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Wie würde unser Leben verlaufen, wenn es die kleinen Feigheiten nicht gäbe? Diese Momente, in denen wir davor zurückschrecken zu tun, was richtig ist. Oder wir eine neue Erfahrung zulassen könnten, die uns weiterbringen würde? Wenn wir uns nicht aus einem Impuls heraus abschirmen würden? Wenn wir immer und in jeder Lage überlegt und bewusst handeln könnten? Nicht aus abgewogenem Risiko, sondern aus dem schlichten Grund, den Mut aufbringen zu können, um aus der eigenen Komfortzone zu treten. Dieses Buch ist eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten in den späten siebziger Jahren, zum Nachdenken und in sich gehen, über Personen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch vieles gemeinsam haben.
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Seitenzahl: 178
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Wie würde unser Leben verlaufen, wenn es die kleinen Feigheiten nicht gäbe? Diese Momente, in denen wir davor zurückschrecken zu tun, was richtig ist. Oder wir eine neue Erfahrung zulassen könnten, die uns weiterbringen würde? Wenn wir uns nicht aus einem Impuls heraus abschirmen würden? Wenn wir immer und in jeder Lage überlegt und bewusst handeln könnten? Nicht aus abgewogenem Risiko, sondern aus dem schlichten Grund, den Mut aufbringen zu können, um aus der eigenen Komfortzone zu treten.
Dieses Buch ist eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten in den späten siebziger Jahren, zum Nachdenken und in sich gehen, über Personen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch vieles gemeinsam haben.
Martina Naubert hat sich in dem Land niedergelassen, welches der Deutschen liebstes Reiseziel ist: Italien. Sie wurde 1960 in Kanada geboren, wuchs in Neumarkt i.d. Opf. auf, ist viel gereist und siedelte schließlich im Jahre 2007 nach Bologna über. Ihre Ausbildung in Transaktionsanalyse beeinflusst ihre Arbeit maßgeblich. Fantasie und Spielerisches sind dabei Kernthemen ihrer Bücher, in denen trotz tieferem Sinn Unterhaltung nie zu kurz kommt. Sie arbeitet heute als Beraterin für Personalentwicklung und Autorin.
„Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene Tat nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen, unter der Drohung unerwarteter Bedrängnis.“
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)
Susanne, die Richtige
Der Tisch neben Trudes Tisch
Gerold hat das Messer gesehen
Esther geht zu Fuß nach Rom
Nicht die Bohne wird sich ändern, Doris!
Thomas nimmt den langen Weg nach Hause
Susanne, Trude, Esther, Gerold, Doris, Thomas
Es gab eine Zeit vor dem Internet, doch nach dem Einzug des Farbfernsehens. Der Krieg war lange vorbei, aber seine Nachwirkungen waren immer noch verschleiert präsent.
Die Menschen hatten sich daran gewöhnt, dass eine Besatzungsmacht, die man Freunde nannte und mit der man ein gutes Verhältnis pflegte, zweimal jährlich mit ihren Panzern auf dem Weg in ein Manöver die Straßen der Stadt umpflügten.
Eine Reise nach Übersee leisteten sich nur Wenige, es war etwas Besonderes. In die Ferien fuhr man in brütend heißen Autos nach Italien oder Frankreich, nicht schneller als hundertdreißig, die ersten jungen Rucksacktouristen nach Griechenland, weil das im Vergleich billiger war. Urlauber hatten Wechselkurse im Kopf und Pässe im Handschuhfach.
Die, die sich keinen Urlaub leisten konnten, weil die fetten Jahre des Wirtschaftswunders Deutschland abklangen, erste Arbeitslosenzahlen das Fürchten lehrten, weil die geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeits-, Studienplatz,- und Wohnungsmarkt drängten, blieben zu Hause und vergnügten sich im öffentlichen Schwimmbad oder an einem See. Es war die Mehrheit und noch keine Schande.
Es war die Zeit der Sozialdemokraten, die das Alter der Volljährigkeit auf achtzehn herabsetzten und damit die Wahl gewannen. Die Generation der gewalttätigen Aufständischen saß in Hochsicherheitsgefängnissen, und starke Stimmen für Umwelt und gegen Atomkraft wurden laut.
Ein Wimpernschlag auf der Schiene der Jahrzehnte.
Dies war auch Susannes Zeit der Zukunft.
Wenn ein Mädchen Glück hatte, wie Susanne, kam es aus wohlhabender Familie und hatte Eltern, die es für vernünftig hielten, dass auch Frauen studierten. Viele fanden sich aber noch Vätern und Müttern gegenüber, die das für eine unsinnige Investition hielten. Für diese Mädchen war das neue Berufsausbildungsförderungsgesetz ein Segen, weil es ihnen ermöglichte, auch gegen den Willen ihrer Erzeuger zu studieren. Sofern sie den nicht anerzogenen Mut dazu aufbringen konnten.
Damals war ein Regenschirm noch keine billige Massenware aus China, sondern ein Qualitätsprodukt, für das man einen guten Teil des knappen monatlichen Studentenbudgets ausgeben musste.
Von diesem kargen Budget hatte Susanne das Geld für den Schirm abgeknapst. Es war ein leuchtend roter Schirm mit einer aufgedruckten weißen Rose an einer Stelle und einem ebenfalls weißen Schriftzug. Der Schirm stach aus der Masse der dunklen Artgenossen sofort heraus, elegant mit gerundetem, ausgefallen, schwarz-rot gestreiftem Lackgriff den man auch als Spazierstock hätte verwenden können. Es war ein einzigartiges Design. Die Verkäuferin erklärte ihr, dass der Schirm der Entwurf eines Künstlers war - sie wies auf den Schriftzug hin - und nur in sehr geringer Stückzahl auf dem Markt sei. In ihrer Stadt gab es nur diesen einen. Die neueren und modernen Modelle waren zwar die, die man zusammenfalten und -schieben konnte, in eine Tasche stecken. Aber Susanne mochte die traditionelle Form lieber.
Der Regenschirm spannte sich weit auf, schützte auch vor stürmischem Wetter gut, aber vor allen Dingen konnte man ihn frech in der Hand drehen wie ein Kaleidoskop. In einer Fernsehsendung hatte das eine Schlagersängerin so gemacht. Susanne hatte das unglaublich sexy und keck gefunden.
Ein roter Schirm war für sie so ziemlich das Gewagteste, das sie sich je geleistet hatte. Normalerweise zog sie es vor, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Doch dieser rote Schirm hatte es ihr angetan. So uneingeschränkt und locker, wie diese Sängerin mit ihrem Schirm damals gespielt hatte, so frei wollte sie sein! Doch es gelang ihr selten und so wurde dieser Kauf zu einer eher symbolischen Handlung ihrer Hoffnung.
Als eine von drei weiblichen Exoten in einem naturwissenschaftlichen Studiengang zog sie es vor, sich unauffällig zu kleiden. Ihr Geschlecht war dort schon auffällig genug.
Ständig hatte sie damit zu kämpfen, sich auf die Lerninhalte zu konzentrieren, weil irgendein Kommilitone sich animiert fühlte, sie flapsig, betont lässig oder auch unbeholfen anzusprechen. Im Hörsaal war sie kaum unbeobachtet. Wenn nicht einer von ihnen sie im Visier hatte, war es der Dozent selbst.
Immer wieder wanderten die Blicke der Männer zu ihr, hafteten sich an ihre Bewegungen und legten jede ihrer Antworten auf die Goldwaage. Fehler wogen schwerer als bei ihren männlichen Kommilitonen, denn sie riefen Reaktionen hervor wie ein mitleidiges Lächeln oder eine bedauernde Bemerkung. Manchmal kam es dann auch zu übertriebener Hilfsbereitschaft, die nicht viel besser war.
Dabei kleidete sie sich schon wie sie: verwaschene, hautenge Jeans, mühsam an den Seiten eingenäht und kaum über die Hüften zu ziehen, wenn sie frisch gewaschen waren, T-Shirt oder selbstgestrickte Pullover unter einem schmutziggrünen Parka, der aussah, als wäre er aus dem Restbestand der Tarnkleidung einer Armee. Sie schminkte sich selten, trug sowieso kaum Schmuck und ihr langes Haar immer schlicht zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz.
Aber es nützte nichts: Sie hatte ein zu hübsches Gesicht, als dass die Männer um sie herum das übersehen konnten. Ihre Züge waren das, was man als ausgesprochen schön bezeichnete. Aufdringliche Augen folgten ihr, wohin auch immer sie sich bewegte. Nie konnte sie allein in der Anonymität einfach Mensch unter Menschen sein. Schönheit macht einsam, hatte sie einmal gelesen und sich in diesem einfachen Satz unermesslich verstanden gefühlt.
Denn was die Menschen um sie herum nie gedacht hätten, war tatsächlich der Fall: Sie war einsam. Zurückgezogen ganz in sich selbst, um sich vor dem allgegenwärtigen Gefühl, ein Objekt der Betrachtung zu sein, zu schützen.
Natürlich hatte auch sie Erfahrungen mit Männern gemacht, wie es die junge Frauenwelt dieser Zeit beinahe für eine Pflicht hielt. Unerfahren in eine Ehe zu gehen betrachteten nur noch Ausnahmen oder die ältere Generation als erstrebenswert.
In ihrer ersten Verliebtheit als Dreizehnjährige hatte sie einen geradezu hässlichen Schulkameraden zum Freund erwählt. Als hässlich hatte ihn allerdings nur ihr Klassenlehrer bezeichnet. Sie hatte ihn ausgesprochen süß gefunden, mit seinem von Sommersprossen übersähtem frechen Gesicht. Der Pädagoge hatte sich wenig pädagogisch vor der ganzen Klasse darüber ausgelassen, dass es immer die hübschesten Mädchen seien, die sich für die dümmsten und grobschlächtigsten Kerle interessierten. Zwar hatte der Lehrer die spontanen Mutmaßungen ihrer Mitschüler über Namen massiv unterdrückt, trotzdem hatte jeder verstanden, wer gemeint gewesen war. Diese öffentliche Demütigung hatte das zarte Erwachen ihrer Liebe im Keim erstickt. Sie hatten sich zum Trotz noch zwei- oder dreimal getroffen, schüchtern die Hand gehalten und sogar einen unbeholfenen Kuss gewagt. Aber die Macht der Augen der anderen war stärker gewesen. Dagegen hatten sich weder sie noch der Klassenkamerad auf Dauer zur Wehr setzen gekonnt.
Es hatte zwei Jahre gedauert, bis sie ein zweites Mal gewagt hatte, sich zu verlieben. Diesmal in einen um acht Jahre älteren amerikanischen Soldaten (einer jener, die die Straßen umpflügten), den sie an einem Sommertag im Schwimmbad kennengelernt hatte. Die Liaison hatte sie wohlweislich vor ihren Eltern geheim gehalten. Er war der Erste gewesen, der sie zu Sex hatte verführen wollen, aber dafür war sie noch nicht bereit gewesen und so war es bei harmlosen Berührungen geblieben. Das ungleiche Paar war bald aufgefallen. Bekannte ihrer Mutter hatten sie Hand in Hand mit dem Mann laufen sehen. Daraufhin hatte ihr Vater den Militärvorgesetzen des Amerikaners über die gesetzeswidrige Beziehung zu einer Minderjährigen informiert und der Mann war binnen weniger Tage zurück in Amerika, irgendwo in die Wüste Arizonas verbannt worden.
Danach hatte Susanne es vorgezogen bis zur Volljährigkeit zu warten, um überhaupt wieder ein männliches Wesen anzusehen. Der erste, der ihr nach ihrem großen Geburtstag den Hof gemacht hatte, hatte also offene Türen eingerannt. Der Drang nach Freiheit war im Vordergrund gestanden und wählerisch zu sein war als eine entbehrliche Einschränkung erschienen.
Ihr erstes Mal war zu diesem Zeitpunkt also mittlerweile heiß ersehnt, durch mystische Reden der Freundinnen und der alleinherrschenden Jugendzeitschrift der Epoche jahrelang hochstilisiert zu einem besonderen Muss. Ihre Enttäuschung danach hätte nicht größer sein können: Es war schmerzhaft und wenig erfreulich gewesen. Die geringe Erfahrung ihres Freundes hatte dazu sein Übriges getan.
Das Ereignis musste jedoch etwas in ihr Gesicht gemalt haben, denn von da an hatten sie die Augen der Männer geradezu in aufdringlicher Weise verfolgt. Sie hatte sich also für eine Weile in die Beziehung mit ihrem Freund geflüchtet, gleichwohl sie wenig tiefe Gefühle für ihn gehegt hatte. Dies bis zu dem Beginn ihres Studiums in einer anderen Stadt, das dann auch diese Phase beendet hatte.
Danach hatte sich Susanne ausschließlich auf das Lernen konzentriert. Seit sie das Vorexamen erfolgreich bestanden hatte, breitete sich die Einsamkeit hemmungslos aus. Es kam ihr wieder in den Sinn, dass sie im Grunde alleine war, und sie sehnte sich nach einem Menschen an ihrer Seite.
Dieser Wunsch, der Einsamkeit zu entfliehen, wurde so mächtig, dass sie morgens begann, akribisch Bekanntschaftsanzeigen zu studieren und deswegen sogar immer öfter Vorlesungen zu schwänzen. Lange Stunden am Frühstückstisch, mit Kaffee und Zeitung und Zigaretten wurden zur Gewohnheit.
Sie las alles, was das Gedruckte hergab, ohne Rücksicht auf Inhalt oder Interessensfelder. Jeden Tag verbrachte sie die Dauer einer großen Tasse Kaffee damit, die Anzeigen, die damals übliche Kontaktplattform für einsame Herzen, genau zu studieren. Es belustigte sie, die bis zur Unkenntlichkeit abgekürzten Beschreibungen und Sehnsüchte zu enträtseln. Jeder Buchstabe kostete bares Geld. Die Sprache der Anzeigen hatte sich deshalb im Verlauf der Zeit zu einer geheimen entwickelt. Nur Insider verstanden auf Anhieb, was gemeint war. Es machte ihr Spaß, das zu entschlüsseln.
Schon dieses morgendliche Ritual vermittelte ihr das Gefühl von Gesellschaft und es ließ sie eine Art Glück finden. Sie tröstete sich damit, es nicht nötig zu haben, zu solchen Mitteln greifen zu müssen. Sie konnte jederzeit hinaustreten in die Welt, wenn sie nur wollte. Sie würde Scharen von Männern zu Füssen liegen haben, aus deren Mitte sie frei wählen konnte, wenn sie nur wollte.
Wenn sie nur wollte.
So in sich hineinlächelnd blätterte sie eines morgens die erste Seite der Anzeigen um und ihr Blick fiel auf eine kleine, unscheinbare Annonce in der oberen linken Ecke. Sie war so kurz, dass man sie sehr leicht hätte übersehen können. Doch die Worte stachen ihr ins Auge wie das Banner auf einer der Demos, die in diesen Tagen gegen die Wiederaufbereitungsanlage von Atommüll liefen: Wenn du einen roten Schirm besitzt, dann bist du die Richtige. Melde Dich!
Was für eine seltsame Anzeige, dachte sie zunächst. Doch schon ihr nächster Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen. Ob sie damit gemeint war?
Sie hatte den Schirm in letzter Zeit öfters benutzt. Vielleicht hatte er sie gesehen? Wann und wo konnte das gewesen sein?
Sie legte die Zeitung beiseite, ging ins Bad und kleidete sich an. Dann ging sie zu einer Vorlesung in die Universität.
Als sie später am Tag zurückkam, las sie die Zeilen noch einmal. Sie schüttelte den Kopf, wie um sich zu bestätigten, dass der Mann dahinter entweder einem seltenen Fetisch erlegen war, oder ein Träumer sein musste. So legte sie die Zeitung auf den Stapel der anderen alten Zeitungen.
Doch die Zeilen kreisten in ihrem Kopf, sogar nachts. Sie legten sich wie ein Lorbeerkranz um ihr Haupt, hafteten an jedem anderen Gedanken oder glitten wie Sternschnuppen über ein Blatt, auf dem sie gerade arbeitete. Sie schmeichelten ihr, wollten ihr einreden, dass sie nur für sie gedruckt worden waren: Susanne, du hast einen roten Schirm, du bist die Richtige!
Sie unterbrach ihr Ritual des Müßiggangs, stand wieder zeitig auf, um rechtzeitig zur Vorlesung zu erscheinen. Sie vermied es, eine Zeitung aufzuschlagen. Warum, wusste sie nicht. Vielleicht fürchtete sie, dass sie das Datum daran erinnern könnte, dass die Zeit verging, dass die Anzeige inzwischen andere Zuschriften erhalten hatte und ihre Antwort noch immer fehlte. Sofern sie sich dazu durchringen wollte, zu antworten.
Sofern sie das wollte.
Schließlich tat sie es. Und zwar in beinahe demselben Wortlaut wie der der Anzeige: Ich besitze einen roten Schirm. Ergo: Ich bin die Richtige.
Wenn der Kerl Humor besaß, dann würde er ihr antworten. Vielleicht hatte auch er die Werbung gesehen und die Geste mit dem Schirm so keck gefunden wie sie? Möglicherweise war das sogar der Grund für diese merkwürdige Formulierung?
Es vergingen Tage, in denen sie sich Erwägungen dieser Art hingab. Stundenlang sinnierte sie über die Bedeutung dieser Worte. Egal, wie sie es drehte und wendete: Es ergab immer eine hübsche Variante, eine, die durchaus Positives in Aussicht stellte. Der Mann teilte ihre Vorliebe für rote Schirme und das war doch ein hinreißender Anfang.
Jetzt wusste sie auch endlich, was sie wie magisch zu dem Schirm, der doch so gar nicht zu ihr passte, hingezogen hatte. Es hatte so ein Zeichen in ihrem Leben gebraucht, ein Zeichen, dass genau dieser Mann gesehen hatte! So musste es sein.
Mit geradezu erfrischter Energie sprang sie jetzt morgens aus dem Bett, hüpfte mit dem Übermut eines jungen Rehkitzes singend ins Bad und kam früher als alle anderen in den Hörsaal. Die üblichen Blicke der Männer prallten an ihr ab als hätte sie eine Tarnkappe übergestreift. Sie meldete sich mit klarer Stimme, richtete ohne die üblichen Hemmung Fragen an den Professor und lächelte sogar dem einen oder anderen ihrer Studentenkollegen in den Nachbarbänken zu. Sie fühlte sich beschützt, alleine durch die Tatsache, dass sie entschieden hatte, diesen Mann zu kontaktieren.
Dann kam tatsächlich eine Antwort, in Form eines Kuverts, das in ihrem Briefkasten lag. Es war ein roter Briefumschlag, gar nicht männlich, aber passend für diese Kontaktaufnahme. Sie zog die Visitenkarte eines Cafés im Zentrum der Stadt heraus. Auf der Rückseite stand neben der Angabe einer Uhrzeit in gleichmäßiger Handschrift: ‚Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich werde Sie am Schirm erkennen.‘
Mit einem Lächeln ließ sie die Hand sinken und betrachtete sich im Spiegel an der Wand. Er wollte sie kennenlernen. Er wollte die Frau kennenlernen, die seine Zeilen verstanden hatte!
Alleine diese Tatsache ließ ihn abermals um Quantensprünge auf ihrer Attraktivitätsskala hinaufschnellen. Darüber hinaus behagte ihr die Anonymität seiner Vorgehensweise sehr.
Innerhalb weniger Atemzüge nahm der Unbekannte die konkreten Formen ihrer Wunschvorstellung an: Ein Typ um wenige Jahre älter, mit dem Ausdruck sprühenden Esprits in den Augen und einer vibrierenden Stimme, die alle Saiten in ihrem Körper erklingen lassen würde. Gutaussehend, wie sie. Vielleicht etwas größer. Und gebildet, anstatt eingebildet. Schöne Menschen sind oft Letzteres. Er aber nicht.
Die wenigen Tage bis zum Datum der Verabredung sprühte sie geradezu vor Energie. Sie sagte sich selbst wiederholt, dass sie nichts über ihn wusste, dass dieses Bild in ihrem Kopf rechtfertigen würde, und dass sie wohlmöglich sogar sehr enttäuscht sein könnte. Doch ihrem Verstand gelang es nicht, der Fantasie Grenzen zu setzen. Je mehr sie es versuchte, umso vehementer nahm das schöne Phantombild Gestalt an.
Der Tag der Verabredung nahte.
Schon am Vorabend hatte sie das Kleid, das sie tragen wollte, herausgehängt. Sie hatte es noch nie angehabt. Es war ein schlichtes, enganliegendes Modell, das die Weiblichkeit der Trägerin betonte. Sie hatte es aus einem Schaufenster heraus gekauft, ohne es anprobiert zu haben. An anderen Frauen gefielen ihr solche Kleider, ja sie beneidete diese Frauen sogar darum. Doch letztendlich war dieser Impulskauf zum Mahnmal in ihrem Kleiderschrank geworden, eine ständige Erinnerung daran, dass sich kein Anlass finden wollte, es zu tragen. Ein paar Mal hatte sie es versucht, doch das Gefühl der Bedrohung nicht ertragen, das sie bereits beim Blick in den Spiegel überfallen hatte. Das Kleid forderte die Aufmerksamkeit der Männer geradezu heraus und die war ihr in der Regel sowieso schon zu viel. Doch für dieses Treffen, für diesen einen Mann, war es genau das richtige.
Sie nahm nicht den Bus. Bewegung würde ihr guttun, ihr natürliche Farbe ins Gesicht malen. Sie trug ihr Haar offen und legte nur wenig Lippenstift auf.
Erhobenen Hauptes schritt sie die Straße hinunter, bog in einen kleinen Pfad durch einen Park. Es war der längere, aber ruhigere Weg. Zwei ältere Männer auf einer Parkbank pfiffen durch die Zähne, sahen ihr ungeniert hinterher als sie vorüberging. Sie fühlte ihre stierenden Augen auf ihrem Po, der sich rundlich in das Kleid abzeichnete.
Es war ein sonniger Tag, weshalb sie den roten Schirm wie einen Wanderstock geschlossen trug, ihn nach jedem zweiten Schritt auf dem Pflaster mit einem klickenden Geräusch abstieß. Es war ein unpassender Gang, eher der eines forschen Wanderers, nicht ein dem Kleid und den Schuhen entsprechender. Vielleicht war es auch deshalb, warum die beiden Männer ihr so lange hinterherschauten?
Sie hakte den Schirm in ihren Ellenbogen und versuchte sich in kleineren Schritten. Sie war es nicht gewohnt in hochhackigen Pumps zu laufen. Bereits jetzt fühlte sie einen unangenehmen Druck auf den Fußballen. Ihre Zehen waren gequetscht wie die der neidvollen Schwester Aschenputtels beim ersten Besuch des Prinzen. Und wie das Märchen deutlich zeigt, war deren Qual wenig zielführend gewesen. Sie bereute schon, nicht den Bus genommen zu haben.
Das unangenehme Körpergefühl begann sie einzuschnüren, als hätte sie ein steifes Korsett angelegt. Es erstickte die positive Stimmung, in der sie aufgebrochen war. Sie hätte ruhig und elegant auf einem Platz im Bus sitzen können! Sie hätte sich nicht ihrer auf einmal empfundenen Unfähigkeit aussetzen müssen, das Kleid nicht angemessen tragen zu können, weil sie keine Übung darin hatte. Sie hätte es überhaupt vermeiden können, und stattdessen lieber in Jeans und T-Shirt zu der Verabredung gehen sollen!
Jeder weitere Gedanke dieser Art zog sie wie ein Sog in einen Strudel des Bedauerns, alles falsch angegangen zu sein. Aber nun war es zu spät, um umzukehren und sich nochmals umzuziehen. Sie musste versuchen, das Beste daraus zu machen. Auf keinen Fall wollte sie diese Chance auf den Traummann vermasseln, nur weil sie sich falsch gekleidet hatte.
Sie war zeitig unterwegs. Sie konnte vor ihm im Café sein und sich bereits an einen Tisch setzen. Auf diese Weise würde er ihre Zone betreten und sie war emotional im Vorteil. Der Gedanke wirkte beruhigend.
Sie beschleunigte den Schritt, unbeachtet der Stiche, die sich im rechten Fußballen bemerkbar machten. Die Schuhe waren definitiv zu klein, oder zu neu, oder beides. Pumps dieser Art erforderten also eine Größe mehr als ihre gewohnte. Wie hätte sie das wissen sollen?
Sie begann zu schwitzen. Der Stoff des Kleides war nicht für sportliche Betätigung gemacht, nicht einmal für einen Spaziergang. Was würde er von ihr denken, wenn sie sich atemlos, verschwitzt und mit geschwollenen Füßen zu einem ersten Treffen präsentierte?
Sie eilte in demselben Tempo weiter. Wenn sie frühzeitig dort war, konnte sie sich auf der Toilette noch frisch machen, in Ruhe ihren Platz wählen und dann warten.
Am Ende der Fußgängerzone befand sich das Café. Schon kam der Eingang des Lokals in Sichtweite. Es hatte eine Terrasse zum Fluss hin. Sie überlegte, ob sie zunächst den Schirm im Ständer bei der Tür abstellen wollte. Es war vielleicht besser, den Mann zunächst in aller Anonymität zu beobachten, aus der Sicherheit heraus. Was wusste sie schließlich über ihn? Möglicherweise war er gar nicht der interessante Typ, den sie zu finden hoffte? Vielleicht war er alt und hässlich?
Der Gedanke durchfuhr sie wie ein Blitz.
Vielleicht war er ein alter Lüstling? Einer, den die Sammlung von Höschen und roten Schirmen erregte? Ein Grabscher, der diese Annoncen aufgab, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen?
Es war besser, den Schirm abzustellen und erst dann als sichtbares Zeichen an sich zu nehmen, wenn die Luft rein war. Er konnte sie schließlich daran erkennen! Aber woran konnte sie ihn ausmachen? Er hatte es vermieden, ihr ein vereinbartes Erkennungsmerkmal zu geben! Wieso war ihr das nicht vorher aufgefallen?
Geradezu atemlos trat sie vor das Café und hielt inne. Sie machte einen vorsichtigen Schritt durch die Tür und spähte hinein. Ihr Blick wanderte über die zu dieser Uhrzeit noch wenig besetzten Tische.
Drei Mädchen schwatzten bei einem Glas Cola, eine ältere Dame mit Schoßhund saß einsam an einem Ecktisch, vier Männer spielten Karten, zwei Pärchen tranken Kaffee, eines davon händchenhaltend.
Auf der Terrasse saß eine Person hinter einer großen Zeitung versteckt. Ein Mann, das erkannte sie an der Haltung und an den Hosenbeinen, nicht zuletzt an seinen Händen. Es waren schlanke Hände, wie die eines Klavierspielers. Aber mit einem dicken Goldring am Finger, einer, wie ihn Gangster aus amerikanischen Filmen trugen.
Wenn er ihr nun zuvorgekommen war? Eine Zeitung war eine hervorragende Tarnung, hinter der Mann