanmäßiger Professor. Leiter des Institutes für Psychologische Psychotherapie (IPP), Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Persönlichkeitsstörungen, Klärungsorientierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie.
Prof. Dr. Ueli Kramer, geb. 1974. 1996 – 2003 Studium der Klinischen Psychologie an den Universitäten Lausanne und Genf. Ab 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Psychotherapeut an der Psychiatrischen Universitätsklinik Lausanne. 2007 Fachtitel in Psychotherapie FSP. 2008 Promotion. 2014 Habilitation. Seit 2023 Professor für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Instituts für Psychotherapie der Universität Lausanne, Schweiz. Arbeitsschwerpunkte: Psychotherapieprozessforschung, Persönlichkeitsstörungen.
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Die Vorauflage des Buches erschien unter der Autorenschaft von Rainer Sachse, Meike Sachse und Jana Fasbender.
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Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
2., überarbeitete und ergänzte Auflage 2023
© 2011 und 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3243-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3243-5)
ISBN 978-3-8017-3243-1
https://doi.org/10.1026/03243-000
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Vorwort
1 Was sind Persönlichkeitsstörungen?
1.1 Beziehungsstörungen
1.2 Normalität
1.3 Ressourcen
1.4 Manipulation
1.5 Beziehungsmotivierung
1.6 Interaktionelles Misstrauen
1.7 Ich-Syntonie
1.8 Existenzielle Probleme
1.9 Psychotherapie
1.10 Perspektiven
1.11 Fazit
2 Das Modell der Doppelten Handlungsregulation als theoretisches Modell von Persönlichkeitsstörungen: Weiterentwicklungen
2.1 Das Modell der Doppelten Handlungsregulation
2.2 Die Ebene der authentischen Handlungsregulation (Motivebene)
2.2.1 Dysfunktionale Schemata
2.3 Die Entwicklung von dysfunktionalen Schemata
2.4 Die Ebene der intransparenten Handlungen (Spielebene)
2.4.1 Entwicklung der intransparenten Handlungsebene
2.4.2 Kompensatorische Schemata
2.5 Strategisches Spielverhalten: Images und Appelle
2.6 Unzufriedenheit
2.7 Persönlichkeitsstil und Persönlichkeitsstörung
2.8 Reziprozität und langfristig negative Folgen
2.9 Das System ist nicht lernfähig
2.10 Tests
2.11 Direkte Kontrolle
2.12 Fazit: Charakteristika von Personen mit Persönlichkeitsstörungen
3 Manipulatives Handeln: Ein wesentlicher Aspekt von Persönlichkeitsstörungen
3.1 Manipulative Strategien und Persönlichkeitsstörungen
3.2 Die Entwicklung manipulativer Strategien
3.3 Manipulative Strategien als Lösungen
3.4 Das Lernen manipulativer Strategien
3.5 Lernen im sozialen Kontext
3.6 Positive und negative manipulative Strategien
3.7 Ein Wort zur „Manipulation“
3.8 Images und Appelle
3.9 Klienten bringen ihre manipulativen Strategien in die Therapiesituation ein
3.10 Die Analyse von Images und Appellen
3.11 Manipulative Strategien
3.12 Manipulative Strategien im Licht der Impression-Management-Forschung
3.13 Schlussbetrachtung
3.14 Fazit
4 Komplexe Spielstrukturen bei Persönlichkeitsstörungen
4.1 Was sind komplexe Spielstrukturen?
4.2 Terminologie
4.3 „Armes Schwein“
4.4 „Heroisches Armes Schwein“
4.5 „Opfer der Umstände“
4.6 „Opfer anderer Personen“
4.7 „Märtyrer“
4.8 „Immer ich!“
4.9 „Mords-Molly“
4.10 „Regel-Setzer“
4.11 „Moses“
4.12 Verführung und Attraktivität
4.13 „Verfügbarkeit“
4.14 „Entscheidung übernehmen“
4.15 „Solidarisieren“
4.16 „Dornröschen“
4.17 „Blöd-Spiel“
4.18 „Distanz-Spiel“
4.19 „Grenzen schützen“
4.20 Fazit
5 Klärungsorientierte Strategien in der Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
5.1 Therapie-Phasen
5.2 Phase 1: Komplementäre Beziehungsgestaltung
5.2.1 Was ist komplementäre Beziehungsgestaltung?
5.2.2 Das Triggern dysfunktionaler Schemata
5.2.3 Komplementarität zur Motivebene
5.2.4 Komplementarität zur Spielebene
5.2.5 Steuern und Internalisieren
5.2.6 Bearbeiten der Vermeidung
5.2.7 Verstehen und Klären
5.2.8 Modell-Bildung
5.2.9 Bestehen von Tests
5.3 Ein besonderer Aspekt von Phase 1: Komplementäres Handeln zu zentralen Beziehungsmotiven
5.3.1 Was ist komplementäre Beziehungsgestaltung?
5.3.2 Anerkennung
5.3.3 Wichtigkeit
5.3.4 Verlässlichkeit
5.3.5 Solidarität
5.3.6 Autonomie
5.3.7 Grenzen
5.4 Phase 2: Entwicklung eines Arbeitsauftrages
5.4.1 Konfrontation
5.4.2 Umgang mit Defensivität
5.4.3 Wirkung von Konfrontationen
5.4.4 Beziehungskonto wieder füllen!
5.4.5 Klären
5.4.6 Biographische Arbeit
5.4.7 Arbeit mit Vermeidung
5.5 Phase 3: Klärung
5.5.1 Klärung von Schemata
5.5.2 Klärung von Motiven: Alienation
5.6 Phase 4: Bearbeitung von Schemata
5.7 Phase 5: Transfer
5.8 Fazit
6 Das Transparent-Machen manipulativen Verhaltens: Konfrontative Interventionen
6.1 Was sind konfrontative Interventionen?
6.2 Sinn konfrontierender Interventionen
6.3 Beziehungskredit
6.4 Anlässe von Konfrontationen
6.5 Stufen von Konfrontationen
6.6 Die Realisation von Konfrontationen
6.7 Wirkungen von Konfrontationen
6.8 Harte und weiche Konfrontationen
6.9 Die Spielebene von Persönlichkeitsstörungen und therapeutische Konfrontationen
6.10 Prinzipielles Vorgehen bei konfrontativen Interventionen
7 Co-Morbiditäten
7.1 Co-Morbiditäten sind häufig
7.2 Kompatible und konflikthafte Co-Morbiditäten
7.3 Therapeutische Konsequenzen
7.3.1 Leitstörung
7.3.2 Vorherrschender Modus
7.4 Konflikte
7.5 Fazit
8 Diagnostische Konsequenzen aus dem Modell der Doppelten Handlungsregulation
8.1 Einleitung
8.2 Oberflächen- und Tiefenmerkmale für die Diagnostik
8.3 Die Oberflächenmerkmale von DSM und ICD sind unzureichend
8.4 SCID und Fragebogen-Verfahren sind unzureichend
8.5 Persönlichkeitsstörungsmerkmale sind nur in Interaktionssituationen erschließbar
8.6 Tiefenmerkmale müssen im Therapieprozess erschlossen werden
8.7 Fazit
9 Die Effekte klärungsorientierter Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen
9.1 Einleitung
9.2 Erhebungsinstrumente
9.3 Ergebnisse
10 Prozessforschung in der Klärungsorientierten Psychotherapie
10.1 Zu der klinischen Relevanz von Psychotherapieforschung
11 Neuere Prozessforschung in der KOP
11.1 Das Analyse-System BIBS
11.2 Die Skalen der BIBS
11.3 Resümee
12 Ergebnisse der neuen Prozessforschungsstudien
12.1 Tabellarische Übersicht
12.2 Darstellung der Ergebnisse im Detail
12.2.1 Qualität der Beziehung
12.2.2 Qualität der Inhalte
12.2.3 Qualität der Prozesse
12.3 Untergruppenbildung bei der narzissistischen PS aufgrund aller Klientenvariablen
12.4 Emotionale Verarbeitung
12.4.1 Emotionale Verarbeitung bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung
12.4.2 Emotionale Verarbeitung bei der histrionischen und dependenten Persönlichkeitsstörung
12.4.3 Emotionale Verarbeitung bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
12.5 Beiträge der Therapeutenperspektive zum Prozess
12.5.1 Allgemeine Beziehungsgestaltung bei Persönlichkeitsstörungen
12.5.2 Motivorientierte Beziehungsgestaltung bei Persönlichkeitsstörungen
12.6 Klärende und vermeidungsbearbeitende Interventionen bei Persönlichkeitsstörungen
12.6.1 Klärung und Bearbeitung der Vermeidung bei der narzissistischen Persönlichkeitsstörung
12.6.2 Klärung und Bearbeitung der Vermeidung bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung
12.6.3 Klärung und Bearbeitung der Vermeidung bei der dependenten Persönlichkeitsstörung
12.6.4 Klärung und Bearbeitung der Vermeidung bei der Borderline Persönlichkeitsstörung
12.7 Steuerung des Prozesses bei Persönlichkeitsstörungen
12.7.1 Steuerung des Prozesses bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung
12.7.2 Steuerung bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung
12.7.3 Steuerung bei der dependenten Persönlichkeitsstörung
12.7.4 Steuerung bei der Borderline Persönlichkeitsstörung
12.8 Beste Prozessprädiktoren der Verbesserung der Selbstwirksamkeit der Klienten mit Persönlichkeitsstörungen
12.8.1 Beste Prozessprädiktoren in Sitzung 15
12.8.2 Beste Prozessprädiktoren in Sitzung 20
12.8.3 Beste Prozessprädiktoren in Sitzung 25
12.9 Allgemeines Modell zur Vorhersage von gutem Outcome in der Klärungsorientierten Psychotherapie
13 Schlussfolgerungen aus der Forschung und Relevanz für die Praxis
13.1 Steuerung
13.2 Beziehungsgestaltung
13.3 Therapeutischer Umgang mit Interaktionsspielen
13.4 Therapeutischer Umgang mit Vermeidung
13.5 Therapeutisches Verstehen
13.6 Therapeutische Arbeit des Klienten
13.7 Beziehungsgestaltung durch den Klienten
13.8 Vermeidung durch den Klienten
13.9 Zentralität der Klienten-Inhalte
13.10 Wirkung der Therapie auf Depressionen
13.11 Bedeutung von Ausbildung und Expertise
Literatur
Endnoten
Dieses Buch stellt ein spezifisches Therapiekonzept für Persönlichkeitsstörungen dar. Ein Konzept, das sehr stark psychologisch fundiert und sehr stark praxisorientiert ist: Die Klärungsorientierte Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen.
Wir stellen hier eine Rahmenkonzeption dar, eine Konzeption, die für alle Persönlichkeitsstörungen gilt und die ein psychologisches Verständnis für diese Störungen vermitteln soll sowie ein allgemeines Verständnis für die therapeutischen Vorgehensweisen.
Ausgehend vom Modell der Doppelten Handlungsregulation als einem „psychologischen Funktionsmodell“ von Persönlichkeitsstörungen, stellen wir die zentralen Merkmale dieser Störungen vor wie zentrale Beziehungsmotive, Schemata, Tests und interaktionelle Spiele und leiten aus dem Modell allgemeine und spezifische therapeutische Strategien ab.
Wir gehen davon aus, dass Klientena mit Persönlichkeitsstörungen spezielle, sehr hohe Anforderungen an Therapeuten stellen, dass sie spezielle therapeutische Vorgehensweisen benötigen und die Therapie deshalb völlig anders funktioniert als bei „Achse-I-Klienten“. Wir möchten den Therapeuten durch dieses Buch die Kompetenzen vermitteln, die für eine solche Therapie nötig sind, wir möchten die Basis für die hohe Expertise schaffen, die Therapeuten benötigen, um die „technischen“ und interaktionellen Herausforderungen zu bewältigen, die sie für diese Klienten benötigen. In folgenden Büchern wollen wir dann diese allgemeinen Prinzipien und Strategien auf die spezifischen Störungen anwenden, wobei wir uns stark auf dieses Buch beziehen werden.
Wir möchten dann noch einen Überblick geben über unsere bisherigen Forschungen zu Klärungsorientierter Psychotherapie (KOP) von Persönlichkeitsstörungen: Über die Erfolgsforschung, die zeigt, dass KOP eine effektive Methode ist, als auch über die aktuelle Prozessforschung, aus der wir therapeutische Konsequenzen ableiten.
Wir hoffen, dass die Leser von der Lektüre profitieren werden und dass ihnen die Lektüre Spaß macht, denn aus unserer Sicht sollte Psychotherapie zwar ernsthaft, aber nicht verkniffen, sehr respektvoll, aber keineswegs humorlos, diszipliniert, aber durchaus unterhaltsam sein.
Bochum, im Frühjahr 2023
Rainer Sachse
und Ueli Kramer
Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text in der Regel das generische Maskulinum. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen alle Geschlechter (m/w/d). Die verkürzte Sprachform hat ausschließlich redaktionelle Gründe.
In diesem Kapitel wollen wir darlegen, was wir unter Persönlichkeitsstörungen verstehen und welche Aspekte wir für zentral halten; wir wollen dabei keinen allgemeinen Diskurs über Persönlichkeitsstörungen führen und auch nicht theoretische Konzepte diskutieren. Wir wollen vielmehr den Rahmen abstecken für das, was wir in diesem Buch erörtern wollen.
Wir wollen in diesem Buch ein psychologisch fundiertes Konzept von Persönlichkeitsstörungen vorstellen: Ein Konzept über die „Funktionsweise“ und ein Konzept über die Therapie von Persönlichkeitsstörungen. Wir wollen hier nicht Theorien darstellen und diskutieren. Dazu verweisen wir auf: Haltenhof et al. (2009); LeLord & André (2009); Magnavita (2004); Millon (1996); Oldham et al. (2005); Trautmann (2004).
Persönlichkeitsstörungen (PD) sind komplexe Störungen (vgl. Barnow, 2008; Derksen, 1995; Döring et al., 2008; Donohue et al., 2007; Emmelkamp & Kamphuis, 2007; Schmitz et al., 1996): Tatsächlich umfassen diese Störungen viele Funktionsbereiche wie Verhalten, Kognitionen, Affekte und Emotionen. Dennoch fassen wir PD im Kern als Beziehungsstörungen auf (vgl. auch Benjamin, 1987, 1992, 1993, 1995, 1996; Fiedler, 1998, 2007).
Wir nehmen an (siehe Kapitel 2), dass sich diese Störungen aus problematischen Beziehungsund Interaktionsmustern in der Kindheit und Jugend bilden und dass sie im Wesentlichen dazu dienen, in Beziehungen wichtige Motive befriedigt zu bekommen (vgl. Nowacki, 2009). Persönlichkeitsstörungen „drehen“ sich damit um Beziehungen: Klienten mit PD sind wesentlich beziehungsmotiviert, verfolgen interaktionelle Ziele und tun viel, um Beziehungen aktiv zu beeinflussen. Ihre Schemata weisen im Wesentlichen beziehungsrelevante Inhalte auf und ihre Kompensationen richten sich auf Beziehungen. Daher sind PD aus unserer Sicht nicht primär „Persönlichkeits“-Störungen, sondern „Beziehungs“-Störungen.1,b
Einige Autoren bezeichnen PD oder Klienten mit PD als „pathologisch“ oder „schwer gestört“ bezeichnet, was nicht immer dem psychotherapeutischen Prozess dienlich ist (Lewis et al., 1988). Wir möchten uns davon deutlich abgrenzen: Wir betrachten eine psychische Eigenheit, die bestimmte Charakteristika aufweist, nur dann als eine „Störung“, wenn sie so hohe Kosten aufweist, dass sie den Klienten selbst stört (wobei den Klienten die Kosten bzw. die Ursachen der Kosten bei sogenannten „ich-synthonen“ (s. u.) Störungen erst im Therapieprozess klar werden).
Wir fassen Persönlichkeitsstörungen aber nicht als „pathologisch“ auf: Der Begriff „pathologisch“ ist ein medizinischer Begriff, der u.E. in der Psychologie eine begrenzte Berechtigung hat: Er ist in der Psychologie diskriminierend und abwertend und stempelt die damit Bezeichneten zu sozialen Abweichlern (vgl. Sachse, 2022a).
Wir gehen vielmehr davon aus, dass PD auf „normale“ psychologische Prozesse zurückgehen, die, wie Fiedler (1998, 2007) es ausdrückt, „Extrem-Varianten des Normalen“ sind. Für diese Sichtweise gibt es eine Reihe guter Gründe.
Die Daten unserer Ambulanz zeigen, dass PD extrem verbreitet sind und auch viele Untersuchungen zeigen, dass viele Personen zumindest Persönlichkeits-“Stile“ aufweisen (Sachse, 2019e): Schon aus diesem Grunde erscheint es unangemessen, die Störung oder Klienten mit der Störung zu pathologisieren. Vielmehr scheint es im statistischen Sinne „normal“ zu sein, Charakteristika aufzuweisen, die man als Indikatoren einer PD auffassen kann, und zwar in relativ ausgeprägtem Ausmaß.
Persönlichkeitsstörungen setzen sich aus psychischen Prozessen zusammen, die auch bei „nicht Gestörten“ existieren, sie sind nur u. U. „extremer“ und sie erzeugen mehr Kosten: Auch deshalb gibt es keinen Grund, PD als „pathologisch“ oder Klienten mit PD als „schwer gestört“ wahrzunehmen. Dennoch macht Therapie äußerst viel Sinn, nämlich um die Kosten zu reduzieren und um die Lebensqualität der Personen (deutlich) zu verbessern: Denn, dass eine Störung nicht „pathologisch“ ist, heißt nicht, dass sie nicht hohe Kosten erzeugt und persönlich und existenziell relevant ist.
Therapeuten müssen unbedingt mit den Klienten eine vertrauensvolle Therapeut-Klient-Beziehung aufbauen: Auch deshalb ist es wichtig, den Klienten respektvoll und akzeptierend begegnen zu können. Und dies wird erschwert, wenn man Klienten als „pathologisch“, „tief gestört“ o. a. ansieht. Wir setzen uns daher stark für eine „Entpathologisierung“ von PD ein.
Wir sehen PD als eine „Lösung“ für frühe Interaktionsprobleme an (vgl. Kapitel 2): Wir nehmen an, dass Kinder und Jugendliche schwierigen Beziehungsund Interaktionssituationen mit ihren primären Bezugspersonen ausgesetzt waren und dass sie Strategien entwickelt haben, um mit diesen Problemen umzugehen (vgl. Nowacki, 2009). |15|Diese Strategien sind die Grundlagen der PD: Und damit kann man diese Strategien als Lösungen betrachten. Diese Lösungen enthalten damit in hohem Maße Ressourcen, die die Klienten mit PD meist im Augenblick nicht konstruktiv einsetzen, die sie aber wieder konstruktiv einsetzen können. Also können sie lernen, ihre Ressourcen wieder sinnvoll zu nutzen. Ein wesentlicher Aspekt unserer therapeutischen Vorgehensweisen bezieht sich auch darauf, Ressourcen von Klienten zu aktivieren, aufzubauen und systematisch zu nutzen (Sachse, 2022b).
Damit haben wir einen stark ressourcen-bezogenen Blick auf PD, was ebenfalls zur Entpathologisierung beiträgt.
Wir gehen davon aus, dass die Klienten mit PD als Lösungen oft „manipulative“ Strategien gelernt haben: Also Strategien, mit deren Hilfe sie Interaktionspartner dazu bringen, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht tun wollen, und zwar auf eine Weise, die die Interaktionspartner nicht durchschauen. Dabei meinen wir „Manipulation“ ausschließlich in einem psychologischen, nicht in einem wertenden Sinn: Die Klienten tun etwas Bestimmtes und das ist aus der Sicht der Therapeuten erst mal ok; problematisch wird es wiederum dann, wenn dieses Verhalten den Klienten Kosten verursacht. In diesem Fall muss den Klienten das Verhalten bewusst gemacht werden, d. h. Therapeuten müssen die Klienten konfrontieren (vgl. Sachse, 2007b, 2019a, 2019c; Sachse & Sachse, 2006).
Und das bedeutet, dass Therapie mit PD-Klienten nicht nur aus Beziehungsgestaltung besteht: Sie ist keine „Kuschel-Therapie“. Sie impliziert, Klienten (z. T. hart) zu konfrontieren, sie impliziert harte Arbeit, interaktionelle Krisen u. a. Therapie stellt hohe Anforderungen an die Klienten und an die Therapeuten!
Wir nehmen an, dass Klienten mit PD in (extrem) hohem Maße beziehungsmotiviert in die Therapie kommen: Sie wollen (primär), dass ein Therapeut ihnen eine ganz bestimmte Art von Beziehung anbietet.
Und aus diesem Grund ist es wesentlich, dass Therapeuten zuerst eine hochgradig komplementäre Beziehungsgestaltung realisieren (vgl. Sachse, 2006c, 2013b, 2016a, 2017a, 2019a, 2019b). Aus unserer Sicht ist dies immer das Erste, was Therapeuten machen müssen: Sie müssen nicht explorieren, sie müssen keine Veränderungen und keine Manuale abarbeiten, sie müssen keine schnellen Veränderungen initiieren, sondern sie müssen Beziehungskredit schaffen.
Klienten mit PD weisen stark negative Selbstund Beziehungsschemata auf, die dazu führen, dass die Klienten sich selbst z. T. wenig zutrauen, ihr eigenes Erleben als Informationsquelle zu nutzen, vor allem aber, dass sie Interaktionspartnern (auch dem Therapeuten!) misstrauen: Auch deshalb ist zu Therapie-Beginn eine Beziehungsgestaltung wesentlich, weil dadurch Vertrauen aufgebaut wird!
Ein entscheidendes Kriterium von PD ist Ich-Syntonie (Fiedler, 1998, 2007): Die Klienten sehen zwar, dass sie Kosten haben, aber meist nicht, dass sie Kosten verursachen. Da die Störung grundsätzlich eine Lösung ist, betrachten die Klienten die Störung selbst auch nicht als „störend“, „belastend“, „unangemessen“ oder problematisch, also auch als nichts, was man (selbst) ändern sollte.
Daraus folgt, dass Klienten mit PD zu Therapie-Beginn keine Änderungsmotivation im Hinblick auf ihre Störung aufweisen. Der „Auftrag“ an den Therapeuten ist damit meist nicht: „Bearbeite meine PD“, sondern „reduziere meine Kosten“ (nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“).
Daraus folgt, dass Änderungsmotivation bei Klienten mit PD keine Eingangsvoraussetzung für die Therapie ist, sondern dass Änderungsmotivation in der und durch die Therapie erst geschaffen werden muss.
Die Probleme, die PD-Klienten aufweisen, zeigen in aller Regel eine deutlich größere existenzielle Bedeutung als viele Achse-I-Probleme: Die Probleme betreffen wesentliche Lebensbereiche, wesentliche Lebensentscheidungen; die Probleme bestimmen, wie jemand sein Leben gestaltet, Beziehungen führt oder nicht führt, Entscheidungen trifft, die die Lebensqualität u. U. massiv einschränken u. a. (vgl. Sachse, 2002, 2004b, 2006b).
Damit haben Therapeuten hier auch eine deutlich höhere Verantwortung: Sie arbeiten in Bereichen, die für Klienten von existenzieller Bedeutung sind und brauchen deshalb hier viel Empathie, Respekt und Fingerspitzengefühl. Einfache Lösungen zeichnen sich meist nicht ab, auch keine schnellen „Hau-Ruck-Lösungen“. Probleme müssen gründlich verstanden werden, Lösungen müssen gut durchdacht sein, oberflächliche Symptom-Kosmetik ist kontraproduktiv (vgl. Becker & Sachse, 1998; Sachse, 2006d, 2009, 2017b).
Andererseits sind diese Probleme aber auch für Therapeuten stärker herausfordernd und spannender als z. B. Ängste: Die Probleme sind immer anders, immer kom|17|plex, es gibt keine Routine, es bleibt immer eine Herausforderung und selbst wenn man den Job 30 Jahre lang gemacht hat, stößt man auf Aspekte, die man noch nie vorher gesehen hat. Manualisierte Therapien können relativ schnell langweilig werden – Therapien mit persönlichkeitsgestörten Klienten werden das nie.
Da Persönlichkeitsstörungen anders „funktionieren“ als Achse-I-Störungen, braucht man eine andere Form von psychotherapeutischem Vorgehen: Man muss mit PD-Klienten anders umgehen, eine andere Art von Beziehungsgestaltung machen, man muss Arbeitsaufträge herausarbeiten, man muss Klienten konfrontieren, man muss geduldiger sein, mit schwierigen Interaktionssituationen umgehen können, Klienten motivieren usw. (vgl. Sachse, 2000c). Diese Aspekte stellen den Kern dieses Buches und dieser Reihe dar: Eine spezielle Form von Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen.
Aus unserer Sicht kann und sollte man auf das Problem der PD unterschiedliche Perspektiven einnehmen:
Eine empathische Perspektive, aus der heraus man empathisch ist und den Klienten in hohem Maße akzeptiert und respektiert: Man betrachtet die Probleme als Probleme des Klienten in ihrer Individualität, ihrer existenziellen Schwere und Problematik und versucht, mit dem Klienten eine Lösung zu erarbeiten.
Man versucht als Therapeut zu verstehen, wie ein Klient denkt, warum er so handelt, wie er handelt, usw. und kann so erkennen, wie ein Aspekt für den Klienten erscheint: Dadurch kann man den Klienten verstehen.
Eine Außenperspektive oder supervisorische Perspektive, aus der heraus man versuchen sollte, sich von der existenziellen Schwere der individuellen Probleme zu lösen, um nicht davon erdrückt zu werden: Hier analysiert man z. B., welche Folgen das Klienten-Handeln im sozialen Kontext hat, welche Kosten es erzeugt, ob es „dysfunktional“ ist usw.
Unter dieser Perspektive sollte ein Therapeut in der Lage sein, die Unsinnigkeit, ja geradezu die Absurdität mancher Lösungen wahrzunehmen und „auf den Punkt zu bringen“, um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, dass ein Klient erkennen kann, dass sein Verhalten z. B. selbsterfüllende Prophezeiungen enthält, interaktionelle Kosten erzeugt u. a.
|18|Hier nimmt man bewusst keine empathische, sondern eine Fremdwahrnehmungsperspektive auf den Klienten ein, und hier ist man auch den Lösungen des Klienten gegenüber kritisch: Gewissermaßen denkt man hier nicht „mit“ dem Klienten, sondern „über“ den Klienten. Aus dieser Perspektive kann man Aspekte erkennen, die man aus einer empathischen Perspektive gar nicht sehen kann, z. B. welche Kosten der Klient bei Interaktionspartnern mit welchen Handlungen erzeugt.
Beide Perspektiven benötigt ein Therapeut: Er sollte verstehen, wie ein Klient verarbeitet, denkt usw., aber auch, welche Konsequenzen sein Handeln hat. Aus einer solchen Perspektive erkennt der Therapeut auch, wenn der Klient versucht, den Therapeuten zu manipulieren o. ä.: Das muss ein Therapeut erkennen, weil das die zentralen Problemaspekte einer PD sind und damit ein Therapeut interaktionell angemessen damit umgehen kann.
Aus der empathischen Perspektive erkennt ein Therapeut solche Aspekte jedoch nicht. Daher ist es sehr wesentlich, dass Therapeuten lernen, beide Perspektiven einzunehmen und flexibel zwischen ihnen „umzuschalten“. Die beiden Perspektiven liefern damit unterschiedliche, aber sehr relevante Informationen, die ein Therapeut verarbeiten und in seinem Klientenmodell berücksichtigen sollte.
Aus vielen Gründen ist die Therapie mit PD-Klienten anders als die mit „Achse-I-Klienten“: Die Klienten kommen mit deutlich anderen Voraussetzungen in die Therapie, sie benötigen deutlich andere Vorgehensweisen vom Therapeuten, sie stellen deutlich höhere Anforderungen an Therapeuten. Diese Klienten:
Zeigen nur geringe bis keine Änderungsmotivation im Hinblick auf die Persönlichkeitsstörung und damit nur eine geringe Compliance im Hinblick auf therapeutische Maßnahmen.
Weisen eine hohe Beziehungsmotivation auf.
Klären nur relativ schwer eigene Schemata.
Verwickeln Therapeuten in interaktionelle Spiele.
Bringen Therapeuten in schwierige Interaktionssituationen. Deshalb brauchen Therapeuten eine höhere Expertise, und zur Schaffung dieser dienen diese Reihe und dieses Buch.
Hochgestellte Zahlen verweisen auf weiterführende Literaturangaben in den Endnoten auf Seite 220.
In diesem Kapitel möchten wir ein psychologisches Funktionsmodell für Persönlichkeitsstörungen vorstellen: Es beschreibt relevante psychologische Variablen und Prozesse, die ein System ergeben, das man als „Persönlichkeitsstörungen“ definieren kann. Aus diesem Modell lassen sich weitreichende therapeutische und diagnostische Konsequenzen ableiten.
Das Modell der doppelten Handlungsregulation (MDHR) wurde von Sachse (1997a, 1999a) entwickelt; es ist ein Modell für das allgemeine psychische „Funktionieren“ von Persönlichkeitsstörungen, darüber, welche psychologischen Komponenten wie zusammenwirken, um das für Personen mit Persönlichkeitsstörungen „typische“ Denken, Fühlen und Handeln zu erklären.
Das Modell der doppelten Handlungsregulation ist ein allgemeines Modell, das prinzipielle Funktionszusammenhänge darstellt; die einzelnen Komponenten des Modells müssen dann noch für jede einzelne Störung spezifiziert werden, was Sachse (2001a, 2001b, 2002, 2004a, 2006c, 2019a) für die acht „reinen“ Persönlichkeitsstörungen vorgenommen hat: Histrionische (Sachse, Fasbender, Breil & Sachse, 2012, 2021), narzisstische (Sachse, Sachse & Fasbender, 2011), dependente (Sachse, Breil, Sachse & Fasbender, 2013), selbstunsichere (Sachse, Fasbender & Sachse, 2014), schizoide (Sachse & Sachse, 2017), passiv-aggressive (Sachse & Sachse, 2017), paranoide (Sachse & Sachse, 2017) und zwanghafte (Sachse, Kiszkenow-Bäker & Schirm, 2015) Persönlichkeitsstörung.
Das Modell erfüllt damit eine wesentliche theoretische Forderung (Livesley, 1998; Livesley & Jackson, 1992, 2009; Livesley & Jang, 2005), nämlich ein Modell über PD und spezifische Modelle über einzelne Störungen zu liefern und diese Aspekte theoretisch einheitlich zu konzipieren.
Damit weisen alle sogenannten „reinen“ Persönlichkeitsstörungen prinzipiell das gleiche Schema auf: Jede einzelne Persönlichkeitsstörung (PD nach „personality disorder“) weist auch darüber hinaus spezifische zentrale Beziehungsmotive, spezifische|20|dysfunktionale Schemata, spezifische kompensatorische Schemata usw. auf, die damit auch die jeweilige Störung kennzeichnen und definieren.
Davon abgegrenzt betrachten wir die sogenannten „hybriden Störungen“, die sowohl psychologische als auch neuropsychologische Prozesse aufweisen (Sachse & Breil, 2011; Sachse & von Franqué, 2019). Auch wenn in diesem Buch die Persönlichkeitsstörungen gemäß einer kategoriellen Klassifikation diskutiert warden, ist das MDHR mit der dimensionalen Perspektive der Persönlichkeitsstörungen hochkompatibel. Dies vor allem deshalb, weil das MDHR eine Prozessdiagnostik voraussetzt, die prinzipiell mit den Konzepten der allgemeinen Ausprägung und der Intensität der Traits kompatibel ist.
Das Modell geht davon aus, dass „Persönlichkeitsstörungen“ im Kern Beziehungsoder Interaktionsstörungen sind, die sich zentral durch problematisches Beziehungsverhalten auszeichnen2: Die Personen mit diesen Störungen realisieren ein Interaktionsverhalten, das dazu dienen soll, Beziehungsziele zu erreichen, was jedoch langfristig dazu führt, dass die Personen gerade das Erreichen zentraler Beziehungsziele verfehlen.
Das Modell umfasst drei Ebenen: Die Ebene der Beziehungsmotive oder der „authentischen Handlungsregulation“, die Ebene dysfunktionaler Schemata und die Ebene der „manipulativen Handlungsregulation“, auch „Spielebene“ genannt.
Abbildung 1: Das Modell der doppelten Handlungsregulation
Das Modell geht davon aus, dass eine Person, schon als Kind oder Jugendlicher, eine Reihe von zentralen Beziehungsmotiven aufweist, wie das Motiv nach Anerkennung, Wichtigkeit, Verlässlichkeit, Solidarität, Autonomie und Grenzen/Territorialität (ausführlich dazu siehe Sachse, 1999a, 2006a, Langens, 2009; Sachse, Breil & Fasbender, 2009; Sachse, Fasbender & Breil, 2009).
Diese Beziehungsmotive sind implizite Motive im motivationstheoretischen Sinn, also psychische Strukturen, die die Person veranlassen, bestimmte Effekte anzustreben, zu brauchen und deren Befriedigung zu Zufriedenheit führt (Sachse, 2019d, 2020a).
Dabei bilden diese Beziehungsmotive eine Hierarchie, d. h. für eine bestimmte Person ist ein Motiv zentral (hoch in der Hierarchie und determiniert damit in hohem Maße die „Exekutive“ der Person), weitere noch wichtig und andere sind relativ unwichtig (welche Beziehungsmotive jeweils zentral sind, kennzeichnet auch eine spezifische PD).
Diese Motive sind bei einer Person auf der Ebene „interaktioneller Ziele“ konkretisiert bzw. „operationalisiert“ in konkrete, situationsbezogene Ziele.
So ist z. B. das Motiv „Wichtigkeit“ operationalisiert in Ziele wie:
Ich möchte von anderen Aufmerksamkeit.
Ich möchte von anderen wahrgenommen werden.
Ich möchte von anderen ernst genommen werden.
Ich möchte von anderen respektiert werden.
Ich möchte von anderen gesehen werden.
Ich möchte von anderen Signale der „Zugehörigkeit“ u. a.
Die Person richtet nun ihr Handeln, insbesondere ihr interaktionelles Handeln danach aus, die zentralen Motive bzw. die daraus abgeleiteten interaktionellen Ziele zu befriedigen oder, genauer gesagt: Von anderen befriedigt zu bekommen (denn es sind „Beziehungsmotive“ und die können nur durch andere Personen befriedigt werden!).
Dazu nutzt die Person beim Handeln Verarbeitungsund Handlungskompetenzen und, je nach dem, wie effektiv sie handelt, erfährt sie positive Konsequenzen (andere verhalten sich Motiv-komplementär = Motiv-befriedigend) oder negative Konsequenzen (andere verhalten sich nicht Motiv-komplementär oder sogar Motiv-verletzend).
Die Ebene heißt „Ebene der authentischen Handlungsregulation“, weil auf dieser Ebene die Person meist so handelt, dass ihre interaktionellen Ziele dem Interaktionspartner transparent werden (können), der Interaktionspartner also weiß (oder rekonstruieren kann), was für Ziele die Person hat, Effekte antizipieren kann und damit weiß, worauf er sich einlässt. Oftmals ist eine Befriedigung von Motiven auch nur dann zu erreichen, wenn dem Interaktionspartner die Intentionen der Person klar werden (so kann eine Frau nicht, auch nicht positiv, auf ein Annäherungsverhalten eines Mannes reagieren, wenn sie sein Verhalten gar nicht als „Annäherung“ identifizieren, also seine |22|Absichten gar nicht verstehen kann!). Für Interaktionspartner muss eine solche Rekonstruktion der Ziele nicht unbedingt einfach sein, aber sie ist immer möglich, d. h. die Person tut nichts, um diese „zu verschleiern“.
Um so zu handeln, dass die Handlungen zu positiven Konsequenzen führen können, benötigt eine Person Kompetenzen. Man kann hier zwischen Handlungskompetenzen und Verarbeitungskompetenzen unterscheiden (Sachse, 1999a, 2019a).
Handlungskompetenzen setzen sich zusammen aus einem Wissen über Handlungsstrategien („Was kann ich in bestimmten Situationen tun, um bestimmte Ziele zu erreichen?“) und der Fähigkeit, Strategien flexibel zu modifizieren und anzupassen. Die Handlungskompetenz einer Person ist umso höher, je größer ihr Repertoire an Handlungsstrategien ist und je flexibler (und schneller) sie diese Strategien adaptieren kann.
Verarbeitungskompetenzen beinhalten die Fähigkeit, Situationen, vor allem soziale Situationen, gut und schnell analysieren und verstehen zu können und sie beinhalten insbesondere die Fähigkeit zur sozialen Empathie: Die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinversetzen zu können, (schnell) zu erkennen, was ein Interaktionspartner will, welche Einstellungen er hat, auf welche Verhaltensweisen er positiv reagiert u. a. Verarbeitungskompetenzen haben damit viel mit einer „Theory of Mind“ (Fodor, 1978; Förstl, 2007; Premack & Woodruff, 1978) zu tun: Personen, die schnell gute Rekonstruktionen von einem Interaktionspartner bilden können, können ihr Handeln (falls sie über entsprechende Strategien verfügen!) gut auf diesen einstellen und so mit hoher Wahrscheinlichkeit positive Interaktionseffekte erzielen. Personen, die das nicht können, treten dagegen ständig „ins Fettnäpfchen“.
Werden Beziehungsmotive bzw. interaktionelle Ziele durch komplementäres Handeln von Interaktionspartnern befriedigt, dann stellt sich ein Gefühl von Zufriedenheit ein (Brunstein, 1993; Brunstein et al., 1995). Zufriedenheit ist ein positiver, affektiver Zustand, der Wohlbehagen auslöst, mit dem Gefühl von Sinnhaftigkeit verbunden ist und starke Konsequenzen auf Gesundheit hat. Werden Motive über längere Zeit konsistent befriedigt, nimmt ihre Relevanz in der Regel ab: Sie sinken in der Motivhierarchie ab, andere Motive werden wichtiger und übernehmen die „Exekutive“ in stärkerem Maße (Kuhl, 1983, 2001). Werden zentrale Motive über längere Zeit nicht befriedigt, dann entsteht Unzufriedenheit: Dies ist ein negativer, affektiver Zustand, der Unbehagen auslöst und negative Konsequenzen auf die Person hat: Es entwickeln sich u. U. Depressionen, psychosomatische Beschwerden usw. Und: Der Zustand von Unzufriedenheit kumuliert. Er verschlimmert sich über die Zeit.
Werden zentrale Motive dagegen über sehr lange Zeit frustriert, dann bleiben sie hoch in der Hierarchie bzw. sie steigen sogar in der Hierarchie auf (Kuhl, 1983, 2001): Je massiver sie frustriert werden, desto wichtiger werden sie! Und wenn sie zentral wichtig bleiben, dann dominieren sie die Exekutive sehr lange, was bedeuten kann, dass andere Motive nicht mehr ausreichend befriedigt werden können. Und dies wiederum hat die Folge, dass ein Zustand von mehr oder weniger großer Unzufriedenheit entsteht.
Das bedeutet: Frustrierte Motive bleiben hoch in der Motivhierarchie!
Auf der zweiten Ebene des Modells nehmen wir an, dass es dysfunktionale Schemata gibt, die die Informationsverarbeitung und Handlungsregulation von Personen stark determinieren (vgl. Beck et al., 1990). Zum Begriff und zur Funktion von Schemata siehe Sachse (1992a, 1996a, 1999a, 1999b, 2003a, 2006b; Sachse, 2016c; Sachse, Breil & Fasbender, 2009; Sachse & Sachse, 2011; Sachse et al., 2008).
Wir gehen davon aus, dass man zwei Arten dysfunktionaler Schemata unterscheiden kann: Selbst-Schemata und Beziehungsschemata (siehe dazu Sachse, 2019a; Sachse, Breil & Fasbender, 2009).
Selbst-Schemata sind solche, die Annahmen der Person über sich selbst enthalten wie „ich bin ein Versager“, „ich bin nicht wichtig“ u. a. sowie Kontingenzannahmen und Bewertungen dazu. Wir orientieren uns theoretisch dabei an der kognitiven Schema-Theorie (vgl. Sachse, 1992a). Terminologisch sprechen wir von „Schemata“, wenn wir Funktion und/oder Inhalte von Schemata meinen, wie schnelle Aktivierung, Steuerung von Informationsverarbeitung u. ä. und von „Konzept“, wenn wir die Inhalte von Schemata meinen, also sprechen wir bei den Inhalten von Selbst-Schemata vom „Selbst-Konzept“ (SK). So nehmen wir an, dass die „erste Schema-Ebene“ ein Netzwerk von Annahmen enthält und die zweite Schema-Ebene Annahmen über mögliche Konsequenzen, z. B.:
Ebene 1: Ich bin ein Versager.
Ebene 2: Wenn ich ein Versager bin, dann
werde ich abgewertet,
ausgegrenzt,
allein sein usw.
Beziehungsschemata sind solche, die Annahmen der Person über Beziehungen enthalten, darüber, wie Beziehungen funktionieren, was man in Beziehungen zu erwarten hat sowie wiederum Kontingenzannahmen und Bewertungen dazu (z. B.: „In Beziehungen wird man abgewertet.“, „Beziehungen sind nicht verlässlich.“ u. a.).
Diese Schemata sind dysfunktional, da sie zu negativen Erwartungen führen, aber vor allem auch zu negativen Interpretationen von Situationen, negativen Affekten u. a. Sie determinieren eine schnelle, hoch automatisierte Informationsverarbeitung und führen zu etwas, was wir „hyperallergische Reaktionen“ nennen: Minimale situative Auslöser rufen schnell heftige Reaktionen hervor. So kann z. B. jemand, der ein Schema hat „ich bin nicht wichtig“ auf eine minimale Unaufmerksamkeit eines Interaktionspartners heftig verletzt und gekränkt reagieren.
Eine zentrale Grundannahme des Modells ist, dass sich dysfunktionale Schemata in der Biographie durch die interaktionellen Erfahrungen herausbilden, die Kinder und Jugendliche mit relevanten Bezugspersonen im Hinblick auf ihre zentralen Beziehungsmotive machen (vgl. Nowacki, 2009).
Wir nehmen an, dass Personen als Kinder oder Jugendliche hoch relevante Erfahrungen mit zentralen Beziehungspartnern (meist den Eltern) machen, was die Befriedigung zentraler Beziehungsmotive betrifft und dass diese Erfahrungen, wahrscheinlich aus biologischen Gründen, sich sehr stark und sehr nachhaltig auswirken, z. B. in der Entwicklung von Selbstund Beziehungsschemata.
Das Kind macht z. B. mit dem Motiv Wichtigkeit positive Erfahrungen, wenn es
von den Eltern ernst genommen wird,
von den Eltern Aufmerksamkeit erhält,
Signale von „wir verbringen gerne Zeit mit Dir“, „wir sind gerne mit Dir zusammen“ erhält,
es Signale der Art „Du bist eine Bereicherung für unser Leben“ erhält.
Erhält das Kind solches Feedback konsistent, über längere Zeit hinweg, dann bilden sich positive Schemata.
Dann bildet sich ein positives Selbstschema der Art:
Ich bin wichtig.
Ich habe anderen etwas zu bieten, usw.
Und es bildet sich ein positives Beziehungsschema der Art:
In Beziehungen wird man ernst genommen.
In Beziehungen wird man wahrgenommen und erhält Aufmerksamkeit, usw.
Erhält das Kind jedoch negatives Feedback im Hinblick auf das Motiv Wichtigkeit, dann erhält es Botschaften wie:
Wir haben keine Zeit für Dich.
Wir kümmern uns nicht um Dich.
Wir hören Dir nicht zu.
Wir geben Dir keine Aufmerksamkeit.
Wir nehmen Dich nicht ernst, usw.
Oder sogar Botschaften wie:
Du störst uns.
Es wäre besser für uns, Du wärst nicht da.
Ohne Dich hätte ich Karriere machen können, usw.
Erhält das Kind solches Feedback konsistent über lange Zeit, dann bildet sich ein negatives Selbstschema:
Ich bin nicht wichtig.
Ich habe anderen nichts zu bieten.
|25|Oder sogar:
Ich bin toxisch für andere.
Ich bin für andere eine Last.
Und es bildet sich ein negatives Beziehungsschema wie:
In Beziehungen wird man nicht ernst genommen.
In Beziehungen erhält man keine Aufmerksamkeit.
In Beziehungen hört einem keiner zu, usw.
Die systematische Frustration der Beziehungsmotive hat aber nicht nur Einfluss auf die Schemabildung: Nach dem oben Gesagten hat dies auch zur Folge, dass die frustrierten Motive hoch in der Motivhierarchie bleiben bzw. dass sie sogar durch die Frustration subjektiv immer bedeutsamer werden: Durch systematische Frustration kann ein bestimmtes Beziehungsmotiv überhaupt erst zu dem alles dominierenden Motiv werden!
Solche Schemata, so kann man annehmen, kristallisieren sich langsam heraus: Schemata bilden sich aus Schlussfolgerungen von Erfahrungen, wodurch sich auch aus leicht negativem Feedback über längere Zeit stark negative Schemata bilden können. Haben sich die Schemata erst einmal herausgebildet, dann determinieren sie, wenn sie aktiviert sind, stark die Informationsverarbeitung und Handlung mit. Schemata führen dabei oft zu hyperallergischen Reaktionen: Hat jemand z. B. ein Schema „in Beziehungen wird man nicht respektiert“, dann reagiert er „hyperallergisch“ auf alle Handlungen anderer Personen, die sich als „mangelnder Respekt“ interpretieren lassen. Das heißt die Person reagiert darauf schnell und heftig je nach Art ihres Schemas, entweder traurig oder ärgerlich.
Schemata führen somit dazu, dass eine Person auf minimale Stimuli heftig reagieren kann!
Diese Ebene der dysfunktionalen Schemata ist nun eine Ebene, die Personen mit Persönlichkeitsstörungen (PD) kennzeichnet (Beck et al., 1993): Klienten mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen weisen charakteristische Arten von Schemata auf. So ist z. B. ein Schema „ich bin nicht wichtig“ kennzeichnend für Personen mit histrionischer PD; ein Schema der Art „ich bin ein Versager“ ist charakteristisch für eine Person mit narzisstischer Störung (vgl. Sachse, 2002, 2004a, 2004c, 2006c, 2006d; Sachse & Schirm, 2015a).