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Diese Sammlung neuer Märchen in traditionellem Stil ist für alle Erwachsenen, die die Entwicklung der Persönlichkeit als einen nie abgeschlossenen Prozess betrachten. Die unterhaltenden Erzählungen basieren auf der Lehre der Transaktionsanalyse (TA) und vermitteln eine Botschaft, die der Leser auch ohne Kenntnisse der TA auf sich wirken lässt. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen. Doch sie fügen sich zu einem großen Gesamtbild zusammen, da sie in einem Königreich spielen und die verschiedenen Figuren in den Märchen immer wieder auftauchen. Die Erzählungen brechen auf sanfte Weise mit traditionellen Rollenvorbildern, ohne die Faszination der historischen Figuren zu verlieren.
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Seitenzahl: 174
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Die TA Märchenwelt ist eine Sammlung von neuen Märchen für alle Erwachsenen, die die Entwicklung der Persönlichkeit als einen nie abgeschlossenen Prozess betrachten. Die Erzählungen sind wie historische Märchen kurz und im traditionellen Stil gehalten.
Märchen wirken auf unbewusster Ebene. Jede Erzählung basiert auf der Philosophie der Transaktionsanalyse und vermittelt auf diesem Wege eine Botschaft, die der Leser auch ohne Kenntnisse der Theorie und Modelle auf sich wirken lässt.
Die Geschichten sind in sich abgeschlossen und haben keine notwendige Reihenfolge, fügen sich jedoch einzeln zu einem großen Gesamtbild zusammen, da sie alle in einem Königreich spielen und die verschiedenen Figuren in den Märchen immer wieder auftauchen. Die Märchen brechen auf positive Weise mit traditionellen Rollenvorbildern, ohne die Faszination der historischen Figuren zu verlieren.
Martina Naubert absolvierte fünf Jahre eine Ausbildung in Transaktionsanalyse bei dem Institut Rike Steiner in Nürnberg und schloss diese mit der Praxiskompetenz der DGTA ab. Sie arbeitete über 20 Jahre als Beraterin und Management Trainerin, zuletzt in verantwortlicher Position als Personal- und Geschäftsführerin in einem mittelständischen Unternehmen.
In diesen Jahren erfolgreicher Arbeit mit Menschen in allen Hierarchieebenen eines Unternehmens sammelte sie pragmatische Erfahrungen bei Problemlösungen. Die große Resonanz seitens Seminarteilnehmer auf kurze Geschichten mit zentraler Botschaft ermutigte sie zu dem Projekt der „TA-Märchenwelt“. Sie wurde in Kanada geboren, wuchs in Neumarkt i.d. Oberpfalz auf und lebt heute mit Ihrer Familie in Bologna in Italien. Sie beschäftigt sich weiterhin mit Transaktionsanalyse.
Das geheime Büchlein
Der bestickte Mantel
Herr der Ritter
Die goldene Brille
Die Schlangenbeschwörer
Der magische Würfel
Der blaue Schlüssel
Der Zauber der Wasserfee
Die Mutprobe
Vier rote Hufeisen
Der Kurier des Königs
Drei Perlen
Bärengold
Der Hamster und die Maus
Besonderen Dank für die große Unterstützung an alle, die mir während der Entstehung dieser Geschichten konstruktives Feed-back gegeben haben.
„Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: Wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!“
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Es lebten einmal in einem Königreich zwei fleißige Müller, die beide jeweils eine stattliche Mühle besaßen. Die eine Mühle war an einem klaren Bach im Süden des Königreichs erbaut. Die andere an einem ebenso schönen Bach im Norden. Im ganzen Land waren sie bekannt als der Nordmüller und der Südmüller. Beide waren wohlhabende Männer, da sie gutes Vollkornmehl mahlten. Sogar der Küchenmeister des Königsschlosses kaufte bei ihnen.
Eines Tages kam zum Nordmüller eine Gruppe Bauern, die alle ihr Korn bei ihm mahlen ließen. Sie fragten ihn, ob er einverstanden wäre, wenn sie vom Bache ein wenig Wasser abzweigten, um ihre Felder an heißen Sommertagen zu bewässern. Der Müller überlegte, dass sein Mühlrad sich nicht mehr drehen könnte, wenn sie zu viel Wasser ableiten würden. Dieser Gedanke sorgte ihn. Da er aber fürchtete, dass die Bauern ihr Mehl beim Südmüller mahlen lassen würden, wenn er ihrem Willen nicht nachkam, erwiderte er nichts und stimmte zu. Er sagte sich, er wollte mit ihnen verhandeln, wenn es so weit war.
Der Müller hatte ein geheimes, kleines Büchlein, in das er immer notierte, was er nicht aussprach. Das Büchlein war sein verborgener Schatz. Eines Tages würde es beweisen, welch ein guter Mann er stets gewesen war. So notierte er auch diesmal seine Bedenken, ohne sie auszusprechen. Und gleich ging es ihm wieder gut und er vergaß die Sache.
Während die Bauern emsig daran arbeiteten, Gräben zu ziehen, kam der Küchenmeister des Schlosses zur Mühle. Er bat den Müller, ihm alle seine Vorräte für ein großes Fest im Schloss zu verkaufen. Der Müller überlegte, dass er selbst ein wenig Mehl brauchte, um Brot zu backen und die Bäcker im Norden des Königreiches zählten auf ihn, um ihre Backstuben zu betreiben. Wenn er nun alle seine Vorräte dem Schlossmeister verkaufte, hatte er nicht mehr genug für die Backstuben. Da der Küchenmeister aber ein hoher Herr war, der dem Königshaus sehr nahestand, sagte er nichts und stimmte zu. Er dachte bei sich, er wollte bei Hofe vorsprechen, wenn es so weit war. Bis dahin notierte er in sein geheimes Büchlein seine Bedenken.
Der Küchenmeister kam am nächsten Tag mit vier Karren, um die Mehlsäcke zu beladen. Er war in Begleitung der kleinen Prinzessin, die noch nie eine Mühle gesehen hatte und deshalb von der Königin auf diese Fahrt geschickt worden war, um den Vorgang des Mehlmahlens zu verstehen.
Während der Küchenmeister die Säcke auflud, erklärte der Müller der kleinen Prinzessin, wie das große Mühlrad die schweren Mühlsteine drehte und so das Korn zu Mehl verarbeitete. Die Katze des Müllers schlich dabei beständig um die Beine der Prinzessin und ließ sich streicheln.
Als der Küchenmeister mit dem Beladen fertig war und wieder abfahren wollte, bettelte die Prinzessin den Müller, er wolle ihr die Katze lassen. Der Müller überlegte, dass er ohne Katze der Mäuse, die das Korn in einer Mühle anzog, nicht mehr Herr werden würde. Und eine Mäuseplage in einer Mühle war eine große Sorge.
Da es aber die kleine Tochter des Königspaares war, die ihn so dringlich bat, wagte er nicht ihr die Bitte abzuschlagen. Er sagte nichts und ließ die Prinzessin die Katze mitnehmen. Er dachte, er wollte bei Hofe vorsprechen, wenn es so weit war. Bis dahin notierte er in sein Büchlein seine Bedenken.
Die Tage vergingen und der Müller vergaß die Vorfälle, bis er eines Morgens erwachte und das vertraute Geräusch des knarrenden Mühlrades nicht mehr hörte. Er eilte hinaus um nach dem Rechten zu sehen.
Aber was musste er erblicken! Der einst klare Bach war zu einem Rinnsal geworden. Das Mühlrad stand still und bewegte sich keinen Zentimeter mehr.
„Oh je, oh je!“, jammerte der Nordmüller sich mit den Händen an den Kopf fassend. „Welch ein Unglück! Das Wasser genügt nicht mehr, um die Mühle zu drehen! Oh je, oh je! Ich armer Mann!“
Er erinnerte sich an die Bitte der Bauern. Er beschloss, sofort zu ihnen zu fahren, um die Sache mit den Wassergräben rückgängig zu machen.
Als der erste Bauer ihn erblickte, rief er ihm freudig entgegen:
„Wie gut, Nordmüller, dass du kommst! Du bringst mir wohl mein Mehl, für das ich dir mein Korn gegeben habe?“
Der Müller erinnerte sich an die Bitte des Küchenmeisters, dem er alle Vorräte verkauft hatte. Auch das Mehl des Bauern.
„Oh je, oh je!“, jammerte er bei sich. „Was kann ich tun? Alles Mehl ist im Schloss! Ich armer Mann!“
Er entschied, zum Küchenmeister ins Schloss zu fahren, um einen Teil des Mehls zurückzufordern.
Geschwind eilte er nach Hause, um sein geheimes Büchlein zu holen, in welchem alles notiert war. Als er jedoch die Mühle betrat, stoben hunderte von Mäusen auseinander, die sich fleißig daran gemacht hatten, ihre Nester in der Mühle zu bauen.
„Oh je! Oh je!“, jammerte der Müller. „Eine Mühle mit Mäusen ist des Müllers Ruin!“
Der Müller erinnerte sich an die Bitte der Prinzessin und beschloss, auch seine Katze zurückzufordern.
Er musste sogleich mit seinem geheimen Büchlein bei Hofe vorsprechen. Diese verfahrene Angelegenheit konnte nur noch vom König selbst in Ordnung gebracht werden.
Er sattelte sein Pferd und ritt los in Richtung des Schlosses, welches schon von weitem auf einem Hügel sichtbar war.
„Verehrter König“, klagte der Nordmüller. „Ich bin der bedauernswerteste Mensch im Königreich! Ich war immer gut und ein braver Mensch. Ich habe allen gegeben, was sie wollten. Der Beweis steht hier in diesem Büchlein. Aber niemand sorgt sich um mein Wohl! Als Dank für meine Freundlichkeit haben sie mich alle ruiniert!“
Und er schilderte, wie es zugegangen war, dass er nun ohne Wasser für sein Mühlrad, ohne Vorräte an Mehl und mit einer Mäuseplage gestraft war. Der König hörte ihn ruhig an und als der Müller zu Ende gesprochen hatte, sagte er:
„Geehrter Nordmüller, ich kann dir in dieser Sache nicht helfen. Es gibt kein Gesetz, das sagt, wie viel Wasser du abtreten musst. Es gibt kein Gesetz, das dir vorschreibt, wie viel Mehl du verkaufen musst. Und es gibt kein Gesetz, das dich anweist, deine Katze zu verschenken – auch nicht an eine Prinzessin. Du musst selbst zusehen, wie du die Sache wieder in Ordnung bringst.“
„Das ist ungerecht!“, rief der Nordmüller, der nicht einsehen wollte, dass er sein Schicksal ganz alleine zu verantworten hatte. Er stampfte wütend aus dem Schloss. Mit jedem Schritt wurde er rasender, denn er wusste tief in seinem Inneren, dass der König recht hatte. Und je weiter er sich entfernte umso mehr wuchs sein Groll und es wurde ihm ganz heiß. Er wusste nicht mehr wohin mit seiner Wut und als er zu platzen drohte, verwandelte er sich - BUFF! - in einen bösen Drachen. Er fraß das geheime Büchlein vor lauter Wut auf und stampfte fauchend in Richtung des Waldes.
Zur selben Zeit sprachen auch beim Südmüller einige Bauern vor. Auch sie baten darum, Wassergräben ziehen zu dürfen. Auch der Südmüller überlegte, dass er das Wasser für sein Mühlrad benötigte. Und auch er wollte die Bauern nicht verärgern, da sie ihr Mehl bei ihm mahlen ließen. Deshalb antwortete er:
„Wenn ihr das Wasser hinter meiner Mühle abgraben wollt, so soll es mir recht sein! Wenn das Wasser das Mühlrad einmal gedreht hat, könnt ihr es gerne für eure Felder verwenden.“
Auch der Küchenmeister des Schlosses kam, um alle seine Mehlvorräte für ein Fest zu kaufen. Aber der Südmüller antwortete: “Ich kann Dir nur zwei Drittel meines Vorrates geben. Den Rest brauche ich, um meine Geschäfte weiter zu betreiben.“
Der Küchenmeister wurde wütend und kehrte heraus, dass das Mehl für den Königshof sei. Er drohte ihm, es dem Königspaar zu erzählen. Aber der Südmüller nahm seinen Mut zusammen und schlug vor:
“Wenn du beim Bauern ein paar Kartoffeln und Kastanien kaufst, kann ich dir daraus Mehl bereiten. Es ist nicht so fein wie Dinkelmehl. Aber der Koch kann daraus neue Speisen anrichten, die eine Überraschung für das Fest sein werden!“
Die Idee gefiel dem Küchenmeister und er ging auf den Vorschlag ein. Als er die Kartoffeln und Kastanien in die Mühle brachte, sprang der kleine Prinz vom Wagen. Seine Schwester hatte ihm von der Mühle erzählt, wo sie die wunderschöne Katze geschenkt bekommen hatte. Auch er wollte eine Mühle sehen und eine Katze als Geschenk mitnehmen.
Der Südmüller fürchtete, dass der König böse auf ihn werden würde, wenn er dieser Bitte nicht nachkam. Er hatte ja bereits nur mit Mut und Klugheit den Küchenmeister überzeugt, ein wenig anderes Mehl zu kaufen. Es war ihm nicht wohl, als er dem kleinen Prinzen antwortete:
„Ich kann dir meine Katze nicht geben. Ich brauche sie, damit sie Mäuse fängt und mir die Mühle sauber hält.“
Der kleine Prinz verschränkte enttäuscht die Arme vor der Brust.
„Der Nordmüller hat meiner Schwester die Katze geschenkt!“, sagte er beleidigt. Auch der Küchenmeister blickte den Südmüller wieder grimmig an.
„Nun“, antwortete dieser weise. „Vielleicht hatte der Nordmüller zwei Katzen und konnte deshalb eine verschenken? Ich habe jedoch nur diese eine. Ich kann sie dir wohl schenken, aber erst, wenn die letzte Maus gefangen ist. Willst du so lange warten, dann sind wir uns einig?“
Der kleine Prinz wiegte den Kopf. Das schien ihm ein faires Angebot und nach einer Weile nickte er: „Einverstanden.“
So fuhr er mit dem Hausmeister zurück ins Schloss, ohne weiter auf sofortige Erfüllung seines Wunsches zu bestehen.
Da der Nordmüller nicht mehr gesehen war, kauften von diesem Tag an alle ihr Mehl beim Südmüller und brachten das Korn zu ihm. Seine Katze fing weiter fleißig Mäuse und da sie gut genährt und gesund war, brachte sie im nächsten Frühjahr sechs kleine Kätzchen in einem Eck der Mühle zur Welt. Der Südmüller wählte das Kleinste unter ihnen aus, um es ins Schloss zum Prinzen zu bringen und somit unvorhergesehen sein Versprechen einzulösen.
Schon bald musste der Südmüller seine Mühle vergrößern und Lehrlinge einstellen, weil er die Arbeit alleine nicht mehr schaffte. Er baute auch ein großes Windrad auf das Dach seiner Mühle, damit er sowohl Wasser als auch Wind nutzen konnte, um das Mehl zu mahlen. Seine Mühle wurde groß und stattlich und wurde berühmt im ganzen Königreich.
Aber seit diesem Tage fürchtete man im tiefen Wald einen bösen Drachen, der dort für alle Zeiten sein Unwesen treiben sollte.
Eines Tages waren ein Schneider und eine Schneiderin in die Stadt gekommen. Sie hatten seltsam lange Kleider und die Frau hatte einen roten Punkt mitten auf der Stirn getragen. So etwas hatten die Menschen noch nie gesehen, weshalb sie in ihrer Tätigkeit innegehalten und dem Paar hinterhergeblickt hatten. Die Schneiderleute hatten ein großes Schild an einem Haus am Ende der Straße angebracht, auf welchem in großen Lettern „SCHNEIDEREI“ zu lesen war. Dort hatten sie sich niedergelassen und kurze Zeit darauf war ein kleines Mädchen zur Welt gekommen.
Die beiden Schneiderleute waren so flink mit der Nadel und so geschickt mit den Stoffen, die sie mitgebracht hatten, dass bald viele Menschen bei ihnen Kleidung für besondere Anlässe fertigen ließen. Die Tochter der Schneiderleute wuchs heran und lernte das Handwerk ihrer Eltern. Sie trug, wie ihre Mutter, einen roten Punkt auf der Stirn, aber mittlerweile fanden das die Menschen im Königreich nicht mehr seltsam.
Eines Tages hatte die Mutter begonnen, einen neuen Wintermantel für ihren Mann zu fertigen, damit dieser auch in der kalten Jahreszeit die neue Ware zu den Kunden ausfahren konnte. Wann immer sie ein wenig Zeit erübrigen konnte, arbeitete sie daran weiter.
Morgens stand sie auf und machte Feuer, damit es in der Nähstube schön warm war. Ihr Mann aß ein Stück Brot, trank einen Becher warmer Milch und ging dann sogleich frisch an die Arbeit des Tages, indem er sich die Schlafmütze vom Kopf zog und auf den Küchentisch warf. Jeden Morgen ging er so, fröhlich pfeifend, denn er war ausgeruht und ein Mann mit stets gutem Humor, ans Werk. Seine Frau aber gab darüber immer einen lauten Seufzer von sich. Und weil er sich seine gute Laune nicht verderben lassen wollte, pfiff er umso lauter. Seit sie in dieses ferne Land gekommen waren, hatte es sich jeden Morgen so zugetragen.
Mittags schickte die Frau ihre Tochter zu den Brotbäckern, um für die Mahlzeit frisches Brot zu kaufen. Es war die Aufgabe des Schneiders dann Feuerholz für den Ofen hereinzuholen, damit seine Frau kochen konnte.
„Ich gehe gleich“, sagte er stets, „ich beende nur noch diese eine Naht!“ Und damit steckte er den Kopf so lange in seine Arbeit, bis das Mädchen wieder nach Hause kam. Da die Tochter nicht wollte, dass die Eltern sich wegen des Feuerholzes stritten, lief sie immer gleich wieder hinaus und brachte einen Arm voll Scheite in die Küche. Aber so sehr sie sich auch bemühte, jedes Mal war ihr Kleid von dem Holz verschmutzt und die Mutter machte einen tiefen Seufzer. Seit sie in dieses ferne Land gekommen waren, hatte es sich jeden Mittag so zugetragen.
Wenn es Abend wurde, legte der Mann müde seine Arbeit zur Seite, rieb sich die Augen und streckte sich. Dann stand er von seinem Platz auf und trat für einen kleinen Spaziergang vor das Haus. Und wieder machte seine Frau einen tiefen Seufzer, noch lauter als morgens und mittags. Er hörte es stets, da sie aber nie sprach, blickte er sich auch niemals um.
Indessen erhob sich seine Frau von ihrer Arbeit, besah die Stoffreste, die er immer verstreut auf dem Tisch zurückließ, seufzte noch einmal etwas leiser und begann dann sie in die dafür vorgesehenen Truhen zu falten. Seit sie in dieses ferne Land gekommen waren, hatte es sich jeden Abend so zugetragen.
Dementsprechend ging es Tag für Tag und der Schneider und seine Tochter gewöhnten sich daran, dass die Schneiderin ihre Stunden damit zubrachte zu seufzen und nichts zu sagen.
Eines Tages jedoch wurde die Schneiderin des Seufzens leid. Sie nahm den fast fertigen Mantel zur Hand und begann diesen in feinen Buchstaben zu besticken: Schlafmütze in den Bettkasten, Stoffreste in die Truhe und in besonders großen Buchstaben stickte sie Feuerholz holen. Damit die Worte auch gut lesbar sein würden, hatte sie vom Schmied einen Faden aus Metall fertigen lassen, wie er für die Kettenhemden der Ritter verwendet wurde.
Sie arbeitete viele Tage an der neuen Stickerei. Das war eine mühevolle Arbeit, aber sie fand ihr Werk gelungen und war froh darüber.
Ihr Mann war bester Laune, dass seine Frau aufgehört hatte zu seufzen, bevor der Tag begann. Die Tochter war glücklich, weil die Mutter nun nicht mehr klagte, wenn sie ihr Kleid beschmutzte und abends ging der Schneider auf lange Spaziergänge ohne von einem lauten Seufzer seiner Frau verabschiedet zu werden.
Als der erste Schnee fiel, musste der Schneider hinausfahren, um der Frau des Schlossverwalters ein neues Kleid zu liefern. Die Schneiderin machte das Paket zur Lieferung fertig und überreichte es ihrem Mann mit den Worten:
„Es ist kalt geworden. Nimm diesen neuen Mantel hier, den ich dir für den Winter geschneidert habe. Ich habe mir besonders viel Mühe mit den Stickereien gemacht. Betrachte diese nur in Ruhe so lange du auf dem Weg bist.“
Und damit schloss sie die Tür hinter ihrem Mann und machte sich wieder an die Arbeit. Sie arbeitete viele Stunden so flink wie schon lange nicht mehr und erwartete gespannt die Rückkehr ihres Mannes.
Der aber kam nicht.
Es wurde dunkel und ein kalter Wind pfiff um das Haus. Es stob so viel Schnee durch die Nacht, dass man die anderen Häuser der Stadt kaum noch sehen konnte.
Da wurde der Schneiderin bange und sie sagte zu ihrer Tochter:
„Der Vater ist noch nicht zurück. Vielleicht findet er den Weg nicht mehr mit all dem Schnee? Wir müssen ihn suchen!“
Das Mädchen zog sich eine Decke über den Kopf und um die Schultern und eilte zu ihren Freunden. Der Sohn des Schmieds und die Brüder des Stadthalters ritten sogleich mit ihren Pferden los, um den Schneider zu suchen.
Es dauerte nicht lange und sie fanden ihn unbeweglich am Wegesrand vor dem Stadttor im Schnee sitzend.
Die jungen Burschen wollten ihn gemeinsam auf ein Pferd ziehen, aber der Mantel des Mannes war so schwer, dass sie ihn nicht heben konnten. Also riefen sie weitere Freunde zu Hilfe. Erst als sie sechs Burschen waren, gelang es ihnen, den Schneider auf einen Karren zu hieven und nach Hause zu fahren. Dort setzten sie ihn auf einen Stuhl vor das Feuer, damit der Schnee, der ihn über und über bedeckte, tauen mochte.
„Zieh den Mantel aus. Hier drinnen ist es warm, du brauchst ihn hier nicht mehr!“, sagte die Tochter und wollte ihm das Kleidungsstück abnehmen.
Aber er konnte den Mantel nicht abstreifen.
Da zogen die Schneiderin und das Mädchen gemeinsam an den Ärmeln, aber weder der Mantel noch der Schneider bewegten sich einen Zentimeter.
„Es geht nicht“, jammerte der er. „Ich kann mich nicht bewegen.“
Ratlos standen die Schneiderin und ihre Tochter vor dem Mann, der unbeweglich in seinem Mantel an den Stuhl gefesselt schien.
„Der Mantel ist bestimmt gefroren und ist deshalb so steif, dass du ihn nicht ablegen kannst!“, sagte die Tochter. „Wenn du hier vor dem Feuer sitzen bleibst, wird er morgen früh ganz weich sein.“
Gesagt, getan.
Sie schlichteten neues Holz in das Feuer im Ofen und legten sich schlafen.
Am nächsten Morgen saß der Schneider, wie sie ihn verlassen hatten: bewegungslos und steif in seinem Mantel. Diesmal pfiff er nicht, denn er hatte schlecht geschlafen und war übler Laune. Die Tochter brachte ihm ein Stück Brot und einen Becher warmer Milch, aber er machte weiter ein grimmiges Gesicht.
Da holte die Schneiderin die große Stoffschere aus der Nähstube und sagte: „Es tut mir in der Seele weh, diesen Mantel zu zerschneiden, jedoch es muss sein!“
Aber es gelang ihr nicht, die Schere in den dicken Stoff des Mantels zu bohren. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht einmal die Nähte trennen.
Was konnte man nun tun?
Die Schneiderin und ihre Tochter liefen im Kreis um den Stuhl, rieben sich das Kinn und dachten nach. Die Mutter lief rechts herum, die Tochter links und der Schneider blickte abwechselnd von einer zur anderen. Ihm wurde ganz schwindelig davon, deshalb sagte er:
„Es nützt nichts, im Kreis zu laufen! Geht zum Schmied und bittet ihn mit seiner Eisenzange zu kommen!“
Aber auch der Schmied konnte mit der großen Zange nichts ausrichten. Der Mantel hielt den Schneider steif und fest gefangen.
Nun war guter Rat teuer.
Da fasste sich die Schneiderin ein Herz, nahm ihr warmes Schultertuch und ging zur Tür: „Ich werde ins Königsschloss gehen und die Königin um Rat bitten.“
Es dauerte einen ganzen Tag, bis die Schneiderin durch den Schnee stapfend das Königsschloss erreichte. Sie hatte es bisher nur aus der Ferne auf dem Hügel mitten im Königreich gesehen und sie staunte, weil es viel prächtiger und größer war, als sie es sich vorgestellt hatte.